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Nachdem wir diesen Entschluß gefaßt, gingen wir zu Bette. Ich hatte die wildesten Träume von Provis, und erwachte ungestärkt; denn ich erwachte, um jene Furcht wiederzufinden, die ich während der Nacht verloren, daß man ihn nämlich als einen zurückgekehrten Deportirten erkennen werde. Wachend wurde ich diese Furcht dann nicht mehr los.
Er kam zur bestimmten Zeit aus seiner Wohnung zu uns herum und setzte sich, sein Taschenmesser herausnehmend, zum Mahle nieder. Er war voll von Plänen »für das Auftreten seines Gentleman« und drang in mich, baldigen Gebrauch von dem Taschenbuche zu machen, das er in meinem Besitze gelassen. Er betrachtete unsere Zimmer und sein eigenes Logis als zeitweilige Wohnungen und rieth mir, mich sofort nach »fashionabler Stallung« in der Nähe des Hyde Park umzusehen, wo er eine »Schütte« würde haben können. Als er mit seinem Frühstück zu Ende gekommen und sein Messer auf seinem Knie abstrich, sagte ich ohne weiter ein Wort der Vorbereitung zu ihm:
»Als Sie gestern Abend fort waren, erzählte ich meinem Freunde von dem Kampfe, in welchem die Soldaten Sie auf den Marschen antrafen, als wir bei Ihnen anlangten. Entsinnen Sie sich dessen wohl?«
»Ob ich mich dessen entsinne!« sagte er. »Das sollte ich meinen!«
»Wir möchten gern Etwas über jenen Mann erfahren – und über Sie. Es ist so seltsam, weder von dem Einen noch von dem Andern mehr zu wissen, besonders aber von Ihnen, als ich gestern Abend zu erzählen im Stande war. Ist nicht dieser Augenblick so gut wie ein anderer, um mehr zu hören?«
»Nun!« sagte er nach einigem Ueberlegen. »Sie sind beeidigt, Pips Kamerad, wie Sie wissen?«
»Ganz gewiß,« erwiederte Herbert.
»Und in Bezug auf das, was ich noch mittheilen werde,« sagte er, »gilt der Eid für Alles, wissen Sie?«
»Ich bin damit einverstanden.«
»Und sehen Sie her! Was ich auch gethan haben mag, ich habe es jetzt abgearbeitet und dafür gebüßt,« sagte er eindringlich
»So sei es.«
Er nahm seine kurze schwarze Pfeife heraus und war im Begriffe, dieselbe mit Mohrenkopf zu füllen, als ihn, da sein Auge auf den Tabaksknäuel in seiner Hand fiel, der Gedanke zu frappiren schien, er könne dadurch den Faden seiner Erzählung verwirren. Er steckte daher den Tabak wieder ein, zog die Pfeife durch eines der Knopflöcher in seinem Rocke, legte auf jedes Knie eine Hand flach auseinander und wandte sich, nachdem er während einiger Minuten zornig ins Feuer geschaut, zu uns und sprach folgendermaßen:
»Lieber Junge und Pips Kamerad. Ich will Euch nicht meine Lebensgeschichte erzählen, wie in einem Liede oder in einem Geschichtenbuche. Aber um sie Euch kurz und faßlich zu geben, will ich sie gleich in ein Mundvoll Englisch zusammenfassen. Im Gefängniß und aus dem Gefängniß, in dem Gefängniß und aus dem Gefängniß, in dem Gefängniß und aus dem Gefängniß. Da, da habt Ihrs. Das ist ungefähr mein Leben gewesen bis zu der Zeit, wo man mich fortschiffte, nachdem Pip mir als Freund beigestanden hatte.
Man hat mir so ziemlich Alles gethan – außer, daß man mich noch nicht gehangen hat. Ich bin so viel eingeschlossen gewesen, als wenn ich ein silberner Theekessel gewesen wäre. Ich bin hierhin und dahin mit dem Schub gebracht, aus dieser Stadt und aus jener gejagt worden, habe im Stock gelegen, und bin gepeitscht und verfolgt und gehetzt worden. Ich weiß ebensowenig davon, wo ich geboren bin, wie Ihr – oder noch weniger. Ich wurde mir meiner zum ersten Male da unten in Essex bewußt – Rüben stehlend zu meinem Lebensunterhalte. Jemand war von mir fortgelaufen – ein Mann – ein Kesselflicker – und er hatte das Feuer mitgenommen, so daß mich außerordentlich fror.
