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Die Brüder William und Frederick Dorrit boten, wenn sie im Gefängnishofe auf und ab gingen – natürlich auf der aristokratischen oder Brunnenseite, denn der Vater machte es zu einer Standessache, die Sonntagmorgen, Christfeiertage und andere festliche Anlässe ausgenommen, mit seinen Spaziergängen unter seinen Kindern auf der Armenseite sparsam zu sein, eine Observanz, in der er sehr pünktlich war, und bei welchen Gelegenheiten er seine Hände auf die Häupter seiner Kinder legte und diese jungen Zahlungsunfähigen mit einem Wohlwollen segnete, das höchst erbaulich war, – die Brüder, wenn sie so miteinander im Gefängnishofe auf und ab gingen, boten einen interessanten Anblick: Frederick, der Freie, war so demütig, gebeugt, zusammengeschrumpft und schlaff, William, der Gefangene, so vornehm, herablassend und wohlwollend selbstbewußt, daß die Brüder, wenn auch in keiner andern Hinsicht, in dieser allein schon ein merkwürdiges Schauspiel boten.
Sie gingen an dem Abend jener sonntäglichen Begegnung Klein-Dorrits mit ihrem Liebhaber auf der Iron Bridge auf dem Hofe miteinander auf und nieder. Die Staatsgeschäfte waren für diesen Tag erledigt, dem Empfangzimmer war vielfache Ehre zuteil geworden, mehrere Vorstellungen hatten stattgefunden; die drei Schillinge und sechs Pence, die zufällig auf dem Tische liegengeblieben, waren zufällig auf zwölf Schillinge angewachsen, und der Vater des Marschallgefängnisses erquickte sich an einer Zigarre. Wie er so auf und nieder ging, seinen Schritt nachgiebig zu dem Schlurfen seines Bruders verlangsamend, nicht stolz auf sein Übergewicht, sondern billig gegen dieses arme Geschöpf, nachsichtig gegen ihn und Geduld mit seinen Schwächen in jedem Paff Rauch ausatmend, der aus seinen Lippen ging und über die mit Eisenspitzen versehene Mauer emporzusteigen suchte – war er eine merkwürdige Erscheinung.
Sein Bruder Frederick mit dem matten Auge, der gelähmten Hand, der gebeugten Gestalt und dem tappenden Geiste schlurfte unterwürfig neben ihm her und nahm seine Gönnerschaft hin wie jedes andere Ereignis der labyrinthischen Welt, in der er verlorengegangen war. Er hielt wie gewöhnlich ein zerknittertes Stück bräunliches Papier in der Hand, aus dem er ab und zu eine kleine Prise Schnupftabak nahm. Hatte er diese mit Mühe herausgebracht, so sah er seinen Bruder nicht ohne Bewunderung an, legte die Hände auf den Rücken und schlurfte neben ihm her, bis er wieder eine Prise nahm oder stillestand, um sich umzusehen, – da er vielleicht plötzlich seine Klarinette vermißte.
Die Besucher des Gefängnisses verloren sich, als die Schatten der Nacht herabsanken, aber der Hof war noch immer hübsch voll, da die Gefangenen zumeist ihre Freunde bis zu dem Pförtnerstübchen begleiteten. Während die Brüder auf dem Hofe spazierten, sah Wilhelm der Gefangene nach rechts und links, um Grüße zu empfangen, erwiderte sie, indem er freundlich seine Mütze lüftete, mit verbindlicher Miene seinen Bruder anhielt, daß er nicht auf die Leute hinaufhumpelte oder gegen die Wand gestoßen würde. Die Gefangenen, im ganzen genommen, waren nicht leicht für Eindrücke empfänglich, aber auch sie schienen je nach ihrer verschiedenen Art sich zu verwundern, die beiden Brüder so eigenartig verschieden zu sehen.
»Du bist heute abend etwas still, Frederick«, sagte der Vater des Marschallgefängnisses. »Hast du etwas?«
»Ob ich etwas habe?« Er sah ihn einen Augenblick an, dann ließ er wieder Kopf und Augen sinken. »Nein, William, nein, ich habe nichts.«
»Wenn man nur imstande wäre, dich etwas aufzurütteln, Frederick –«
»Ach, ach!« sagte der alte Mann rasch. »Ich kann mal nicht anders sein. Ich kann's nicht. Sprich nicht so. Das ist alles vorbei.«
Der Vater des Marschallgefängnisses sah einen vorübergehenden Kollegen, mit dem er auf freundschaftlichem Fuße stand, an, als wollte er sagen: »Ein schwacher, alter Mann, das; aber er ist mein Bruder, Herr, mein Bruder, und die Stimme der Natur ist mächtig!« und zog seinen Bruder an dem fadenscheinigen Ärmel von dem Schwengel der Pumpe, an den er zu stoßen im Begriff war, weg. Nichts hätte zur Vollendung seines Charakters als brüderlicher Führer, Philosoph und Freund gefehlt, wenn er nur seinen Bruder vom Ruin weggesteuert hätte, statt daß er ihn hineinführte.
