Charles Dickens
Klein-Dorrit. Erstes Buch
Charles Dickens

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Neuntes Kapitel.

Mütterchen.

Das Morgenlicht beeilte sich nicht sonderlich, die Gefängnismauern hinanzuklimmen und in die Fenster der Snuggery hineinzusehen; und als dies endlich geschah, wäre es weit willkommener gewesen, wenn es allein erschienen und nicht einen Regenschauer mit sich gebracht. Aber die Äquinoktialwinde stürmten draußen auf der See, und der unparteiische Südwestwind wollte auf seinem Flug selbst das enge Marschallgefängnis nicht versäumen. Während er durch die Türme von St. George brauste und durch alle Schirmkappen in der Nachbarschaft blies, trieb er plötzlich mit einem Stoß den Rauch von Southwark in den Kerker. Durch die Kamine einiger weniger Gefangener sich drängend, die bereits ihr Feuer anzündeten, hätte er diese beinahe erstickt.

Arthur Clennam hätte wenig Lust gehabt, länger im Bett zu verweilen, wenn dieses auch an einer abgeschiedeneren Stelle gestanden, und er von dem Herausscharren des Feuers von gestern, dem Anzünden eines neuen unter dem Siedetopf der Gefangenen, dem Füllen dieses spartanischen Kessels an der Pumpe, dem Fegen und Mit-Sägemehl-Bestreuen des gemeinschaftlichen Zimmers und dergleichen Vorbereitungen minder gestört worden wäre. Herzlich froh, den Morgen anbrechen zu sehen, obgleich er die Nacht wenig geruht, stand er, sobald er die Dinge um sich her unterscheiden konnte, auf und schritt zwei lange Stunden, ehe das Tor geöffnet wurde, im Hofe umher.

Die Mauern standen sich so nahe gerückt und die wilden Wolken eilten so rasch darüber hin, daß es ihm das Gefühl herannahender Seekrankheit gab, wenn er zum stürmischen Himmel emporblickte. Der Regen, der durch Windstöße in die Quere getrieben wurde, schwärzte die Wand des Hauptgebäudes, das er in der letzten Nacht besucht, ließ jedoch unter dem Lee der Mauer einen Raum trocken, wo er unter Stroh, Kehricht, Papierschnitzeln, dem verlorenen Getröpfel der Pumpe und den zerstreuten Gemüseabfällen von gestern auf und ab wallte. Es war ein so häßliches Lebensbild, wie man es sich nur denken kann.

Kein Schimmer des kleinen Geschöpfes, das ihn hierhergeführt, erhellte dieses Nachtbild. Vielleicht schlich sie aus ihrem Torweg in den, wo ihr Vater wohnte, während sein Gesicht von beiden abgewandt war. Aber er sah nichts von ihr. Es war zu früh für ihren Bruder; wer ihn einmal gesehen, hatte genug von ihm gesehen, um zu wissen, daß er zu träg war aufzustehen, mochte sein Bett, in dem er die Nacht zubrachte, auch noch so muffig sein. So sann Arthur Clennam, während er das Öffnen des Tores erwartend auf und nieder ging, mehr auf Mittel für die Fortsetzung seiner Nachforschungen, die er in Zukunft, als die er in der nächsten Gegenwart ins Werk setzen wollte.

Endlich bewegte sich die Tür des Pförtnerstübchens in den Angeln, und der Schließer, der seine Haare kämmend auf der Schwelle stand, war bereit, ihn hinauszulassen. Mit dem angenehmen Gefühl des Freiwerdens schritt er durch das Pförtnerstübchen und sah sich wieder in dem kleinen Vorhof, wo er vergangenen Abend den Bruder angeredet.

Von verschiedenen Seiten kamen bereits Menschen herbei, die unschwer als die noch unbeschriebenen Boten, Ausläufer und Unterhändler des Gefängnisses zu erkennen waren. Einige von ihnen hatten in dem Regen gelungert, bis das Tor sich öffnete. Andere, die ihre Ankunft mit größter Genauigkeit berechnet, waren nun gerade im Anzug und gingen mit feuchten, weißlich braunen Papiertüten vom Gewürzkrämer, Brotlaiben, Stücken Butter, Eiern, Milch und dergleichen in das Gefängnis. Die Lumpigkeit dieser Diener der Lumpigkeit, die Armut dieser zahlungsunfähigen Aufwärter der Zahlungsunfähigkeit war ein interessanter Anblick. Solche fadenscheinige Röcke und Hosen, solche muffige Kleider und Tücher, solche zerknüllte Hüte und Hauben, solche Stiefel und Schuhe, solche Schirme und Stöcke hatte man auf dem Trödelmarkt nie gesehen. Sie alle trugen die weggeworfenen Kleider anderer Männer und Frauen. Diese Kleider waren zusammengesetzt aus den Lappen und Stücken der Individualität anderer Leute und hatten keine eigne Existenz. Ihr Gang war der Gang einer ganz merkwürdigen Rasse. Sie hatten eine ganz eigentümliche Art, wie die Hunde um die Ecke zu schleichen, als ob sie beständig zu den Pfandleihern gingen. Wenn sie husteten, husteten sie wie Leute, die gewohnt sind, auf Türschwellen und in zugigen Gängen die Antwort auf Briefe zu erwarten, die mit blasser Tinte geschrieben sind und den Empfängern große geistige Unruhe bereiten und wenig Befriedigung gewähren. Wenn sie den Fremden im Vorübergehen betrachteten, betrachteten sie ihn mit bittenden Augen – hungrig, scharf auf seine Güte spekulierend, als wenn sie auf ihn angewiesen wären, und auf die Wahrscheinlichkeit, daß etwas Schönes ihrer warte. Die Bettelei aus Auftrag bückte sich in ihren hohen Schultern, schlenkerte in ihren unsteten Beinen, knöpfte, band, stopfte und schleppte ihre Kleider, rieb ihre Knopflöcher ab, hing in kleinen schmutzigen Bandenden aus ihrem Anzug hervor und drang in Atem, der nach Alkohol roch, aus ihrem Munde.

