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Mr. Clennam wuchs nicht im Verhältnis seiner vermehrten Besuche in der Gunst des Vaters des Marschallgefängnisses. Seine Stumpfheit in der großen Ehrengeschenkfrage konnte keine Bewunderung in der väterlichen Brust erwecken, sondern mußte eher an dieser empfindlichen Stelle beleidigen und als ein positiver Mangel an gebildeter Denkungsart erscheinen. Ein Gefühl der Enttäuschung, das durch die Entdeckung hervorgerufen wurde, daß Mr. Clennam kaum die Delikatesse besäße, die er ihm in seiner vertrauensvollen Natur zuschrieb, begann das väterliche Gefühl, das ihn mit diesem Gentleman in Verbindung setzte, zu verdunkeln. Der Vater ging so weit, in seinem Privatfamilienzirkel zu sagen, er fürchte, Mr. Clennam sei kein Mann von feinem Sinn. Er sei glücklich, bemerkte er, in seiner öffentlichen Stellung als Leiter und Repräsentant des Kollegiums Mr. Clennam zu empfangen, wenn er ihm seinen Besuch abstatte; aber er finde sich nicht imstande, mit ihm in persönliche Beziehungen zu treten. Es schiene ihm etwas zu mangeln, er wisse nicht was. Wie dem nun auch war, der Vater ließ es nicht an den äußern Formen der Höflichkeit fehlen, im Gegenteil, er behandelte ihn mit großer Aufmerksamkeit, vielleicht schmeichelte er sich mit der Hoffnung, daß, wenn er auch nicht ein Mann von so glänzender und ursprünglicher Geistesgewandtheit sei, um sein früheres Ehrengeschenk ungemahnt zu wiederholen, es doch vielleicht innerhalb der Richtung seiner Natur liege, sich als willfähriger Gentleman zu zeigen, wenn man ihm einen darauf zielenden Brief zukommen ließe.
In seiner dreifachen Eigenschaft als der Herr von draußen, der am ersten Abend seines Hierherkommens durch Zufall hier eingeschlossen worden, als der Herr von draußen, der sich mit der wunderlichen Idee, ihn freizumachen, nach den Angelegenheiten des Vaters des Marschallgefängnisses erkundigt, und als der Herr von draußen, der sich für das Kind des Marschallgefängnisses interessierte, wurde Clennam bald ein Besuch von Auszeichnung. Er war nicht erstaunt über die Aufmerksamkeiten seitens Mr. Chiverys, wenn dieser das Schließeramt hatte, denn er machte wenig Unterschied zwischen Mr. Chiverys Höflichkeit und der von andern Schließern. An einem bestimmten Nachmittag überraschte ihn Mr. Chivery plötzlich und trat aus der Reihe seiner Kameraden hervor.
Mr. Chivery hatte durch kluge Anwendung seiner Kunst, das Pförtnerstübchen zu reinigen, seine müßigen Kollegen glücklich fortgeschafft, damit Clennam, wenn er aus dem Gefängnis käme, ihn allein an seinem Geschäft finde.
»Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, sagte Mr. Chivery geheimnisvoll; »aber welchen Weg gedenken Sie zu gehen?«
»Ich gehe über die Brücke.« Er sah in Mr. Chivery, wie er so dastand mit dem Schlüssel, nicht ohne Verwunderung die vollständige Allegorie des Schweigens.
»Ich bitte nochmals um Entschuldigung«, sagte Mr. Chivery wiederum leise, »aber könnten Sie den Hinweg über die Horsemonger Lane machen? Hätten Sie vielleicht Zeit, nach dieser Adresse zu sehen?«, fügte er hinzu und überreichte ihm eine Karte, die zum Zwecke der Zirkulation unter den Bekannten von Chivery und Comp. Tabakshändlern, Importeurs von echten Havanna-Zigarren, bengalischen Cheroots und wohlriechenden Kubas, Fabrikanten von gemischtem Schnupftabak usw. usw. gedruckt wurden.
