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Ich ließ meinen Entschluß betreffs der Parlamentsdebatten nicht erkalten. Dies war eins der Eisen, das ich sofort glühend machte und glühend erhielt, und ich hämmerte mit einer Ausdauer darauf los, die ich aufrichtig bewundern darf. Ich kaufte mir ein bewährtes Lehrbuch der edeln Kunst der Stenographie, das mich zehn Schilling zehn Pence kostete, und versenkte mich in ein Meer von Verworrenheit, das mich in wenig Wochen an den Rand der Verzweiflung brachte. Die vielen Sachen, die mit Punkten angefangen wurden, die an dieser Stelle das, an andern etwas ganz andres bedeuteten; die seltsamen Streiche, die Kreise spielten; die unberechenbaren Folgen, die einige Zeichen in Gestalt von Fliegenbeinen nach sich zogen; die schrecklichen Wirkungen eines Hakens an der unrechten Stelle beunruhigten nicht nur meine wachen Stunden, sondern erschienen mir auch im Schlafe. Als ich mir endlich mühsam durch diese Schwierigkeiten Bahn gebrochen hatte und des Alphabets Herr geworden war, das schon an und für sich ein ägyptisches Mysterium war, kam eine lange Reihe von neuen Schrecken, die willkürliche Charaktere oder Siegel hießen: die despotischesten Charaktere, die mir jemals vorgekommen sind, die z. B. behaupteten, daß ein Ding, das wie der Anfang eines Spinngewebes aussah, »Erwartung« hieße, und daß eine Rakete von Tinte »unvorteilhaft« bedeute. Als ich mir diese unglücklichen Zeichen eingeprägt hatte, fand ich, daß sie mir alles Übrige aus dem Kopfe getrieben hatten; dann fing ich wieder von vorn an und vergaß die Spinngewebe und Tintenraketen, während ich diese wieder nachholte, kamen die andern Fragmente der Kunst abhanden: mit einem Worte, es war zum Tollwerden, zum Herzzerbrechen.
Es wäre mir auch das Herz gebrochen ohne Dora, die der Notanker meines vom Sturme getriebenen Bootes war.
Jedes Gekritzel im Lehrbuche war eine knorrige Eiche im Walde der Schwierigkeiten, und ich fuhr fort, sie mit solcher Kraft, eine nach der andern, niederzuschlagen, daß ich in drei bis vier Monaten imstande war, mich an einen unserer Hauptredner in den Commons versuchsweise zu wagen. Ich werde so leicht nicht vergessen, wie der zungenfertige Hauptredner vor mir hereilte, noch ehe ich anfing, und mein unbeholfener Bleistift auf dem Papier umhertorkelte, als ob er die Krämpfe hätte!
So ging es nicht, das war ganz klar. Ich nahm einen zu hohen Flug und würde auf die Art nie vorwärts kommen.
Nun fragte ich Traddles wieder um Rat, der mir vorschlug, er wolle mir Reden langsam und mit angemessenen Pausen diktieren. Sehr dankbar für diese freundschaftliche Unterstützung nahm ich den Vorschlag an; und lange Zeit hatten wir fast jeden Abend, wenn ich vom Doktor kam, eine Art Privatparlament in der Buckinghamstraße.
So ein Parlament hätte ich wo anders sehen mögen! Meine Tante und Mr. Dick stellten die Regierung oder die Opposition – je nach dem Falle – vor, und Traddles donnerte, mit Hilfe von Enfields »Redner« oder einem Bande Parlamentsreden, erstaunliche Schmähreden gegen sie los. Neben dem Tische mit einem Finger der linken Hand auf einer Seite des aufgeschlagenen Buches, um die betreffende Stelle nicht zu verlieren, und mit dem rechten Arm über seinem Kopf gestikulierend, stand Traddles als Mr. Pitt, Mr. Fox, Mr. Sheridan, Mr. Burke, Lord Castlereagh, Viscount Sidmouth oder Mr. Canning, arbeitete sich in die größte Hitze hinein und entledigte sich der vernichtendsten Anklagen über die Verworfenheit und Verderbtheit von meiner Tante und Mr. Dick, während ich gewöhnlich in einer kleinen Entfernung saß, mein Notizbuch auf den Knien hielt, und ihm mit aller Anstrengung zu folgen suchte.