»Ich denke, William«, sagte der Gegenstand seiner liebevollen Teilnahme, »ich bin müde und will nach Hause und zu Bett gehen.«
»Mein lieber Frederick«, versetzte der Bruder. »Ich will dich nicht zurückhalten; opfere deine Neigungen nicht mir.«
»Späte Stunden und heiße Luft und vermutlich die Jahre«, sagte Frederick, »machen mich schwach.«
»Mein lieber Frederick«, versetzte der Vater des Marschallgefängnisses, »glaubst du auch vorsichtig genug zu sein? Hältst du deine Gewohnheiten für so präzis und methodisch – wie soll ich sagen – wie die meinen? Ohne wieder auf die kleine Sonderbarkeit zurückzukommen, die ich eben erwähnte, zweifle ich doch, daß du dir genug Bewegung in der freien Luft machst, Frederick. Dieser Platz steht dir ja immer zur Verfügung. Warum machst du nicht regelmäßig Gebrauch davon?«
»Ha!« seufzte der andere. »Ja, ja, ja, ja!«
»Das nützt nichts, ja, ja zu sagen, mein lieber Frederick«, fuhr der Vater des Marschallgefängnisses in seiner milden Weisheit fort, »wenn du nicht in Übereinstimmung damit handelst. Betrachte mich, Frederick. Ich bin eine Art von Beispiel. Zeit und Not haben mich gelehrt, was zu tun. Zu bestimmten Stunden des Tages wirst du mich auf dem Spaziergang, in meinem Zimmer, im Pförtnerstübchen, bei der Zeitung, Gesellschaft empfangen, essen und trinken sehen. Ich habe Amy während vieler Jahre eingeprägt, daß ich mein Essen (zum Beispiel) pünktlich haben muß. Amy ist in dem Gefühl der Wichtigkeit dieser Anordnungen aufgewachsen, und du weißt, was für ein gutes Mädchen sie ist.«
Der Bruder seufzte bloß wieder, während er träumend und langsam fortschlotterte: »Ha! Ja, ja, ja ja!«
»Mein lieber Junge«, sagte der Vater des Marschallgefängnisses, indem er die Hand auf seine Schulter legte und ihn sanft mitzog – sanft, wegen seiner Schwäche, die arme, gute Seele; »du sagtest das vorhin schon, und es will nicht viel heißen, Frederick, selbst wenn es viel ausdrücken soll. Ich möchte dich aufrütteln können, mein guter Frederick; du solltest aufgerüttelt werden.«
»Ja, William, ja. Ohne Zweifel«, versetzte der andere, indem er seine matten Augen erhob. »Aber ich bin nicht wie du.«
Der Vater des Marschallgefängnisses sagte mit einem Achselzucken bescheidener Selbstherabsetzung: »O, du könntest wie ich sein, Frederick; du könntest es sein, wenn du wolltest!« und unterließ es in der Großmut, die ihm seine Stärke einflößte, seinen gefallenen Bruder weiter zu drängen.
Es war an den Ecken und Enden, wie gewöhnlich an den Sonntagabenden, ein fortwährendes Abschiednehmen; hier und dort in der Dunkelheit weinte eine arme Mutter, Frau oder ein Mädchen mit einem neuen Kollegen. Es hatte eine Zeit gegeben, wo der Vater selbst in dem Schatten dieses Hofes geweint, als sein eigenes, armes Weib weinte. Aber es waren viele Jahre indes verflossen: und nun war er wie ein Passagier an Bord eines Schiffes auf weiter Fahrt, der sich von der Seekrankheit erholt und sich über die Schwäche der jüngeren Reisenden ärgert, die im letzten Hafen an Bord genommen wurden. Er hatte Lust gehabt, diesen Leuten Vorstellungen zu machen und ihnen seine Meinung zu sagen, daß Leute, die es nicht ohne Weinen tun können, hier nichts zu schaffen hätten. In seinem Benehmen, wenn auch nicht in Worten, gab er stets sein Mißfallen an diesen Unterbrechungen der allgemeinen Harmonie zu erkennen. Und man verstand ihn so gut, daß die Delinquenten sich immer davonmachten, wenn sie seiner gewahr wurden.