»Es ist kein Tabakgeschäft«, sagte Mr. Chivery in fortgesetzter Heimlichkeit, »offen gesagt, es ist meine Frau. Sie möchte gern ein Wort mit Ihnen sprechen, Sir, wegen einer Sache, die – ja«, sagte Mr. Chivery, Clennams rasch begreifenden Blick mit einem Nicken erwidernd, »ja, die sie betrifft.«
»Ich will Ihre Frau alsbald zu sprechen suchen.«
»Danke, Sir, sehr verbunden. Es ist kaum zehn Minuten um. Fragen Sie nur nach Mrs. Chivery.« Diese Instruktionen rief ihm Mr. Chivery, der ihn bereits hinausgelassen, vorsichtig durch einen kleinen Schieber an der äußern Tür hinaus, den er von innen zurückziehen konnte, wenn er wollte, um die Besuchenden zu inspizieren.
Arthur Clennam, mit seiner Karte in der Hand, begab sich nach der Adresse, die darauf stand, und war rasch an Ort und Stelle. Es war ein sehr kleiner Laden, in dem eine saubere Frau hinter dem Zahltisch an der Arbeit saß. Kleine Krüge mit Tabak, kleine Kistchen mit Zigarren, ein kleines Assortiment Pfeifen, ein bis zwei kleine Krüge mit Schnupftabak und ein kleines Instrument wie ein Schuhlöffel, um denselben herauszunehmen, bildeten den zum Verkauf bereiten Vorrat dieses Kleinhandels.
Arthur nannte seinen Namen und sagte, daß er auf Mr. Chiverys Aufforderung hier vorzusprechen zugesagt habe. Er glaube, es handle sich um eine Sache, die Miß Dorrit betreffe. Mrs. Chivery legte augenblicklich die Arbeit weg, stand von ihrem Sitze hinter dem Zahltisch auf und schüttelte mitleidig den Kopf.
»Sie können ihn sehen«, sagte sie, »wenn es Ihnen beliebt, einen Blick hineinzuwerfen.«
Mit diesen geheimnisvollen Worten ging sie dem Fremden voran in ein kleines Zimmer hinter dem Laden; ein kleines Fenster hatte die Aussicht in einen kleinen, düsteren Hinterhof. In diesem Hof suchte Wäsche, Bettücher und Tischtücher (aus Mangel an Luft vergeblich) an einem bis zwei Seilen trocken zu werden; und unter diesem flatternden Zeug saß in einem Stuhl, gleich dem letzten Matrosen, der auf einem nassen Schiff leben geblieben und die Kraft nicht besitzt, die Segel aufzuziehen, ein kleiner von Leiden gebeugter junger Mann.
»Unser John«, sagte Mrs. Chivery.
Um nicht teilnahmlos zu erscheinen, fragte Mr. Clennam, was er hier tue.
»Es ist die einzige Abwechslung, die er sich macht«, sagte Mrs. Chivery wieder den Kopf schüttelnd. »Er mag nicht ausgehen, nicht mal in den Hinterhof, wenn keine Wäsche da ist; aber wenn Wäsche da ist, wodurch die Blicke der Nachbarschaft abgehalten werden, dann sitzt er stundenlang hier, ganze Stunden lang. Er sagt, es sei ihm, wie wenn er in einem Wald wäre.« Mrs. Chivery schüttelte den Kopf wieder, brachte die Schürze mit mütterlichem Mitleid an die Augen und führte den Fremden wieder in die Geschäftsregion zurück.
»Bitte, sich gefälligst zu setzen«, sagte Mrs. Chivery. »Miß Dorrit ist der Gegenstand, um den es sich bei unserm John handelt, Sir; sein Herz ist um ihretwillen gebrochen, und ich möchte mir die Freiheit nehmen, Sie zu fragen, was seine Eltern anfangen sollen, wenn es gebrochen ist?«
Mrs. Chivery, eine Frau von angenehmem Äußern und in der Horsemonger Lane um ihres gefühlvollen Wesens und ihrer Konversation willen hoch geschätzt, sprach diese Worte mit der größten Fassung und begann alsbald wieder ihren Kopf zu schütteln und ihre Augen zu trocknen.