Einem wirklichen Politiker wäre es nicht möglich gewesen, Traddles in Unbeständigkeit und Rücksichtslosigkeit zu übertreffen. Im Laufe einer Woche hatte er es mit allen Arten von Politik gehalten und Flaggen aller Farben an jeden was immer für Namen tragenden Mast genagelt. Meine Tante, die einem unerschütterlichen Kanzler des Schatzamts sehr ähnlich sah, warf manchmal, wenn sich die Gelegenheit bot, eine oder die andre Unterbrechung, wie: »Hört, hört!« oder »Nein!« oder »Oho!« ein, wenn es der Text zu verlangen schien, und das war jedesmal für Mr. Dick, der einem Landedelmann aufs Haar ähnlich sah, das Signal, kräftig in diesen Ruf mit einzustimmen. Aber in der Folge seiner parlamentarischen Laufbahn wurden Mr. Dick solche Dinge zur Last gelegt, wurde er für so schreckliche Folgen verantwortlich gemacht, daß ihm manchmal unbehaglich zumute wurde. Ich glaube, er fing an, sich tatsächlich zu ängstigen, daß er wirklich etwas getan habe, was zur Vernichtung der britischen Verfassung und zum Ruin des Landes führte.
Immer und immer wieder setzten wir diese Debatten fort, bis die Uhr Mitternacht zeigte und die Lichter herabgebrannt waren.
Die Frucht dieser fleißigen Übungen war, daß ich allmählich mit Traddles leidlich Schritt halten konnte und wirklich froh gewesen wäre, wenn ich nur hätte herausbekommen können, was meine stenographischen Noten bedeuteten, wenn ich sie hätte nachher entziffern können! Aber ebensogut hätte ich die chinesischen Inschriften auf einer unendlichen Anzahl von Teekisten oder die goldenen Zeichen auf den großen roten und grünen Flaschen in den Apothekerläden lesen können.
Es konnte also wieder nichts helfen, ich mußte noch einmal von vorn anfangen. Das war sehr schlimm, aber ich versuchte es, obgleich mit schwerem Herzen, auf demselben ermüdenden Boden mühsam und systematisch im Schneckentempo hinzukriechen, bei jedem Punkt anzuhalten und ihn von allen Seiten zu betrachten und die verzweifeltsten Anstrengungen zu machen, diese trügerischen Zeichen voneinander zu unterscheiden. Dabei war ich pünktlich im Amte und pünktlich beim Doktor – kurz ich arbeitete, wie man so zu sagen pflegt, wie ein Karrengaul.
Eines Tages, als ich wie gewöhnlich nach den Commons ging, sah ich Mr. Spenlow mit sehr ernstem Gesicht und mit sich selbst sprechend unter dem Haustor stehen. Da er manchmal über Kopfschmerzen klagte – er hatte von Natur einen kurzen Hals, und ich glaubte wahrhaftig, er trug zuviel gesundheitswidrig gestärkte Wäsche – so kam mir zuerst der Gedanke, es sei in dieser Hinsicht etwas nicht recht; aber er benahm mir bald meine Unruhe.
Anstatt meinen »Guten Morgen« mit der gewöhnlichen Leutseligkeit zu erwidern, sah er mich in kalter, zeremoniöser Weise an und forderte mich auf, ihm nach einem gewissen Kaffeehause zu folgen, das zu jener Zeit einen Eingang in dem kleinen Torweg des St. Paulskirchhofs hatte.
In sehr unbehaglicher Stimmung folgte ich ihm und mit einem Gefühl, als überriesele es plötzlich heiß meinen ganzen Körper, gleichsam als ob meine Befürchtungen in Knospen ausbrächen. Als ich ihn ein wenig vorangehen ließ, weil der Weg sehr schmal war, sah ich, wie er seinen Kopf in einer sehr wenig versprechenden Weise recht hoch trug, und eine böse Ahnung sagte mir, daß er meinem Verhältnis mit Dora auf die Spur gekommen sei.
Wenn ich es unterwegs nicht erraten hätte, so mußte mir klar werden, wie die Dinge standen, als ich ihm in ein Zimmer eine Treppe hoch, folgte und dort Miß Murdstone fand, gelehnt an einen Seitentisch darauf verschiedene umgekehrte Gläser mit Zitronen und zwei von jenen alten Kästen standen, die nur aus Kanten und Riefen bestehen und zum Aufbewahren von Messern und Gabeln dienten, die jetzt aber glücklicherweise nicht mehr Mode sind.
Miß Murdstone reichte mir ihre kalten Fingerspitzen und saß steif aufrecht da. Mr. Spenlow machte die Tür zu, winkte mir, einen Stuhl zu nehmen, und stellte sich auf den Teppich vor dem Kamin.
»Wollten Sie so gut sein, Miß Murdstone,« sagte Mr. Spenlow, »Mr. Copperfield zu zeigen, was Sie in Ihrem Strickbeutel haben?«
Ich glaube, es war noch der alte Strickbeutel mit dem Stahlschloß, das wie ein Raubtiergebiß auf und zu schnappte. Mit – aus Sympathie für das Schloß – zusammengepreßten Lippen machte es Miß Murdstone auf und zog meinen letzten Brief an Dora heraus, voll von zärtlichen Äußerungen.