An diesem Sonntagabend begleitete er seinen Bruder mit dem Ausdruck der Duldung und Milde bis an das Tor; er war in sanfter Stimmung und gütig genug aufgelegt, um über die Tränen hinwegzusehen. In dem flackernden Gaslicht des Pförtnerstübchens sonnten sich mehrere Gefangene: einige von Besuchen Abschied nehmend, andere, die keine Besuche hatten, dem häufigen Umdrehen des Schlüssels zusehend und unter sich oder mit Mr. Chivery plaudernd. Das Eintreten des Vaters machte natürlich Aufsehen: und Mr. Chivery, mit seinem Schlüssel an den Hut greifend (wenn auch sehr kurz), sprach die Hoffnung aus, daß er sich erträglich wohl befinde.
»Danke, Chivery, ganz wohl. Und Sie?«
Mr. Chivery sagte leise murmelnd: »Oh! ihm geht es ganz gut!« Was seine gewöhnliche Art war, wie er auf Fragen nach seinem Befinden antwortete, wenn er etwas mürrisch war.
»Ich hatte heute einen Besuch vom jungen John, Chivery. Er sah sehr geschniegelt aus, ich versichere Sie.«
Das hatte Mr. Chivery auch gehört. Mr. Chivery mußte jedoch gestehen, daß es sein Wunsch wäre, der Junge gäbe nicht so viel Geld dafür aus. Denn was brächte es ihm ein? Es bringe ihn nur in Kummer und Sorgen. Und das könne er überall umsonst haben.
»Was meinen Sie damit, Chivery?« fragte der wohlwollende Vater.
»Nichts Schlimmes«, versetzte Mr. Chivery. »Schon gut. Will Mr. Frederick schon fort?«
»Ja, Chivery, mein Bruder will nach Hause und zu Bett gehen. Er ist müde und nicht ganz wohl, nimm dich in acht, Frederick, nimm dich in acht. Gute Nacht, mein lieber Frederick!«
Seinem Bruder die Hand schüttelnd und seinen fetten Hut vor der Gesellschaft im Pförtnerstübchen leicht rückend, schob Frederick langsam zur Tür hinaus, die Mr. Chivery ihm öffnete. Der Vater des Marschallgefängnisses zeigte die liebenswürdige Besorgtheit eines höheren Wesens, daß ihm doch ja kein Unfall zustoßen möchte. »Haben Sie die Güte, die Tür einen Augenblick offen zu lassen, Chivery, damit ich ihn durch den Gang und die Treppe hinabgehen sehen kann. Nimm dich in acht, Frederick! (Er ist sehr schwach.) Vergiß die Stufen nicht. (Er ist so zerstreut.) Gib acht, wie du hinüberkommst, Frederick. (Ich möchte wirklich nicht wissen, welch weiten Weg er zu machen hat, er kann so leicht überrannt werden).«
Mit diesen Worten und mit einem Gesicht, in dem sich eine Menge banger Zweifel und ängstlicher Besorgnisse aussprachen, wandte er den Blick auf die im Pförtnerstübchen versammelte Gesellschaft, indem er so offen zu verstehen gab, daß sein Bruder zu bemitleiden, weil er nicht hinter Schloß und Riegel sei, daß die versammelten Kollegen im Kreise sich eine Bemerkung in dieser Richtung nicht verschweigen konnten.
