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Der Platz, wo sich das Bureau der Gebrüder Cheeryble befand, war, wenn er vielleicht auch nicht den sanguinischen Erwartungen, die sich ein Fremder nach Timotheus Linkinwaters glühenden Lobessprüchen davon bilden mochte, entsprach, immerhin ein recht behaglicher Winkel mitten im Herzen des geräuschvollen London und erfreute sich des liebevollen Gedenkens so manchen Bewohners in der Nachbarschaft, das sich jedoch aus wesentlich jüngeren Epochen herleitete als das des enthusiastischen Mr. Tim Linkinwater. Wer natürlich an die aristokratische Grandezza von Grosvenor oder Hanover Square, die witwenhaft frostige Steifheit von Fitzroy Square, die Kiesgänge und Gartenbänke von Russell und Euston Square gewöhnt ist, muß sich vor Augen halten, daß die Anhänglichkeit Mr. Timotheus Linkinwaters oder anderer ihm an Rang gleicher Personen an diesen kleinen Platz lediglich seelischen Ursprungs war, denn von grünem Laub, wenn es auch noch so staubig gewesen wäre, konnte man dort auch nicht eine Spur bemerken. City Square hat keinen einzigen Baum, den Laternenpfahl in der Mitte vielleicht ausgenommen, und keinen Rasen außer den paar Halmen Gras, die an seiner Basis grünen. Es ist ein ruhiger, wenig besuchter, abgelegener Ort, außerordentlich günstig für einsame und melancholische Grübler und für Rendezvous, bei denen man lange warten muß. Gelangweilt gehen da die Wartenden oft stundenlang aneinander vorüber, wecken auf den ausgetretenen Pflastersteinen das Echo mit dem monotonen Schall ihrer Fußtritte und zählen anfangs die Fenster und schließlich sogar die Ziegelreihen der hohen stillen Häuser, die den Platz einengen. Im Winter findet man hier noch Schnee, wenn er längst auf den belebteren Straßen und den Chausseen geschmolzen ist. Die Sommersonne hat gewissermaßen Respekt vor dem City Square und spart ihre sengende Hitze und ihr blendendes Licht für geräuschvollere und imposantere Orte auf. Es ist hier so ruhig, daß man fast das Ticken seiner Taschenuhr hören kann, wenn man stehenbleibt, um in den Hundstagen die erfrischende Luft einzuatmen. Ein entferntes Summen dringt ans Ohr – von den rollenden Wagen in der City, nicht von Insekten –, das ist aber auch das einzige Geräusch, das die Ruhe von City Square unterbricht. Dann lehnt wohl der Dienstmann mit seiner Nummer an der Mütze müßig an dem Eckpfahl und genießt die behagliche Kühle, wenn ringsum der Tag glühend heiß auf dem Pflaster liegt. Seine weiße Schürze hängt schlaff herab, allmählich senkt sich sein Kopf auf die Brust, die Augen wollen ihm plötzlich nicht mehr recht aufgehen; er ist nicht imstande, der einschläfernden Macht des Ortes zu widerstehen, und schlummert langsam ein. Aber dann schreckt er wohl wieder gelegentlich auf und starrt mit verwirrten Augen vor sich hin. Gibt's ein Geschäft für ihn, oder hat ein Junge in der Nähe mit Marmeln gespielt? Sieht er ein Gespenst, oder hört er eine Drehorgel? Nein, es ist ein weit ungewöhnlicherer Anblick, ein Schmetterling – ein wirklicher, leibhaftiger Schmetterling, der sich vom Blumenduft hierher verirrt hat und die eisernen Spitzen des staubigen Areageländers umflattert, umschwebt ihn.
Wenn es aber auch nicht viel unmittelbar vor dem Hause der Gebrüder Cheeryble gab, was die Aufmerksamkeit eines jungen Kontoristen auf sich ziehen oder seine Gedanken hätte zerstreuen können, so bot das Innere dafür um so mehr Stoff für Interesse und Unterhaltung. Da war wohl kein Gegenstand, beseelt oder unbeseelt, der nicht einigermaßen an der gewissenhaften Methodik und Pünktlichkeit Mr. Timotheus Linkinwaters teilgenommen hätte. Mit der Genauigkeit der Bureauuhr, die nach der einer alten versteckten Kirche in unmittelbarster Nähe des Platzes für den besten Zeitmesser in London galt, verrichtete der alte Buchhalter selbst die geringsten Kleinigkeiten seines Tagewerkes und hielt auch die unbedeutendsten Sachen in seinem kleinen Glaszimmer in Ordnung mit einer Pedanterie, die nicht hätte größer sein können, wenn es sich um die auserlesensten Raritäten gehandelt haben würde. Papier, Federn, Tinte, Lineal, Siegellack, Oblaten, Streusandbüchse, Bindfadenbüchse, Feuerzeug, sein Hut, seine Handschuhe, sein Straßenrock, der an der Wand hing und genau so aussah wie er selbst von rückwärts – alles das hatte seinen angewiesenen Platz. Von der Kontoruhr abgesehen, gab es auf der ganzen Welt kein so genaues Instrument mehr als das kleine Thermometer hinter der Türe, und nirgends war ein Vogel mit so methodischen und pedantischen Gewohnheiten zu finden wie die blinde Amsel, die den Tag in einem großen hübschen Käfig verträumte und verschlief und infolge Alters ihre Stimme bereits eingebüßt hatte, ehe sie von Tim käuflich erworben worden. In der ganzen Reihe von Anekdoten, die Tim Linkinwater zu erzählen wußte, war keine so interessant wie die, wie er diesen Vogel erworben, nämlich aus Mitleid mit seinem jämmerlichen Zustand und mit der Absicht, diesem elenden Leben aus Menschlichkeit ein Ende zu machen. Drei Tage hatte Tim Linkinwater noch gewartet, um zu sehen, ob das Tierchen nicht wieder genese, wie sich dann der Vogel noch vor Ablauf der Galgenfrist erholte und allmählich seinen Appetit und sein gutes Aussehen wiederbekam, bis er so wurde, »wie Sie ihn jetzt sehen«, pflegte Tim Linkinwater mit einem stolzen Blick auf den Käfig zu sagen, und dann ließ er jedesmal ein leises Pfeifen vernehmen und rief »Dick«, und Dick, der noch einen Augenblick vorher seinem Äußern und seiner Bewegungslosigkeit nach zu schließen ganz gut eine kunstlos gearbeitete hölzerne oder ausgestopfte Amsel hätte sein können, kam dann in drei kleinen Hüpfern an die Seite des Käfigs, steckte den Schnabel durch die Drähte und wandte die erblindeten Augen seinem alten Herrn zu. In einem solchen Momente wäre es wohl schwer gewesen, zu unterscheiden, wer von beiden der Glücklichere war, der Vogel oder Mr. Timotheus Linkinwater.