»Ich glaube, das ist Ihre Handschrift, Mr. Copperfield«, sagte Mr. Spenlow.
Mir war sehr heiß, und die Stimme, die ich vernahm, klang der meinigen ganz unähnlich, als ich sagte: »Ja, Sir.«
»Wenn ich nicht irre,« sagte Mr. Spenlow, als Miß Murdstone ein ganzes Paket Briefe, zugebunden mit einem allerliebsten blauen Bande, aus dem Strickbeutel hervorholte, »sind auch diese von Ihrer Hand, Mr. Copperfield.«
Mit den allerjämmerlichsten Gefühlen nahm ich sie in die Hand, und als ich Äußerungen wie: »Meine geliebteste Herzens-Dora«, »mein geliebter Engel«, »du meine Wonne« usw. zu Anfang der Briefe erblickte, errötete ich tief und nickte bejahend.
»Nein, ich danke Ihnen!« sagte Mr. Spenlow kalt, als ich sie ihm halb mechanisch wieder zurückgeben wollte. »Ich will Sie der Briefe nicht berauben. Miß Murdstone, haben Sie die Güte fortzufahren!«
Nachdem der Blick dieses liebenswürdigen Wesens kurze Zeit gedankenvoll auf dem Teppich geruht hatte, begann sie mit viel trockener Salbung wie folgt:
»Ich muß gestehen, ich habe schon längere Zeit Miß Spenlow wegen David Copperfield in Verdacht gehabt. Ich beobachtete Miß Spenlow und David Copperfield, als sie sich zuerst sahen, und der Eindruck, den sie damals auf mich machten, war durchaus nicht günstig. Die Verderbtheit des menschlichen Herzens ist so groß –«
»Sie würden mich verbinden, Madame,« unterbrach sie Mr. Spenlow, »wenn Sie sich auf Tatsachen beschränkten.«
Miß Murdstone schlug die Augen nieder, schüttelte den Kopf, als ob sie gegen diese unpassende Unterbrechung protestiere, und fuhr mit grämlicher Würde fort:
»Da ich mich auf Tatsachen beschränken soll, will ich sie so ungeschminkt vortragen wie nur möglich. Vielleicht wird das dann mehr Beifall finden! Ich habe bereits gesagt, Sir, daß ich schon einige Zeit Miß Spenlow wegen David Copperfield in Verdacht hatte. Ich war öfters bemüht, eine entscheidende Bestätigung meines Verdachtes zu finden, aber ohne Erfolg. Ich habe mich daher enthalten, Miß Spenlows Vater etwas zu sagen« – sie sah ihn dabei streng an – »da ich weiß, wie wenig man in solchen Fällen gewöhnlich geneigt ist, eine gewissenhafte Pflichterfüllung anzuerkennen.«
Mr. Spenlow war ganz eingeschüchtert von Miß Murdstones männlichem Auftreten und suchte sie mit einer kleinen Handbewegung zu besänftigen.
»Als ich nach der Hochzeit meines Bruders zurückkehrte nach Norwood,« fuhr Miß Murdstone mit verachtungsvoller Stimme fort, »und als Miß Spenlow ihren Besuch bei ihrer Freundin Miß Mills beendigt hatte, schien mir das Benehmen Miß Spenlows noch mehr Veranlassung zum Verdacht als früher zu geben. Deshalb beobachtete ich meine junge Schutzbefohlene auf das schärfste.«
Arme, süße, kleine Dora, so ahnungslos dem Auge dieses Drachen ausgesetzt!
»Aber dennoch«, fuhr Miß Murdstone fort, »konnte ich erst gestern abend Beweise entdecken. Miß Spenlow schien mir zu viele Briefe von ihrer Freundin Miß Mills zu erhalten; da aber die Freundschaft von Miß Mills ihres Vaters vollständige Beistimmung erhielt –« wieder ein scharfer Hieb gegen Mr. Spenlow – »so hatte ich mich nicht weiter hineinzumischen. Wenn ich mir nicht erlauben darf, von der natürlichen Verderbtheit des menschlichen Herzens zu sprechen, so wird, ja so muß es mir erlaubt sein, mich hier des Wortes ›schlecht angewendetes Vertrauen‹ zu bedienen.«
Mit einer um Verzeihung bittenden Gebärde murmelte Mr. Spenlow seine Beistimmung.