Ich wußte, mein Name sei Magwitch, Abel getauft. Wie kam ich dazu, dies zu wissen? Ungefähr auf dieselbe Weise, wie ich wußte, daß die Vögel in den Hecken Buchfinken, Sperlinge und Drosseln hießen. Ich hätte vielleicht geglaubt, daß Alles zusammen lauter Lügen waren; nur, da sich die Namen der Vögel als richtig herausstellten, nahm ich an, daß der meinige es auch sein müsse.
Soviel ich weiß, gab es keine Seele, die nicht, wenn sie den jungen Abel Magwitch mit ebenso wenig auf dem Leibe als in dem Leibe erblickte, sich vor ihm fürchtete und ihn entweder fortjagte oder einsperren ließ. Ich wurde eingesperrt, eingesperrt, eingesperrt, in dem Maße, daß ich förmlich damit groß gezogen wurde.
Und so kam es, daß, als ich noch das zerlumpteste, bemitleidenswertheste kleine Geschöpf war, das ich je gesehen (nicht, daß ich mich im Spiegel gesehen hätte, denn ich hatte nur erst wenige Innenseiten von Häusern gesehen), ich für einen verstockten Bösewicht galt.
Dies ist ein furchtbar verstockter Bursche, sagten sie zu Leuten, die sich die Gefängnisse anschauten, indem sie mich aus allen Anderen heraussuchten. Man kann von diesem Jungen mit Recht behaupten, daß er sein Leben in den Gefängnissen zubringt.
Dann guckten sie mich an, und ich guckte sie an, und welche von ihnen maßen meinen Kopf – und sie hätten lieber meinen Magen messen sollen – und Andere gaben mir Tractätchen, die ich nicht lesen, und hielten mir Reden, die ich nicht verstehen konnte. Sie hielten mir beständig den Teufel vor. Aber was, zum Teufel, konnte ich machen? Ich mußte doch was in meinen Leib hineinthun, wie? – Indeß fühle ich, daß ich gemein werde, und ich weiß, was ich Euch schuldig bin. Lieber Junge und Sie, Pips Kamerad, fürchten Sie nicht, daß ich gemein sein werde.
Und so, indem ich umher vagabondirte, bettelte, stahl, arbeitete – zuweilen, wenn ich konnte, obgleich das nicht so oft der Fall war, wie Sie sich vielleicht denken mögen, bis Sie sich die Frage vorlegen, ob Sie selbst mir wohl mit übermäßiger Bereitwilligkeit Arbeit gegeben haben würden – ein Mal ein Wilddieb, dann ein Tagelöhner, dann ein Fuhrmann, dann ein Hausirer, in jeder Profession, die nichts einbringt und ins Unglück führt, so wuchs ich zum Manne heran. Ein desertirter Soldat, der in der »Reisenden Ruh« bis zum Kinn unter Kartoffeln versteckt lag, lehrte mich lesen; und ein reisender Zwerg, der für einen Penny das Mal seinen Namen unterschrieb, lehrte mich schreiben. Ich wurde dann nicht mehr so oft als vorher eingesperrt, aber ich verbrauchte noch immer meinen Antheil an Schlüsselmetall.
Aus dem Pferderennen zu Epsom vor ungefähr zwanzig Jahren wurde ich mit einem Manne bekannt, dessen Schädel ich wie eine Hummerscheere mit diesem Schüreisen zerbrechen wollte, falls ich ihn hier auf diesem Herde liegen hätte. Sein wahrer Name war Compeyson; und das war der Mann, lieber Junge, den Du mich im Graben knuffen sahst, wie Du es Deinem Kameraden der Wahrheit getreu berichtet hast, nachdem ich gestern Abend fortgegangen war.
Er gab sich für einen Gentleman aus, dieser Compeyson, war auf einer öffentlichen Kostschule gewesen und hatte was gelernt. Er war ein glatter Schwätzer und gewandt in den Manieren von vornehmen Leuten. Auch war er schön von Gesicht. Es war am Abend vor dem großen Rennen, als ich ihn in einer Bude, die mir bekannt war, auf der Haide fand. Er und noch einige Andere saßen zwischen den Tischen umher, als ich hineinkam, und der Wirth (der mich kannte und zu den Wettenden gehörte) rief ihn heraus und sagte: Ich glaube, dies ist ein Mensch, der Ihnen passen möchte, womit er mich meinte.
