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Nach sorgfältiger Erwägung der beängstigenden Lage, in der er sich befand, faßte Nikolas den Entschluß, sich unverzüglich den wohlwollenden Brüdern Cheeryble anzuvertrauen. Als er daher gegen Abend des nächsten Tages mit Mr. Charles allein war, benutzte er sogleich die Gelegenheit, ihm Smikes Geschichte zu erzählen, und drückte dabei bescheiden, aber immerhin zuversichtlich die Hoffnung aus, der gütige alte Herr werde in Anbetracht der Sachlage den Schritt, den er gewagt, sich nämlich zwischen Vater und Kind zu stellen, nicht mißbilligen. »Der Abscheu vor dem Mann wurzelt offenkundig so tief in Smike«, sagte er, »daß ich kaum daran glauben kann, er sei wirklich Snawleys Sohn. Die Stimme der Natur scheint hier vollständig zu versagen, aber andererseits kann ich unmöglich annehmen, daß sie irren sollte.«
»Mein lieber junger Freund«, erwiderte Mr. Charles, »Sie verfallen in den sehr gewöhnlichen Irrtum, der Natur Dinge zur Last zu legen, mit denen sie nicht das mindeste zu schaffen hat und für die sie in keiner Weise verantwortlich gemacht werden kann. Man spricht immer von der Natur als von etwas Abstraktem und verliert dabei gänzlich aus den Augen, was eigentlich natürlich ist. Wir haben hier einen unglücklichen jungen Menschen, der nie in seinem Leben Elternliebe, sondern nur Leid und Qual gekannt hat. Jetzt wird er plötzlich einem Manne vorgestellt, der, wie man ihm sagt, sein Vater sein soll und sogleich mit der Absicht herausrückt, dem kurzen Glücke seines Kindes ein Ende zu machen, indem er es wieder in seine ehemalige Lage zu versetzen gedenkt und von dem einzigen Freund, den es jemals gehabt hat – von Ihnen nämlich –, loszureißen. Wenn in einem solchen Fall die Natur in die Brust des jungen Menschen auch nur die kleinste Neigung legte, die ihn zu seinem Vater hin und von Ihnen abzöge, so würde sie geradezu töricht und lügnerisch handeln.«
Nikolas war entzückt, den alten Herrn mit solcher Wärme reden zu hören, und schwieg in der Hoffnung, Mr. Cheeryble würde noch mehr über dieses Thema sprechen.
»Überall erblicke ich denselben Irrtum«, fuhr Mr. Cheeryble fort, »wohin ich auch sehe, in der einen oder andern Form. Eltern, die niemals Liebe an den Tag gelegt haben, beklagen sich plötzlich über den Mangel persönlicher Zuneigung bei ihren Kindern. Und Kinder wiederum, die niemals ihre Pflicht erfüllt haben, beschweren sich über das Fehlen natürlichen Gefühls bei ihren Eltern. So kommt es dann, daß Moralisten, die da auf beiden Seiten nichts als Fehler sehen, nicht genug über die Sittenlosigkeit bei Eltern und Kindern klagen. Die natürlichen Neigungen und Triebe, mein lieber junger Freund, gehören zu den schönsten Werken der Vorsehung, müssen aber wie so viele andere in der Schöpfung gehegt und gepflegt werden, da sie sonst leicht verkümmern und schließlich verschwinden, wie es ja auch bei den Pflanzen der Erde der Fall ist. Ich wollte, man könnte die Menschen dahin bringen, dies alles zu bedenken, damit sie sich zur rechten Zeit ihrer natürlichen Verpflichtungen erinnern und zur unrechten Zeit etwas weniger davon sprechen.«
Mr. Cheeryble, der sich in ein ziemliches Feuer hineingesprochen hatte, hielt ein wenig inne und fuhr dann fort:
»Sie haben sich ohne Zweifel gewiß gewundert, lieber Freund, daß ich Ihre Erzählung mit so wenig Überraschung angehört habe. Den Grund werden Sie sogleich einsehen – Ihr Onkel war nämlich heute morgen hier.«
Nikolas verfärbte sich und trat einen Schritt zurück.
»Ja, so ist es«, bekräftigte Mr. Charles und schlug nachdrücklich mit der Hand auf sein Pult. »Hier in diesem Zimmer – er wollte von nichts hören – nahm weder Vernunft an, noch hatte er Sinn für Gefühl oder Gerechtigkeit. Er war taub gegen alles. Mein Bruder Ned setzte ihm tüchtig zu – man hätte denken sollen, daß es einen Pflasterstein erweicht haben würde.«
»Er kam wohl, um –« begann Nikolas.