»Gestern abend nach dem Tee«, berichtete Miß Murdstone weiter, »sah ich, wie das Hündchen aufsprang und knurrend im Zimmer herumlief und dabei etwas zerzauste. Ich sagte zu Miß Spenlow: ›Dora, was hat der Hund im Maule? Es ist Papier‹. – Miß Spenlow fühlte nach ihrer Tasche, schrie auf und lief zu dem Hunde. Ich trat dazwischen und sagte: ›Liebe Dora, Sie werden mir erlauben.‹«
O Jip, elendes Wachtelhündchen, das Unglück war also dein Werk!
»Miß Spenlow bemühte sich,« sagte Miß Murdstone, »mich mit Küssen, Arbeitskästchen und kleinen Schmucksachen zu bestechen – darüber will ich natürlich nichts weiter sagen. Das Hündchen flüchtete sich unter das Sofa, als ich mich ihm näherte, und ließ sich nur sehr schwer mit dem Schüreisen wieder hervorholen. Selbst als das gelungen war, hatte es immer noch den Brief zwischen den Zähnen; und als ich mich unter der größten Gefahr, gebissen zu werden, bemühte, ihm den Brief zu entreißen, hielt er ihn so fest, daß er sich daran emporheben ließ. Endlich hatte ich ihn. Nachdem ich ihn gelesen, sagte ich: ›Miß Spenlow, Sie besitzen viele derartige Briefe‹, und erlangte zuletzt von ihr das Paket, das sich jetzt in David Copperfields Händen befindet.«
Hier schloß sie, und indem sie ihren Strickbeutel wieder zuschnappte und dabei auch den Mund zumachte, sah sie aus, als ob sie sich wohl brechen, aber nie biegen ließe.
»Sie haben Miß Murdstone gehört«, sagte Mr. Spenlow zu mir gewendet. »Ich erlaube mir, Sie zu fragen, Mr. Copperfield, ob Sie etwas darauf zu erwidern haben.«
Das vor meinen Augen schwebende Bild des geliebten Mädchens, wie es die ganze Nacht schluchzte und weinte, wie es ganz allein in seiner Angst und seinem Kummer war – wie es so erbärmlich das hartherzige Weib gebeten, ihm zu verzeihen – wie es ihr vergebens Küsse und Arbeitskästchen und Schmucksachen angeboten – wie es von so großem Schmerz erfüllt war, und nur für mich – das alles tat dem bißchen Würde, das ich hatte auftreiben können, nicht wenig Abbruch. Ich glaube, ich zitterte einige Augenblicke lang, obgleich ich mein möglichstes tat, um es zu verbergen.
»Ich habe nichts darauf zu erwidern, Sir,« gab ich zur Antwort, »außer daß ich allein die Schuld trage. Dora –«
»Miß Spenlow, wenn Sie erlauben«, sagte der Vater majestätisch.
»– wurde durch meine Überredung bewogen,« fuhr ich fort, ohne auf diese kältere Benennung Rücksicht zu nehmen, »die Sache verborgen zu halten, und ich beklage es jetzt bitter.«
»Sie sind sehr zu tadeln, Sir«, sagte Mr. Spenlow, der auf dem Teppich vor dem Herde auf und ab schritt und jedem Worte wegen der Steifheit seiner Halsbinde und seines Rückens, mit seinem ganzen Körper, anstatt mit seinem Kopfe, Nachdruck gab. »Sie haben sich einer verstohlenen und unschicklichen Handlung schuldig gemacht, Mr. Copperfield. Wenn ich einen Gentleman bei mir zu Hause einführe, mag er neunzehn, neunundzwanzig oder neunzig Jahre alt sein, so setze ich in ihn vollkommenes Vertrauen. Wenn er mein Vertrauen täuscht, so macht er sich einer unehrenhaften Handlung schuldig, Mr. Copperfield.«
»Ich fühle das, glauben Sie mir«, gab ich zurück. »Aber ich habe vorher nie daran gedacht. Aufrichtig und ehrlich kann ich Ihnen sagen, Mr. Spenlow, ich habe nie daran gedacht. Ich liebe Miß Spenlow dermaßen –«
»Pah! Unsinn!« sagte Mr. Spenlow und wurde rot. »Ich bitte, mir es nicht ins Angesicht zu sagen, daß Sie meine Tochter lieben, Mr. Copperfield.«
»Könnte ich mein Benehmen sonst verteidigen, wenn dies nicht der Fall wäre«, entgegnete ich mit aller Demut.