Aber das war noch lange nicht alles. Überall und überall spiegelte sich die menschenfreundliche Gesinnung der beiden Inhaber des Geschäftes wieder. Die Arbeiter im Magazin waren so kräftige und fröhliche Burschen, daß es eine wahre Freude bedeutete, sie anzusehen. Neben den Schiffs- und Postfahrttabellen, die die Wände des Kontors schmückten, hingen Grundrisse und Pläne für Armenhäuser, Wohltätigkeitsanstalten und Spitäler. Über dem Kaminsims prangten zum Schrecken aller Übeltäter eine Muskete und ein Säbel; die Muskete rostig und schadhaft und der Säbel abgebrochen und ohne Schneide. Anderswo würden die Waffen in diesem Zustand bei jedem wohl nur ein Lächeln hervorgebracht haben, aber hier schienen auch diese Werkzeuge des Faustrechtes und der Gewalt unter dem herrschenden Einfluß zu stehen und zu Sinnbildern des Erbarmens und der Duldsamkeit zu werden.
Das waren ungefähr die Gedanken, deren sich Nikolas am ersten Morgen, als er von dem freigewordenen Pulte Besitz ergriff, nicht erwehren konnte. Sie schienen ihn aber nur zur Tätigkeit anzuspornen, denn die nächsten drei Wochen waren seine sämtlichen Freistunden frühmorgens und spätabends unablässig dem Studium der Geheimnisse der doppelten Buchhaltung und anderer Beigaben kaufmännischer Tätigkeit gewidmet, und er gab sich mit solcher Ausdauer und Beharrlichkeit dieser Beschäftigung hin, daß er bereits nach Verlauf von vierzehn Tagen Mr. Linkinwater über seine Fortschritte Bericht erstatten und auf dessen Versprechen zurückkommen konnte, nächstens auch zu schwierigeren Arbeiten verwendet zu werden, trotzdem sich seine ganzen Vorkenntnisse bisher lediglich auf gewisse dunkle Erinnerungen an zwei oder drei sehr lange Additionskolumnen beschränkten, die vor seinem geistigen Auge, in ein altes Schulrechenbuch geschrieben – und der väterlichen Einsicht wegen von des Schreiblehrers eigener Hand mit einem geschmackvoll ausgeführten Schnörkel verziert –, auftauchten. Wenn dann Mr. Linkinwater gelegentlich und langsam ein ungeheures Hauptbuch und ein Journal vor sich hinlegte, Rücken und Deckel sorgfältig abstaubte und die schön beschriebenen fleckenlosen Seiten halb traurig und halb stolz aufschlug und betrachtete, so war das ein Anblick, der wohl der Mühe lohnte.
»Im nächsten Mai werden es vierundvierzig Jahre«, sagte Tim, »und seitdem ist wohl an so manches neue Hauptbuch die Reihe gekommen. – Vierundvierzig Jahre!«
Und dann schloß er das Buch wieder.
»Ich brenne schon vor Ungeduld, einmal anfangen zu können«, drängte Nikolas.
Tim Linkinwater schüttelte mit mildem Vorwurf den Kopf. Mr. Nickleby hatte offenbar noch nicht die gehörigen Begriffe von der fabelhaften Wichtigkeit der Buchführung. Was, wenn er sich verschrieb – oder gar etwas ausradieren müßte! –
Ja, ja, junge Leute sind Wagehälse; es ist nicht zu glauben, wie tollkühn sie sich manchmal aufs Glatteis wagen und ohne die üblichen sorgfältigen Vorbereitungen Platz nehmen auf dem Schreibebock. Nein, sogar nachlässig vor dem Pulte stehend und mit einem Lächeln um die Lippen – einem wirklichen Lächeln, darüber konnte kein Zweifel sein –, tauchte Nikolas seine Feder ins Tintenfaß und machte sich über die Bücher der Gebrüder Cheeryble her.
Timotheus Linkinwater erblaßte, balancierte seinen Schreibsessel auf den zwei Beinen, die Nikolas am nächsten waren, und sah ihm mit atemloser Spannung über die Schulter. Die Gebrüder Charles und Ned traten mitsammen in das Kontor, aber Timotheus Linkinwater winkte ihnen, ohne sich umzusehen, nur ungeduldig zu, um ihnen damit anzudeuten, daß die tiefste Stille beobachtet werden müsse, und folgte der Spitze der ungeübten Feder mit entsetzten Blicken.
Die beiden Brüder sahen lächelnd zu, nur Timotheus Linkinwater behielt seine steinerne Miene bei und blieb einige Minuten wie erstarrt, dann atmete er endlich tief und langsam aus, warf, noch immer seine balancierende Stellung auf dem Schreibsessel beibehaltend, Charles Cheeryble einen Blick zu, deutete verstohlen mit der Fahne seiner Feder auf Nikolas und nickte schließlich würdevoll und entschieden, was offenbar soviel heißen sollte, wie: »Er wird sich machen«.
Charles Cheeryble nickte gleichfalls und wechselte einen listigen Blick mit seinem Bruder Ned, aber in demselben Moment hielt Nikolas inne, um umzublättern, und Timotheus Linkinwater, der mit seiner Anerkennung nicht länger an sich halten konnte, stieg von seinem Bock herunter und ergriff entzückt die Hand des jungen Mannes.
»Brav gemacht«, rief er und sah sich triumphierend nach seinen Prinzipalen um. »Seine großen P's und D's sind genau wie die meinigen, niemals vergißt er den Punkt über dem kleinen ›i‹ und macht durch jedes ›t‹ seinen Strich. Es gibt keinen solchen jungen Mann mehr in London wie diesen«, fuhr er fort und klopfte Nikolas wohlwollend auf den Rücken, »nein, nicht einen einzigen. Reden Sie nicht! Ich dulde keine Einwendungen. In der City ist nicht seinesgleichen zu finden. Man soll mir nur einen einzigen zeigen, wenn man kann!«
So seinen Fehdehandschuh hinwerfend, schlug Timotheus Linkinwater mit der geballten Faust so kräftig auf das Pult, daß die alte Amsel vor Schrecken von ihrer Stange herunterfiel und ein entsetztes Piepen vernehmen ließ.