»Um sich über Sie zu beschweren«, ergänzte Mr. Charles, »und uns das Gift der Lüge und Verleumdung ins Ohr zu träufeln. Aber es glückte ihm nicht. Und er ging, nachdem er noch ein paar heilsame Wahrheiten von uns hatte anhören müssen. Mein Bruder Ned, lieber Mr. Nickleby, mein Bruder Ned ist ein wahrer Löwe, und dasselbe ist auch mit Tim Linkinwater der Fall – Tim ist gleichfalls ein Löwe. Wir riefen ihn herbei, damit er Ihrem Onkel die Spitze biete, und im Nu war er über ihn hergefallen.«
»Wie werde ich Ihnen jemals für all Ihre Güte danken können!« rief Nikolas.
»Dadurch, daß Sie darüber schweigen, mein lieber junger Freund«, erwiderte Mr. Charles. »Sie sollen zu Ihrem Rechte kommen; wenigstens darf Ihnen in keinem Fall ein Unrecht widerfahren; ebensowenig einem der Ihrigen. Weder Ihnen noch dem jungen Menschen, noch Ihrer Mutter, noch Ihrer Schwester darf auch nur ein Haar gekrümmt werden. Wir alle haben es ihm gesagt und werden dafür sorgen, daß es wahr wird. Ich habe den Vater gesehen – wenn er's ist –, und ich glaube, daß er's wohl sein muß; aber er ist ein Unmensch und ein Heuchler, Mr. Nickleby. Ich sagte ihm: Sie sind ein Unmensch, Sir – ja ja, das sagte ich ihm, und ich freue mich darüber – ich freue mich ganz außerordentlich, daß ich ihn einen Unmenschen nannte – wirklich ganz außerordentlich.«
Der alte Herr hatte sich in eine so lebhafte Entrüstung hineingeredet, daß Nikolas glaubte, es wagen zu dürfen, ein Wort mit einfließen zu lassen. Er wollte eben beginnen, da legte ihm Mr. Cheeryble die Hand sanft auf den Arm und deutete auf einen Stuhl.
»Vorderhand ist die Sache abgetan«, sagte er, sich das Gesicht abwischend, »reden wir jetzt nicht weiter davon. Und auch später nicht, Mr. Nickleby. Vor allen Dingen müssen wir ruhig – ganz ruhig bleiben.«
Er ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, zog dann seinen Stuhl näher an Nikolas' Pult und begann:
»Mein lieber Mr. Nickleby, ich möchte Ihnen jetzt einen Auftrag anvertrauen, der höchst delikater Natur ist.«
»Sie werden gewiß manchen finden, der dafür fähiger sein würde«, fiel Nikolas ein, »aber ich darf wohl behaupten, gewiß keinen, der Ihr Vertrauen mehr zu schätzen wissen wird und sich größere Mühe geben könnte.«
»Ich bin überzeugt davon«, erwiderte Mr. Charles, »vollkommen überzeugt. Und Sie werden mir glauben, daß ich wirklich so denke, wenn ich Ihnen sage, daß der Auftrag eine junge Dame betrifft.«
»Eine junge Dame, Sir?« rief Nikolas, vor Begier, mehr zu hören, am ganzen Leibe zitternd.
»Um eine sehr schöne junge Dame«, sagte Mr. Cheeryble mit größtem Ernst.
»Ich bitte, fahren Sie fort«, rief Nikolas.
»Ich denke gerade darüber nach, wie ich am besten anfangen soll«, begann Mr. Charles wehmütig und, wie es Nikolas vorkam, mit fast schmerzlichem Ausdruck. »Sie haben eines Morgens zufällig eine junge Dame bei mir gesehen, mein lieber junger Freund. Sie fiel damals in Ohnmacht. Können Sie sich noch daran erinnern? Sie werden es wahrscheinlich vergessen haben –«
»Oh nein«, versicherte Nikolas hastig. »Ich – ich – erinnere mich ihrer noch recht gut.«
»Also, das ist die Dame, von der ich spreche.« Nikolas dachte sich, ähnlich wie der berühmte Papagei, außerordentlich viel, war jedoch nicht imstande, ein Wort hervorzubringen.
»Sie ist«, fuhr Mr. Cheeryble fort, »die Tochter einer Dame, die ich – es wird Ihnen das etwas sonderbar vorkommen –, als sie noch ein schönes junges Mädchen und ich um viele Jahre jünger war, als ich's jetzt bin, innig liebte. Sie werden vielleicht darüber lächeln, daß ich als alter Graukopf noch von solchen Dingen rede, aber ich schäme mich dessen nicht. Als ich noch so jung war wie Sie, würde ich es ebenso gemacht haben.«
»Etwas Derartiges kommt mir nicht im entferntesten in den Sinn«, beteuerte Nikolas.
»Mein lieber Bruder Ned« – nahm Mr. Cheeryble seine Erzählung wieder auf – »sollte einst ihre Schwester heiraten, aber sie starb. Auch sie, die ich liebte, ist jetzt tot und ruht schon seit vielen Jahren unter der Erde. Sie heiratete nach ihrer Wahl – und ich wollte, ich könnte hinzusetzen, daß ihr späteres Leben nur annähernd so glücklich gewesen wäre, wie ich es ununterbrochen für sie von Gott erflehte.«
Es trat eine kurze Pause ein, während der Nikolas kein Wort hervorbringen konnte.