Compeyson guckte mich sehr prüfend an, und ich guckte ihn wieder an. Er trug eine Uhr und eine Kette und eine Tuchnadel und einen Ring und einen sehr schönen Anzug.
›Dem Anscheine nach zu urtheilen,‹ sagt Compeyson, ›seid Ihr nicht sehr im Glück.‹
›Nein, Herr; und ich bin noch nie recht drin gewesen.‹ Ich kam gerade aus dem Gefängnisse zu Kingston, wo ich wegen Landstreicherei gesessen hatte; nicht, daß es nicht auch wegen etwas Anderm hätte sein können; aber das wars nicht.
›Das Glück wechselt,‹ sagt Compeyson; ›vielleicht wird dies jetzt mit dem Eurigen der Fall sein.‹
Ich sage: ›Ich hoffe, daß es geschehen möge. Es ist Platz genug dazu da.‹
›Was könntet Ihr thun?‹ sagt Compeyson.
›Essen und trinken,‹ sage ich, ›falls Sie's Material dazu schaffen.‹
Compeyson lachte, schaute mich noch ein Mal sehr prüfend an, gab mir fünf Schillinge und bestellte mich auf den nächsten Abend an denselben Ort.
Ich begab mich am nächsten Abend an denselben Ort zu Compeyson, und er nahm mich als seinen Gehülfen und Compagnon an. Und was war es für ein Geschäft, in welchem ich Compeysons Compagnon werden sollte? Compeysons Geschäft bestand im Schwindeln, in Handschriftenfälschungen, im Ausgeben gestohlener Banknoten und dergleichen Sachen. Alle erdenklichen Fallen, die Compeyson mit seinem Kopfe legen, vor denen er seine eigenen Füße bewahren, aus denen er den Vortheil ziehen und anderen Leuten den Schaden aufbürden konnte – dies war Compeysons Geschäft. Er besaß nicht mehr Herz, als eine eiserne Feile, war kalt wie der Tod und hatte den Kopf des Teufels.
Es war da noch Einer bei Compeyson, der Arthur genannt wurde – nicht, daß dies sein Taufname war, sondern vielmehr sein Familienname. Dieser hatte die Auszehrung und sah aus wie ein Schatten. Er und Compeyson hatten ein paar Jahre vorher einer reichen Dame einen bösen Streich gespielt, und eine Masse Geld dabei herausgekriegt: aber Compeyson wettete und spielte, und würde des Königs Steuereinnahmen durchgebracht haben. Arthur also war im Sterben, und zwar starb er arm und unter Fieberschauern, und Compeysons Frau (die Compeyson hauptsächlich mit Fußtritten tractirte) leistete ihm mitleidige Hülfe, wenn sie nur konnte, aber Compeyson zeigte für nichts und für Niemand Mitleid.
Ich hätte mir an Arthur ein warnendes Beispiel nehmen können, aber ich that es nicht; und ich will auch nicht behaupten, daß ich besonders scrupulös war – denn was sollte das wohl nützen, lieber Junge und Kamerad? Deshalb fing ichs mit Compeyson an, und ich kann Euch sagen, daß ich ein erbärmliches Werkzeug in seinen Händen war. Arthur wohnte im obersten Stockwerke von Compeysons Hause (da drüben bei Brentford lag), und Compeyson führte sorgfältige Rechnung für seine Kost und Wohnung, falls er jemals wieder gesund würde, um es abzuarbeiten. Aber Arthur bezahlte sehr bald seine Wohnung. Es war wohl schon das zweite oder dritte Mal, daß ich ihn überhaupt gesehen habe, als er Abends spät blaß in einen Flanellschlafrock gehüllt in Compeysons Wohnzimmer hinuntergestürzt kam mit schweißtriefendem Haar, und zu Compeysons Frau sagte:
›Sally, sie ist jetzt wirklich oben bei mir in der Stube und ich kann sie nicht los werden. Sie geht ganz weiß,‹ sagt er, ›und hat weiße Blumen im Haar, und sie ist ganz schrecklich verrückt und hat ein weißes Leichenhemd über ihrem Arme hängen und sagt, sie will es mir morgen früh um fünf Uhr anziehen.‹
Worauf Compeyson sagt: ›Ei, Du Narr, weißt Du denn nicht, daß sie einen lebendigen Körper hat? Und wie könnte sie wohl da oben sein, ohne durch die Thür oder durchs Fenster herein und die Treppe hinaufzukommen?‹
›Ich weiß nicht, wie sie dort hin kommt,‹ sagt Arthur, indem er fürchterlich vom Fieber geschüttelt wird, ›aber sie steht da in der Ecke am Fuße meines Bettes, ganz schrecklich wahnsinnig. Und über der Stelle, wo ihr Herz gebrochen ist – Du brachst es – stehen Blutstropfen.‹
Compeyson hatte ein tapferes Maul, aber er war stets eine feige Memme. ›Geh mit diesem faseligen Kranken hinauf,‹ sagte er zu seiner Frau, ›und Du, Magwitch, hilf ihr ihn hinaufbringen, willst Du?‹ Aber er selbst kam ihm nicht nahe.