Als diese Leute an ihm vorübergingen, während er noch in dem Vorhof stand, und einer von ihnen zurückkehrte, um ihn zu fragen, ob er ihm nicht zu Dienst sein könne, kam Arthur auf den Gedanken, er wolle noch einmal mit Dorrit sprechen, ehe er wegging. Sie würde sich wohl von ihrer ersten Überraschung erholt haben und sich ihm gegenüber unbefangener fühlen. Er fragte dies Glied der Brüderschaft (das zwei Bücklinge in der Hand und ein Brot und eine Stiefelbürste unter dem Arm trug), wo man in der Nähe eine Tasse Kaffee bekommen könne. Der Unbeschriebene antwortete in ermutigenden Worten und brachte ihn nach einer Kaffeewirtschaft, die nur einen Steinwurf entfernt war.

»Kennt Ihr Miß Dorrit?« fragte der neue Klient.

Der Unbeschriebene kannte zwei Miß Dorrit; eine, die im Gefängnis geboren worden – das war sie! Das war sie! Der Unbeschriebene kannte sie seit vielen Jahren. Was die andre Miß Dorrit betraf, so wohnte der Unbeschriebene in demselben Hause mit ihr und ihrem Oheim.

Dies änderte den beinahe gefaßten Entschluß des Klienten, in der Kaffeewirtschaft zu bleiben, bis der Unbeschriebene ihm melde, daß Dorrit nach der Straße herauskomme. Er betraute den Unbeschriebenen mit einer vertraulichen Botschaft des Inhalts an sie, daß der Fremde, der vergangenen Abend ihrem Vater einen Besuch abgestattet hatte, um die Gunst einiger Worte in ihres Onkels Wohnung bitte. Er erhielt von derselben Quelle die genaueste Auskunft über die Lage des Hauses, das sehr nahe war, entließ den Unbeschriebenen mit dem Geschenk einer halben Krone und eilte, nachdem er sich rasch in der Kaffeewirtschaft erfrischt, nach der Wohnung des Klarinettisten.

Es wohnten so viele Leute in dem Hause, daß der Türpfosten so voll von Glockengriffen schien, wie die Kathedralorgel von Registern. Ungewiß, welches das Klarinettregister sei, war er noch in Erwägung dieser Frage begriffen, als ein Federball aus dem Parterrezimmer flog und ihm den Hut vom Kopf warf. Er bemerkte dann, daß an dem Parterrefenster ein Schirm mit der Aufschrift war: Mr. Cripples' Akademie; und in einer zweiten Linie stand: Abendunterricht. Hinter dem Fensterschirm befand sich ein kleiner blasser Knabe mit einer Butterbrotschnitte und einer Kinderfibel. Das Fenster war vom Fußweg aus erreichbar; er sah über den Fensterschirm, warf den Federball wieder hinein und stellte seine Frage.

»Dorrit?« sagte der kleine blasse Knabe (Master Cripples selbst). »Mr. Dorrit? Dritte Glocke und einmal klopfen.«

Die Zöglinge von Mr. Cripples schienen ein Diktatheft aus der Straßentür gemacht zu haben, so war sie über und über mit Bleistift beschmiert. Die zahlreichen Inschriften »der alte Dorrit« und »der schmutzige Dick« schienen Persönlichkeiten für die Zöglinge Mr. Cripples' zu sein. Es war reichlich Zeit zu diesen Beobachtungen, ehe die Tür von dem alten Manne selbst geöffnet wurde.

»Ach«, sagte er, sich sehr langsam auf Arthur besinnend, »Sie wurden vergangene Nacht eingeschlossen?«

»Ja, Mr. Dorrit. Ich hoffe, Ihre Nichte hier bei Ihnen sprechen zu können.«

»Oh!« sagte er nachdenkend. »Nicht bei meinem Bruder? Gut. Wollen Sie heraufkommen und auf sie warten?«

»Ich danke.«

So langsam sich umwendend, wie er alles in seinem Kopfe bewegte, was er hörte und sagte, führte er den Fremden die schmalen Treppen hinauf. Das Haus war sehr verschlossen und hatte einen dumpfigen Geruch. Die kleinen Treppenfenster sahen in die hinteren Fenster der andern ebenso dumpfigen Häuser, an denen Stangen und Stricke befestigt waren, worauf traurig aussehendes Linnen hing, als wenn die Bewohner nach Kleidern angelten und hätten einige elende Köder gehabt, die man kaum beachtet. In einer hinteren Bodenkammer – einem ungesunden Gemach mit einem Umschlagbett, das kaum erst und so in der Eile umgeschlagen sein mußte, daß die Pfühle noch hervorquollen und sozusagen das Augenlid offenzuhalten schienen – in diesem Gemach stand ein halbbeendigtes Frühstück von Kaffee und gerösteten Brotschnitten für zwei Personen auf einem elenden Tische unordentlich durcheinander.