»Wenn ihren Gatten so wenig Leid getroffen hätte, wie ich es um ihretwillen hoffte und aus innerstem Herzen wünschte, so wäre alles gut gewesen«, fuhr der alte Herr ruhig fort. »Es genügt jetzt, wenn ich sage, daß es leider nicht der Fall war. – Das Los, das ihnen zufiel, war nicht glücklich. Sie gerieten in die mannigfachsten Bedrängnisse, und ein Jahr vor ihrem Tode kam sie zu mir, sich an unsere alte Freundschaft erinnernd. Die Veränderung, die mit ihr vorgegangen, war höchst betrüblich. Ihr Geist war gebrochen und ihr Herz desgleichen. Ihr Gatte nahm ihr ohne Umstände das Geld ab, das ich ihr gab und gerne zehnmal so reichlich gespendet haben würde, wenn ich ihr dadurch nur eine Stunde Seelenfrieden hätte erkaufen können. Er selbst schickte sie oft zu mir, um sich mehr zu holen, machte ihr aber dann, während er es vergeudete, nur noch mehr Vorwürfe unter dem Vorwand, er wisse gar wohl, daß sie mit bitterer Reue auf ihre Wahl zurückblicke und ihn nur aus Eitelkeit geheiratet habe. Er war nämlich ein lebenslustiger junger Mann gewesen, der seinerzeit große Verbindungen gehabt hatte. Mit einem Wort, er legte ihr auf die roheste und ungerechteste Weise seine bittere Lage und seine nunmehr trostlosen Aussichten im Leben zur Last, die er in Wirklichkeit allein seiner Verschwendungssucht zu danken hatte. Die erwähnte junge Dame, ihre Tochter, war damals noch ein Kind. An dem Morgen, als Sie sie zum erstenmal sahen, sah auch ich sie nach langer Zeit wieder. Mein Neffe Frank nun –«
Nikolas fuhr zusammen, stotterte ein paar unzusammenhängende Worte hervor und schwieg dann.
»Mein Neffe Frank traf sie zufällig zwei Tage nach seiner Ankunft in England, verlor sie aber fast in derselben Minute wieder aus dem Gesicht. Um seinen Gläubigern auszuweichen, hielt sich ihr Vater verborgen. Er kämpfte mit Armut und Krankheit und war dem Tode nahe, und sie, ein Kind, das – wie wir fast glauben müßten, wenn wir nicht wüßten, wie weise die Vorsehung in allen ihren Beschlüssen handelt – einem bessern Vater zum Segen hätte gereichen sollen, ließ mutvoll jeden Mangel, jede Demütigung und alles, was sonst einem so jungen und zartfühlenden Herzen das Schrecklichste sein muß, über sich ergehen, um ihm beizustehen. Sie hatte in ihrem Elend ein treues Geschöpf um sich, das ehemals ein armes Küchenmädchen in der Familie gewesen war und so redlich und herzensgut ist, daß sie – ja wahrhaftig – als Gattin für Tim Linkinwater gepaßt haben würde.«
Mr. Cheeryble lehnte sich, ganz hingerissen von Begeisterung über die Herzensgüte des armen Dienstmädchens, in seinem Stuhl zurück, zwang sich aber dann zur Ruhe und schloß seine Erzählung:
»Mit Stolz hatte die junge Dame alle dauernden Anerbietungen von Hilfe und Unterstützung seitens der Verwandten ihrer seligen Mutter zurückgewiesen, da die Bedingung daran geknüpft war, sie müsse ihren unglücklichen verlassenen Vater aufgeben. Instinktiv und aus Zartgefühl wagte sie es nicht, sich an mich um Unterstützung zu wenden, den er haßte und tief verletzt hatte. So hat sie sich bisher allein und ohne Hilfe abgemüht, ihn durch ihrer Hände Arbeit zu ernähren. Durch das tiefste Elend hat sie sich durchgearbeitet, ohne auch nur einen Augenblick zu erlahmen, und trotz der bösartigen finstern Launen des Kranken, der weder in den Erinnerungen an die Vergangenheit noch in der Hoffnung auf eine Zukunft Trost finden konnte, und ohne daß sie sich je nach dem angenehmeren Lose, das sie zurückgewiesen, gesehnt oder sich beklagt hätte. Mit all den kleinen Fertigkeiten, die sie sich in bessern Tagen angeeignet, hat sie sich durch zwei lange Jahre hindurch Tag für Tag und auch des Nachts mit der Nadel, dem Bleistift und auch der Feder abgemüht, sich als Lehrerin den Launen und Demütigungen ausgesetzt, die Frauen nur zu oft Personen ihres eignen Geschlechts auskosten lassen, deren Dienste sie in Anspruch nehmen – Demütigungen, die in neunundneunzig unter hundert Fällen über Menschen verhängt werden, die unendlich besser sind als ihre Brotgeber und oft schlechter behandelt werden als untergeordnete Knechte von einem rohen Viehhändler. Das war zwei Jahre lang das Los der jungen Dame gewesen, aber schließlich konnte sie es trotz unermüdlichen Fleißes nicht länger mehr durchführen und sah sich in der Not gezwungen, den alten Freund ihrer Mutter aufzusuchen und ihm ihr Herz auszuschütten.«
»Wenn ich arm gewesen wäre«, rief Mr. Charles mit leuchtenden Augen, »wenn ich arm gewesen wäre, lieber Mr. Nickleby, was Gott sei Dank nicht der Fall ist, so hätte ich – und wohl jeder würde es unter solchen Umständen getan haben – mir auch das Nötigste entzogen, um ihr beizustehen. Wie die Sache jetzt liegt, ist es aber eine schwierige Aufgabe, so leicht es auch sein würde, wenn ihr Vater tot wäre. Denn dann müßte sie wie unser Kind oder unsere Schwester die glückliche Heimat mit uns teilen, die mein Bruder Ned und ich ihr bieten könnten. Aber so lebt er noch, und ihm kann niemand mehr helfen. Schon tausendmal ist es versucht worden, aber ich weiß, daß man ihn nicht ohne Grund stets seinem Schicksal wieder überließ.«
»Könnte man sie nicht bewegen –«, stotterte Nikolas.