»Können Sie Ihr Benehmen verteidigen, wenn es der Fall ist, Sir?« sagte Mr. Spenlow, auf dem Teppich stehen bleibend. »Haben Sie an Ihr Alter und an das Alter meiner Tochter gedacht, Mr. Copperfield; haben Sie bedacht, was es heißt, das Vertrauen zu untergraben, das zwischen mir und meiner Tochter herrschen sollte; haben Sie an die Lebensstellung meiner Tochter, an die Pläne, die ich zu ihrer Förderung im Sinne habe, an meine testamentarischen Verfügungen gedacht? Haben Sie überhaupt etwas gedacht, Mr. Copperfield?«
»Ich fürchte, sehr wenig,« erwiderte ich so ehrerbietig, als es mir um das Herz war; »aber Sie können mir glauben, ich habe meine eigene Lebensstellung nicht außer acht gelassen. Als ich Ihnen seinerzeit darüber Aufklärung gab, waren wir bereits versprochen –«
»Ich muß Sie bitten,« sagte Mr. Spenlow energisch, die eine Hand auf die andere schlagend, und ich konnte dabei trotz meiner Verzweiflung nicht umhin, die Entdeckung zu machen, wie ähnlich er dem Punch war – »ich ersuche Sie nicht von Verlobung zu reden, Mr. Copperfield.«
Die im übrigen unbewegliche Miß Murdstone ließ hier ein kurzes verächtliches Lachen vernehmen.
»Als ich Ihnen meine veränderten Umstände auseinandersetzte, Sir,« fing ich wieder an und wählte diesmal einen neuen Ausdruck für den, der ihn so verletzt hatte, »hatte das heimliche Verhältnis bereits begonnen, zu dem ich Miß Spenlow unglücklicherweise verleitet habe. Seitdem ich in diesen veränderten Verhältnissen bin, habe ich die äußersten Anstrengungen gemacht, um sie zu verbessern. Ich bin überzeugt, ich werde sie mit der Zeit verbessern. Wollen Sie mir Zeit geben – eine Reihe von Jahren, wir sind noch beide so jung, Sir –«
»Sie haben recht,« unterbrach mich Mr. Spenlow, viele Male mit dem Kopfe nickend und die Stirn runzelnd, »Sie sind beide noch sehr jung. Es ist nichts als Unsinn. Vergessen Sie den Unsinn. – Nehmen Sie die Briefe mit und werfen Sie sie ins Feuer. Geben Sie mir Miß Spenlows Briefe, damit ich sie ins Feuer werfen kann; und obgleich in Zukunft unser Verkehr sich natürlich nur auf die Commons beschränken kann, wollen wir übereinkommen, das Geschehene nicht weiter zu erwähnen. Mr. Copperfield, Sie sind sonst ein verständiger Jüngling, und das ist im ganzen das Verständigste, was Sie tun können.«
Nein, ich konnte darauf nicht eingehen! Es tat mir sehr leid, aber hier war mehr zu berücksichtigen als der Verstand. Liebe war mehr als alle irdischen Rücksichten, und ich liebte Dora bis zum Anbeten, und Dora liebte mich. Ich sagte dies nicht gerade mit diesen Worten, ich milderte es, soviel wie ich nur konnte; aber ich ließ es durchblicken und blieb fest. Ich glaube nicht, daß ich mich lächerlich machte, aber ich blieb fest!
»Gut, Mr. Copperfield,« sagte Mr. Spenlow, »dann muß ich sehen, was ich bei meiner Tochter ausrichten kann.«
Miß Murdstone gab durch einen ausdrucksvollen Ton, nämlich durch einen langen Atemzug, der halb ein Seufzer und halb ein Klagelied war, zu verstehen, daß er das hätte zuerst tun sollen.
»Ich muß sehen, was ich bei meiner Tochter ausrichte«, sagte Mr. Spenlow, durch diese Unterstützung ermutigt. »Sie weigern sich also diese Briefe anzunehmen, Mr. Copperfield?« denn ich hatte sie auf den Tisch gelegt.
Ja, ich sagte ihm, ich hoffe, er werde es nicht übel auslegen, aber ich könne sie unmöglich von Miß Murdstone annehmen.
»Auch von mir nicht?« fragte Mr. Spenlow.
»Nein,« erwiderte ich mit der tiefsten Verehrung, »auch von Ihnen nicht.«
»Sehr gut!« sagte Spenlow.
Es trat jetzt eine Pause ein, und ich wußte nicht, ob ich gehen oder bleiben sollte. Endlich ging ich ruhig nach der Tür mit der Absicht, zu sagen, daß es ihm vielleicht am liebsten sei, wenn ich mich entfernte. Da sprach er, die Hände in die Rocktaschen gesteckt, was fertig zu kriegen bei seiner bretternen gestärkten Wäsche etwas heißen wollte, mit einer Miene, die ich im ganzen eine entschieden andächtige nennen würde:
»Sie wissen wahrscheinlich, Mr. Copperfield, daß ich nicht ganz ohne Vermögen bin und daß meine Tochter meine nächste Erbin ist.«
Ich antwortete ihm rasch, daß ich hoffe, der Irrtum, zu dem mich die Heftigkeit meiner Liebe hingerissen habe, verleite ihn nicht zu dem Glauben, mich für eigennützig zu halten.