Es war niemand da. Der alte Mann, der nach einigem Bedenken vor sich hinmurmelte, daß Fanny davongelaufen, ging nach dem nächsten Zimmer, um sie zurückzuholen. Der Fremde, der bemerkte, daß sie die Tür von innen festhielt, und daß, als der Onkel sie aufzuziehen suchte, ihn jemand laut beschwor: »Laßt doch gehen!« während schlaffe Strümpfe und Flanellröcke umherlagen, schloß, daß das junge Mädchen im Negligé sei. Der Onkel, der keinen Schluß zu ziehen schien, schlürfte wieder herbei, setzte sich auf seinen Stuhl und begann die Hände an dem Feuer zu wärmen. Nicht daß es kalt gewesen oder daß er eine dunkle Vorstellung von Wärme und Kälte in diesem Augenblick gehabt – er tat es unbewußt.

»Was dachten Sie von meinem Bruder, Sir?« fragte er, als er nach und nach entdeckte, was er tat, die Hände zurückzog, nach dem Kaminmantel langte und seine Klarinettkapsel herunterholte.

»Ich freute mich«, sagte Arthur sehr verlegen; denn seine Gedanken waren bei dem Bruder, der vor ihm saß, »ich freute mich, ihn so wohl und heiter zu finden.«

»Ha!« murmelte der alte Mann. »Ja, ja, ja, ja, ja!"«

Arthur war begierig zu erfahren, wozu er die Klarinettkapsel brauche. Er brauchte sie aber durchaus nicht. Er entdeckte bald, daß es nicht die kleine Papiertüte mit Schnupftabak war (die gleichfalls auf dem Kamin lag), legte sie wieder an ihre Stelle, nahm den Schnupftabak dafür und tröstete sich mit einer Prise. Er war so schwach, sparsam und langsam in seinen Prisen wie in allem andern, aber ein gewisses leichtes Zucken des Genusses spielte um die armen ausgemergelten Nerven in den Winkeln seiner Augen und seines Mundes.

»Amy, Mr. Clennam. Was halten Sie von ihr?«

»Alles, was ich von ihr gesehen und über sie gedacht, Mr. Dorrit, hat einen tiefen Eindruck auf mich gemacht.«

»Mein Bruder wäre ohne Amy ganz verloren gewesen«, versetzte er. »Wir wären alle ohne Amy verloren gewesen. Sie ist ein vortreffliches Mädchen, die Amy. Sie tut ihre Pflicht."

Arthur glaubte, wie am Abend vorher bei dem Vater, aus diesen Lobeserhebungen den Ton der Gewohnheit herauszuhören, während im Innern der Lobenden ein gewisses widerstrebendes Gefühl vorzuherrschen schien. Nicht daß sie ihrem Lob Abbruch getan oder gefühllos für das gewesen, was sie ihnen tat; aber sie waren beinahe bis zur Gleichgültigkeit an sie gewöhnt wie an alles übrige in ihrer Lage. Er glaubte, daß, obgleich sie tagtäglich den Vergleich zwischen ihr und einer andern und sich selbst anzustellen Gelegenheit hatten, sie sie doch als ein Wesen betrachteten, das eben einfach an ihrem notwendigen Platz stünde und eine Stellung zu ihnen allen einnehme, die ihr zu eigen sei wie ihr Name oder ihr Alter. Er glaubte, daß sie sie nicht als ein Geschöpf betrachteten, das über die Gefängnisatmosphäre erhaben sei, sondern als ein solches, das mitten darein gehöre, kurz als das, was sie von ihr erwarten konnten und nicht mehr.

Ihr Onkel nahm sein Frühstück wieder auf und kaute geröstetes Brot, das er in den Kaffee tauchte; er hatte seinen Gast längst vergessen, als man die dritte Glocke läuten hörte. Das sei Amy, sagte er, und ging hinab, um ihr aufzuschließen, während der Fremde noch immer das Bild seiner schmutzigen Hände, seines schmutzigen und abgezehrten Gesichtes, seiner gebeugten Gestalt vor sich zu haben glaubte, als säße er leibhaftig auf dem eben verlassenen Stuhle.

Sie kam hinter ihm die Treppe herauf, in dem gewöhnlichen einfachen Kleide und mit der gewöhnlichen schüchternen Haltung. Ihre Lippen waren etwas geöffnet, als ob ihr Herz heftiger denn sonst pochte.

»Amy«, sagte ihr Onkel, »Mr. Clennam hat einige Zeit auf dich gewartet.«

»Ich nahm mir die Freiheit, Ihnen etwas bestellen zu lassen.«

»Es wurde mir ausgerichtet, Sir.«

»Gehen Sie diesen Morgen zu meiner Mutter? Ich denke nicht; denn Ihre gewöhnliche Stunde ist vorbei.«

»Heute nicht, Sir. Man braucht mich heute nicht.«

»Wollen Sie mir gestatten, Sie einen Teil des Weges zu begleiten, wohin Sie auch gehen mögen? Ich kann dann während des Gehens mit Ihnen sprechen und brauche Sie auf solche Weise nicht hier aufzuhalten und mich selbst nicht länger hier aufzudrängen.«

Sie schien verlegen, sagte jedoch, wenn es ihm beliebe, so sei sie bereit. Er tat, als ob er seinen Spazierstock verlegt habe, um ihr Zeit zu lassen, die Bettstelle in Ordnung zu bringen, dem ungeduldigen Pochen der Schwester an der Wand zu antworten und ihrem Onkel etwas leise zu sagen. Dann fand er den Stock, und sie gingen die Treppe hinab; sie voraus, er hintendrein, während der Onkel auf der obersten Stufe stand und sie wahrscheinlich vergessen hatte, ehe sie unten angekommen waren.