Aber er stimmte ihnen nicht unbedingt bei, im Gegenteil, er sagte: Nein, Gentlemen, nein; sie sollten ihn nicht mißverstehen. Sein Bruder sei allerdings sehr gebrochen, und es würde für ihn (den Vater des Marschallgefängnisses) weit angenehmer sein zu wissen, daß er innerhalb der Mauern in Sicherheit wäre. Aber man dürfe nicht vergessen, daß, wenn jemand es viele Jahre hier aushalten können soll, eine gewisse Verbindung von Eigenschaften – er sage nicht hohe Eigenschaften, aber Eigenschaften – moralische Eigenschaften nötig seien. Und habe sein Bruder diese eigentümliche Verbindung von Eigenschaften? »Gentlemen, er ist ein ausgezeichneter Mann, ein edler, feinfühlender und achtungswerter Mann mit der Einfachheit eines Kindes; aber würde er, obgleich für die meisten andern Orte untauglich, für diesen Ort passen? Nein«; er sage ihnen im Vertrauen, nein! Und er sagte: »Der Himmel verhüte, daß Frederick je in einem andern Charakter als in seinem jetzigen freiwilligen hier wäre! Gentlemen, wer in dieses Kollegium kommt, um hier lange zu bleiben, müßte einen starken Charakter haben, um sich in so vieles zu finden und aus so vielem wieder herauszufinden.« Sei sein geliebter Bruder dieser Mann? Nein. Sie sähen ihn, wie dem nun auch sei, gebeugt. Das Unglück habe ihn gebeugt, er habe nicht Schnellkraft genug, nicht Elastizität genug, um lange Zeit an einem solchen Orte zu sein und seine Selbstachtung zu bewahren und sich bewußt zu bleiben, daß er ein Gentleman sei. Frederick habe (wenn er den Ausdruck gebrauchen dürfe) nicht Kraft genug, in jeder zarten kleinen Aufmerksamkeit und – und – jedem Ehrengeschenk, das er unter solchen Umständen empfinge, die Güte der menschlichen Natur, den feinen Geist, der die Kollegen als eine Körperschaft belebe, und zu gleicher Zeit keine Herabwürdigung für sich und keine Herabsetzung seiner Ansprüche als Gentleman zu sehen. »Gentlemen, Gott mit Euch!«
So lautete die Homilie, mit der er die Gesellschaft im Pförtnerstübchen erbaute und ihr die Sache deutete, ehe er in den schmutzigen Hof zurückging, um in seiner eigenen schäbigen Würde an dem Kollegen in dem Schlafrock, der keinen Rock hatte, und dem Kollegen in den Matrosenpantoffeln, der keine Schuhe hatte, und dem stolzen Obsthändler-Kollegen mit den kurzen baumwollenen Hosen, der keine Sorgen hatte, und dem mageren Schreiber von Kollegen in seinem knopflosen, schwarzen Rock, der keine Hoffnung hatte, vorüber sich nach seiner eigenen, armen, schäbigen Treppe, in sein eigenes, armes, schäbiges Zimmer zu begeben.
Dort war der Tisch für sein Nachtessen gedeckt, und sein alter, grauer Schlafrock lag auf der Stuhllehne am Feuer. Seine Tochter steckte ihr kleines Gebetbuch in ihre Tasche – hatte sie doch um Gnade für alle Gefangenen gebetet! – und stand auf, um ihn zu begrüßen.
Ob der Oheim schon heimgegangen? fragte sie ihn, als sie seinen Rock wechselte und ihm seine schwarze Samtmütze gab. Ja, der Oheim sei heimgegangen. Ob dem Vater der Spaziergang gut bekommen? – »Nein, nicht besonders, Amy: nicht besonders.« – Nein? Ob er sich nicht ganz wohl fühle?
Während sie so hinter ihm stand, liebevoll über den Stuhl herabgebeugt, sah er mit niedergeschlagenen Blicken in das Feuer. Eine Unbehaglichkeit beschlich ihn, wie ein Anflug von Scham; und als er sprach, wie es später der Fall war, geschah es in unzusammen hängender und verlegener Weise.
»Etwas, ich – hm! – ich weiß nicht was, ist dem Chivery begegnet. Er ist heute abend nicht – hm! – nicht ganz so höflich und aufmerksam wie sonst. Es ist – hm! – eine Kleinigkeit, aber es macht mich irre, mein liebes Kind. Es ist unmöglich zu vergessen«, fügte er hinzu, indem er die Hände beständig umeinander drehte und sie starr ansah, »daß – hm! – ich bei einem Leben, wie das meine, unglücklicherweise von Menschen wie diese den ganzen Tag wegen einer Kleinigkeit abhängig bin.«
Ihr Arm ruhte auf seiner Schulter, aber sie sah ihm nicht ins Gesicht, während er sprach. Sie beugte ihren Kopf und sah anderswohin.
»Ich – hm! – ich kann mir nicht denken, Amy, was Chivery beleidigt hat. Er ist im allgemeinen so – so ungemein aufmerksam und respektvoll. Und heute abend war er sehr – sehr kurz angebunden mit mir. Waren noch andere Leute da! Bei Gott im Himmel, wenn ich die Unterstützung und Achtung Chiverys und seiner Mitangestellten verlieren sollte, so möchte ich lieber sterben.«
Während er sprach, öffnete und schloß er seine Hände wie Klappen und war sich die ganze Zeit des Anflugs von Schamgefühl so bewußt, daß er vor seiner eigenen Kenntnis dessen, worauf er hindeutete, zurückbebte.
