Charles Dickens
David Copperfield - Zweiter Teil
Charles Dickens

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Achtundvierzigstes Kapitel.

Unsere Häuslichkeit.

Ich arbeitete angestrengt an meinem Buche, ohne mich dadurch in der pünktlichen Verrichtung meiner Zeitungspflichten stören zu lassen; es erschien und machte viel Glück. Das Lob, das in meine Ohren tönte, betäubte mich nicht, obgleich ich es lebendig fühlte und gewiß besser von meinem Werke dachte als irgend ein anderer Mensch. Meine Beobachtung der Menschen hat mir stets gezeigt, daß jemand, der mit gutem Grunde an sich glaubt, sich niemals vor andern rühmt, damit sie an ihn glauben. Aus diesem Grunde behielt ich meine Bescheidenheit aus Achtung vor mir selbst bei, und je mehr Lob ich erntete, desto mehr suchte ich es zu verdienen.

Ich beabsichtige hier nicht, obgleich ich in allem wesentlichen meine Lebensgeschichte schreibe, die Geschichte meiner Werke zu verfolgen. Sie sprechen für sich selbst, und ich überlasse sie sich selbst. Wenn ich ihrer beiläufig erwähne, so tue ich es nur, weil es Glieder meines Fortschrittes im Leben sind.

Da ich jetzt einigen Grund zu glauben hatte, daß mich die Natur und der Zufall zu einem Schriftsteller gemacht hatten, so setzte ich meinen Beruf mit Vertrauen fort. Ohne diesen Glauben hatte ich ihn gewiß aufgegeben und meine Kräfte einem andern Unternehmen gewidmet. Ich würde mich bemüht haben herauszufinden, für welche Tätigkeit mich eigentlich Natur und Verhältnisse bestimmt hätten, und wäre das dann eben geworden und nichts andres.

Ich hatte für Zeitungen und andere literarische Blätter so fleißig geschrieben, daß ich mich für berechtigt hielt, als mein neues Werk fertig war, das langweilige Berichterstatten aufzugeben. Daher notierte ich eines schönen Abends die Musik des parlamentarischen Dudelsacks zum letzten Male auf und habe sie seitdem nie wieder gehört, obwohl ich noch immer in den Zeitungen die altbekannten Klänge wiedererkenne, ohne irgend welche wesentliche Variation (außer, daß das Gedröhn länger dauert) die ganze liebe Session hindurch.

Ich erzähle jetzt von der Zeit, als ich etwa anderthalb Jahre verheiratet war. Nach mehreren Versuchen verschiedener Art hatten wir das Haushalten als eine schlechte Sache aufgegeben. Das Haus ging wie es wollte, und wir hielten einen kleinen Pagen. Das Hauptamt dieses jungen Mannes war, sich mit der Köchin zu zanken, worin er ein vollkommener Whittington war, aber ohne Katze und ohne die entfernteste Aussicht Lord-Mayor zu werden.

In meiner Erinnerung lebte er unter einem beständigen Hagel von Topfdeckeln. Sein ganzes Dasein war ein Kampf. Er schrie bei den allerunpassendsten Gelegenheiten nach Hilfe – z. B. wenn wir eine kleine Tischgesellschaft oder ein paar Freunde zum Abendessen hatten – und kam aus der Küche hereingestürzt, während eiserne Wurfgeschosse hinter ihm drein prasselten. Wir wären ihn gern losgewesen, aber er hing sehr an uns und ging nicht. Er weinte leicht und brach in so schreckliche Klagen aus, als wir ihm aufkündigen wollten, daß wir ihn behalten mußten. Er hatte keine Mutter – überhaupt keine Verwandten, als eine Schwester, die nach Amerika entfloh, sobald sie ihn an uns losgeworden war; und so blieb er uns auf dem Halse wie ein abscheulicher Wechselbalg. Er hatte ein lebhaftes Gefühl für seinen eigenen unglücklichen Zustand, rieb sich immer die Augen mit dem Ärmel seiner Jacke, oder bückte sich, um sich in den äußersten Zipfel eines kleinen Taschentuchs zu schneuzen, das er niemals ganz aus der Tasche zog, mit dem er vielmehr sehr sparsam und geheimnisvoll verfuhr.