Mr. Cripples' Zöglinge, die inzwischen zur Schule gekommen waren, hielten in ihrer Morgenbelustigung, sich mit Büchermappen und Büchern zu schlagen, inne, um restlos hingegeben einen Fremden anzustarren, der den »schmutzigen Dick« besucht hatte. Sie ertrugen schweigend die harte Probe dieses Schauspiels, bis der geheimnisvolle Fremde in sicherer Entfernung von ihnen war: dann warfen sie mit Kieselsteinen und schrien und machten höhnische Sprünge und zerbrachen die Friedenspfeife mit so vielen wilden Zeremonien, daß, wenn Mr. Cripples der Häuptling des kriegerischen Cripplewayboostammes gewesen, sie kaum seiner Erziehung größere Gerechtigkeit hätten widerfahren lassen können.

Während dieser Huldigung bot Mr. Arthur Clennam Klein-Dorrit seinen Arm an, und Klein-Dorrit nahm ihn. »Wollen Sie den Weg nach der Iron Bridge einschlagen?« sagte er, »dort entkommen wir dem Straßengeräusch.« Klein-Dorrit antwortete: »wenn's ihm gefällig sei« und fügte die Erwartung hinzu, daß er sich nicht durch Mr. Cripples' Zöglinge »kränken lassen solle«; denn sie habe selbst ihre bisherige Erziehung in Mr. Cripples' Abendschule erhalten. Er erwiderte mit der größten Bereitwilligkeit von der Welt, daß er Mr. Cripples' Jungen von ganzer Seele verzeihe. Auf solche Weise wurde Cripples unbewußt der Zeremonienmeister zwischen ihnen und brachte sie auf natürlichere Weise zusammen, als es Beau Nash gelungen wäre, wenn sie in seinen goldenen Zeiten gelebt und er selbst aus seiner Kutsche mit sechs Pferden deshalb gesprungen wäre.

Der Morgen blieb stürmisch, und die Straßen waren sehr schmutzig, aber es fiel kein Regen, solange sie nach der Iron Bridge wandelten. Das kleine Geschöpf erschien ihm so jung, daß es Augenblicke gab, in denen er von ihr wie von einem Kinde dachte, wenn er sie auch im Gespräch nicht als solches behandelte. Vielleicht erschien er ihr so alt, wie sie ihm jung.

»Ich habe mit Bedauern gehört, daß Sie in vergangener Nacht die Unannehmlichkeit hatten, eingeschlossen zu werden. Es war wirklich sehr fatal.«

Es habe nichts zu bedeuten, antwortete er. Er habe ein sehr gutes Bett gehabt.

»O ja!« sagte sie lebhaft, sie glaube, daß es vortreffliche Betten in jenem Kaffeehaus geben müsse. Es schien, daß das Kaffeehaus in ihren Augen ein majestätisches Hotel war und daß sie seinen Ruf hoch anschlug.

»Ich glaube, es ist sehr teuer«, sagte Klein-Dorrit, »aber mein Vater sagte mir, daß man dort vortreffliche Diners mache, und der Wein erst«, fügte sie schüchtern hinzu.

»Waren Sie jemals dort?«

»O nein! Nur in der Küche, um heißes Wasser zu holen.«

Man denke sich, daß man mit einer Art heiliger Scheu vor dem Luxus dieses glänzenden Etablissements, des Marschallgefängnishotels, aufwachsen kann!

»Ich fragte Sie gestern abend«, sagte Clennam, »wie Sie mit meiner Mutter bekannt wurden? Haben Sie je ihren Namen gehört, ehe sie nach Ihnen schickte?«

»Nein, Sir.«

»Glauben Sie, daß Ihr Vater ihn kannte?«

»Nein, Sir.«

Er begegnete ihren Augen, die mit so viel Verwunderung zu ihm erhoben waren (sie erschrak bei dieser Begegnung und blickte auf die Seite), daß er es für notwendig hielt, zu sagen:

»Ich habe einen Grund zu dieser Frage, den ich Ihnen nicht gut auseinandersetzen kann. Aber Sie dürfen ihn durchaus nicht für etwas ansehen, das Ihnen im mindesten Unruhe oder Angst einflößen könnte. Im Gegenteil. Und Sie glauben, daß der Name Clennam Ihrem Vater niemals bekannt gewesen?«

»Nein, Sir.«

Er fühlte an dem Ton, in dem sie sprach, daß sie mit halb geöffneten Lippen zu ihm aufsah. Deshalb blickte er vor sich hin, um ihr Herz durch eine neue Verlegenheit nicht noch heftiger schlagen zu machen.

So kamen sie nach Iron Bridge, die nach dem Geräusch der Straßen ihnen so ruhig und still erschien, als ob es das offne Feld wäre. Der Wind blies heftig, die nassen Windstöße stoben an ihnen vorüber, daß die Pfützen auf Straßen und Pflaster schäumten und nach dem Fluß hinuntergetrieben wurden. Die Wolken stürmten in wildem Ungestüm an dem bleifarbigen Himmel hin, Rauch und Nebel jagten ihnen nach, und der dunkle Strom wälzte sich mit dumpfem Rauschen in derselben Richtung fort. Klein-Dorrit schien das letzte, stillste und schwächste Geschöpf des Himmels.