»Ich – hm! – ich kann mir nicht denken, was schuld daran. Ich weiß wirklich nicht, was die Ursache ist. Da war einmal ein gewisser Jackson hier, ein Schließer namens Jackson (ich glaube nicht, daß du dich seiner erinnern kannst, meine Liebe, du warst noch sehr jung), und – hm! – der hatte einen – Bruder, und dieser – jüngere Bruder machte der – nicht der Tochter – der Schwester eines von uns, eines ziemlich angesehenen Mitgefangenen, den Hof – das heißt – er betete sie an, betete sie aus ganzer Seele an; ich darf das wohl sagen. Sein Name war Kapitän Martin; er befragte mich über die Sache, ob etwa seine Tochter – Schwester – den Bruder des Schließers beleidigen würde, wenn sie gegen den andern Bruder zu – hm! – zu offen wäre. Kapitän Martin war ein Gentleman und ein Mann von Ehre, und ich bat ihn, mir zuerst seine – seine eigene Ansicht zu sagen. Kapitän Martin (der große Achtung in der Armee genoß) sagte ohne Zögern, es scheine ihm, daß seine – hm! – Schwester nicht verpflichtet sei, den jungen Mann zu deutlich zu verstehen, und daß sie ihn – ich weiß nicht mehr genau, wie Kapitän Martins Ausdruck lautete – ich glaube, er sagte, um ihres Vaters – wollte sagen Bruders – willen hinhalten dürfe. Ich weiß nicht mehr recht, wie ich auf diese Geschichte gekommen bin. Ich glaube, es geschah, weil ich nicht weiß, wie ich mir Chiverys Benehmen erklären soll; aber wie die beiden Sachen zusammenhängen, sehe ich nicht ein.«
Seine Stimme erstarb, als ob sie die Pein, ihn zu hören, nicht ertragen könnte, und Amys Hand war nach und nach bis an seine Lippen gekommen. Für einen Augenblick trat Totenstille und tiefes Schweigen ein; er saß zusammengesunken in seinem Stuhl, und sie hielt den Arm um seinen Hals geschlungen und den Kopf auf seine Schulter herabgebeugt.
Sein Nachtessen kochte in einem Pfännchen über dem Feuer, und als Amy sich bewegte, geschah es, um es für ihn auf den Tisch zu setzen. Er nahm seinen gewöhnlichen Sitz, sie den ihren ein, und er begann sein Mahl. Sie sahen einander noch nicht an. Nach und nach wurde er ungeduldig, indem er Messer und Gabel geräuschvoll niederlegte, die Sachen laut aufnahm, auf sein Brot biß, als ob er beleidigt wäre, und auf ähnliche Weise andeutete, daß er verdrießlich sei. Endlich stieß er seinen Teller von sich und sprach laut und mit der seltsamsten Ungereimtheit:
»Was liegt daran, ob ich esse oder sterbe? Was liegt daran, ob ein vergeudetes Leben, wie das meine, jetzt oder die nächste Woche oder das nächste Jahr ein Ende nimmt? Was bin ich irgend jemand wert? Ein armer Gefangener, genährt von Almosen und Abhub; ein garstiger, widerwärtiger Tropf!«
»Vater, Vater!« Sie stand auf, rutschte auf den Knien zu ihm hin und streckte die Hände empor.
»Amy«, fuhr er mit gepreßter Stimme im heftigsten Zittern und sie so wild anblickend, als wäre er wahnsinnig geworden, fort: »Ich sage dir, wenn du mich sehen könntest, wie deine Mutter mich sah, du würdest nicht glauben, daß das der Mensch sei, den du nur durch das Gitter dieses Gefängnisses gesehen. Ich war jung, ich war feingebildet, ich war hübsch, ich war unabhängig – bei Gott, Kind, ich war es –, und die Leute suchten mich und beneideten mich. Beneideten mich!«
»Lieber Vater!« Sie suchte den zitternden Arm, der die Luft durchkreuzte, herabzuziehen, aber er widerstand und stieß ihre Hand zurück.