»Sir«, sagte sie, »Sie sind mit der Familie bekannt und haben sich für die Familie interessiert und besitzen Einfluß auf die Familie. Wenn Sie etwas zu tun oder zu fördern imstande wären, wodurch zwei junge Leute glücklich würden, so lassen Sie mich um unsres John willen und um beider willen Sie dringend darum gebeten haben.«
»Ich war so gewöhnt«, entgegnete Arthur verlegen, »während der kurzen Zeit, die ich sie kannte. Klein – ich war so gewöhnt, Miß Dorrit in einem so ganz andern Licht zu betrachten als in dem, in dem Sie sie mir jetzt zeigen, daß Sie mich sehr überraschen. Kennt Sie Ihren Sohn?«
»Wurden beide miteinander auferzogen, Sir«, sagte Mrs. Chivery. »Spielten zusammen.«
»Kennt sie Ihren Sohn als ihren Anbeter?«
»Oh! Du mein Gott, Sir«, sagte Mrs. Chivery mit einer Art triumphierenden Schauers, »sie durfte ihn nur an einem Sonntag sehen, um das zu wissen. Sein Wesen allein würde ihr's längst gesagt haben, wenn auch gar nichts anderes. Junge Leute wie John können ihre Empfindungen nicht verbergen. Wie erfuhr ich selbst es zum erstenmal? Gerade so.«
»Vielleicht ist Miß Dorrit nicht so klug wie Sie, hm?«
»Dann weiß sie es aus seinem Mund, Sir«, sagte Mrs. Chivery.
»Sind Sie dessen ganz gewiß?«
»Sir«, sagte Mr. Chivery, »so sicher und gewiß, wie ich in diesem Hause bin. Ich sah meinen Sohn mit meinen eignen Augen fortgehen, denn ich war zu Hause und sah ihn mit meinen eignen Augen heimkommen, denn ich war zu Hause, und ich weiß, daß er es ihr gesagt hat.« Mrs. Chivery gewann durch die Umständlichkeit und Wiederholung eine überraschende Kraft der Emphase.
»Darf ich Sie fragen, wie er in diesen verzweiflungsvollen Zustand verfiel, der Ihnen so vielen Kummer verursacht?«
»Das«, sagte Mrs. Chivery, »geschah an dem Tage, an dem ich John mit diesen trüben Augen hierher zurückkehren sah. Er war seit jenem Tage nicht mehr in jenem Hause. Ist seit jener Zeit ganz verändert; er sah nie so aus, seit den sieben Jahren, die wir jetzt in diesem Hause wohnen!« – Die eigentümliche Art der Konstruktion gab den Worten von Mrs. Chivery den Ausdruck einer eidlichen Aussage.
»Darf ich mir zu fragen erlauben, was ist Ihre Ansicht von der Sache?«
»Allerdings«, sagte Mrs. Chivery, »und ich werde sie Ihnen so offen und ehrlich und so wahr sagen, wie ich in diesem Laden stehe. Unsern John lobt jedermann und alle Leute wünschen ihm Gutes. Er spielte mit ihr als Kind auf diesem Hofe, als sie als Kind auf diesem Hofe spielte. Er kennt sie seit jener Zeit. Er ging am Sonntagnachmittag aus, als er in diesem Zimmer gespeist, und traf sie zufällig oder verabredet. Das will ich nicht zu unterscheiden wagen. Er machte ihr seinen Antrag. Ihr Bruder und ihre Schwester wollen sehr hoch hinaus in ihren Ansprüchen und sind stolz gegen unsern John. Ihr Vater denkt nur an sich und mag sie wiederum mit niemand teilen. Unter diesen Umständen hat sie unserm John geantwortet: ›Nein, John, ich kann dich nicht heiraten, ich kann niemanden heiraten, es ist nicht meine Absicht, je eine Frau zu werden, es ist meine Absicht, immer ein Opfer zu bleiben, lebe wohl. Mögest du eine andere finden, die deiner würdig ist, und vergiß mich!‹ So ist sie also verurteilt, ewig eine Sklavin derer zu sein, die nicht würdig sind, daß sie ewig ihre Sklavin sei. So ist es gekommen, daß unser John keine andre Freude mehr kennt, als sich zu erkälten und auf jenem Hof, wie ich Ihnen gezeigt, eine zerfallene Ruine zu sein, die zur Muttererde zurückkehrt!« Hier deutete die gute Frau nach dem kleinen Fenster, von wo man ihren Sohn schwermütig in dem totenstillen Haine sitzen sehen konnte; und sie schüttelte wieder den Kopf und wischte ihre Augen und bat ihn, um der vereinten Sache der beiden jungen Leute willen, seinen Einfluß für die glänzende Kehrseite dieses traurigen Ereignisses geltend zu machen.