»Lassen Sie mich einen Wagen für Sie holen«, sagte Arthur und fügte rasch: »Mein armes Kind« hinzu.

Sie lehnte es ebenso rasch ab und sagte, daß ihr trocken oder naß ziemlich gleichgültig sei. Sie sei gewöhnt, bei jeglichem Wetter auszugehen. Er wußte, daß dem so war, und fühlte noch größeres Mitleid, wenn er an das schwächliche Wesen an seiner Seite dachte, das seinen nächtlichen Weg durch die dumpfen, finstern, unruhigen Straßen nach jenem stillen Ort machte.

»Sie sprachen so gefühlvoll gestern abend mit mir, Sir, und ich fand später, daß Sie so freigebig gegen meinen Vater gewesen, daß ich Ihrer Aufforderung Folge leisten mußte, wenn auch nur, um Ihnen zu danken; namentlich, da ich sehr wünschte, Ihnen zu sagen« – sie zögerte und zitterte, und Tränen traten in ihre Augen, flossen jedoch nicht über ihre Wangen.

»Mir zu sagen?«

»Daß ich hoffe, Sie werden meinen Vater nicht mißverstehen. Beurteilen Sie ihn nicht mit dem Maßstab, mit dem Sie andere Menschen außerhalb des Gefängnisses beurteilen würden. Er war so lange darinnen! Ich sah ihn niemals hier außen, aber ich kann wohl begreifen, daß er in manchen Dingen sich sehr verändert haben muß.«

»Ich werde nie ungerecht oder streng über ihn denken, glauben Sie mir.«

»Nicht«, sagte sie mit einer stolzen Miene, da die Besorgnis in ihr aufstieg, sie möchte ihn preiszugeben scheinen, »nicht, daß er in irgendeiner Beziehung zu erröten hätte oder daß ich seinetwegen irgendwie erröten müßte. Er muß nur verstanden werden. Ich fordere bloß, daß man sein Leben genau berücksichtigt. Alles, was er sagte, ist vollkommen wahr. Es ist alles geschehen, wie er erzählte. Er ist sehr geachtet und geehrt. Jedermann, der hineinkommt, freut sich, ihn kennenzulernen. Es wird ihm mehr gehuldigt als irgend sonst jemandem. Man nimmt weit mehr Rücksicht auf ihn als auf den Marschall.«

Wenn je ein Stolz unschuldig war, so war es der Klein-Dorrits, als sie für ihren Vater in die Lobposaune stieß.

»Man hat häufig gesagt, daß sein Benehmen das eines echten Gentlemans und daß er ein wirkliches Vorbild sei. Ich kenne nichts Ähnliches an jenem Ort, aber man gibt auch seine Überlegenheit über alle zu. Dies ist ebensosehr der Grund, weshalb sie ihm Geschenke machen, wie weil sie wissen, daß er ihrer bedürftig ist. Man darf ihn wegen seiner Dürftigkeit nicht tadeln, den guten Vater. Wer wäre ein Vierteljahrhundert im Gefängnis und lebte noch in guten Vermögensverhältnissen!«

Welche Liebe in ihren Worten, welches Mitleid in ihren unterdrückten Tränen, welche treue Seele, wie wahr das Licht, das eine falsche Helle um sich verbreitete!

»Wenn ich es für gut fand zu verheimlichen, wo ich wohne, so geschah es nicht, weil ich mich seiner schäme. Gott verhüte es! Auch schäme ich mich des Gefängnisses nicht so sehr, wie man vielleicht vermutet. Die Leute sind nicht schlecht, weil sie dorthin kommen. Ich kannte viele vortreffliche, zuverlässige, ehrenwerte Menschen, die durch Unglück dahin kamen. Sie sind beinahe alle gutherzig gegeneinander. Und es wäre wirklich undankbar von mir, wenn ich vergessen wollte, daß ich manche ruhige, angenehme Stunde dort hatte; daß ich einen ausgezeichneten Freund dort besaß, als ich noch ein kleines Kind war, der mich innig liebte, daß ich dort erzogen wurde und dort arbeitete und eines gesunden Schlafes mich dort erfreute. Ich würde es beinahe für feig und grausam halten, wenn ich nach alledem nicht ein wenig Anhänglichkeit an jene Räume hätte.«

Sie hatte die Fülle ihres redlichen Herzens vor ihm ausgeschüttet und fühlte sich dadurch erleichtert. Bescheiden fuhr sie fort und sah ihn fragend an: »Ich wollte nicht so viel sagen; auch habe ich diese Sache nie zuvor noch berührt. Aber es scheint mir, sie in ein besseres Licht zu stellen, als es dies verflossenen Abend der Fall war. Ich sagte, ich wünschte, Sie wären mir nicht gefolgt, Sir. Ich wünsche dies jetzt nicht mehr in dem Maße, wenn Sie nicht etwa denken sollten – wahrhaftig, ich wünsche es gar nicht mehr, wenn ich nicht etwa so verwirrt gesprochen haben sollte, daß – daß Sie mich kaum verstehen konnten, was, wie ich fürchte, wirklich der Fall war.«

Er sagte ihr, wie es die Wahrheit war, daß dies nicht der Fall; und sich zwischen sie und den scharfen Wind und Regen stellend, schützte er sie, so gut es ging.