»Bravo, Tim, bravo, Tim Linkinwater!« rief Charles Cheeryble, kaum weniger erfreut als sein Buchhalter und klatschte in die Hände. »Ich wußte es doch gleich anfangs, daß sich unser junger Freund alle mögliche Mühe geben werde, und war auch überzeugt, daß es ihm sofort gelingen würde. Hab' ich dir's nicht längst gesagt, Ned?«
»Allerdings, lieber Bruder – gewiß, du hast es gesagt und hattest auch vollkommen recht«, versetzte Ned Cheeryble, »hattest vollkommen recht. Tim Linkinwater ist aufgeregt, aber er hat auch alle Ursache dazu – alle Ursache dazu. Tim ist ein wackerer alter Knabe – Tim Linkinwater, Sie sind ein wackerer alter Knabe.«
»Welche Freude für mich«, rief Tim, ohne auf dieses Kompliment zu achten, und richtete seine Brille von dem Hauptbuch auf seine beiden Chefs, »welche unendliche Freude! Glauben Sie, es hätte mir vielleicht nicht oft schwere Sorgen gemacht, was wohl alles aus diesen Büchern werden würde, wenn ich einmal nicht mehr bin? Glauben Sie, ich hätte vielleicht nicht oft gefürchtet, es werde alles kunterbunt durcheinandergehen, wenn ich einmal unter dem Rasen ruhe? Aber jetzt«, fuhr er fort und streckte seinen Zeigefinger spitzig gegen Nikolas aus, »jetzt kann ich ruhig sterben, wenn ich ihm noch ein bißchen mehr beigebracht habe. Das Geschäft wird nach meinem Tode fortgehen wie zu meinen Lebzeiten. – Genau so, und ich habe heute die frohe Überzeugung, daß es nie solche Hauptbücher gab – keine solchen Hauptbücher mehr gibt –, nein, und auch nie solche mehr geben wird, wie die der Gebrüder Cheeryble.«
Nachdem Mr. Linkinwater seine Gefühle in dieser Weise enthusiastisch ausgedrückt, leistete er sich noch ein kurzes Lachen, was so viel wie eine Herausforderung an die beiden Städte London und Westminster bedeuten sollte, verfügte sich dann an sein Pult, trug die Summe »76« der vorhergehenden Kolonne auf die aufgeschlagene Seite ein und war sofort wieder in seine Arbeit vertieft.
»Tim Linkinwater!« rief Charles Cheeryble. »Hören Sie jetzt. Geben Sie mir Ihre Hand! Heute ist Ihr Geburtstag; wie können Sie nur von etwas anderem reden, bevor wir Ihnen nicht eine oftmalige glückliche Wiederkehr dieses Tages gewünscht haben, Tim! Gottes Segen auf Ihr Haupt, Tim Linkinwater, Gottes Segen auf Ihr Haupt!«
»Lieber Bruder«, mischte sich Ned Cheeryble ein und ergriff Tims andere Hand. »Tim Linkinwater sieht um zehn Jahre jünger aus als an seinem letzten Geburtstag.«
»Ned, lieber Junge«, nahm der andere alte Knabe seinerseits das Wort, »ich glaube, Tim Linkinwater ist hundertfünfzig Jahre alt auf die Welt gekommen und hat sich allmählich auf fünfundzwanzig heruntergelebt, denn er sieht mit jedem Geburtstag jünger aus als an dem vorhergehenden.«
»Ja, ja, so ist's, Charles, so ist's«, nickte Ned, »das unterliegt gar keinem Zweifel.«
»Vergessen Sie nicht, Tim«, wendete sich Charles Cheeryble an den alten Buchhalter, »daß wir heute um halb sechs statt um zwei Uhr speisen; Sie wissen, Tim Linkinwater, an Ihrem Geburtstag machen wir das immer so. Und auch Sie, lieber Mr. Nickleby, müssen dabei sein. Tim Linkinwater, jetzt geben Sie mir mal Ihre Dose als ein Andenken für meinen Bruder Ned und mich und nehmen Sie dagegen diese hier als einen geringen Beweis unserer Hochachtung und Wertschätzung. Sie dürfen Sie aber nicht eher aufmachen, als bis Sie zu Bett gehen, und wenn Sie mir dann je ein Wort von der ganzen Sache später sagen, drehe ich Ihrer Amsel den Hals um. Der Vogel hätte übrigens schon vor einem halben Dutzend Jahren einen goldenen Käfig haben müssen, wenn er oder sein Herr dadurch nur um ein bißchen glücklicher geworden wäre! – Also, lieber Ned, mein Junge, ich bin jetzt bereit. – Vergessen Sie nicht, um halb sechs, Mr. Nickleby; Tim Linkinwater, sehen Sie mir darauf, daß Mr. Nickleby um halb sechs Uhr mitkommt. – Also, Bruder Ned, gehen wir.«
So ihrer Gewohnheit gemäß einen Satz an den andern reihend, um Dankesäußerungen von der andern Seite unmöglich zu machen, entfernten sich die beiden Zwillingsbrüder, nachdem sie Tim Linkinwater mit einer kostbaren goldenen Dose beschenkt hatten, die eine Banknote enthielt, die den Wert des kleinen Kunstwerks um mehr als das Zehnfache überstieg.
Punkt ein Viertel auf sechs langte, wie an jedem Geburtstag des Buchhalters, Tim Linkinwaters Schwester an, und da gab es sofort ein großes Aufhebens zwischen ihr und der alten Haushälterin wegen der Haube, die Miss Linkinwater aus ihrer Wohnung durch einen Knaben hergeschickt hatte, die aber noch immer nicht angekommen war, trotzdem man sie in eine Schachtel gepackt, die Schachtel in ein Tuch gewickelt und das Tuch dem Jungen an den Arm gebunden hatte. Auch war die Adresse pflichtgetreu auf die Rückseite eines alten Briefkuverts geschrieben und dem Jungen unter Androhung der fürchterlichsten Strafen eingeschärft worden, das Paket mit größter Eile und ohne unterwegs auch nur eine Sekunde zu verlieren, abzugeben. Und jetzt lamentierte Miss Linkinwater, und die Haushälterin bedauerte sie, und beide steckten die Köpfe aus einem Fenster des zweiten Stockes heraus, um zu sehen, ob der Bube denn nicht käme, oder besser gesagt, ob er nicht schon da sei, denn die Entfernung bis zur Ecke betrug kaum fünf Schritt. Plötzlich und in einem Augenblick, wo man ihn am wenigsten erwartete, erschien der Bote, die Schachtel mit ausgesuchtester Sorgfalt auf dem Arme und von einer gerade entgegengesetzten Richtung kommend – ächzend, keuchend und erhitzt von der Anstrengung, was übrigens ganz natürlich war, denn er hatte sich zuerst auf einer Droschke, die nach Camberwell fuhr, hinten aufgesetzt, war dann vor einem Kasperltheater stehen geblieben und hatte schließlich ein paar Stelzenläufer bis zur Türe ihres Hauses verfolgt. Trotzdem schien die Haube unversehrt, und das war ein Trost. – Ausschimpfen nützte nichts, und so trat der Junge vergnügt seinen Rückweg an, und Tim Linkinwaters Schwester bewillkommnete die Gesellschaft im Parterre genau fünf Minuten später, nachdem die untrügliche Uhr halb sechs geschlagen hatte.