»Ich spreche nicht davon«, sagte Mr. Spenlow. »Es wäre eben besser für Sie und für uns alle, wenn Sie eigennützig und berechnend gewesen wären, Mr. Copperfield – ich meine, wenn Sie verständiger wären und sich weniger von diesem kindlichen Unsinn leiten ließen. Nein. Ich frage in ganz anderer Absicht, ob Sie wissen, daß ich meiner Tochter einiges Vermögen zu vermachen habe?«
Ich sagte, ich vermute das allerdings.
»Und bei den Erfahrungen, die Sie täglich in den Commons von den verschiedenen, ganz unverantwortlichen Nachlässigkeiten der Menschen hinsichtlich ihrer testamentarischen Verfügungen gemacht haben, – es ist vielleicht einer der Gegenstände, wo sich die menschliche Inkonsequenz am seltsamsten zeigt, – können Sie doch kaum glauben, daß ich meine Verfügungen noch nicht getroffen habe?«
Ich neigte bejahend das Haupt.
»Ich werde natürlich nicht«, sagte Mr. Spenlow mit noch sichtbarerem, andächtigem Gefühle und langsamem Kopfschütteln, wie er sich abwechselnd auf den Zehen und Absätzen wiegte, »die auf meine Tochter bezüglichen Anordnungen unter einer solchen Jugendtorheit, wie die gegenwärtige ist, leiden lassen. Es ist nichts als eine Jugendtorheit. Reiner Unsinn. In sehr kurzer Zeit wird es weniger Gewicht haben als eine Feder. Aber ich könnte – ich könnte – wenn diese törichte Geschichte nicht ganz aufgegeben würde, mich in einem besorgten Augenblicke verleiten lassen, sie durch gewisse Bestimmungen vor den Folgen einer törichten Heirat zu schützen. Ich hoffe aber von Ihnen, Mr. Copperfield, daß Sie mich nicht zwingen werden, nur eine Viertelstunde lang diese versiegelte Seite in dem Buche des Lebens wieder zu öffnen und nur eine Viertelstunde lang ernste, längst geordnete Angelegenheiten neu zu stören.«
Er sprach dies mit einer Ruhe, die sich nur einer heitern Sommerabendstimmung vergleichen läßt, daß ich ganz gerührt war. Er war so ruhig und resigniert – hatte alle seine Angelegenheiten so vollständig geordnet – daß er ganz der Mann war, der bei ihrer Betrachtung Rührung fühlen konnte. Ich glaube wahrhaftig, ich sah Tränen in seinen Augen, so tief fühlte er das.
Aber was konnte ich tun? Ich konnte nicht Dora und mein eigenes Herz verleugnen. Als er mir eine Woche Bedenkzeit gab, konnte ich sie nicht ausschlagen, aber ich mußte auch fühlen, daß keine Zahl von Wochen Eindruck auf eine solche Liebe machen konnte, wie die meinige war.
»Unterdessen gehen Sie mit Miß Trotwood zu Rate, oder mit jemand anderm, der Lebenserfahrung hat«, sagte Mr. Spenlow, indem er seine Halsbinde mit beiden Händen zurechtrückte. »Ich gebe Ihnen eine Woche Bedenkzeit, Mr. Copperfield.«
Ich ergab mich darein und verließ das Zimmer mit einem Antlitz, in das ich so viel Ausdruck niedergeschlagener und verzweifelnder Beständigkeit legte, wie mir möglich war. Miß Murdstones dräuende Augenbrauen folgten mir nach der Tür – ich sage, ihre Augenbrauen und nicht ihre Augen, weil diese viel eindrucksvoller in ihrem Gesicht waren – und sie sah genau so aus, wie damals des Morgens in unserer Stube in Blunderstone, daß ich hätte glauben können, ich hätte wieder meine Lektion verlernt, und die Last auf meiner Seele sei jenes entsetzliche alte ABC-Buch mit runden Holzschnitten, die mir in meiner kindlichen Phantasie wie Brillengläser vorkamen.