Dieser unglückliche Page, der in einer bösen Stunde für sechs Pfund zehn Schillinge jährlich gemietet wurde, war für mich eine Quelle beständiger Unruhe. Ich beobachtete ihn, wie er aufwuchs – und er wuchs in die Höhe wie Stangenbohnen –, mit banger Furcht vor der Zeit, wo er anfangen würde sich zu rasieren; und selbst vor den Tagen, wo er kahlköpfig oder grau werden würde. Ich hatte keine Hoffnung, ihn los zu werden, und wenn ich mir die Zukunft ausmalte, so dachte ich schon mit Grauen daran, wie lästig er mir erst als Greis sein würde. Auf nichts weniger war ich vorbereitet, als auf die traurige Art und Weise, in der ich ihn los wurde. Er stahl Doras Uhr, die, wie alles, was uns gehörte, keinen bestimmten Platz hatte; machte sie zu Geld und verbrauchte den Ertrag – er war immer etwas einfältig – damit, daß er beständig mit der Landkutsche zwischen London und Uxbridge hin und her fuhr. Bei Vollendung seiner fünfzehnten Fahrt verhafteten sie ihn und brachten ihn nach Bowstreet, wo man vier Schilling und sechs Pence und eine alte Querpfeife, die er nicht spielen konnte, bei ihm fand.

Die Entdeckung und ihre Folgen wären viel weniger unangenehm für mich gewesen, wenn er nicht so reuig gewesen wäre. Aber er war sehr reuig und auf ganz eigentümliche Weise – nicht auf einmal, sondern mittels Abschlagszahlung. Z. B.: Am Tage nach dem ersten Verhör auf dem Gericht machte er Enthüllungen über eine Kiste in der Küche, die wir voll Weinflaschen glaubten, in der aber nichts als Flaschen und Korke waren. Wir glaubten, er hätte jetzt sein Gemüt erleichtert und das schlimmste, was er von der Köchin wußte, gesagt; aber einen oder zwei Tage später fühlte er neue Gewissensbisse und entdeckte uns, daß sie ein kleines Mädchen hatte, die sich jeden Morgen ganz früh in dem Hause Brot holte; und wie er selbst bestochen worden war, um den Milchmann mit Kohlen zu versorgen. Wieder ein paar Tage darauf erfuhr ich durch die Behörden, daß große Stücken Rindfleisch mit dem Kehricht und Bettlaken in dem Lumpensack auf die Seite gebracht würden. Nach einiger Zeit nahmen seine Geständnisse wieder eine ganz andre Richtung an, und er bekannte, daß er gewußt hätte, der Bierausträger habe die Absicht gehabt, bei uns einzubrechen, und dieser wurde sofort verhaftet. Ich schämte mich allmählich so sehr, in dieser Weise als Opfertier dazustehen, daß ich ihm so viel Geld gegeben hätte, wie er wollte, wenn er nur den Mund gehalten, oder daß ich sogar die Polizei gern bestochen haben würde, um ihn auskneifen zu lassen. Es verschlimmerte noch die Sache dadurch, daß er keine Ahnung davon hatte, sondern glaubte, mir durch jede neue Enthüllung gewissermaßen Schadenersatz zu leisten, ja er meinte sogar, mich dadurch zu innigem Dank gegen ihn zu verpflichten.

Endlich versteckte ich mich oder lief fort, sowie ich einen Abgesandten der Polizei mit einer neuen Nachricht nahen sah, und führte so ein teils verborgenes, teils flüchtiges Leben, bis ihm der Prozeß gemacht und er zur Deportation verurteilt worden war. Selbst da konnte er nicht ruhig sein, sondern schrieb uns immer Briefe; und bat so dringend, Dora vor seiner Abführung zu sehen, daß Dora ihn besuchte und in Ohnmacht fiel, als sie sich hinter den eisernen Gittern sah. Kurz, ich hatte keine ruhige Stunde, bis er über dem Meere und – wie ich später hörte – ein Schäfer »oben im Gebirge« geworden war; wo das aber eigentlich war, konnte ich der geographischen Lage nach nie herausbekommen.

Das alles veranlaßte mich zu ernsthaftem Nachdenken und zeigte mir unsere Fehlgriffe in einem neuen Lichte, und ich konnte nicht umhin, es eines Abends Dora mitzuteilen, trotz meiner Liebe zu ihr.