»Wenn ich nur ein Bild von mir aus jenen Tagen hätte, und wäre es auch noch so schlecht geraten, du würdest stolz darauf sein. Aber ich habe nichts dergleichen. Ich sollte eine Warnung sein. Kein Mann«, rief er und sah ganz verstört um sich, »sollte versäumen, wenigstens diese Kleinigkeit aus den Zeiten seines Glückes und der Achtung zu bewahren. Seine Kinder sollten diesen Schlüssel zu dem, was er war, haben. Wenn mein Gesicht nach meinem Tode nicht jenes lang verschwundene Aussehen wiedererhält – man sagt, ich weiß es nicht, das soll vorkommen –, so werden mich meine Kinder nie gesehen haben.«
»Vater, Vater!«
»O verachte mich, verachte mich! Sieh weg von mir, höre nicht auf mich, tue mir Einhalt, erröte um mich, weine um mich. Selbst du, Amy! Tue es, tue es! Ich tue es gegen mich selbst. Ich bin unempfindlich, ich bin zu tief gesunken, um mich sehr darob zu grämen.«
»Lieber Vater, geliebter Vater, Liebling meines Herzens!« Sie hing sich mit ihren Armen an ihn und vermochte ihn, daß er sich in seinen Stuhl setzte; dann ergriff sie den erhobenen Arm und suchte ihn um ihren Hals zu legen.
»Laß ihn hier liegen, Vater. Sieh mich an, Vater, küsse mich, Vater! Denke nur einen kleinen Augenblick an mich!«
Er fuhr aber in derselben wirren Weise fort, obgleich sein Ton nach und nach in ein trauriges Weinen überging.
»Und doch genieße ich einigen Respekt hier. Ich habe mich einigermaßen aufrechterhalten. Ich bin nicht ganz niedergebeugt. Geh hinaus und frage: wer ist die Hauptperson an diesem Ort? Und sie werden dir antworten, es ist dein Vater. Geh hinaus und frage: mit wem hat man nie seinen Spaß getrieben, und wer ist immer mit einer gewissen Zartheit behandelt worden? Sie werden sagen: dein Vater. Geh hinaus und frage: welches Leichenbegängnis (es wird hier stattfinden, ich weiß, es kann nirgend anderswo sein) mehr von sich sprechen machen und vielleicht größern Schmerz hervorrufen wird als irgendeines, das je zu jenem Tor hinausging? Sie werden sagen: das von deinem Vater. Gut denn. Amy! Amy! Ist dein Vater so allgemein verachtet? Kann ihn nichts retten? Wirst du ihn an nichts als seinen Ruin und sein Elend zu erinnern haben? Wirst du imstande sein, keine Liebe für ihn zu bewahren, wenn er, der arme Verstoßene, dahingegangen?«
Er brach in Tränen halb nebelhaften Mitleids mit sich selbst aus, und indem er zuletzt gestattete, daß sie ihn umarmte und sich um ihn mühte, ließ er sein weißes Haupt an ihrer Wange ruhen und weinte über sein Elend. Plötzlich änderte er den Gegenstand seiner Klagen, schlang seine Hände um sie, als sie ihn umarmte, und rief: Oh, Amy, mein mutterloses, verlorenes Kind! Oh, die schönen Tage, da er sie noch für ihn arbeiten und sich mühen gesehen! Dann kehrte er wieder zu sich zurück und sagte ihr in weichem Tone, wie weit mehr sie ihn geliebt, wenn sie ihn in seiner früheren Stellung gekannt, und wie er sie an einen Gentleman verheiratet hätte, der auf sie als seine Tochter stolz gewesen, und wie (wobei er wieder weinte) sie an seiner väterlichen Seite zum ersten Male mit ihrem eigenen Pferde ausgeritten wäre, und wie die Menge (wobei er im Grunde die Leute meinte, die ihm die zwölf Schillinge gegeben, die er in der Tasche hatte) ehrfurchtsvoll auf den staubigen Wegen nebenher gegangen sein würde.
So, bald prahlend, halb verzweifelnd, stets jedoch ein Gefangener, mit dem Gefängnismoder an sich und dem Gefängnisschmutz in sich, enthüllte er seinen herabgekommenen Zustand seinem liebevollen Kinde. Niemand sonst sah ihn so in allen Einzelheiten seiner Erniedrigung. Wenig kümmerte es die Kollegen, die in ihren Zimmern über seine letzte Anrede im Pförtnerstübchen lachten, was für ein ernstes Gemälde sie in ihrer dunklen Marschallgefängnisgalerie an jenem Sonntagabend hatten. Im klassischen Altertum lebte vielleicht einst eine Tochter, die ihrem Vater in seinem Gefängnisse reichte, was ihre Mutter ihr gereicht. Klein-Dorrit, obgleich von dem unheroischen modernen Stamm und eine bloße Engländerin, tat weit mehr, indem sie ihres Vaters zerstörtes Herz an ihrer unschuldigen Brust ausruhen ließ und eine Quelle der Liebe und Treue ihm zuführte, die niemals vertrocknete oder abnahm während all dieser Hungerjahre.