Die Gesellschaft bestand aus den Gebrüdern Cheeryble, Timotheus Linkinwater selbst, einem rotwangigen, weißhaarigen Freund von ihm – einem pensionierten Handlungsangestellten sowie Nikolas, den man sofort Mr. Timotheus Linkinwaters Schwester mit großer Würde und Feierlichkeit vorstellte. Als alle glücklich versammelt waren, klingelte Mr. Cheeryble, und gleich darauf wurde angekündigt, es sei das Essen aufgetragen, worauf er Tim Linkinwaters Schwester ins Speisezimmer führte. Ned setzte sich obenan und Charles unten an die Tafel, Tim Linkinwaters Schwester saß Ned Cheerybles zur Linken und Tim Linkinwater selbst zur Rechten. Ein alter Kellner von apoplektischem Aussehen und auffallend kurzen Beinen postierte sich hinter Ned Cheerybles Lehnstuhl und erhob den Arm, um die Deckel der Schüsseln sogleich abnehmen zu können, wenn man das Zeichen zum Anfang gäbe.
»Für diese und alle andern Segnungen, Bruder Charles –«, begann Ned.
»– Möge uns der Herr mit aufrichtigem Dank erfüllen, Ned«, ergänzte Charles.
Der apoplektische Kellner riß daraufhin sofort den Deckel von einer Suppenterrine weg und wurde wie auf Zauberschlag Leben und Beweglichkeit.
Die Unterhaltung ließ sich trefflich an, und es stand nicht zu befürchten, daß der Stoff so leicht ausgehen werde, denn die gute Laune der beiden braven alten Knaben wirkte mit, daß alle gesprächig blieben. Tim Linkinwaters Schwester erging sich denn auch sogleich nach dem ersten Glase Champagner in einem langen und umständlichen Bericht über ihres Bruders Kindheit, wobei sie vorsorglich vorausschickte, daß sie viel jünger als Tim sei und die Tatsachen nur durch Familienüberlieferungen erfahren habe. Als sie mit der Geschichte glücklich zu Ende gekommen, erzählte Ned Cheeryble, wie man Timotheus Linkinwater genau vor fünfunddreißig Jahren im Verdacht gehabt, einen Liebesbrief erhalten zu haben, und wie diese sagenhafte Nachricht in das Kontor gedrungen sei, da man ihn mit einer ungemein schönen Jungfrau Cheapside habe hinuntergehen sehen. Das verursachte ein allgemeines Gelächter, und Tim Linkinwater, dem man zur Last legte, er werde rot, wurde aufgefordert, eine Erklärung abzugeben, wie sich die Sache verhalten habe, was er denn auch tat. Er sagte ganz einfach, die Sache sei »nicht wahr«, und fügte hinzu, im übrigen könne er nichts Unrechtes darin erblicken, wenn die Sache sich auch wirklich so verhalten hätte. Diese Einschränkung veranlaßte den pensionierten Handlungsangestellten zu einem lauten Gelächter und zu der Erklärung, daß das wohl der beste Witz sei, den er je in seinem Leben gehört, und daß Tim Linkinwater jetzt lange werde reden müssen, bis er etwas herausbrächte, das diesem gleichkäme.
Ein ganz eigentümlicher kleiner Vorfall machte einen sehr tiefen Eindruck auf Nikolas. Als das Geschirr abgetragen war und die Flasche zum erstenmal kreiste, trat plötzlich ein tiefes Schweigen ein, und in den sonst so heiteren Gesichtern der beiden Brüder lag mit einem Mal ein Ausdruck nicht gerade von Trauer, wohl aber von stiller Nachdenklichkeit, wie sie sonst bei einem Feste nicht gerade üblich ist. Nikolas fiel diese Veränderung auf, und er machte sich eben seine Gedanken, was sie wohl zu bedeuten habe, als die beiden Brüder aufstanden und Ned mit leiser Stimme, wie zu seinem Bruder hinüber, die Worte sprach:
»Lieber Charles, dieser Tag erweckt noch eine andere Erinnerung in uns, die wir nie vergessen dürfen und nie vergessen können; derselbe Tag, der der Welt einen so treuen und musterhaften Menschen schenkte, entriß ihr auch die gütigste und beste der Mütter: die unserige. Ich wollte, sie hätte uns in unserm Wohlstand sehen und unser Glück teilen können. Welche Freude wäre es ihr gewesen, zu erfahren, wie innig wir sie zu der Zeit geliebt haben, als wir noch zwei arme Jungen waren – aber es sollte nicht sein. Lieber Bruder – auf das Andenken unserer teuren Mutter!«
»Was sind das für wackere Männer«, dachte Nikolas, »und wie viele in derselben Stellung würden sie nicht einmal zu Tisch bitten, da sie mit den Messern essen und niemals in die Schule gegangen sind.«
Aber es blieb keine Zeit zum Moralisieren, denn fast unmittelbar darauf war die allgemeine Heiterkeit wiederhergestellt, und als die Portweinflasche beinahe geleert schien, klingelte Ned, und sofort tauchte der apoplektische Kellner auf.
»David!«
»Sir?«
»Eine Flasche von dem ›Doppeldiamant‹, David, damit wir auf Mr. Linkinwaters Gesundheit trinken können.«
Der apoplektische Kellner zog sofort mit einer Gewandtheit, die die Bewunderung der ganzen Gesellschaft erregte und schon seit mehreren Jahren bei dieser Gelegenheit erregt hatte, die linke Hand hinter dem Rücken hervor, in der sich die gewünschte Flasche bereits mit hineingeschraubtem Stöpselzieher befand, entkorkte sie im Nu und stellte sie nebst Pfropfen mit der Würde des Vollbewußtseins unnachahmlicher Geschicklichkeit auf den Tisch.
»Ah«, rief Ned, zuerst den Kork untersuchend und sich dann das Glas füllend, während der alte Kellner selbstgefällig und schmunzelnd zusah, als wären alle Dinge hier sein Eigentum und die Anwesenden seine Gäste: »Feine Marke, was David?«
»Möt wohl sien«, versetzte David. »Wird wohl schwer sein, 'n Glas Wein zu finden wie unsern Doppeldiamant und Mr. Linkinwater weet dat woll. Der Wein wurde am Jahrestag von Mr. Linkinwaters Eintritt ins Geschäft eingelagert.«
»Da hör' mal einer, David!« fiel Charles Cheeryble ein.