Als ich in das Bureau kam und mich in meinem Winkel an mein Pult setzte, Tiffey und die andern mit den Händen fortwinkend, und an dieses so unerwartete Erdbeben dachte und in meinem bittern Schmerz Jip verfluchte, machte ich mir so quälende Sorgen um Dora, daß es mich heute noch wunder nimmt, daß ich nicht den Hut genommen und wie ein Wahnsinniger nach Norwood gelaufen bin. Der Gedanke, daß ihr Vater ihr Schrecken einjagen und sie weinen machen könnte, und daß ich nicht da war, um sie zu trösten, war mir so peinigend, daß ich mich veranlaßt sah, einen verzweifelten Brief an Mr. Spenlow zu schreiben und ihn zu bitten, die Folgen meines schrecklichen Geschicks nicht an seiner Tochter heimzusuchen. Ich bat ihn, ihre weiche Natur zu schonen – eine zarte Blume nicht zu zertreten – und sprach zu ihm im allgemeinen, soviel ich mich erinnere, als ob er, anstatt ihr Vater, ein Werwolf oder ein giftiger Drache gewesen wäre. Diesen Brief siegelte ich zu und legte ihn auf sein Pult, ehe er zurückkam, und als er kam, sah ich durch die halb offene Tür seines Zimmers, wie er ihn nahm und las.
Er sagte den ganzen Morgen nichts davon, aber bevor er nachmittags wegging, rief er mich herein und sagte mir, ich brauchte mir durchaus keine Sorge zu machen wegen des Glücks seiner Tochter. Er hätte ihr versichert, daß alles eine bloße Kinderei sei, und weiter habe er ihr nichts darüber zu sagen. Er glaube, ein nachsichtiger Vater zu sein – und das war er auch – daher könne ich mir jede Sorge in dieser Hinsicht ersparen.
»Sie könnten mich vielleicht zwingen, Mr. Copperfield, wenn Sie töricht oder hartnäckig sind,« bemerkte er, »meine Tochter noch ein halbes Jahr nach Paris zu schicken, aber ich habe eine bessere Meinung von Ihnen. Ich hoffe, Sie werden in wenigen Tagen mehr Einsicht haben. Was Miß Murdstone betrifft, – denn ich hatte sie im Briefe erwähnt, – so habe ich alle Achtung vor der Wachsamkeit dieser Dame und bin ihr sehr verbunden, aber sie hat den strengsten Befehl, von der Sache nicht weiter zu sprechen. Ich wünschte weiter nichts, Mr. Copperfield, als daß sie alles vergessen werde. Sie haben weiter nichts zu tun, als auch alles zu vergessen.«
Alles! In meinem Briefe an Miß Mills führte ich diese Äußerung mit bitterm Gefühle an. Nichts blieb mir übrig, sagte ich mit bitterm Sarkasmus, als Dora zu vergessen. Das sei alles, und was sei das? Ich bat Miß Mills sie heute abend besuchen zu dürfen. Wenn es nicht mit ihres Vaters Wissen und Zustimmung geschehen könnte, so bat ich um ein heimliches Zusammentreffen in der Küche hinten hinaus, wo die Rolle stand. Ich versicherte ihr, daß mein Verstand auf seinem Throne wanke, und daß nur sie, Miß Mills, seinen Sturz verhindern könne. Ich unterzeichnete mich: Ihr Verzweifelter; und ich mußte mir gestehen, als ich den Brief vor seiner Absendung durch einen Dienstmann noch einmal durchlas, daß sein Stil etwas an Mr. Micawber erinnerte.
Ich schickte ihn aber doch ab. Abends begab ich mich nach der Straße, wo Miß Mills wohnte, und ging dort auf und ab, bis mich Miß Mills' Zofe heimlich hereinholte und die Hintertreppe hinauf nach der Waschküche führte. Ich habe seitdem Grund zu glauben, daß nichts hindernd im Wege stand, wenn ich zur vordern Tür hineingegangen und in den Salon getreten wäre, außer Miß Mills Liebe zum Romantischen und Geheimnisvollen.
In der Küche raste ich nun nach Herzenslust, wie es sich für mich schickte. Ich glaube, ich ging hin, um mich wie ein Narr zu benehmen, und es gelang mir vollkommen. Miß Mills hatte ein hastig geschriebenes Billett von Dora erhalten mit der Anzeige, daß alles entdeckt sei, und der Bitte: »O komm, Julia, komm, komm!« aber Miß Mills fürchtete, ihre Anwesenheit würde den höheren Mächten nicht angenehm sein, und war noch nicht bei ihr gewesen. Deshalb saßen wir alle trostlos in der Wüste Sahara.
Miß Mills besaß einen wunderbaren Redefluß und liebte es, ihn sich ungehemmt ergießen zu lassen. Ich konnte nicht umhin zu fühlen, daß sie, obgleich sie ihre Tränen mit den meinigen vermischte, einen großen Genuß an unserm Kummer hatte. Sie hätschelte ihn, möchte ich sagen, und beutete ihn soviel wie möglich aus.