Sie beruhigte ihn; bat ihn um Verzeihung, wenn sie ungehorsam gewesen oder geschienen; sagte ihm, der Himmel weiß es, daß sie ihn nicht mehr ehren könnte, wenn er der Liebling des Glückes wäre und die ganze Welt ihm ihre Achtung zollte. Als seine Tränen getrocknet waren und er in seiner Gerührtheit nicht mehr weinte und von jenem Anfall von Scham befreit war und seine gewöhnliche Haltung wiedergewonnen, wärmte sie den Rest seines Abendessens noch einmal und freute sich, während sie neben ihm saß, daß er aß und trank. Denn jetzt saß er in seiner schwarzen Samtmütze und seinem alten, grauen Schlafrock wieder erhaben da und würde sich gegen jeden Kollegen, der hereingekommen, um sich seinen Rat zu erbitten, wie ein großer moralischer Lord Chesterfield oder Sittenzeremonienmeister des Marschallgefängnisses benommen haben.
Um seine Aufmerksamkeit zu beschäftigen, sprach sie mit ihm von seiner Garderobe; und er geruhte zu sagen, ja, diese Hemden, die sie ihm vorschlage, seien ganz annehmbar, denn die, die er habe, seien abgetragen und hätten, als fertig gekauft, nie getaugt. Da er gesprächig wurde und in gute Laune kam, richtete er ihre Aufmerksamkeit auf seinen Rock, der hinter der Tür hing, indem er bemerkte, daß der Vater des Ortes seinen Kindern, die ohnedies nachlässig gekleidet zu gehen geneigt seien, ein schlimmes Beispiel geben würde, wenn er mit offenen Ellbogen unter ihnen umherginge. Er scherzte sogar über die Absätze seiner Schuhe; wurde jedoch bezüglich seiner Krawatte ernst und bat sie, wenn sie es ermöglichen könnte, ihm eine neue zu kaufen.
Während er seine Zigarre im Frieden rauchte, machte sie sein Bett und brachte das kleine Zimmer für seine Nachtruhe in Ordnung. Da er bei der vorgerückten Stunde und infolge seiner Aufregung sehr müde war, erhob er sich aus seinem Stuhl, um sie zu segnen und ihr gute Nacht zu wünschen. Er hatte die ganze Zeit nicht einmal an ihr Kleid und ihre Schuhe oder irgend etwas, dessen sie sonst bedurfte, gedacht. Niemand auf Erden, außer sie selbst, konnte so gleichgültig gegen ihre Bedürfnisse sein.
Er küßte sie mehrmals mit den Worten: »Gott segne dich, mein liebes Kind. Gute Nacht, meine Liebe!«
Aber ihr edles Herz war so tief verwundet durch das, was sie von ihm gesehen, daß sie ihn nicht allein lassen wollte, damit er nicht wieder jammere und verzweifle. »Lieber Vater, ich bin nicht müde; ich will wiederkommen, wenn du im Bett bist, und mich zu dir setzen.«
Er fragte sie mit einem gewissen Ausdruck des Schutzes, ob sie sich einsam fühle?
»Ja, Vater.«
»Dann komme jedenfalls wieder, mein liebes Kind.«
»Ich werde sehr ruhig sein, Vater.«
»Denke nicht an mich, mein liebes Kind«, sagte er, indem er ihr seine freundliche Erlaubnis aus vollem Herzen gab. »Komme jedenfalls wieder.«
Er schien zu schlummern, als sie zurückkam, und sie schürte das herabgebrannte Feuer leise zusammen, damit sie ihn nicht aufwecke. Aber er hörte sie und fragte, wer es sei.
»Nur Amy, Vater.«
»Amy, mein Kind, komm hierher. Ich muß dir ein Wort sagen.«
Er erhob sich etwas in seinem niederen Bett, während sie neben ihm kniete, um ihr Gesicht in seine Nähe zu bringen, und legte seine Hand zwischen die ihren. Oh! Beide, der Privatvater und der Vater des Marschallgefängnisses, waren in diesem Augenblick lebendig in ihm.