»Wenn Sie erlauben, Sir, ich habe es selber ins Kellerbuch eingetragen«, sagte David mit dem Brustton eines Mannes, der von der Untrüglichkeit seiner Behauptung tief durchdrungen ist. »Mr. Linkinwater war erst zwanzig Jahre hier, Sir, als die Pipe Doppeldiamant eingelagert wurde.«
»David hat recht, vollkommen recht, Bruder Charles«, rief Ned, »sind die Leute da, David?«
»Vor der Türe, Sir.«
»Laß sie doch herein, David! Laß sie doch herein.«
Gehorsam stellte der alte Kellner ein Brett mit Gläsern vor seinen Herrn hin und öffnete die Türe, um die Arbeiter hereinzulassen, die Nikolas bereits unten gesehen hatte. Es waren im ganzen vier. Sie traten, sich verbeugend, grinsend und errötend ein, während die Haushälterin, die Köchin und die Hausmagd die Nachhut bildeten.
»Sieben«, zählte Ned Cheeryble und füllte eine Reihe von Gläsern mit dem ›Doppeldiamant‹, »und David dazu macht acht. – Hier, da habt ihr. Ihr werdet jetzt sämtlich auf die Gesundheit eures besten Freundes, des Mr. Timotheus Linkinwater, trinken und ihm Wohlergehen und langes Leben sowie noch recht oftmalige fröhliche Wiederkehr dieses Tages wünschen. Nicht nur um seiner selbst, sondern auch um seiner alten Prinzipale willen, die in ihm einen unbezahlten Schatz sehen. Tim Linkinwater, Ihre Gesundheit! Hol Sie der Kuckuck, Tim Linkinwater, und Gottes Segen auf Ihr Haupt!«
Bei diesen sich, genau genommen, ein wenig widersprechenden Worten gab Ned Cheeryble Tim einen Schlag auf den Rücken, daß dieser einen Augenblick fast ebenso apoplektisch aussah wie der Kellner, und trank dann sein Glas mit einem Ruck aus. Timotheus Linkinwaters Gesundheit war kaum mit gebührender Feierlichkeit getrunken, als der stämmigste und breitschultrigste der Arbeiter linkisch vortrat, sich den Schweiß von der Stirne wischte, seine einzige graue Locke hinters Ohr schob, um der Gesellschaft seine Achtung zu bezeugen, und unter beständigem heftigem Reiben seiner Handflächen an einem blauen baumwollenen Taschentuch folgendermaßen anhob:
»Wir dürfen uns jährlich eine Freiheit herausnehmen, miene Herren, und wenn's erlaubt is, wöölt wie dat jetzt daun. Nichs is beeter als die Gegenwaart und n' Vogel im Busch is mehr weert als twej in de Hand, wie wi alle weeten, oder umgekehrt, wat datselwe is. (Eine Pause – der alte Kellner schien durchaus nicht überzeugt zu sein.) – Wir wollen nämlich sagen, daß es nie (er sah dabei den Kellner an) – solche – (er blickte nach der Köchin) – edle – vortreffliche – (er blickte in die leere Luft) freigewige, großmütige und wackere Herren gewen hett als die, die uns an diesem Tage friehalten hewen. Un wi danken auch für all dat Goode, wat Sej an uns allen daun hewen, und wünschen Ihnen ein langes Leben un een selig Steerben.«
Kaum war das letzte Wort dieser Rede verklungen, die vielleicht wohlgesetzter hätte sein können, aber kaum herzlicher, da ließ der ganze Chor unter dem Kommando des apoplektischen Kellners drei Vivats erschallen, die leider und zur größten Entrüstung des Kommandanten recht unregelmäßig ausfielen, da die Damen es sich nicht nehmen ließen, eine unzählige Menge kleiner schriller »Hochs« dazwischen zu gellen, ohne sich im mindesten um den Taktstock des Kapellmeisters zu kümmern.
Dann entfernten sich alle, und bald nachher zog sich Tim Linkinwaters Schwester zurück. Nach einer Weile brach auch die übrige Gesellschaft auf, um sich's bei einer Tasse Kaffee oder Tee und einer Partie Karten wohl sein zu lassen.
Um halb elf Uhr – einer späten Stunde für den City Square – erschien ein Teller mit Sandwiches und einer Bowle »Bischof«, die nach dem »Doppeldiamant« und den andern aufregenden Getränken einen solchen Einfluß auf Tim Linkinwater übte, daß er Nikolas beiseite nahm und ihm im Vertrauen andeutete, es habe, offen gestanden, ganz seine Richtigkeit mit der ungemein schönen Jungfrau, und sie wäre tatsächlich auch so schön gewesen, wie man sie beschrieben habe – ja sogar noch viel schöner –, daß sie jedoch zu große Eile gehabt, dem ledigen Stande Lebewohl zu sagen und sich daher noch, während er sich um sie beworben und die Sache mit Besonnenheit betrieben habe, mit einem andern verheiratet hätte. Die Angelegenheit sei aber gescheitert. »Ich muß allerdings gestehen, daß es mein Fehler war«, schloß Tim. – »Ich werde Ihnen übrigens dieser Tage droben einen Kupferstich zeigen; er hat mich fünfundzwanzig Schillinge gekostet, und ich habe ihn gekauft, als wir einander schon aufgegeben hatten – erwähnen Sie hier nichts davon –, der Kupferstich hat nämlich eine auffallende Ähnlichkeit mit der Betreffenden; kann Ihnen sagen, es ist ein leibhaftiges Porträt, Sir.«
Mittlerweile schlug die Uhr elf, und da Mr. Linkinwaters Schwester ausdrücklich erklärte, sie hätte schon vor einer Stunde zu Hause sein müssen, so wurde eine Droschke geholt, und Ned Cheeryble half ihr mit großer Förmlichkeit hinein, während Charles dem Kutscher die ausführlichsten Anweisungen erteilte und ihm außerdem einen Schilling über die Taxe bezahlte, damit er ja auf das gewissenhafteste um die Dame besorgt sei. Dann erstickte er den Mann noch mit einem Glas Brandy von seltener Stärke und hätte ihm beinahe den Atem aus dem Leibe geklopft, während er aufs eifrigste bemüht war, ihn durch kräftige Schläge auf den Rücken wieder zu sich zu bringen.
Endlich rumpelte der Wagen davon, und ziemlich bald darauf verabschiedeten sich Nikolas und Tim Linkinwaters Freund gleichzeitig und überließen den alten Buchhalter und das würdige Brüderpaar ihrer Ruhe.
Da Nikolas einen ziemlich weiten Weg hatte, war es schon ziemlich lange Mitternacht vorüber, als er zu Hause ankam. Seine Mutter und Smike erwarteten ihn. Ihre Zeit zum Schlafengehen war zwar längst vorüber, denn sie hatten auf seine Heimkehr mindestens um zwei Stunden früher gerechnet, aber trotzdem war sie ihnen rasch vergangen, denn Mrs. Nickleby hatte Smike mit einem genealogischen Bericht über ihre Familie mütterlicherseits unterhalten, dem sie die Hauptäste der Hauptstämme beigefügt, und Smike, der aus alledem nicht recht klug zu werden vermochte, hatte sich tiefe Gedanken darüber gemacht, ob Mrs. Nickleby alles das aus einem Buche gelernt habe oder aus dem Kopfe hersage. Die Unterhaltung mußte daher beiderseits außerordentlich spannend gewesen sein.