»Teuerste Frau,« sagte ich, »es ist wirklich sehr schlimm, daß der Mangel an System und guter Wirtschaft bei uns nicht nur uns schadet – daran haben wir uns gewöhnt – sondern auch andern.«

»Du bist lange still gewesen und jetzt willst du wieder anfangen zu schelten!« sagte Dora.

»Gewiß nicht, liebe Frau! Laß dir nur deutlich machen, was ich meine.«

»Ich glaube nicht, daß ich's zu wissen brauche«, sagte Dora.

»Aber du sollst es wissen, mein Schatz. Laß Jip herunter.«

Dora legte seine Nasenspitze an meine und sagte: Puh! um mich lachen zu machen; da es ihr aber nicht gelang, befahl sie ihm, sich in seine Pagode zu setzen, und sah mich mit ineinander gefalteten Händen und einem allerliebsten resignierten Ausdruck im Gesicht an.

»Die Sache ist die, mein Liebling,« sagte ich zu ihr, »wir haben etwas Ansteckendes an uns. Wir stecken jeden an, der in unsere Nähe kommt.«

Ich wäre wohl in dieser bildlichen Weise fortgefahren, wenn mir Doras Gesicht nicht gesagt hätte, daß sie sich ganz verwundert fragte, ob ich für diesen unsern ungesunden Zustand eine neue Art Impfung oder eine Arznei vorschlagen wollte. Deshalb unterbrach ich mich und versuchte mich deutlicher auszudrücken.

»Mein Herzchen,« fing ich von neuem an, »wir verlieren nicht nur Geld, häusliches Wohlbehagen und sogar manchmal unsere gute Laune, indem wir nicht lernen sorglicher zu sein, sondern wir geraten auch in die ernstliche Verantwortlichkeit, jedermann zu verderben, der in unsere Dienste tritt oder mit uns Geschäfte hat. Ich fange an zu fürchten, daß der Fehler nicht ganz auf einer Seite ist, sondern daß diese Leute alle schlecht werden, weil wir selbst nicht besonders gut sind.«

»Was für eine Beschuldigung!« rief Dora aus und machte die Augen weit auf; »zu sagen, daß ich jemals goldene Uhren gestohlen hätte! O!«

»Liebste Frau«, unterbrach ich sie, »sprich nicht so entsetzlichen Unsinn! Wer hat nur im mindesten von goldenen Uhren gesprochen?«

»Du«, entgegnete Dora. »Du weißt es. Du sagtest, ich wäre nicht gut, und du vergleichst mich mit ihm.«

»Mit wem?« fragte ich.

»Mit dem Pagen«, schluchzte Dora. »O, du grausamer Mensch, deine gute Frau mit einem deportierten Pagen zu vergleichen. Warum sagtest du nicht, welche Meinung du von mir hattest, bevor wir uns heirateten? Warum sagtest du nicht, du hartherziger Mensch, daß du glaubtest, ich sei schlimmer als ein verurteilter Spitzbube? O, so eine abscheuliche Meinung von mir zu haben; o Gott!«

»Aber, liebe Dora,« entgegnete ich und versuchte sanft das Taschentuch wegzunehmen, das sie vor ihre Augen hielt, »das ist nicht nur lächerlich von dir, sondern auch sehr unrecht. Erstlich ist es nicht wahr.«

»Du sagtest immer, er lüge beständig«, schluchzte Dora. »Und jetzt sagst du dasselbe von mir! Ach, was soll ich tun! Was soll ich tun!«

»Liebes Kind,« gab ich zur Antwort, »ich muß dich wirklich bitten, vernünftig zu sein und auf das zu hören, was ich dir sagte und jetzt sage. Liebste Dora, wenn wir nicht lernen, unsere Pflicht gegen die zu tun, die wir beschäftigen, werden sie nie lernen, ihre Pflicht gegen uns zu tun. Ich fürchte, wir geben den Leuten Gelegenheit, unrecht zu tun, die wir nie geben sollten. Selbst wenn wir in allen unsern Anordnungen aus Absicht so nachlässig wären, wie wir sind – und das ist nicht der Fall – und selbst wenn uns diese unordentliche Wirtschaft gefiele – und das ist wieder nicht der Fall – so bin ich überzeugt, wir hätten nicht das Recht, in dieser Weise fortzufahren. Wir verderben geradezu die Leute. Wir sind verpflichtet, das zu bedenken. Ich kann nicht umhin, daran zu denken, Dora. Es ist ein Gedanke, der nicht von mir weichen will und mir manchmal sehr viel Sorge macht. Sieh, Liebe! das ist alles. Aber nun komm und sei keine Törin!«