»Mein liebes Kind, du hattest hier ein Leben voll Mühseligkeit. Keine Spielgenossen, keine Erholungen, manche Entbehrungen, fürchte ich.«
»Denke nicht daran, Vater. Ich tu' es auch nicht.«
»Du kennst meine Lage, Amy. Ich war nicht imstande, viel für dich zu tun; aber was ich zu tun imstande war, habe ich getan.«
»Ja, mein lieber Vater«, bestätigte sie, ihn küssend. »Ich weiß, ich weiß.«
»Ich bin im dreiundzwanzigsten Jahre hier«, sagte er, mit einem Ausdruck in seinem Ton, der nicht so sehr ein Seufzer als vielmehr ein ununterdrückbares Gefühl des Eigenlobes, der augenblickliche Ausbruch edlen Selbstbewußtseins war. »Alles, was ich für meine Kinder tun konnte, habe ich getan. Amy, meine Liebe, du bist bei weitem die, die ich von allen drei am meisten liebe; ich trug dich vor allen in meinem Herzen, und was ich für dich getan, mein liebes Kind, habe ich gern und ohne Murren getan.«
Nur die Weisheit, die den Schlüssel zu allen Herzen und Geheimnissen hat, kann genau wissen, wie weit ein Mann, und besonders ein Mann, der so herabgekommen wie dieser, sich selbst belügen kann. Genug für den Augenblick, daß er mit nassen Wimpern, heiter, in majestätischer Weise sich niederlegte, nachdem er sein herabgekommenes Leben als eine Art Erbteil auf das liebevolle Kind übertragen, auf das sein Elend so schwer gefallen und dessen Liebe ihn allein so weit gerettet, daß er war, was er war.
Das Kind hatte keine Zweifel, richtete keine Fragen an sich selbst, denn es war nur zu zufrieden, ihn mit einem Glanz um sein Haupt zu sehen. »Armer, lieber, guter Vater, bester, teuerster Vater«, waren die einzigen Worte, die sie für ihn hatte, als sie ihn in den Schlaf bringen wollte.
Sie verließ ihn die ganze Nacht nicht mehr. Als ob sie ihm ein Unrecht getan, das ihre Zärtlichkeit kaum wieder gutmachen könnte, saß sie bei ihm, während er schlief, und küßte ihn bisweilen mit zurückgehaltenem Atem und flüsterte einen liebkosenden Namen. Bisweilen ging sie zur Seite, um nicht das herabgebrannte Feuer aufzufangen, und hätte gern gewußt, wenn sie ihn beobachtete und das Licht auf sein schlafendes Gesicht fiel, ob er wohl so ausgesehen, als er glücklich und in guten Umständen gewesen; da er sie so sehr gerührt, als er sich einbildete, daß er noch einmal in jener schrecklichen Zeit so aussehen würde. Bei dem Gedanken an jene Zeit kniete sie wieder neben seinem Bett nieder und betete: »Oh, erhalte sein Leben! Oh, erhalte ihn mir! Oh, sieh herab auf meinen teuren, lang duldenden, unglücklichen, viel veränderten, teuren, teuren Vater!«
Erst als der Morgen kam, ihn zu schützen und zu ermutigen, gab sie ihm einen letzten Kuß und verließ das kleine Zimmer. Als sie sich die Treppen und über den leeren Hof hinabgestohlen und nach ihrer eigenen hohen Dachstube hinaufgekrochen, konnte man die rauchlosen Häusergiebel und die fernen Landhügel über der Mauer in dem klaren Morgenlicht unterscheiden. Als sie sanft das Fenster öffnete und nach Osten über den Gefängnishof hinblickte, waren die Spitzen auf den Mauern rot gefärbt und bildeten plötzlich ein purpurnes Muster auf der Sonne, als sie am Himmel emporflammte. Die Eisenspitzen hatten nie so scharf und grausam ausgesehen, noch die Riegel so schwer, noch der Gefängnisraum so düster und eng. Sie dachte an den Sonnenaufgang über rauschenden Strömen, an den Sonnenaufgang über großen Wäldern, wo die Vögel erwachten und die Bäume flüsterten; und sie sah hinab in das lebendige Grab, über dem die Sonne aufgegangen, das Grab, in dem ihr Vater seit dreiundzwanzig Jahren lebte, und sagte mit einem Ausbruch von Kummer und Mitleid: »Nein, nein, ich habe ihn nie in meinem Leben gesehen!«