Nikolas konnte gar nicht genug erzählen über die herrlichen Eigenschaften und die Freigebigkeit der Gebrüder Cheeryble und sprach auch über den Erfolg, den er am Tage im Bureau gehabt. Aber kaum war er mit den ersten paar Sätzen zustande gekommen, da bemerkte ihm Mrs. Nickleby unter Blinzeln und Kopfnicken, sie sei davon durchdrungen, Smike müsse außerordentlich müde sein, und sie könne nicht zugeben, daß er auch nur eine Minute länger aufbleibe.
»Nun, das muß man ihm nachsagen, er ist ein ungemein williger und fügsamer junger Mensch«, sagte sie, als Smike ihr gute Nacht gewünscht und das Zimmer verlassen hatte. »Ich weiß, du wirst mich entschuldigen, daß ich jetzt meine Nachtmütze aufsetze, lieber Nikolas, aber ich liebe es nicht, mich in einem solchen Aufzuge vor fremden Personen sehen zu lassen. Übrigens wäre es vor einem jungen Menschen nicht ganz passend gewesen, obgleich ich im Grunde nicht einsehe, was Schlimmes dabei herauskommen könnte, ausgenommen, daß es an und für sich nicht schicklich ist. – Allerdings sind die Meinungen darüber verschieden, und ich weiß auch nicht, was daran wäre, wenn sie nur gut gemacht und die Garnierung hübsch schmal geplättet ist. Davon hängt natürlich das meiste ab.«
Damit zog Mrs. Nickleby ihre Nachtmütze aus einem großen Gebetbuch hervor, wo sie klein zusammengefaltet gelegen hatte, und schickte sich an, sie aufzusetzen, wobei ihr die Zunge natürlich keinen Augenblick stillstand.
»Die Leute mögen sagen, was sie wollen« – ging es weiter – »aber eine Nachthaube ist und bleibt etwas sehr Bequemes, und ich bin ganz überzeugt, du würdest das auch sagen, lieber Nikolas, wenn du Bänder an der deinigen trügest und sie wie ein ehrlicher Christenmensch aufsetzen wolltest, statt wie ein Waisenknabe oben auf dem Scheitel zu befestigen. Du brauchst es durchaus nicht für unmännlich oder lächerlich zu halten, dem Gebrauch einer Nachtmütze zu huldigen. Ich habe deinen armen seligen Vater und Mr. – wie hieß der Herr doch nur, der immer Gebete in der alten Kirche mit dem sonderbaren kleinen Turm las, dessen Wetterfahne in der Nacht gerade acht Tage vor deiner Geburt heruntergeweht wurde –, na, sei es wie es sei, ich habe oft sagen hören, daß die Studenten mit ihren Nachtmützen außerordentlich eigen seien und daß die Oxforder Nachtmützen wegen ihrer Stärke und Güte einen großen Ruf genossen – es hieß, sie seien so berühmt, daß es den jungen Leuten gar nicht in den Sinn komme, ohne solche Mützen zu Bett zu gehen, und ich glaube, jeder wird ihnen wohl zugestehen, daß sie wissen müssen, was gut ist, und sich wahrhaftig nichts abgehen lassen.«
Nikolas lachte auf und kehrte, ohne sich auf das Thema weiter einzulassen, in der heitersten Stimmung wieder zu der kleinen Geburtstagsfeier zurück, und da seine Mutter auf der Stelle sehr neugierig wurde und eine Menge Fragen stellte, was man gegessen, wie gekocht worden, ob die Speisen gut oder schlecht geschmeckt, wer eingeladen gewesen sei, was die Brüder Cheeryble gesagt und was Nikolas gesagt und was die Brüder Cheeryble darauf geantwortet und er dann wieder gesagt habe und dergleichen, so beschrieb Nikolas die Festlichkeit wie auch die Bureau-Ereignisse des Tages des langen und breiten.
»So spät es auch ist«, schloß er, »so möchte ich doch fast wünschen, Kate wäre aufgeblieben, um alles das mit haben anhören zu können. Den ganzen Heimweg über hat mich beinahe die Ungeduld verzehrt, es ihr zu erzählen.«
»Ja, richtig, Kate«, unterbrach ihn Mrs. Nickleby, stemmte den Fuß auf die Kaminstange und rückte ihren Stuhl näher, sich offenbar zu einer größeren Erzählung vorbereitend, »Kate ist natürlich schon seit ein paar Stunden im Bett, und ich bin recht froh, lieber Nikolas, daß sie mir folgte und schlafen gegangen ist, denn ich wollte die Gelegenheit benutzen, mit dir einige Worte zu sprechen; ich bin ein wenig bedrückt, und es ist da natürlich eine Freude für mich und ein Trost, einen erwachsenen Sohn zu haben, dem ich mich anvertrauen und mit dem ich mich beraten kann, und ich weiß wirklich nicht, was man eigentlich von Söhnen hätte, wenn man ihnen kein Vertrauen schenken könnte.«
Nikolas unterdrückte, als seine Mutter zu sprechen begann, ein Gähnen, sah ihr aber jetzt mit gespannter Aufmerksamkeit ins Gesicht.
»Als wir in der Nähe von Dawlish wohnten, gehörte eine Dame zu unserer Nachbarschaft – weil ich gerade von Söhnen spreche, bringt mich das darauf« – sprach Mrs. Nickleby fort – »also, wie gesagt, es lebte damals eine Dame in unserer Nachbarschaft, die, wie ich glaube, Rogers hieß – nein, sie kann unmöglich anders geheißen haben, höchstens vielleicht Mercy – das ist noch mein einziger Zweifel –«
»Ist das die Dame, von der du mit mir sprechen wolltest, Mutter?« fragte Nikolas gelassen.
»Dieselbe Dame?« rief Mrs. Nickleby. »Gott im Himmel, Nikolas, wie kannst du wieder so unaufmerksam sein. Aber gerade so hat es auch dein armer seliger Papa immer gemacht – zick zack, hin und her, immer mit den Gedanken anderswo und nie imstande, sich auch nur zwei Minuten auf irgendeinen bestimmten Gegenstand zu konzentrieren –, es ist mir, als sähe ich ihn vor mir«, fuhr Mrs. Nickleby, sich die Augen wischend, fort, »wie er mich immer anblickte, wenn ich von seinen eigenen Angelegenheiten mit ihm sprach; gerade so, als sei er im Geiste ganz woanders. Jeder, der uns bei einer solchen Gelegenheit überrascht hätte, würde sicher geglaubt haben, ich mache ihn nur verwirrter und zerstreuter, während ich ihm doch die Sachen aufs klarste hinbreitete – wahrhaftig ja, jeder würde es geglaubt haben.«
»Ich fürchte, Mama, daß ich so unglücklich bin, die langsame Auffassungsgabe meines Vaters geerbt zu haben«, entgegnete Nikolas freundlich, »aber ich werde mein Bestes tun, aufzupassen, wenn du nur ohne Abschweifungen fortfahren willst.«
»Ach, dein armer Vater«, seufzte Mrs. Nickleby nachdenklich, »nie wußte er, was ich von ihm wollte, bis es zu spät war.«
Das stimmte ohne Zweifel, denn der selige Mr. Nickleby hatte es noch nicht einmal bei seinem Tode begriffen. Freilich wußte Mrs. Nickleby selber nie, was sie eigentlich wollte, und das mag als Entschuldigungsgrund für ihn gelten.