Compeysons Frau und ich führten ihn wieder hinauf und legten ihn ins Bett, aber er raste fürchterlich. ›O, seht sie nur an, sie winkt mir mit dem Leichenhemde! Seht Ihrs nicht? Seht nur ihre Augen an! Ist es nicht entsetzlich, sie so wahnsinnig zu sehen?‹ Dann wieder schrie er: ›Sie wird mirs anziehen, und dann ists um mich geschehen! Nehmt ihrs weg, nehmt es weg!‹ Und dann packte er uns und sprach zu ihr und antwortete ihr, bis ich selbst beinahe glaubte, ich sehe sie.
Compeysons Frau, die schon an ihn gewöhnt war, gab ihm Etwas zu trinken, um die Fieberschauer zu unterdrücken, und nach einer Weile beruhigte er sich. ›O, sie ist fort! Hat ihr Wärter sie abgeholt?‹ sagte er. ›Ja,‹ sagte Compeysons Frau. ›Hast Du ihm gesagt, er solle sie einschließen und einriegeln?‹ ›Ja.‹ ›Und daß er ihr das häßliche Leichenhemd abnimmt?‹ ›Ja, ja, es ist Alles geschehen.‹ ›Du bist ein gutes Geschöpf,‹ sagte er, ›verlaß mich nur um Alles in der Welt nicht, und ich danke Dir!‹
Er lag ziemlich ruhig, bis es ungefähr ein paar Minuten vor fünf Uhr war, da aber fuhr er mit einem Schrei in die Höhe und schrie: ›Hier ist sie! Sie hat wieder das Leichenhemd auf dem Arme! Sie legt es auseinander. Sie kommt aus dem Winkel heraus. Sie kommt an das Bett. Haltet mich – Ihr Beide – Einer an jeder Seite – laßt sie nicht heran, daß sie mich nicht damit berührt. Ha! Dies Mal hat sie mich nicht getroffen. Laßt sie nicht heran, damit sie es mir nicht über die Schultern wirft. Laßt sie nicht mich aufheben, um es mir umzulegen. Sie hebt mich auf! Haltet mich!‹ Und dann hob er sich steif empor und war todt.
Compeyson nahm die Sache sehr ruhig, und war froh, daß er ihn los war. Er und ich waren bald vollauf beschäftigt, und erst nahm er mir meinen Eid ab (denn er war stets schlau), ließ mich auf mein eigenes Buch schwören – dies kleine schwarze Buch hier, lieber Junge, auf das ich Deinen Kameraden habe schwören lassen.
Um nicht weiter in die Sachen einzugehen, die Compeyson sich ausdachte und ich ausführte – wozu ich eine Woche gebrauchen würde – so will ich Euch nur sagen, lieber Junge und Pips Kamerad, daß jener Mensch mich dergestalt in seine Netze bekam, daß ich förmlich sein Negersklave wurde. Ich war ihm stets schuldig, immer unter seinem Daumen, immer bei der Arbeit und immer in Gefahr. Er war jünger als ich, aber er besaß List und Schlauheit, und hatte was gelernt, und war mir fünfhundert gezählte Male überlegen und zeigte kein Erbarmen. Meine Missis, mit der ich die böse Zeit hatte – doch halt! ich habe von ihr noch nichts« …
Er schaute verwirrt umher, wie wenn er in dem Buche seiner Erinnerung die Stelle verloren, und wandte sein Gesicht dem Feuer zu, spreizte seine Hände auf seinen Knieen weit auseinander, hob sie auf und legte sie wieder nieder.