»Ich glaube, daß es mir nun gestattet ist«, sagte er, »Sie etwas mehr über die Verhältnisse Ihres Vaters zu befragen. Hat er viele Gläubiger?«

»Ach! leider sehr viele!«

»Ich meine solche Gläubiger, die ihn an dem Ort festhalten, wo er ist.«

»O ja, sehr viele.«

»Können Sie mir sagen – ich kann zweifelsohne anderwärts darüber Nachrichten einziehen, wenn Sie sie mir nicht zu geben imstande sind –, wer ist der einflußreichste von ihnen?«

Dorrit sagte, nachdem sie einen Augenblick nachgedacht, daß sie vor langer Zeit häufig von Mr. Tite Barnacle als einem Mann von großer Macht habe sprechen hören. Er sei Kommissar, Ratsherr, Kurator oder »etwas der Art«. Er wohne auf dem Grosvenorplatz, glaube sie, oder dort in der Nähe. Er sei bei der Regierung – habe eine hohe Stellung bei dem Circumlocution Office. Sie schien in ihrer Kindheit einen unheimlichen Eindruck von der Macht dieses furchtbaren Mr. Tite Barnarle vom Grosvenorplatz oder dort in der Nähe und dem Circumlocution Office empfangen zu haben, daß es sie schauerte, wenn sie davon sprach.

»Ich begehe kein Unrecht«, dachte Arthur, »wenn ich mir diesen Mr. Tite Barnacle ansehe.«

Dieser Gedanke war nicht so bald in ihm aufgestiegen, als sie ihn auch schon wieder abschnitt. »Ach!« sagte Klein-Dorrit, den Kopf schüttelnd mit der milden Verzweiflung eines langen traurigen Lebens. »Schon viele Leute hatten die Absicht, meinen armen Vater aus dem Gefängnis zu befreien, aber Sie wissen nicht, wie hoffnungslos dieser Wunsch ist.«

Sie verlor in diesem Augenblick ihre Schüchternheit, da sie ihn von dem gesunkenen Wrack wegriß, das er wieder emporzuraffen sich träumen ließ, und sah ihn mit Augen an, die ihn in Verbindung mit ihrem geduldigen Gesicht, ihrer schwächlichen Gestalt, ihrem dürftigen Gewand und dem Wind und Regen sicher nicht von seinem Vorsatz, ihr zu helfen, abbrachten.

»Selbst wenn es möglich wäre«, sagte sie, »und es ist jetzt nie mehr möglich – wo sollte Vater wohnen oder wie könnte er leben? Ich habe oft daran gedacht, wenn ein solcher Glücksfall einträte, es würde ihm nichts weniger als nützlich sein. Die Leute hier draußen würden nicht so gut von ihm denken, wie sie es dort tun. Er würde hier nicht so freundlich behandelt werden wie dort. Er wäre nicht so geschaffen für das Leben außerhalb des Gefängnisses, wie für das innerhalb der vier Mauern.«

Hier konnte sie zum ersten Male nicht hindern, daß ihr die Tränen über die Wangen rollten, und die kleinen zarten Hände, die er beobachtet, als sie so geschäftig waren, zitterten, während sie sich falteten.

»Es wäre ein neuer Kummer für ihn, wenn er wüßte, daß ich etwas Geld erwerbe und daß Fanny etwas Geld erwirbt. Er ist so besorgt um uns, da er sich hilflos eingeschlossen fühlt. Ein guter, guter Vater!«

Er ließ diesen kleinen Gefühlsstrom sich etwas verlaufen, ehe er sprach. Es war bald vorüber. Sie war nicht gewöhnt, an sich zu denken oder irgend jemanden mit ihren Gemütsbewegungen zu belästigen. Er hatte sich nur die Masse der Dächer und Kamine der City betrachtet, zwischen denen sich der Rauch langsam hinzog, und den Wald von Masten auf dem Strom und die Wildnis von Türmen am Ufer, die sich bei dem Sturm und Nebel nur in unklaren Umrissen vor seinen Blicken zeigten, bis sie wieder so ruhig war, als wenn sie in seiner Mutter Zimmer mit der Nadel hantierte.

»Sie würden wohl froh sein, wenn Sie Ihren Bruder in Freiheit sähen?«

»Sehr froh, Sir, sehr froh.«

»Gut, so wollen wir wenigstens für ihn hoffen. Sie sagten mir verflossene Nacht von einem Freunde, den Sie besessen?«

Sein Name sei Plornish, sagte Klein-Dorrit.

Und wo wohnt Plornish? Plornish wohne in Bleeding Heart Yard. Er sei »nur ein Gipser«, sagte Klein-Dorrit, aus Vorsicht, damit er nicht zu große gesellschaftliche Erwartungen von Plornish hege. Er wohne in dem letzten Haus in Bleeding Heart Yard und sein Name stehe über einem kleinen Torweg.

Arthur schrieb sich die Adresse auf und gab ihr die seine. Er hatte jetzt alles getan, was er für den Augenblick tun wollte. Nur wünschte er ihr ein Gefühl des Vertrauens zu ihm auf den Weg zu geben und ihr etwas wie ein Versprechen abzulocken, daß sie dieses Gefühl in sich lebendig erhalte.