Lange Zeit wollte mir Dora nicht erlauben, das Taschentuch von den Augen zu nehmen. Schluchzend und hinter demselben murmelnd saß sie da und fragte, warum ich sie geheiratet hätte, wenn ich mir Sorge machte, warum ich es nicht noch den Tag vor der Hochzeit gesagt hätte, daß ich wußte, ich würde mir Sorge machen und ich wollte es lieber nicht tun; wenn ich sie nicht ausstehen könnte, warum schickte ich sie da nicht zu ihren Tanten nach Putney oder zu Julia Mills nach Ostindien; Julia würde erfreut sein, sie zu sehen, und sie nicht einen deportierten Pagen nennen; Julia hätte ihr nie einen solchen Namen gegeben. Kurz, Dora war so über die Maßen betrübt, und ich selbst betrübte mich so sehr über ihren Schmerz, daß ich die Nutzlosigkeit jeder Wiederholung eines solchen Versuchs vollkommen fühlte und zu der Überzeugung gelangte, daß ich einen andern Weg einschlagen mußte.

Welch anderer Weg blieb mir noch übrig! Ihren Geist zu bilden? Das war eine gewöhnliche Phrase, die hübsch und vielversprechend klang, und ich beschloß, Doras Geist zu bilden.

Ich begann sofort. Wenn Dora sehr kindisch war und ich viel lieber ihren Launen nachgegeben hätte, versuchte ich ernst zu sein – und verstimmte sie und mich dazu. Ich unterhielt mich mit ihr über Gegenstände, die meine Gedanken beschäftigten; ich las ihr Shakespeare vor – und langweilte sie im höchsten Grade. Ich machte es mir zur Gewohnheit, ihr, wie zufällig, bruchstücksweise in diesem oder jenem Unterricht zu erteilen – und sie schrak vor jedem praktischen Rat zurück, als ob es ein Feuerwerkskörper gewesen wäre. So geschickt oder so natürlich ich es immer anfangen mochte, den Charakter meines kleinen Frauchens zu bilden, immer hatte sie ein instinktmäßiges Gefühl von dem, was ich beginnen wollte, und wurde der peinlichsten Furcht zum Raube. Ganz besonders merkte ich es deutlich, daß sie Shakespeare für einen ganz entsetzlichen Menschen hielt. Kurzum, mit der Bildung ging es sehr langsam.

Ich warb Traddles ohne sein Wissen zu meiner Unterstützung an; wenn er uns besuchte, ließ ich meine Mienen gegen ihn springen, um Dora aus zweiter Hand zu erbauen. Die Masse von Lebensweisheit, die ich an Traddles in dieser Weise absetzte, war ungeheuer, und sie war von der besten Art. Aber auf Dora hatte sie weiter keine andere Wirkung, als daß sie dadurch verstimmt und stets in der Besorgnis erhalten wurde, die Reihe würde jetzt an sie kommen. Ich fand mich plötzlich in einen Schulmeister, eine Schlinge, eine Fallgrube verwandelt; es kam mir vor, als ob ich mit Fliege Dora immer Spinne spiele und beständig aus einem Versteck zu ihrem größten Entsetzen hervorstürze.

Aber ich hielt doch Monate lang aus, für die Unannehmlichkeiten dieser Übergangszeit gestärkt durch die Aussicht auf die Zeit, wo zwischen Dora und mir vollständige Übereinstimmung herrschen und wo ich sie zu meiner vollkommenen Zufriedenheit gebildet haben würde. Aber ich entdeckte zuletzt, daß ich doch nichts ausgerichtet hatte, obgleich ich die ganze Zeit über ein wahres Stachelschwein gewesen war, über und über von Entschlossenheit starrend, und es fing mir an einzuleuchten, daß vielleicht Doras Wesen schon gebildet sei.