Sie setzte so großes Vertrauen auf ihre Auseinandersetzung der Sache, und diese war so unleugbar auf richtige Prämissen, soweit es die bezügliche Stellung von Klein-Dorrit zu ihrer Familie betraf, gegründet, daß Clennam auf der andern Seite in seiner Ansicht schwankend werden mußte. Er hatte nach und nach für Klein-Dorrit ein so eigentümliches Interesse gewonnen – ein Interesse, das, während es zunahm, die gemeinen und niedrigen Dinge aus ihrer Umgebung entfernte –, daß es enttäuschend, unangenehm, ja beinahe peinlich auf ihn wirkte, anzunehmen, daß sie in den jungen Mr. Chivery vom Hinterhofe oder in eine andere Person der Art verliebt sei. Auf der andern Seite sagte er sich, daß sie gerade so gut und gerade so wahr sein würde, wenn sie in ihn verliebt, als wenn sie nicht in ihn verliebt wäre; und daß, eine Art gezähmter Fee aus ihr zu machen und sie dies durch Isolierung von den einzigen Menschen, die sie kannte, büßen zu lassen, nur eine Schwachheit von seiner Seite und nicht die freundlichste wäre. Aber ihre jugendliche und ätherische Erscheinung, ihr schüchternes Wesen, der Reiz ihrer innigen Stimme und Augen, die vielen Umstände, in denen sie ihn, abgesehen von ihrer Persönlichkeit, interessiert hatte, und der große Unterschied zwischen ihr und ihrer Umgebung waren mit diesen ihm nun sich darbietenden Gedanken in keiner Harmonie und ließen sich in keine Harmonie bringen.
Er sagte der würdigen Mrs. Chivery, nachdem er sich die Sache überlegt – was er getan, während sie noch sprach –, daß sie überzeugt sein dürfe, er werde stets sein möglichstes tun, das Glück von Miß Dorrit zu fördern und den Wünschen ihres Herzens, wenn es in seiner Macht stünde und er sie erfahren könne, entgegenzukommen. Zugleich warnte er sie vor unberechtigten Annahmen auf den bloßen Schein hin, legte ihr strenges Schweigen und Geheimhalten der Sache auf, damit Miß Dorrit nicht unglücklich gemacht werde, und hieß sie besonders ihres Sohnes Vertrauen zu gewinnen zu suchen, um sich so des Standes der Dinge ganz zu versichern. Mrs. Chivery hielt die letztere Vorsicht für durchaus überflüssig, sagte jedoch, sie wolle es versuchen. Sie schüttelte den Kopf, als wenn sie nicht all den Trost, den sie so sicher aus dieser Begegnung zu gewinnen erwartet, daraus geschöpft, dankte ihm jedoch nichtsdestoweniger für die Mühe, die er sich zu machen so freundlich gewesen. Darauf schieden sie als gute Freunde, und Arthur ging fort.
Da die Masse des Volks auf der Straße mit der Masse von Gedanken in seinem Kopf zusammenstieß und die beiden Massen in Verwirrung gerieten, vermied er die London Bridge und wandte sich nach der stilleren Iron Bridge. Er hatte kaum den Fuß darauf gesetzt, als er Klein-Dorrit vor sich hergehen sah. Es war ein hübscher Tag; ein sanftes Lüftchen kühlte die Atmosphäre, und sie schien in diesem Augenblick erst Luft zu schöpfen gekommen. Er hatte sie vor einer Stunde in ihres Vaters Zimmer verlassen.