»Ihn zu verlassen?« ergänzte Mr. Cheeryble. »Wer dürfte einem Kind zumuten, seinen Vater zu verlassen? Man hat es ihr des öftern – freilich ging es nicht von mir aus – unter der Bedingung vorgeschlagen, daß sie ihn zuweilen besuchen könne, aber immer ohne Erfolg.«
»Behandelt er sie gütig?« fragte Nikolas. »Weiß er ihre Liebe zu schätzen?«
»Er hat keinen Sinn für treue aufopfernde Liebe. Was er für Liebe hält, läßt er ihr, glaube ich, angedeihen. Ihre Mutter war ein sanftes hingebendes vertrauensvolles Geschöpf, und obwohl er sie vom Tage ihrer Verheiratung an bis zu ihrem Tod auf das grausamste mißhandelte, so hörte sie doch nie auf, ihn zu lieben. Noch auf dem Sterbebett empfahl sie ihn der Sorgfalt ihrer Tochter, und diese hat es nie vergessen und wird es auch nie tun.«
»Haben Sie denn keinen Einfluß auf ihn?« fragte Nikolas.
»Ich, mein lieber junger Freund? Ich doch den allergeringsten auf der ganzen Welt. Seine Eifersucht und sein Haß gegen mich sind so grenzenlos, daß er seine Tochter unablässig mit Vorwürfen quälen und höchst unglücklich machen würde, wenn er wüßte, daß sie sich mir anvertraut. Andererseits würde er – so voll von Widersprüchen und so selbstsüchtig ist er –, wenn er wüßte, daß sie alles von mir hat, sich auch nicht einen einzigen Wunsch versagen, der nur irgend mit Geld befriedigt werden könnte.«
»Der Mensch ist ja ein Scheusal«, rief Nikolas entrüstet.
»Wir wollen uns vielleicht so harter Ausdrücke enthalten«, sagte Mr. Charles milde, »und nur die Umstände im Auge behalten, in denen die junge Dame lebt. Ich bin auf ihr eigenes dringendes Verlangen hin genötigt gewesen, ihr nur ganz kleine Unterstützungen zuteil werden zu lassen, damit ihr Vater nicht, wenn er sähe, wie leicht sich mit einem Mal Geld verschaffen ließe, noch leichtsinniger damit umgehe, als er sonst zu tun gewohnt war. Sie ist immer heimlich und nur abends zu uns gekommen, um das wenige in Empfang zu nehmen. – Ich kann nun nicht länger mehr ansehen, daß das in dieser Weise fortgeht, Mr. Nickleby – wirklich, ich kann es nicht ertragen.« Allmählich kam heraus, daß die Zwillingsbrüder in ihren wackern alten Köpfen die mannigfachsten Pläne ersonnen und Entwürfe ausgeheckt hatten, um der jungen Dame auf zartsinnige Weise beizustehen, ohne daß ihr Vater die Quelle, aus der das Geld flösse, erraten könne. Sie waren dabei endlich zu dem Resultat gelangt, daß es wohl am besten sei, ihr kleine Zeichnungen und Arbeiten zu hohen Preisen abzukaufen und eine beständige Nachfrage danach zu arrangieren. Um die Sache weiter fortführen zu können, stellte es sich nunmehr als nötig heraus, daß sich jemand den Anschein gebe, als mache er mit dergleichen Artikeln Geschäfte. Und Nikolas sollte jetzt diese Rolle zufallen.