Bei reiferem Nachdenken kam mir das so wahrscheinlich vor, daß ich meinen Plan aufgab, der im Entwurf viel verlockender aussah, als in der Ausführung, und mich für die Zukunft entschloß, mit meinem »kindischen Weibchen« zufrieden zu sein, und nicht zu versuchen, sie zu etwas anderm zu machen, als sie eben geschaffen war. Ich war es müde, selber so entsetzlich klug und weise zu sein und meine Frau sich solchen Zwang antun zu sehen; deshalb kaufte ich ihr denn ein Paar hübsche Ohrringe und Jip ein Halsband, und begab mich eines Tages nach Hause, um mich angenehm zu machen.

Dora freute sich außerordentlich über die kleinen Geschenke und küßte mich dankbar; aber es war noch ein Schatten zwischen uns, wenn er auch nicht groß war, und ich war fest entschlossen, daß er verschwinden sollte. Wenn einmal ein solcher Schatten da sein mußte, so sollte er in Zukunft in meiner eignen Brust bleiben.

Ich setzte mich zu meiner Frau aufs Sofa, hängte ihr die Ohrringe ein, und sagte ihr dann, ich fürchte, wir wären in der letzten Zeit nicht ganz so lustige Kameraden wie sonst gewesen, und daß es meine Schuld sei. Und das war meine aufrichtige Empfindung, und so war es auch.

»Die Wahrheit ist, Dora, mein Leben,« sagte ich, »ich habe versucht, weise zu sein.«

»Und mich auch weise zu machen«, fuhr Dora schüchtern fort. »Nicht wahr, Doady?«

Ich nickte Zustimmung zu der allerliebsten Frage, die sie mit emporgezogenen Brauen tat und küßte die halboffenen Lippen.

»Das hat gar, gar keinen Zweck«, sagte Dora und schüttelte ihren Kopf, bis die Ohrringe klingelten. »Du weißt, was für ein kleines Ding ich bin, und wie du mich von Anfang an nennen solltest. Wenn du das nicht kannst, so fürchte ich, du wirst mich nie lieb haben. Denkst du in Wahrheit nicht manchmal, es wäre besser gewesen, du hättest –«

»Was denn, Herzchen?« fragte ich. Denn sie machte keinen Versuch, fortzufahren.

»Nichts!« sagte Dora.

»Nichts?« wiederholte ich.

Sie schlang ihre Arme um meinen Hals, lachte, nannte sich bei ihrem Lieblingsnamen »Gänschen« und versteckte ihr Gesicht an meiner Schulter unter einer solchen Fülle von Locken, daß es eine wahre Aufgabe war, diese wegzuschieben, um jenes zu sehen.

»Wäre es nicht besser gewesen, nichts zu tun, als den Versuch zu machen, den Geist meiner kleinen Frau zu bilden?« sagte ich, über mich selbst lachend. »Lautet die Frage so? Ja, wirklich, das denke ich.«

»Ist es das, was du versucht hast?« rief Dora. »Ach, was für ein schrecklicher Junge!«

»Aber ich werde es nie mehr versuchen«, erwiderte ich, »Denn ich liebe sie zärtlich so, wie sie ist.«

»Ist das wahr – wirklich?« fragte Dora und schmiegte sich näher an mich.

»Warum sollte ich versuchen, zu ändern,« sagte ich, »was solange so köstlich für mich gewesen ist! Du kannst dich nie vorteilhafter zeigen als in deinem eignen natürlichen Selbst, meine süße Dora, und wir wollen keine aberwitzigen Experimente mehr machen, sondern zu unsrer alten Weise zurückkehren und glücklich sein.«

»Und glücklich sein!« erwiderte Dora. »Ja! Den ganzen Tag! Und du wirst dir nichts daraus machen, wenn die Sachen manchmal ein ganz klein wenig schief gehen?«

»Nein, nein«, entgegnete ich. »Wir müssen unser Bestes versuchen.«

»Und du wirst mir nicht mehr sagen, daß wir andre Leute schlecht machen,« schmeichelte Dora, »wirst du? Denn, weißt du, das ist so schrecklich ungemütlich.«

»Nein, nein«, sagte ich.

»Es ist besser für mich, wenn ich dumm bin und mich dabei nicht unbehaglich fühle, nicht wahr?« fragte Dora.