»Das ist ein Freund!« sagte er und steckte die Brieftasche ein. »Während ich Sie nun zurückbringe – Sie gehen doch zurück?«

»O ja! ich gehe direkt nach Hause!«

»Während ich Sie zurückbringe«, das Wort nach Hause widerstrebte ihm, »darf ich Sie bitten, überzeugt zu sein, daß Sie noch einen Freund haben. Ich mache keine Bekenntnisse und sage nicht mehr.«

»Sie sind wirklich sehr gütig gegen mich. Ich brauche keinen weiteren Beweis.«

Sie gingen durch die elenden schmutzigen Straßen und zwischen den armen, geringen Läden zurück und wurden jeden Augenblick von der Menge schmutziger Trödler gestoßen, die sich stets in einer ähnlichen Umgebung finden. Auf dem kurzen Weg war wirklich nichts, was einem der fünf Sinne angenehm gewesen. Aber es war doch kein gewöhnlicher Gang durch gewöhnlichen Regen, Schmutz und Lärm für Clennam, da er dieses kleine, schwache, schüchterne Geschöpf an seinem Arme führte. Wie jung sie ihm oder wie alt er ihr erschien, oder welches Geheimnis den Knoten ihrer nach Schicksalsschluß sich künftig durchkreuzenden Lebensgeschichte schürzte, ist hier gleichgültig. Es trat ihm in diesem Augenblick vor die Seele, wie sie in dieser Umgebung geboren und auferzogen worden, mit dieser schmutzigen Lebensnotdurft vertraut und doch so unschuldig sei, und wie sie stets für andre besorgt war, während sie noch so jung und ihr ganzes Wesen einen durchaus kindlichen Eindruck machte.

Sie waren nach der High Street gekommen, wo das Gefängnis stand, als eine Stimme: »Mütterchen! Mütterchen!« rief. Als Dorrit stehenblieb und sich umsah, sprang eine seltsame Erscheinung in so großer Aufregung auf sie zu (immer noch »Mütterchen« rufend), daß sie zu Boden stürzte und der Inhalt eines großen mit Gemüsen gefüllten Korbes in den Staub fiel.

»O Maggy«, sagte Dorrit, »was bist du für ein ungeschicktes Kind!«

Maggy hatte sich nicht weh getan. Sie stand rasch wieder auf und begann die Kartoffeln zusammenzulesen, wobei ihr Dorrit und Arthur Clennam halfen. Maggy las sehr wenig Kartoffeln, aber um so mehr Schmutz auf; aber es wurde alles gerettet und wieder in den Korb gelegt. Maggy wischte dann ihr schmutziges Gesicht mit ihrem Schal ab und zeigte es Mr. Clennam als ein Bild der Reinheit, wodurch er in den Stand gesetzt war, zu sehen, wes Geistes Kind sie sei.

Sie zählte ungefähr achtundzwanzig Jahre, hatte starke Knochen, grobe Gesichtszüge, breite Füße und Hände, große Augen und kein Haar. Diese ihre großen Augen waren hell und beinahe farblos; sie schienen wenig Licht in sich aufzunehmen und unnatürlich stillzustehen. Ihr Gesicht hatte den aufmerksam lauernden Ausdruck, den man in den Gesichtern der Blinden findet. Aber sie war nicht blind; denn sie besaß ein ziemlich brauchbares Auge. Ihr Gesicht war nicht ausnehmend häßlich, obgleich nur ein Lächeln daran schuld, daß dies nicht der Fall; ein gutmütiges und an und für sich angenehmes Lächeln, das jedoch Mitleid erregte, weil es immer da war. Eine große weite Haube mit einer Menge undurchsichtiger Krausen, die immer drum herumflatterten, waren die Ehrenretter von Maggys Kahlköpfigkeit und machten es ihrem alten schwarzen Hut so schwer, seinen Platz auf ihrem Kopfe zu behaupten, daß er sich um den Hals festklammerte wie das Kind einer Zigeunerin. Eine Kommission von Kurzwarenhändlern konnte allein entscheiden, woraus der Rest ihrer dürftigen Bekleidung gemacht war; aber das Ganze hatte eine große Ähnlichkeit mit Meergras und da und dort mit einem riesigen Teeblatt. Ihr Schal sah besonders wie ein Teeblatt nach oftmaligem Aufguß aus.

Arthur Clennam sah Dorrit mit dem Ausdruck an, als wollte er sagen: »Darf ich fragen, wer ist das?« Dorrit, deren Hand diese Maggy, die sie noch immer Mütterchen nannte, zu streicheln begonnen, antwortete (sie standen unter einem Torweg, in den der größere Teil der Kartoffeln gerollt war):

»Das ist Maggy, Sir.«

»Maggy, Sir«, wiederholte die Vorgestellte. »Mütterchen!«

»Sie ist die Enkelin« – sagte Dorrit.

»Enkelin«, wiederholte Maggy.

»– meiner alten Wärterin, die schon lange tot ist. Maggy, wie alt bist du?«

»Zehn, Mutter«, sagte Maggy.

»Sie können sich nicht denken, wie gut sie ist, Sir«, sagte Dorrit mit unendlicher Zärtlichkeit.

»Gut sie ist«, wiederholte Maggy, das Fürwort in ungemein ausdrucksvoller Weise von sich auf ihre kleine Mutter übertragend.

»Und wie geschickt«, sagte Dorrit. »Sie besorgt alles aufs beste.« Maggy lachte. »Und ist so zuverlässig wie die Bank von England.« Maggy lachte. »Sie erwirbt sich ihren Lebensunterhalt ganz allein. Ganz allein, Sir!« sagte Dorrit in leiserem und triumphierendem Tone. »Wirklich, die reine Wahrheit!«

»Was ist ihre Lebensgeschichte?« fragte Clennam.