»Alles das hat nun gar nichts«, seufzte Mrs. Nickleby, ihre Tränen trocknend, »mit dem Herrn nebenan zu tun.«
»Ich sollte meinen, der Herr nebenan hat mit uns überhaupt nichts zu schaffen«, entgegnete Nikolas.
»Es unterliegt gar keinem Zweifel«, fuhr Mrs. Nickleby unbeirrt fort, »daß er ein Mann von Bildung ist und die Manieren sowie das Äußere eines Gentlemans hat, trotzdem er Kniehosen und graue wollene Strümpfe trägt. Aber das mag wohl eine Exzentrizität sein, oder vielleicht bildet er sich etwas auf seine Beine ein; ich sehe übrigens gar nicht ein, warum er es nicht tun sollte; auch der Prinzregent war stolz auf seine Beine und ebenso auch Daniel Lambert, der Fettmensch, der sich seines Umfanges wegen auf den Jahrmärkten sehen ließ, und dann auch Miss Biffin, die Dame ohne Extremitäten – das heißt«, setzte Mrs. Nickleby sich verbessernd hinzu, »das waren ja eigentlich keine Beine, sie hatte doch bloß Zehen. Aber im Prinzip kommt es auf dasselbe heraus.«
Nikolas war nicht wenig verwundert über diese sonderbare Einleitung zu einem offenbar wichtigen Thema, das seine Mutter, daran war kein Zweifel, zur Sprache zu bringen gedachte.
»Ich war natürlich überzeugt, daß du erstaunt sein würdest«, fuhr Mrs. Nickleby fort, »auch mich hat es fast wie ein Blitzstrahl berührt und mir das Blut in den Adern zum Stocken gebracht. Sein Garten stößt an den unserigen, und so kam es, daß ich ihn einigemal in seiner kleinen Bohnenlaube sitzen oder in seinen kleinen Frühbeeten arbeiten sah. Es kam mir zwar damals schon so vor, als schaue er uns nach, aber ich achtete nicht besonders darauf, zumal wir doch vor kurzem erst eingezogen sind und er wahrscheinlich neugierig war, wer wir seien. Als er aber anfing, Gurken über unsere Gartenmauer zu werfen –«
»Gurken über die Gartenmauer zu werfen?« wiederholte Nikolas, aufs höchste verblüfft.
»Jawohl, lieber Nikolas«, bekräftigte Mrs. Nickleby mit sehr wichtiger Miene, »Gurken über unsere Gartenmauer, und auch Melonen.«
»Das ist doch wirklich eine bodenlose Frechheit«, brauste Nikolas auf.
»Ich glaube nicht, daß er etwas Schlimmes damit beabsichtigt hat«, entgegnete Mrs. Nickleby.
»Was? Gurken und Melonen nach den Leuten zu werfen, wenn sie in ihrem Garten spazierengehen, und nichts Schlimmes damit meinen? Wie soll ich das verstehen, Mama?«
Nikolas hielt inne, denn er gewahrte plötzlich unter den Besätzen der Nachtmütze seiner Mutter in deren Gesicht einen unbeschreiblichen Ausdruck selbstgefälligen Triumphes, verbunden mit ehrbarer Verwirrung.
»Er muß ein sehr schwacher, törichter und unbesonnener Mensch sein«, gab Mrs. Nickleby zu, »und sein Benehmen verdient gewiß Tadel – wenigstens glaube ich, daß andere Leute die Sache in diesem Lichte sehen würden. Von mir kann man natürlich nicht erwarten, daß ich eine Meinung darüber äußere, besonders, da ich deinen armen seligen Vater immer verteidigte, wenn ihn andere tadelten, daß er mir einen Heiratsantrag gemacht – aber, wie es auch sei, einem Zweifel kann es nicht unterliegen, daß unser Nachbar einen recht kuriosen Weg gewählt hat. Nichtsdestoweniger sind seine Aufmerksamkeiten – natürlich nur in gewissem Sinne – immerhin schmeichelhaft, und obgleich es mir nicht im Traume einfallen würde, mich jemals zu verheiraten, ehe unsere liebe Kate nicht versorgt ist –«
»Gewiß, liebe Mutter; ich bin überzeugt, daß dir ein solcher Gedanke unmöglich auch nur einen Augenblick in den Sinn gekommen sein kann«, fiel Nikolas ein.
»Ach Gott, lieber Nikolas«, versetzte die Mutter ein wenig empfindlich, »wollte ich denn das nicht eben selber sagen? – Wenn du mich nur immer aussprechen ließest! Selbstverständlich habe ich diesen Gedanken nicht aufkommen lassen und bin jetzt ebenso verwundert wie erstaunt, daß du mich dessen für fähig halten kannst. Alles, was ich sage, ist, daß es nur darauf ankommt, welche Maßregeln die besten sind, um seine Annäherungsversuche höflich zurückzuweisen, ohne ihn zu sehr zu verletzen oder vielleicht sogar zur Verzweiflung zu treiben. Lieber Gott«, rief sie geziert, »denke dir nur, Nikolas, was, wenn er sich etwas antäte? – Könnte ich dann je wieder froh werden?«
Trotz seines Ärgers und seiner Verstimmung konnte sich Nikolas doch eines Lächelns nicht erwehren.