»Besser, die natürliche Dora zu sein, als irgend etwas andres in der Welt.«

»In der Welt! Ach, Doady, die Welt ist groß!«

Sie schüttelte das Köpfchen, erhob ihre glücklichen Augen zu den meinen, küßte mich, brach in fröhliches Lachen aus und hüpfte davon, um Jip das neue Halsband anzulegen.

So endete mein letzter Versuch, Dora anders zu machen. Ich hatte mich dabei unglücklich gefühlt: ich konnte meine eigene einsame Weisheit nicht vertragen: ich konnte sie nicht mit ihrer früheren Bitte, als mein »kindisches Weibchen« zu gelten, aussöhnen. Ich beschloß im stillen, mein möglichstes zu tun, um es besser im Haushalt zu machen; aber ich sah daraus, daß mein möglichstes sehr wenig sein würde, wenn ich nicht wieder zur Spinne werden und immer auf der Lauer liegen wollte.

Und der Schatten, von dem ich gesprochen hatte, der nicht mehr zwischen uns sein, sondern ganz auf meinem Herzen ruhen sollte, wo war der?

Das alte Gefühl, daß mir etwas fehlte, durchdrang mein Leben. Es war lebhafter geworden, wenn es sich überhaupt verändert hatte; aber es war unbestimmt wie eine Trauermelodie, die in der Nacht schwach aus der Ferne herüberklingt. Ich liebte mein Weib aufs innigste, und ich war glücklich, aber das Glück, das ich mir einst vorgemalt, war nicht das Glück das ich jetzt genoß, und immer fehlte mir etwas.

Gemäß dem Vertrage, den ich mit mir selbst abgeschlossen habe, mein ganzes Seelenleben in diesen Blättern wiederzuspiegeln, prüfe ich es ganz genau und bringe seine Geheimnisse ans Licht.

Was ich vermißte, betrachtete ich immer noch als etwas, das ein Traum meiner kindlichen Phantasie gewesen war; wie etwas, das überhaupt niemals zu verwirklichen war und dessen Unmöglichkeit der Verwirklichung ich jetzt mit einem natürlichen Schmerz entdeckte, wie ihn alle Menschen fühlen. Aber daß es besser für mich gewesen wäre, wenn mir meine Gattin mehr hätte helfen und die vielen Gedanken hätte teilen können, für die ich keinen Genossen fand, und daß dies hätte möglich sein können, das wußte ich.

Zwischen diesen beiden unversöhnlichen Folgerungen: erstens daß das, was ich fühlte, allgemein und unvermeidlich sei, zweitens: daß es mir eigentümlich sei und anders hätte sein können, schwankte ich merkwürdig hin und her, ohne recht deutlich ihren Gegensatz zu fühlen. Wenn ich der lustigen, nie der Verwirklichung fähigen Jugendträume gedachte, gedachte ich auch jener schöneren Zeit vor dem Mannesalter, über die ich hinaus war. Dann stiegen die zufriedenen Tage mit Agnes in jenem lieben alten Hause vor mir auf, wie Schatten von Verblichenen, die vielleicht in einer andern Welt, aber niemals, niemals wieder hier auf Erden Gestalt und Leben annehmen konnten.

Manchmal kam ich auf den Gedanken, was hätte geschehen können, oder was geschehen sein würde, wenn Dora und ich uns nie kennen gelernt hätten? Aber sie war so in mein Dasein verwebt, daß das der nichtigste aller Träume war und bald aus meinem Bereich entschwebte, wie Sommerfäden, die durch die Luft streichen.

Ich liebte sie nach wie vor. Die Gefühle, die ich soeben beschrieb, schlummerten und wachten halb auf und schlummerten wieder in den innersten Tiefen meines Herzens. Ich trug die ganze Last unserer kleinen Sorgen für mich und verschloß meine schriftstellerischen Pläne in mich; Dora hielt die Federn, und wir fühlten beide, daß die Lasten gerecht verteilt waren. Sie liebte mich innigst und war stolz auf mich; als Agnes mit ein paar herzlichen Worten in ihren Briefen an Dora von dem Stolz und der Teilnahme schrieb, mit denen meine alten Freunde von meinem wachsenden Ruhme hörten und mein Buch läsen, als ob sie mich seinen Inhalt sprechen hörten, las sie mir Dora mit Freudentränen in ihren schönen Augen vor und sagte, ich sei ihr liebes, altes, gescheites, berühmtes Männchen.