»Es ist unnöthig, davon zu reden,« sagte er, abermals umherschauend. »Die Zeit bei Compeyson war eine so schwere Zeit, wie ich sie nur je gehabt hatte; damit ist Alles gesagt. Habe ich Euch gesagt, daß ich allein wegen Unterschleifs vor Gericht gebracht wurde, als ich bei Compeyson war?«
Ich antwortete: »Nein.«
»Nun!« sagte er. »So geschahs indeß, und ich wurde überführt. Was das Einsperren auf Verdacht hin betrifft, so geschah mir das wohl zwei bis drei Mal während der vier oder fünf Jahre, daß es währte, aber es fehlte an Beweisen. Endlich wurden Compeyson und ich wegen Felonie beschuldigt, angeklagt gestohlene Banknoten in Umlauf gesetzt zu haben, und es kamen noch andere Anklagen hinterdrein. Compeyson sagt zu mir ›Getrennte Verteidigung, keine Communication,‹ und das war Alles. Und ich war so entsetzlich arm, daß ich alle Kleider, die ich hatte, ausgenommen die, welche ich auf dem Leibe trug, verkaufte, ehe ich Jaggers für mich gewinnen konnte.
Als wir vor die Schranken gestellt wurden, da wurde ich erst gewahr, welch gentlemännisches Aussehen Compeyson hatte, mit seinem lockigen Haar, seinem schwarzen Anzuge und seinem weißen Taschentuche, und als welch gemeiner Lump ich dagegen erscheinen mußte. Als die Verhandlung eröffnet und die Anklageacte verlesen wurde, bemerkte ich, wie schwer Alles auf mich und wie leicht auf ihn fiel. Als die Zeugen vor die Schranken traten, bemerkte ich, wie stets ich es gewesen, der in der Sache gesehen worden und auf dessen Identität man schwören konnte, wie stets ich es gewesen, dem das Geld ausgezahlt, und der die ganze Sache betrieben und den Vortheil daraus gezogen hatte. Als aber die Vertheidigung begann, da erkannte ich den Plan deutlicher; denn so sprach der Rechtsanwalt für Compeyson:
›Mylord und meine Herren, Sie haben hier zwei Personen vor sich neben einander stehen, zwischen denen Ihre Augen einen großen Unterschied erblicken werden; den Einen, den Jüngeren, welcher wohl erzogen und als solcher bekannt ist; den Andern, den Aelteren, welcher schlecht erzogen und als verstockter Bösewicht bekannt ist; den Einen, den Jüngeren, der selten oder nie bei diesen Unternehmungen erschienen und nur verdächtigt ist; den Andern, den Aelteren, der stets darin gesehen und überführt worden ist. Können Sie einen Zweifel hegen, wenn nur Einer in der Sache war, welcher von Beiden dieser Eine ist, oder falls Beide betheiligt, welcher von ihnen der bei weitem Schlimmste ist?‹
Und dergleichen mehr. Und als sie auf unsern beiderseitigen Leumund zu sprechen kamen, wars da nicht Compeyson, der die Schule besucht hatte, und waren nicht seine Schulkameraden in dieser hohen Stellung und in jener, und war ers nicht, den die Zeugen in diesem Club und in jener Gesellschaft gekannt hatten und stets zu seinem Vortheile? Und war ich nicht Derjenige, der schon vorher in Untersuchung gewesen, und der bergauf und bergab in allen Zuchthäusern und Gefängnissen bekannt war? Und als es ans Redenhalten ging, wars da nicht Compeyson, der zu ihnen reden konnte, indem er alle Augenblicke sein Gesicht in sein weißes Taschentuch sinken ließ – ah! und seine Reden sogar mit Versen spickte – und war ich nicht dagegen Derjenige, der bloß sagen konnte: Meine Herren, dieser Mensch hier an meiner Seite ist ein ausgezeichneter Schurke? Und als das Urtheil kam, wars da nicht Compeyson, den sie wegen seines guten Leumunds und weil er bloß in schlechte Gesellschaft gerathen, und dann alles Mögliche gegen mich angegeben, der königlichen Gnade anempfahlen, und war ich nicht wiederum Derjenige, der nichts als ›Schuldig‹ zu hören bekam! Und als ich zu Compeyson sagte: Laß uns bloß aus diesem Gerichtshofe heraus sein, da will ich Dir das Gesicht zerschmeißen? wars da nicht Compeyson, der den Richter bat, ihn zu schützen, so daß zwei Gefangenwärter zwischen uns marschiren mußten? Und als unser Urtheil ausgesprochen wurde, wars da nicht Compeyson, der zu sieben Jahren verurtheilt wurde, und ich Derjenige, der vierzehn bekam, und ists nicht er, um den es dem Richter leid thut, weil er so gut hätte in der Welt fortkommen können, und ich wieder Derjenige, in dem er einen Mann von unbezähmbaren Leidenschaften erkannte, mit dem es wahrscheinlich ein schlimmes Ende nehmen werde?«
Er hatte sich in einen Zustand großer Aufregung hineingearbeitet, doch bekämpfte er dieselbe, holte zwei oder drei Mal kurz Athem, schluckte ebenso viele Male und sagte, indem er mir seine Hand hinstreckte, in begütigendem Tone:
»Ich werde nicht gemein sein, lieber Junge!«
Er hatte sich so sehr erhitzt, daß er sein Taschentuch herausnahm und sich damit Gesicht, Kopf, Hals und Hände abwischte, ehe er fortfahren konnte.