»Mich kennt er nämlich, und ebenso meinen Bruder Ned«, erklärte Mr. Charles. »Also keiner von uns paßt dazu. Frank ist zwar ein recht braver und guter Mensch, aber wir fürchten, er könne sich vielleicht etwas zu flüchtig und gedankenlos bei der Angelegenheit benehmen; kurz gesagt, es liegt vielleicht die Gefahr vor, er könne sich in sie verlieben, ehe er noch sein eigenes Herz hinreichend geprüft hat, und dadurch könnte es der jungen Dame dann später einmal ähnlich gehen wie ihrer seligen Mutter. Er interessierte sich zwar ungemein für ihr Schicksal, und das schon, als er ihr das erstemal begegnete. Soviel wir erfuhren, fing er damals den Streit an, bei dem Sie ja auch zugegen waren.«
Nikolas stotterte in unzusammenhängenden Worten heraus, daß ihm das schon früher wahrscheinlich vorgekommen sei, und erzählte, um zu erklären, wie er auf den Gedanken geraten, wann und wo er die junge Dame schon früher gesehen.
»Sie begreifen also«, fuhr Mr. Cheeryble fort, »daß wir ihn nicht gut für die erwähnte Mission gebrauchen können. Von Tim Linkinwater kann von vornherein nicht die Rede sein, denn er ist ein so schrecklicher Mensch, daß er schon in den ersten fünf Minuten ihrem Vater in die Haare fahren würde. Sie kennen ihn noch nicht, aber glauben Sie mir, er kann ganz schrecklich sein, wenn einmal etwas seine Gefühle erregt, lieber Mr. Nickleby – wirklich schrecklich. In Sie aber können wir das unbedingte Vertrauen setzen. Bei Ihnen haben wir – besser gesagt, ich habe – aber das kommt ja auf dasselbe heraus, denn zwischen mir und meinem Bruder Ned hat noch niemals eine Meinungsverschiedenheit geherrscht, und er ist der bravste Mensch, der jemals gelebt hat und leben wird –, wir haben also bei Ihnen mit Freude bemerkt, welch schönes und liebevolles Familienleben Sie führen und wie außerordentlich Sie daher für diese Rolle befähigt sind. Jawohl, lieber Nickleby, Sie sind unser Mann.«
»Aber die junge Dame, Sir«, wendete Nikolas, der in seiner Verwirrung nicht wußte, was er sagen sollte, ein, »ich – weiß – weiß sie um diesen unschuldigen Betrug?«
»Ja natürlich. Wenigstens weiß sie, daß wir Sie schicken werden. Selbstverständlich weiß sie weiter nichts, als daß wir mit den kleinen Arbeiten, die Sie ihr von Zeit zu Zeit abkaufen werden, Geschäfte zu machen gedenken. Vielleicht sind Sie imstande, wenn Sie es geschickt anfangen – das heißt nämlich sehr geschickt –, die Dame glauben zu machen, daß wir – daß wir einen hübschen Nutzen dabei haben. Was meinen Sie?«
Mr. Cheeryble war in seiner Arglosigkeit und Einfalt von dem Gedanken, die Dame könne glauben, sie würde keine Verpflichtungen gegen ihn haben, so entzückt, daß Nikolas sich gar nicht getraute, Bedenken gegen die Wahrscheinlichkeit zu erheben. Des öftern hatte ihm wohl das Bekenntnis auf der Zunge geschwebt, daß derselbe Einwurf, den sein Prinzipal Frank gegenüber gemacht, zum mindesten im selben Grade auf ihn anwendbar sei, und wohl hundertmal stand er im Begriff, seinen wahren Herzensgrund zu beichten und um Enthebung von dem Auftrag zu bitten. Aber ebensooft drängte ihn ein anderes Gefühl, das Geheimnis für sich zu behalten. Warum sollte ich diesem hochherzigen Menschen Schwierigkeiten in den Weg legen, dachte er; und wenn ich auch dies herrliche Geschöpf liebe und anbete – müßte ich nicht als der fadeste und anmaßendste Einfaltspinsel erscheinen, wenn ich im Ernste die Vermutung ausspräche, sie könne sich vielleicht auch in mich verlieben? Überdies darf ich mich nicht auf meine eigene Selbstbeherrschung verlassen? Fordert nicht schon das Ehrgefühl von mir, derartige Gedanken zu unterdrücken? Hat der wackere Mr. Cheeryble nicht unbedingt das Recht, auf meinen Gehorsam zu bauen, und dürfen selbstsüchtige Rücksichten mich veranlassen, den Auftrag zurückzuweisen? Alle diese an sich selbst gestellten Fragen beantwortete Nikolas innerlich mit einem höchst nachdrücklichen: »Nein« und redete sich dabei ein, er sei ein Märtyrer, da er sich in seinem Edelmute entschlösse, zu tun, was er in Wirklichkeit nicht lassen konnte – wie er sehr leicht eingesehen hätte, wenn er sein eigenes Herz ein wenig sorgfältiger geprüft haben würde. Aber so ist nun einmal der Mensch; er gaukelt sich als Stärke vor, was in Wirklichkeit nur Schwäche ist, und macht aus der Not eine Tugend.