»Und du glaubst wirklich, Mama, daß so etwas überhaupt möglich ist?«
»Das weiß ich doch wirklich nicht, lieber Nikolas. Wie kann ich denn das überhaupt wissen? Aber eines Falles entsinne ich mich, der in der vorgestrigen Zeitung stand und einem französischen Blatte entnommen sein soll, wo ein Schuhmachergehilfe auf ein junges Mädchen in einem Nachbardorf eifersüchtig wurde, weil sie sich nicht mit ihm in einer Dachkammer einschließen und durch Kohlenoxydgas vergiften wollte. Er ging hin, versteckte sich mit einem scharf geschliffenen Messer im Walde, stürzte, als das Mädchen mit einigen Freundinnen vorüberging, hervor und tötete zuerst sich selbst, dann die Freundinnen und dann sie – das soll natürlich heißen, zuerst die Freundinnen, dann sie und dann sich selbst. – Denke dir nur, wie schrecklich! Wie sonderbar«, fuhr Mrs. Nickleby nach einer kleinen Pause fort, »immer sind es Schuhmachergesellen, die derartige Sachen in Frankreich verüben, wie man genau aus den Zeitungen ersehen kann. Ich weiß nicht, wie das kommt – der Grund muß wahrscheinlich in dem Leder liegen.«
»Aber Mama, was hat denn also dieser Mensch, der doch gar kein Schuhmacher ist, getan oder gesagt?« fragte Nikolas, der vor Ungeduld und Ärger fast verging, sich aber vollkommen beherrschte und seine Mutter ruhig und gefaßt ansah. »Ich wüßte nicht, daß in irgendeiner Blumensprache der Welt ein Kürbis oder eine Gurke als Liebeserklärung gedeutet wird.«
»Ach, lieber Nikolas«, seufzte Mrs. Nickleby, schüttelte den Kopf und blickte melancholisch in die verglimmende Asche im Kamin, »er hat so mancherlei gesagt und getan.«
»Ist da aber jeder Irrtum deinerseits ausgeschlossen, Mama?«
»Irrtum?« rief Mrs. Nickleby »O Gott, lieber Nikolas, glaubst du wirklich, ich wüßte nicht und sähe nicht, wenn es einem Manne ernst ist?«
»Hm, hm«, murmelte Nikolas vor sich hin.
»Sooft ich ans Fenster trete«, fuhr Mrs. Nickleby fort, »küßt er sich die Fingerspitzen und legt die andere Hand aufs Herz. – Es ist das gewiß sehr albern von ihm, und du wirst sagen, es sei unrecht. Aber er tut es mit der größten Ehrerbietung – wirklich und wahrhaftig mit der größten Ehrerbietung – und zärtlich, außerordentlich zärtlich. Insofern verdient er auch zweifellos die größte Achtung. Und dazu kommen noch die Geschenke, die Tag für Tag über die Mauer herüberfliegen und die durchaus nicht zu verachten sind. Gestern erst hatten wir eine von den Gurken zu Mittag, die übrigen wollen wir für den nächsten Winter einsalzen. Und gestern abend«, fügte Mrs. Nickleby mit mädchenhafter Verwirrung hinzu, »rief er mich, als ich im Garten spazierenging, leise über die Mauer herüber an und sprach von Flucht, heimlicher Heirat und Entführung. Seine Stimme ist glockenrein – klingt fast wie ein Verrophon –, aber ich hörte natürlich nicht auf seine Reden. – Es fragt sich jetzt nur, lieber Nikolas, was soll ich tun?«
»Weiß Kate davon?« fragte Nikolas.
»Ich habe mit ihr noch mit keiner Silbe darüber gesprochen.«
»Um Gottes willen, Mama, tue es auch nicht. Du würdest sie damit nur höchst unglücklich machen«, rief Nikolas. »Und wie du dich selbst in der Sache benehmen sollst, liebe Mutter, das wirst du, wenn du mit deinen eigenen Gefühlen zu Rate gehst und an meinen verstorbenen Vater denkst, selbst wissen. Du kannst ihm ja auf tausenderlei Weise dein Mißfallen an diesen abgeschmackten und läppischen Aufmerksamkeiten zu erkennen geben. Wenn du so entschieden handelst, wie es deine Pflicht ist, und er dann immer noch nicht aufhört, dich zu belästigen, so werde ich ihm schon den Kopf zurechtsetzen. Ich möchte mich nur nicht gerne in eine so lächerliche Sache einmischen und ihr dadurch Wichtigkeit beilegen, bevor du nicht selbst die nötigen Schritte getan hast. Frauen haben ja in solchen Dingen stets einen sichern Takt, und das muß bei dir um so mehr der Fall sein, schon wegen deiner Jahre und deiner Stellung und unter Umständen, wie den gegenwärtigen, bei denen es nicht einmal der Mühe wert erscheint, ernstlich darüber nachzudenken. Ich möchte dich auch nicht dadurch kränken, daß ich mir den Anschein gebe, als nähme ich mir den Vorfall zu Herzen und dächte auch nur einen Augenblick daran, ihn ernst zu behandeln; der Mensch ist eben ein abgeschmackter alter Dummkopf.«
Damit küßte Nikolas seine Mutter, wünschte ihr gute Nacht und begab sich dann zur Ruhe.
Mrs. Nickleby hätte gewiß aus Liebe zu ihren Kindern jeden Gedanken an eine zweite Vermählung verworfen, selbst wenn sie ihren seligen Gatten so weit vergessen haben würde, um zu einem andern Neigung fassen zu können, aber, trotzdem in ihrem Herzen nichts Böses und auch nur wenig wirkliche Selbstsucht wucherte, so war sie doch ziemlich eitel und recht schwach an Verstand. Und dann lag soviel Schmeichelhaftes in dem Gedanken für sie, man könne sie in ihren Jahren noch zur Ehe begehren – und obendrein vergeblich –, daß sie die Leidenschaft des unbekannten Herrn nebenan doch nicht so ganz summarisch abfertigen konnte, als es Nikolas für nötig zu halten schien.
»Ich sehe durchaus nicht ein, warum seine Bewerbung gar so abgeschmackt, läppisch und lächerlich sein sollte«, sagte sie sich, als sie in ihrem Zimmer noch weiter über die ganze Angelegenheit nachdachte. »Hoffnungen darf er sich freilich keine machen, aber deshalb sehe ich noch immer nicht ein, weshalb er ein alberner Dummkopf sein müßte. Er kann doch nicht im voraus wissen, daß seine Bewerbung hoffnungslos ist. – Der arme Mensch, meiner Ansicht nach ist er eher zu beklagen.« Dann blickte Mrs. Nickleby in ihren kleinen Toilettenspiegel, trat ein paar Schritte zurück und quälte ihr Gedächtnis damit ab, wer es wohl gewesen sein könne, der ihr vor einiger Zeit gesagt, Nikolas sähe trotz seiner einundzwanzig Jahre eher wie ihr Bruder als wie ihr Sohn aus. Da ihr der Name absolut nicht einfallen wollte, so blies sie die Kerze aus und zog die Jalousien auf, um das bereits dämmernde Morgenlicht hereinzulassen.
»Die Dämmerung ist nicht sehr geeignet, Gegenstände genau unterscheiden zu lassen«, murmelte sie und blickte in den Garten hinunter, »und meine Augen sind nicht besonders scharf mehr. Ich war zwar von Jugend an kurzsichtig, aber wahrhaftig, wenn ich nicht irre, da liegt schon wieder eine große Melone auf der Gartenmauer.«