Es war ein günstiger Zufall, der seinem Wunsch entgegenkam, ihr Gesicht und ihr Benehmen beobachten zu können, wenn niemand sonst zugegen war. Er beeilte seinen Schritt; ehe er sie jedoch erreichte, wandte sie den Kopf um.
»Habe ich Sie erschreckt?« fragte er.
»Ich dachte den Schritt zu kennen«, antworte sie zögernd.
»Und wußten Sie, daß ich es war, Klein-Dorrit? Sie konnten mich doch kaum erwartet haben.«
»Ich erwartete niemanden. Als ich jedoch einen Schritt hörte – dachte ich, er sei ganz wie der Ihrige.«
»Gehen Sie weiter?«
»Nein, Sir, ich gehe nur zur Abwechslung hier etwas auf und ab.«
Sie gingen zusammen, und sie gewann ihr vertrauendes Wesen wieder und sah ihm ins Gesicht, als sie, nachdem sie einen Blick umhergeworfen, sagte:
»Es ist so seltsam, vielleicht können Sie es kaum verstehen. Ich habe bisweilen ein Gefühl, als wenn es beinahe gefühllos wäre, hier zu gehen.«
»Gefühllos?«
»Den Fluß zu sehen und so viel Himmel und so mancherlei Dinge und so viel Wechsel und Bewegung, und dann nach Hause zu gehen. Sie wissen, und ihn auf demselben beschränkten Platz zu finden.«
»Ach ja! Aber wenn Sie zurückgehen, müssen Sie sich erinnern, daß Sie den Geist und den Einfluß solcher Dinge in Ihrer Stimmung mitbringen und ihn dadurch aufheitern.«
»Wirklich? Es mag sein. Ich fürchte, Sie phantasieren zuviel, Sir, und halten mich für zu stark. Wenn Sie im Gefängnis wären, könnt' ich Ihnen solchen Trost bringen?«
»Ja, Klein-Dorrit, gewiß!«
Er schloß aus einem Zittern ihrer Lippen und einem flüchtigen Schatten großer Aufregung auf ihrem Gesicht, daß ihr Geist bei ihrem Vater weilte. Er schwieg deshalb einige Augenblicke, damit sie ihre Fassung wiedergewinne. Klein-Dorrit, die an seinem Arme zitterte, war weniger mit Mr. Chiverys Theorie in Übereinstimmung als je und doch nicht ganz unversöhnbar mit einem neuen Einfall, der in ihm erwachte, es möchte jemand in der hoffnungslosen – noch neuerer Einfall – in der hoffnungslosen, unerreichbaren Ferne sein.
Sie wandten um, und Clennam sagte: »Hier kommt Maggy!« Klein-Dorrit sah erstaunt auf, und sie standen Maggy gegenüber, die bei ihrem Anblick plötzlich stehen blieb. Sie war so in Gedanken und geschäftig einhergetrottelt, daß sie sie nicht erkannt, bis sie sich nach ihr umwandten. Sie war in diesem Augenblick so vom Gewissen geschlagen, daß selbst ihr Korb an der Bewegung teilnahm.
»Maggy, du versprachst, bei dem Vater zu bleiben.«
»Das wollt' ich auch, Mütterchen, aber er gab es nicht zu. Wenn er mich fortschickt, muß ich doch. Wenn es ihm einfällt und er sagt: ›Maggy, trage diesen Brief eiligst fort, und du sollst einen Sixpence haben, wenn du gute Antwort bringst‹, so muß ich's doch tun. Mütterchen, was soll ein armes Kind von zehn Jahren tun? Und wenn Mr. Tip zufällig hereinkommt, wie ich hinauskomme, und wenn er sagt: ›Wo gehst du hin, Maggy?‹ und wenn ich sage: ›Ich gehe da und dahin‹, und wenn er sagt: ›Ich will's auch probieren‹, und wenn er in den George geht und einen Brief schreibt, und ihn mir gibt und sagt: ›Nimm das an denselben Ort mit, und wenn die Antwort gut ist, so erhältst du einen Schilling‹, so ist das nicht meine Schuld, Mütterchen!«
Arthur las in Klein-Dorrits niedergeschlagenen Augen, an wen der Brief nach ihrer Erwartung gerichtet sein mußte.