Mr. Cheeryble hatte natürlich keine Ahnung, was in seinem jungen Freunde vorging; er erteilte ihm sofort die nötige Vollmacht und gab ihm Anweisungen für seinen ersten Besuch, den er am nächsten Morgen abzustatten haben würde. Nikolas verpflichtete sich zur strengsten Geheimhaltung und ging gedankenvoll heim.
Das Haus, das ihm sein Prinzipal bezeichnet hatte, lag innerhalb des Bezirks des Kings-Bench-Gefängnisses, nicht weit vom Obelisken in St. Georges Fields. Dieser Bezirk ist eine Art Freihof, der sich an das Gefängnis anschließt, und umfaßt ein paar Dutzend Straßen, in denen Schuldner, die das Geld auftreiben können, um die Mieten zu bezahlen, wohnen dürfen – demselben weisen Gesetz zufolge, das einen Schuldner, der sich kein Geld zu verschaffen imstande ist, im Gefängnis ohne genügende Nahrung, gebührende Kleider, angemessene Wohnung und Heizung verschmachten läßt, während man für einen Verbrecher sorgfältig alles Nötige beistellt.
Nikolas lenkte seine Schritte nach der Häuserreihe, die ihm bezeichnet worden, ohne sich viel mit dergleichen Betrachtungen abzugeben, und passierte dabei eine sehr staubige schmutzige Vorstadt, in der Puppenspiele, Schellfische, Ingwerbier, Gemüsehändler und Pfandverleiher in bunter Reihe das Auge erquickten. Vor den Häusern lagen kleine Gärten, die, in jeder Hinsicht verwahrlost, zu weiter nichts zu dienen schienen, als den Kehricht aufzunehmen, den dann der Wind gelegentlich um die Ecken blies und die Straßen hinunterfegte. Nikolas öffnete das schadhafte Türchen, das vor einem dieser Gärten in zerbrochenen Angeln hing und den Eintretenden halb einließ, halb zurückhielt, näherte sich dann der Haustüre und klopfte mit bebender Hand an. Das Äußere des Hauses sah ungemein ärmlich aus. Die Fenster waren trübe, und kleine Blenden mit schmutzigen Musselinvorhängen verdeckten sie. Auch das Innere, als die Türe geöffnet wurde, machte keinen bessern Eindruck, denn auf der Treppe lag ein verschossener Teppich und im Hausflur ein verschlissenes Wachstuch. Um die Behaglichkeit noch zu erhöhen, erfüllte ein Gentleman, obgleich es noch nicht Mittag war, die Räume mit dicken Tabakswolken, während die Hausmeisterin beschäftigt war, ein zerlegtes Bett vor der Türe des hintern Zimmers im Parterre mit Firnis einzulassen. Offenbar eine Vorbereitung für die Aufnahme eines neuen Mieters, der glücklich genug gewesen war, die nötigen Mittel zu einem so glänzenden Empfang aufzutreiben.
Der Junge, der die Bedienung im Hause besorgte, rasselte inzwischen die Küchentreppe hinunter, und wie von weitem hörte man ihn nach Miss Brays Dienstmädchen rufen. Dieses erschien denn auch sogleich und bat Nikolas, ihr zu folgen, was dieser mit größter Verwirrung und Herzklopfen tat.
Er wurde die Treppen hinauf und in ein Vorderzimmer gewiesen, wo an einem mit Zeichenuntensilien belegten kleinen Tisch in der Nähe des Fensters das schöne junge Mädchen saß, das seine Gedanken so sehr beschäftigt hatte und ihm jetzt noch viel schöner vorkam, als er sie sich jemals innerlich ausgemalt.
Wie sehr schnitt ihm alles ins Herz, was er hier sah. Es war, als ob ihre Anmut das ärmlich möblierte Zimmer mit Licht erfülle. Die Blumen, die Vögel, die Harfe, das Piano, das vielleicht einst in Freude und Pracht erklungen – wieviel Kämpfe mochte es sie nicht gekostet haben, diese letzten Glieder einer zerbrochenen Kette zu behalten, an die sich für sie soviel schöne Erinnerungen knüpfen mochten! Es war Nikolas, als strahle ein himmlisches Licht durch das kleine Zimmer und als spiele der Heiligenschein, mit dem die alten Maler die leuchtenden Engel einer bessern Welt zu umgeben pflegten, um ein ihnen geistig verwandtes Wesen, das hier in seiner ganzen Herrlichkeit vor seinen Blicken stand.
Und doch befand er sich innerhalb des Distriktes des Kings-Bench-Gefängnisses.
Wäre er noch in Italien gewesen und die Zeit Sonnenuntergang und der Schauplatz eine prachtvolle Meeresterrasse! Aber über die ganze Erde ist derselbe weite Himmel ausgespannt; ob er jetzt blau oder umwölkt ist – das Land der Seligen liegt über ihm; und so brauchte sich Nikolas vielleicht keinen Vorwurf zu machen, daß er dachte und fühlte, wie er es tat.