»Die erste mißverstandene Regung eines unerfahrenen Herzens.« Diese Worte der Mrs. Strong fielen mir zu jener Zeit beständig ein. Oft erwachte ich mit ihnen mitten in der Nacht, und ich erinnere mich, sie in den Träumen an den Mauern gelesen zu haben. Denn ich wußte jetzt, daß mein eigenes Herz noch unerfahren war, als ich Dora lieben lernte; und daß es, wenn es erfahren gewesen wäre, nie nach unserer Verheiratung hätte fühlen können, was es jetzt in seiner geheimgehaltenen Erfahrung fühlte.

»Es kann kein größeres Mißverhältnis in einer Ehe geben als Mangel an Gemeinsamkeit in Bestrebungen und Charakter.« Auch an diese Worte erinnerte ich mich. Ich hatte mich bestrebt, Dora mir anzupassen, fand es jedoch unausführbar. Jetzt hatte ich mich Dora anzupassen, hatte mit ihr zu teilen, was ich konnte, und glücklich zu sein, hatte auf meinen Schultern zu tragen, was ich tragen mußte, und immer noch glücklich zu sein. Das war die Schule, der ich mein Herz zu unterwerfen versuchte, als ich nachzudenken anfing. Mein zweites Jahr wurde dadurch viel glücklicher als mein erstes, und was noch besser war, es machte das Leben meiner Dora zu lauter Sonnenschein.

Aber wie das Jahr ablief, nahmen Doras Kräfte ab, und sie fing an zu kränkeln. Ich hatte gehofft, daß mir zartere Hände als die meinigen helfen würden, ihren Charakter zu bilden, und daß ein Kinderlächeln an ihrem Busen mein kindisches Weibchen zu einem richtigen Weibe machen würde. Es sollte nicht so sein. Die Seele schwebte zögernd einen Augenblick über der Schwelle ihres kleinen Kerkers und schwang sich, nichts ahnend von der Gefangenschaft, von dannen.

»Wenn ich wieder herumspringen kann wie früher, Tante,« sagte Dora, »so werde ich Jip laufen lehren. Er ist recht faul geworden.«

»Ich fürchte sehr, liebe Dora,« sagte meine Tante, die ruhig an ihrer Seite arbeitete, »er krankt an etwas Schlimmerem als an dem. An den Jahren, Dora.«

»Meinst du, er würde alt?« sagte Dora ganz erstaunt. »Ach wie seltsam ist der Gedanke, daß Jip alt sein sollte!«

»Es ist eine Krankheit, der wir alle ausgesetzt sind, Kleine, solange wir leben,« sagte meine Tante heiter; »ich fühle mich auch nicht gerade freier davon als früher, das versichere ich dich.«

»Aber Jip,« meinte Dora und sah ihn mitleidig an, »selbst der kleine Jip! Ach, das arme Tier!«

»Nun, er wird wohl noch eine gute Zeit aushalten, Maßliebchen«, sagte meine Tante und klopfte Dora auf die Wange, während sich diese über das Sofa herablehnte, um Jip anzusehen, der sich auf die Hinterbeine stellte und verschiedene asthmatische Versuche machte, hinaufzuklettern. »Wir müssen ihm diesen Winter eine wollene Decke in sein Häuschen legen, und dann kommt er gewiß im Frühling mit den Blumen ganz frisch wieder heraus. Das gute Hundchen!« rief meine Tante aus, »und wenn er ein so zähes Leben hätte wie eine Katze, und es sollte ihm endlich daran gehen, so glaube ich doch, er würde mich noch mit seinem letzten Atemzuge anbellen!«

Dora hatte Jip auf das Sofa heraufgeholfen, wo er meine Tante so wütend anbellte, daß er sich gar nicht gerade halten konnte, sondern sich schief heulte. Je mehr ihn meine Tante ansah, desto lauter wurde er gegen sie; denn sie hatte sich seit einiger Zeit eine Brille zugelegt, und aus einem unerforschlichen Grunde betrachtete er das als eine persönliche Beleidigung.