»Ich hatte zu Compeyson gesagt, ich wolle ihm das Gesicht zerschmeißen, und ich schwor, daß Gott das meinige zerschmeißen solle, wenn ich es nicht thäte. Wir waren auf demselben Gefangenenschiffe, aber ich konnte, soviel ich es auch versuchte, lange nicht zu ihm herankommen. Endlich kam ich von hinten an ihn heran und schlug ihm an die Wange, damit er sich umwenden und mich in den Stand setzen möge, ihm einen tüchtigen Schlag ins Gesicht zu versetzen, aber ich wurde gesehen und ergriffen. Doch war das ›schwarze Loch‹ auf jenem Schiffe für einen Kenner in dergleichen Dingen, der schwimmen und tauchen konnte, kein sehr sicheres. Ich floh ans Land und verbarg mich dort unter den Gräbern, und beneidete Alle, die drinnen lagen und darüber wandelten, als ich zuerst meinen lieben Jungen sah!«
Er betrachtete mich mit einem so zärtlichen Blicke, daß er mich beinahe wieder mit Abscheu erfüllte, obgleich ich großes Mitleid für ihn gefühlt hatte.
»Durch meinen lieben Jungen erfuhr ich, daß Compeyson ebenfalls dort draußen auf den Marschen sei. Bei meiner Seele, ich glaube wirklich, daß er aus Angst vor mir und um sich vor mir zu retten, entwich, indem er nicht wußte, daß ich es sei, der ans Land geflohen. Ich suchte und fand ihn, und zerschlug ihm das Gesicht. Und jetzt, sagte ich, will ich als das Schlimmste, was ich Dir anthun kann, und da mirs einerlei ist, was aus mir selbst wird, Dich wieder zurückschleppen. Und ich wäre, wenn es dahin gekommen wäre, hingeschwommen und hätte ihn bei den Haaren mitgezogen und ihn auch ohne die Soldaten wieder an Bord gebracht.
Natürlich hatte er bis zuletzt immer das Beste von der Sache – er hatte ja einen so guten Leumund. Er war entwichen, weil er durch mich und meine mörderischen Absichten halb wild geworden; und seine Strafe war eine leichte. Ich wurde in Eisen gelegt, abermals vor Gericht gestellt und dann zu lebenslänglicher Deportation verurtheilt. Doch blieb ich nicht lebenslänglich, lieber Junge und Pips Kamerad, denn hier bin ich.«
Er wischte sich nochmals, wie vorher, den Schweiß ab, nahm dann langsam den Tabaksknäul aus der Tasche, zog seine Pfeife aus seinem Knopfloche, stopfte dieselbe langsam und fing dann zu rauchen an.
»Ist er todt?« fragte ich nach längerm Schweigen.
»Ist wer todt, lieber Junge?«
»Compeyson.«
»Er hofft wenigstens, daß ich es bin, falls er noch lebt, darauf kannst Du Dich verlassen,« sagte er mit einem zornigen Blicke. »Ich habe nie wieder von ihm gehört.«
Herbert war beschäftigt gewesen, mit seinem Bleistifte Etwas auf die Innenseite eines Buchumschlages zu schreiben. Er schob das Buch leise zu mir hin, während Provis, die Blicke auf das Feuer geheftet, rauchend vor demselben stand, und ich las folgende Worte darin:
»Der Name des jungen Havisham war Arthur. Compeyson ist der Mann, der sich für Miß Havishams Verlobten ausgab.«
Ich schloß das Buch, nickte Herbert leicht zu und legte das Buch bei Seite; doch sagten wir Beide kein Wort, sondern schauten Provis an, welcher rauchend vor dem Feuer stand.
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