Jetzt erst gewahrte er die Anwesenheit eines kranken Mannes, der durch Kissen gestützt in einem Lehnsessel saß und seine Aufmerksamkeit dadurch zu erregen trachtete, daß er ungeduldig hin und her rückte.
Er konnte kaum fünfzig sein, sah aber so abgemagert aus, daß er viel älter erschien. Gewisse Spuren verrieten, daß er ehemals schön gewesen sein mußte, aber heftige Leidenschaften hatten sein Gesicht gefurcht. Er war buchstäblich bis auf die Knochen abgezehrt. Trotzdem sprühten in seinen großen eingesunkenen Augen noch Reste von einem alten Feuer, das sich von neuem zu entfachen schien, als er mit einem dicken Stock, mit dem er sich zu einem Stuhl geholfen zu haben schien, zwei- oder dreimal ungeduldig auf die Erde stieß und ungeduldig rief:
»Madeline, wer ist das? Was will der Mensch hier? Wer hat ihm gesagt, daß wir Besuche annehmen? Was hat das zu bedeuten?«
»Ich glaube –«, begann die junge Dame verwirrt, durch ein leichtes Neigen Nikolas' Begrüßung erwidernd.
»Du glaubst immer«, fiel ihr der Alte verdrießlich ins Wort. »Was will er?«
Nikolas hatte sich inzwischen hinreichend gesammelt und richtete seinem geheimen Auftrag gemäß aus, er sei wegen zweier gestickter Lichtschirme und eines gemalten Samtüberwurfs für einen Diwan hier, den er aufs eleganteste angefertigt zu haben wünsche, wobei Zeit und Kosten nicht in Betracht kämen. Dann habe er noch zwei Zeichnungen zu bezahlen, für deren hübsche Ausführung er sich noch besonders bedanke. Er trat an den kleinen Tisch und legte einen versiegelten Brief mit einer Banknote darin auf die Platte.
»Sieh nach, ob's stimmt, Madeline«, brummte der Alte. »Öffne das Kuvert, mein Kind.«
»Oh, es ist gewiß in Ordnung, Papa«, war die Antwort.
»So gib her und laß mich nachzählen«, rief Mr. Bray, streckte die Hand aus und öffnete den Umschlag ungeduldig mit seinen knöchernen Fingern. »Wie kannst du nur sagen, es wird schon richtig sein, Madeline? Wie kannst du so etwas wissen? Fünf Pfund – stimmt es?«
»Ja, gewiß«, hauchte Madeline, sich über ihre Zeichnung beugend.
Dann rückte sie ihrem Vater die Kissen zurecht, damit man ihr Gesicht nicht sehen könne, aber Nikolas glaubte zu bemerken, daß Tränen in ihren Augen schimmerten.
»Zieh die Klingel! Läute!« befahl der Kranke gereizt und deutete mit so zitterndem Arm nach der Klingelschnur, daß die Banknote in seiner Hand rauschte. – »Sie soll wechseln lassen, mir eine Zeitung holen, mir ein paar Weintrauben kaufen und eine Flasche von dem Wein, den ich in der vorigen Woche hatte, und – und ich vergesse immer die Hälfte von dem, was ich brauche – aber sie kann ja dann noch einmal gehen. Sie soll zuerst das holen. – Also, so eil dich doch, Madeline. – Geschwind! Gott im Himmel, wie langsam du bist.«
»Was sie braucht, daran denkt er nicht«, dachte Nikolas.
Vielleicht drückte sich in seinen Mienen etwas von diesem Gedanken aus, denn der Patient wandte sich barsch zu ihm und fragte, ob er vielleicht auf eine Quittung warte.
»Ist nicht nötig«, lehnte Nikolas ab.
»So? Nicht nötig? Was wollen Sie damit sagen, Sir?« fragte der Alte spitzig. »Nicht nötig. Glauben Sie vielleicht, Sie bringen diese Lappalie als ein Almosen her? Ist es vielleicht nicht eine Gegenleistung für empfangenen Wert? Zum Teufel, Sir, glauben Sie, Sie verschenken Ihr Geld, weil Sie die Zeit und den Geschmack nicht zu würdigen wissen, die auf die Waren verwendet werden müssen, die Sie verkaufen? Wissen Sie, daß Sie mit jemand reden, Sir, der seinerzeit fünfzig solcher Burschen wie Sie mit allem, was Sie haben, hätte auskaufen können? Was soll das heißen?«
»Ich meine nur, daß ich die Dame nicht mit Förmlichkeiten bemühen möchte, da ich wohl noch öfter herkommen werde, wenn es ihr angenehm ist«, sagte Nikolas.