»Ich gehe da und dahin. Hier. Das ist's, wohin ich gehen soll«, sagte Maggy. »Ich gehe da und dahin. Nicht du, Mütterchen, hast etwas damit zu schaffen, sondern Ihnen gilt's«, sagte Maggy und wandte sich an Arthur. »Sie würden besser tun, wenn Sie mit mir da und dahin gingen, daß ich Ihnen die Briefe geben könnte.«
»Wir werden das nicht so genau nehmen. Gib sie nur her«, sagte Clennam mit leiser Stimme.
»Gut denn, so kommen Sie über den Weg«, antwortete Maggy mit sehr lautem Flüstern. »Mütterchen soll nichts davon wissen, und sie würde auch nicht davon erfahren haben, wenn Sie nur da und dahin gegangen wären, statt so viel Wesens zu machen und stehenzubleiben. Es ist nicht meine Schuld. Ich muß tun, was man mir sagt, sie sollten sich schämen, daß sie's zu mir sagten.«
Clennam trat auf die andere Seite des Weges und öffnete rasch die Briefe. Der vom Vater besagte, daß er ganz unerwartet sich in der neuen Lage befinde, daß eine Rimesse aus der City, auf die er zuversichtlich gezählt, ihm ausgeblieben sei, deshalb die Feder ergreife, da er durch den unglücklichen Umstand seiner dreiundzwanzigjährigen Gefangenschaft (doppelt unterstrichen) abgehalten sei, selbst zu kommen, was er sonst gewiß getan, – die Feder ergreife, um Mr. Clennam zu bitten, ihm die Summe von drei Pfund zehn Schillingen auf seinen Schuldschein, den er beizuschließen sich erlaube, vorzustrecken. Der Brief des Sohnes besagte, er sei überzeugt, Mr. Clennam werde sich freuen, zu vernehmen, daß er endlich eine dauernde Anstellung höchst befriedigender Art gefunden und die vollste Aussicht auf günstigen Erfolg in seinen Unternehmungen habe; daß jedoch das zeitweilige Außerstandesein seines Prinzipals, ihm sein rückständiges Salär auszubezahlen (in welcher Lage genannter Prinzipal an die edle Nachsicht appelliert, auf die er sicher bei ihm zählen zu dürfen geglaubt), in Verbindung mit den Betrügereien eines falschen Freundes und den gegenwärtigen hohen Preisen der Lebensmittel, ihn an den Rand des Verderbens bringen würde, wenn er nicht ein Viertel vor sechs Uhr heute abend die Summe von acht Pfund aufgebracht hätte. Mr. Clennam werde sich freuen zu erfahren, daß er diese Summe durch die Gefälligkeit mehrerer Freunde, die großes Vertrauen auf seine Rechtschaffenheit setzten, bereits mit Ausnahme der Kleinigkeit von einem Pfund siebenzehn Schillingen und vier Pence aufgebracht habe: das Darlehen dieses Mehr für die Zeit von einem Monat würde er mit den gewöhnlichen Zinsen belasten.
Diese Briefe beantwortete Clennam auf der Stelle mit Hilfe seines Bleistifts und seines Taschenbuchs, indem er dem Vater sandte, was er verlangte, und den Wunsch des Sohnes nicht erfüllen zu können sich entschuldigte. Er trug Maggy auf, mit seinen Antworten heimzugehen, und gab ihr einen Schilling, um den sie das Mißlingen ihres Supplementarunternehmens sonst gebracht hätte.