Mit vieler Überredung gelang es Dora, ihn zu bewegen, sich neben sie zu legen, und als er ruhig war, streichelte sie eins seiner langen Ohren mit der Hand und sagte gedankenvoll: »Selbst der kleine Jip! Ach, das arme Tier!«

»Seine Lungen sind noch gut genug«, erwiderte meine Tante heiter, »und seine Leidenschaften sind noch nicht schwach geworden. Er hat gewiß noch viele, viele Jahre vor sich. Aber wenn du einen Hund zum Herumspringen haben willst, Herzchen, so hat er dazu zu gut gelebt, und ich werde dir einen andern schenken.«.

»Ich danke dir, Tante«, entgegnete Dora mit schwacher Stimme. »Ich bitte dich, tu es nicht.«

»Nicht?« fragte meine Tante, und nahm die Brille ab.

»Ich könnte keinen andern Hund haben als Jip«, sagte Dora. »Das wäre so unrecht gegen Jip! Außerdem könnte ich auch keinem Hunde so gut sein, wie Jip, denn er hätte mich nicht vor meiner Heirat gekannt und hätte Doady nicht angebellt, als er zuerst zu uns kam. Ich könnte keinem andern Hund gut sein als Jip, fürchte ich, Tante.«

»Gewiß, gewiß«, sagte meine Tante und klopfte ihr die Wange.

»Du bist nicht bös«, erwiderte Dora. »Nicht wahr?«

»O, das liebe empfindliche Kindchen!« rief meine Tante, und beugte sich liebreich über sie. »Wie sollte ich bös sein?«

»Nein, nein, es ist mein Ernst nicht,« entgegnete Dora, »aber ich bin ein wenig müde, und es machte mich einen Augenblick zu einer kleinen Närrin, von Jip zu sprechen – du weißt ja, ich bin immer ein kleines Närrchen, aber darin noch mehr. Er ist immer dabei gewesen, bei allem, was mir geschehen ist, nicht wahr, Jip? und ich könnte es nicht ertragen, ihn zurückzusetzen, weil er ein klein wenig anders geworden ist – nicht wahr, Jip?«

Jip drängte sich dichter an seine Herrin und leckte ihr schläfrig die Hände.

»Du bist noch nicht so alt, daß du deine Herrin verlassen mußt,« sagte Dora, »Wir können uns noch ein klein wenig Gesellschaft leisten.«

Meine allerliebste Dora! Als sie nächsten Sonntag zu Tische herunter gebracht wurde und sich so sehr freute, unsern alten Freund Traddles zu sehen, der Sonntags immer bei uns aß, glaubten wir, sie würde in wenig Tagen »herumspringen wie früher«. Aber da hieß es: Wir müssen noch ein paar Tage warten, und dann: Wir müssen noch ein paar Tage warten, und immer noch sprang sie nicht und ging nicht herum. Sie sah ganz allerliebst aus und war sehr heiter, aber die kleinen Füßchen, die so rasch waren, als sie um Jip herumtanzten, waren jetzt träge und matt.

Ich mußte sie jetzt bald jeden Morgen die Treppe hinab und jeden Abend wieder hinauftragen. Sie faßte mich um den Hals und lachte dabei, als täte ich es zum Spaß. Jip bellte und sprang um uns herum und lief voraus und wartete auf einem Treppenabsatz mit keuchendem Atem auf uns, um zu sehen, ob wir nachkämen. Meine Tante, die beste aller Krankenpflegerinnen, kam hinter uns her, ein lebendiger Berg von Schals und Kissen. Mr. Dick hätte keinem lebendigen Menschen sein Amt als Leuchterträger abgetreten. Traddles stand oft unten an der Treppe und sah zu und übernahm neckende Botschaften von Dora an das beste Mädchen auf der Welt, Es war für uns wie ein heiteres Spiel, und mein kindisches Weibchen war die Heiterste von allen.

Aber manchmal, wenn ich sie aufnahm und fühlte, daß sie leichter wurde, da kam ein dunkles, stumpfes Gefühl über mich, als ob ich mich einer mir noch unbekannten Eisregion näherte, die mein Leben erstarrte. Ich vermied es, für dieses Gefühl einen Namen zu suchen oder jemand davon zu sagen, bis ich eines Abends, als es stärker als je über mich kam und meine Tante sie mit dem Abschiedsgruß: Gute Nacht, kleines Maßliebchen! verlassen hatte, mich allein vor meinem Pulte niedersetzte und bei dem Gedanken weilte, welch verhängnisvoller Name das sei und wie solch Blümchen in seiner schönsten Blüte dahinwelke!


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