»Dann, wenn Sie gestatten, werden wir in Hinkunft auch jede mögliche Förmlichkeit beobachten, Sir«, brauste Mr. Bray auf; »meine Tochter braucht weder von Ihnen noch von irgend jemand sonst Gefälligkeiten. Haben Sie also die Güte, Ihren Verkehr mit uns lediglich auf den Geschäftston zu stimmen und nicht darüber hinauszugehen. Sich von jedem Kleinkrämer bemitleiden zu lassen, das könnte einem so fehlen. Madeline, gib ihm eine Quittung und vergiß nicht, es immer zu tun.«
Während die junge Dame tat, als ob sie die Quittung schreibe, und Nikolas über den seltsamen, aber keineswegs ungewöhnlichen Charakter des alten Mannes nachdachte, sank dieser, offenbar von heftigen Schmerzen gequält, in seinen Stuhl zurück und stöhnte, daß das Dienstmädchen stundenlang ausbleibe und sich überhaupt alles verschworen habe, um ihn zu quälen.
»Wann –«, fragte Nikolas und nahm das Papier in Empfang, »wann soll ich wieder anfragen?«
Die Worte waren an Miss Bray gerichtet, aber ihr Vater antwortete für sie.
»Wann wir es Ihnen sagen lassen, Sir, früher nicht. Liebe Madeline, wann soll er wiederkommen?«
»Oh, nicht so bald wieder. Nicht vor drei oder vier Wochen. Es wäre überflüssig, da ich früher nicht fertig werden kann«, antwortete die junge Dame mit großer Lebhaftigkeit.
»Wie, nicht früher fertig?« drängte der Alte. »Drei oder vier Wochen, Madeline?«
»Also vielleicht früher, wenn es Ihnen gefällig ist«, wendete sich die junge Dame an Nikolas.
»Drei oder vier Wochen«, murmelte der Alte. »Madeline, um alles in der Welt – drei oder vier Wochen nichts tun!«
»Es ist eine lange Zeit, gnädiges Fräulein«, sagte Nikolas.
»Behalten Sie Ihre Meinung für sich«, fuhr Mr. Bray auf. »Wenn ich betteln und mich herablassen wollte, Sir, Leute, die ich verachte, um eine Unterstützung anzugehen, so würden drei oder vier Monate keine lange Zeit sein. – Nein, nicht einmal drei oder vier Jahre. Da ich aber keine Lust dazu habe, so können Sie in einer Woche wieder vorfragen.«
Nikolas verbeugte sich tief gegen die junge Dame und entfernte sich.
Noch ehe er das Haus verlassen konnte, hörte er einen leichten Schritt hinter sich, und als er sich umdrehte, erblickte er auf der Treppe Miss Bray, wie sie ihm schüchtern und unschlüssig nachsah und offenbar zögerte, ihn zurückzurufen. Um ihrer Verlegenheit ein Ende zu machen, kehrte er sofort um und ging ihr entgegen.
»Ich weiß nicht, ob es recht ist, wenn ich Sie um etwas bitte«, sagte Madeline hastig, »aber trotzdem – nicht wahr, Sie erzählen den edlen Freunden meiner seligen Mutter nicht, was Sie hier gesehen haben?! Mein Vater ist sehr leidend – besonders heute morgen. Ich bitte, tun Sie mir den Gefallen und schweigen Sie darüber.«
»Sie brauchen nur einen Wunsch anzudeuten«, erwiderte Nikolas mit Wärme, »und ich würde mit Freuden mein Leben einsetzen, um ihn zu erfüllen.«
»Das will viel heißen, Sir!«
»Ich rede aufrichtig und von Herzen«, rief Nikolas mit bebenden Lippen. »So aufrichtig und wahr, wie ein Mann nur jemals gesprochen hat. Ich bin nicht imstande, meine Gefühle zu verbergen, und könnte ich es auch, so würde ich vor Ihnen mein Herz doch nicht verhüllen. Gnädiges Fräulein, ich kenne Ihre Geschichte und fühle dabei, was wohl jeder fühlen muß, der solche Dinge hört und sieht, und deshalb bitte ich Sie, zu glauben, daß ich gerne sterben würde, wenn ich Ihnen damit dienen könnte.«
Die junge Dame wandte ihr Gesicht ab, um ihn nicht sehen zu lassen, daß sie weinte.
»Verzeihen Sie mir«, fuhr Nikolas eindringlich, aber ehrerbietig fort, »wenn ich zuviel zu sagen und das Vertrauen zu mißbrauchen scheine, das man in mich gesetzt hat. Aber ich konnte nicht von Ihnen in einer Weise scheiden, als ob mein Mitgefühl und meine Teilnahme für Sie mit meinem heutigen Besuche zu Ende wären. Ich bin von Stund an Ihr getreuer Diener und Ihnen von Herzen ergeben, aber ich bin auch treu und redlich dem Mann ergeben, der mich hierher gesandt hat. Spräche ich nicht die volle Wahrheit, so würde ich mich der Achtung des edelsten aller Menschen unwürdig erweisen und auch meinem eigenen Wesen untreu sein.«
Madeline winkte ihm, ohne ein Wort zu erwidern, mit der Hand, er möge gehen.
Auch Nikolas konnte nicht weitersprechen, sondern entfernte sich schweigend. Und so endete sein erstes Zusammentreffen mit Madeline Bray.