Als er wieder zu Klein-Dorrit trat und sie wie zuvor auf und ab gingen, sagte sie plötzlich:
»Ich glaube, ich gehe besser nach Hause. Ich gehe besser nach Hause.«
»Lassen Sie sich das nicht kümmern«, sagte Clennam. »Ich habe die Briefe beantwortet. Sie enthielten nichts. Sie wissen ja, was sie enthielten. Sie waren von keiner Bedeutung.«
»Aber ich fürchte mich«, versetzte sie, »ihn allein zu lassen, ich fürchte mich, irgendeines allein zu lassen. Wenn ich fort bin, machen sie verkehrtes Zeug –, aber es ist wirklich nicht ihre Absicht – auch Maggys nicht.«
»Es war ein ganz unschuldiger Auftrag, den sie besorgte, das arme Ding. Und daß sie ihn geheim vor Ihnen hielt, geschah ohne Zweifel, weil sie glaubte, Ihnen dadurch eine Unannehmlichkeit zu ersparen.«
»Ja, ich glaube es wohl, ich glaube es wohl! Aber ich gehe besser nach Hause! Erst gestern sagte mir meine Schwester, ich sei so an das Gefängnis gewöhnt worden, daß ich ganz den Ton und Charakter desselben angenommen. Es muß wohl der Fall sein. Ich weiß gewiß, daß es der Fall ist, wenn ich diese Dinge sehe. Mein Platz ist dort. Ich bin besser dort. Es ist gefühllos von mir, hier zu sein, wenn ich das Geringste dort tun kann. Leben Sie wohl. Ich tue weit besser, zu Hause zu bleiben.«
Der schwere Kampf, mit dem sie diese Worte hervorbrachte, als rängen sie sich unwillkürlich von ihrem gepreßten Herzen los, machte es schwierig für Clennam, die Tränen zurückzuhalten, wenn er sie ansah und so sprechen hörte.
»Nennen Sie es nicht zu Hause, mein Kind«, bat er. »Es ist mir immer peinlich Sie das ›zu Hause‹ heißen zu hören.«
»Aber es ist mein Haus. Was kann ich sonst meine Heimat nennen? Warum sollte ich das je vergessen?«
»Meine liebe Klein-Dorrit, Sie tun niemandem einen guten und wahren Dienst damit.«
»Ich weiß, ich weiß es! Aber es ist besser, wenn ich dort bleibe; weit besser, weit pflichtgetreuer, weit glücklicher. Bitte, gehen Sie nicht mit mir, lassen Sie mich allein gehen. Leben Sie wohl. Gott segne Sie. Ich danke Ihnen, danke Ihnen.«
Er fühlte, daß es besser sei, ihre Bitte zu respektieren, und blieb stehen, während ihre schlanke Figur rasch hinwegeilte. Als sie aus dem Gesicht verschwunden, richtete er seinen Blick auf das Wasser und stand sinnend da.
Sie würde sich zu jeder Zeit durch die Entdeckung dieser Briefe unglücklich gefühlt haben; aber jetzt um so mehr, und auf solche nicht wieder gutzumachende Weise?
Nein.
Wenn sie ihren Vater mit seinem fadenscheinigen Rocke hätte betteln sehen, wenn sie ihn gebeten, ihrem Vater kein Geld zu geben, wäre sie unglücklich gewesen. Aber nicht in solchem Grade. Etwas hatte sie gerade jetzt sehr stolz und empfindlich gemacht. War denn wirklich jemand in der hoffnungslosen, unerreichbaren Ferne? Oder war der Verdacht in dieses Gemüt durch die Gedankenverbindung des wilden Stromes unter der Brücke und desselben Stromes weiter oben gedrungen, der mit seiner unabänderlichen Melodie am Bug der Fähre so viele Meilen in einer Stunde dahinrauschte, hier die Binsen, dort die Lilien berührte, nichts ungewiss oder unruhig?
Er dachte lange Zeit an sein armes Kind, Klein-Dorrit; er dachte an sie, wie sie nach Hause gehe; er dachte an sie in der Nacht; er dachte an sie, wenn der Tag wieder anbrach. Und das arme Kind, Klein-Dorrit, dachte an ihn – nur zu treu, ach, nur zu treu – in den Schatten der Mauern des Marschallgefängnisses.