»Denke dir, Maggy!« sagte Dorrit, nahm ihre beiden großen Hände und klatschte sie zusammen. »Ein Gentleman, der viele tausend Meilen weit herkommt, will deine Geschichte wissen!«

»Meine Geschichte?« rief Maggy. »Mütterchen.«

»Sie meint mich«, sagte Dorrit etwas verlegen; »sie ist sehr anhänglich an mich. Ihre alte Großmutter war nicht so freundlich gegen sie, wie sie hätte sein sollen; nicht wahr, Maggy?«

Maggy schüttelte den Kopf, machte ein Trinkgefäß aus ihrer Hand, trank daraus und sagte: »Branntwein.« Dann schlug sie ein eingebildetes Kind und sagte: »Besenstiele und Schürhaken.«

»Als Maggy zehn Jahre alt war«, sagte Dorrit, ihr ins Gesicht sehend, während sie sprach, »hatte sie ein böses Fieber, Sir, und sie ist seitdem nicht älter geworden.«

»Zehn Jahre alt«, sagte Maggy und nickte mit dem Kopf. »Aber was für ein hübsches Krankenhaus! So angenehm, nicht wahr? Oh, es war so schön. Ein himmlischer Ort.«

»Sie hatte nie zuvor Ruhe gehabt, Sir«, sagte Dorrit und wandte sich, leise sprechend, einen Augenblick zu Arthur hin. »Sie kommt immer wieder darauf zurück.«

»So gute Betten gibt es dort!« sagte Maggy. »So gute Limonade! Apfelsinen! Köstliche Brühe und Wein! Und vortreffliche Hühner! Oh, ist das nicht ein angenehmer Aufenthalt, wo man gern ist und bleibt?«

»Maggy blieb wirklich so lange dort, wie sie konnte«, sagte Dorrit in ihrem früheren Ton, mit dem sie die Geschichte eines Kindes erzählt hatte, dem Ton, der für Maggys Ohr berechnet war; »und zuletzt, als sie nicht länger dort bleiben konnte, kam sie heraus. Und weil sie nicht mehr als zehn Jahre alt werden sollte, wie lange sie auch lebte –«

»Wie lange sie auch lebte«, wiederholte Maggy.

»– und weil sie sehr schwach war, ja wirklich, so schwach, daß wenn sie zu lachen begann, sie nicht aufhören konnte – was sehr traurig anzusehen war –« (Maggy wurde plötzlich sehr ernst.)

»– wußte ihre Großmutter nicht, was mit ihr anzufangen, und ging einige Jahre lang sehr schlecht mit ihr um. Endlich im Verlauf der Zeit suchte Maggy sich zu vervollkommnen und auf alles aufmerksam und recht fleißig zu sein. Nach und nach wurde ihr gestattet, so oft hier aus und ein zu gehen, wie ihr beliebte, und sie bekam genug zu tun, um sich ihren Lebensunterhalt dadurch zu erwerben, und dazu ist sie nun auch wirklich imstande. Das«, sagte Klein-Dorrit die beiden großen Hände wieder zusammenschlagend, »ist Maggys Geschichte, wie sie Maggy weiß!«

Ach! Arthur hätte so gern gewußt, was zu ihrer Vervollständigung fehlte, auch wenn er nie das Wort Mütterchen gehört, auch wenn er das Liebkosen der kleinen schmalen Hand nie gesehen, auch wenn er keinen Blick für die Tränen hatte, die jetzt in den farblosen Augen standen, auch wenn er den Seufzer nicht hörte, der das plumpe Lachen unterbrach. Der schmutzige Torweg, durch den der Wind und Regen fegte, mit dem Korb voll schmutziger Kartoffeln, der auf das Umwerfen oder Aufnehmen wartete, schien ihm nicht mehr die gewöhnliche Höhle zu sein, die er wirklich war, wenn er sich bei dieser Beleuchtung nach ihm umsah. Nein, nein!

Sie hatten das Ziel ihres Weges beinahe erreicht und traten jetzt aus dem Torweg, um die letzte Strecke zurückzulegen. Maggy ließ es nicht anders zu, als daß sie am Fenster eines Krämers kurz vor ihrem Bestimmungsort hielten, damit sie ihre Gelehrsamkeit zeigen könne. Sie konnte ziemlich gut lesen und hob die fetten Zahlen in den Preislisten zum größten Teil korrekt heraus. Sie stolperte auch, ihre Fehltritte mit ziemlichem Glück aufwiegend, durch die verschiedenen menschenfreundlichen Empfehlungen wie: »Versucht unsre Mischung«, »Versucht unsre Stiefelwichse«, »Versucht unsern orangenduftenden Peko, der als der beste Blütentee jeden Vergleich aushält« und verschiedene Warnungen des Publikums gegen betrügerische Konkurrenzunternehmungen und gefälschte Artikel. Als er sah, wie Dorrits Gesicht eine freudige Röte überflog, wenn Maggy einen Treffer machte, fühlte er, daß er des Krämers Fenster gern in eine Büchersammlung verwandelt hätte, bis der Regen und Wind vorüber.

Der Vorhof empfing sie endlich, und dort sagte er Klein-Dorrit Lebewohl. So klein sie auch immer schon aussah, in dem Augenblick, als er sie in das Pförtnerstübchen des Marschallgefängnisses eintreten sah, erschien ihm das Mütterchen, dem das aufgedunsene Kind zur Seite ging, noch kleiner.

Die Tür des Käfigs öffnete sich, und als der kleine in der Gefangenschaft aufgewachsene Vogel zahm hineingeflattert war, sah er sie sich wieder schließen. Dann ging er.

 


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