Ein tiefer Abgrund, sagte sie, sei entstanden zwischen Dora und mir, und nur die Liebe könne ihn mit ihrem Regenbogen überbrücken. Die Liebe müsse leiden in dieser prosaischen Welt, es sei immer so gewesen und es werde immer so sein. Doch was tut's? bemerkte Miß Mills. Herzen von Spinnweben umsponnen, brächen endlich, und dann sei die Liebe gerächt.
Das war ein kläglicher Trost, aber Miß Mills wollte nicht zu trügerischen Hoffnungen aufmuntern. Sie machte mich noch viel unglücklicher als ich bereits war, und ich fühlte, und ich sagte es ihr mit der größten Dankbarkeit – daß sie eine wahre Freundin sei. Wir beschlossen, daß sie den nächsten Morgen ganz früh zu Dora gehen und auf Mittel sinnen sollte, ihr durch Blick oder Wort Nachricht von meiner unveränderten Liebe und meinem Kummer zu geben. Wir schieden, überwältigt von Schmerz, und ich glaube, Miß Mills hatte großen Genuß dabei.
Ich vertraute alles meiner Tante, als ich nach Hause kam, und ging trotz allen ihren Trostreden voller Verzweiflung zu Bett. Ich stand voller Verzweiflung auf und ging voller Verzweiflung aus. Es war Sonnabend früh, und ich ging geradeswegs nach den Commons.
Ich wunderte mich, als ich unsere Bureaus von fern erblickte, die Austräger in einer Gruppe zusammenstehen zu sehen, während ein halbes Dutzend Vorübergehende die verschlossenen Fenster anguckten. Ich beschleunigte meine Schritte, ging an ihnen vorbei, wobei mir ihr Aussehen auffiel, und trat hastig in das Bureau.
Die Schreiber waren da, aber niemand tat etwas. Der alte Tiffey saß, ich glaube zum ersten Male in seinem Leben, auf eines andern Stuhl und hatte seinen Hut nicht aufgehängt.
»Ein schreckliches Unglück, Mr. Copperfield«, sagte er, als ich eintrat.
»Was ist?« rief ich aus. »Was ist vorgefallen?«
»Wissen Sie's nicht?« rief Tiffey und alle übrigen, die mich jetzt umdrängten.
»Nein!« sagte ich und sah einen nach dem andern an.
»Mr. Spenlow«, sagte Tiffey.
»Was ist mit ihm?«
»Er ist tot!«
Ich glaubte, das ganze Bureau wanke, und nicht ich, als mich einer der Schreiber mit dem Arm auffing. Sie setzten mich auf einen Stuhl, banden mir das Halstuch ab und brachten mir ein Glas Wasser. Ich weiß nicht, ob damit einige Zeit verging.
»Tot?« fragte ich.
»Er speiste gestern in der Stadt und fuhr allein in seinem Phaeton hinaus,« sagte Tiffey, »denn er hatte den Kutscher vorausgeschickt, wie er es manchmal zu tun pflegte –«
»Nun?«
»Der Wagen kam ohne ihn an. Die Pferde blieben vor der Stalltür stehen, der Knecht ging mit einer Laterne hinaus. Es war niemand im Wagen.«
»Waren sie durchgegangen?«
»Sie schwitzten nicht,« sagte Tiffey und setzte die Brille auf, »sie schwitzten nicht mehr, als wenn sie in gewöhnlichem Schritt gefahren wären. Die Zügel waren freilich entzweigerissen, denn sie hatten auf dem Boden entlanggeschleift. Es wurde sogleich alles aufgeweckt, und drei von den Leuten gingen auf die Straße hinaus. Sie fanden ihn ein Meile vom Hause.«
»Mehr als eine Meile, Mr. Tiffey«, unterbrach ihn ein anderer.
»So? Ich glaube, Sie haben recht«, sagte Tiffey – »mehr als eine Meile vom Hause – nicht weit von der Kirche. Er lag halb auf dem Fahrwege, halb auf dem Fußpfade, auf dem Gesicht. Ob er vom Schlage getroffen herausfiel, oder ob er ausgestiegen war, weil ihm übel wurde – oder ob er überhaupt schon tot war, als sie ihn fanden, scheint niemand zu wissen. Wenn er geatmet hat, so hat er jedenfalls nie wieder gesprochen. Ein Arzt wurde so schnell wie möglich herbeigeholt, aber es war ganz umsonst.«
Ich kann nicht beschreiben, in welchen Gemütszustand mich diese Nachricht versetzte. Die Erschütterung eines so plötzlich eintretenden Ereignisses, das einen Mann betraf, mit dem ich in jeder Hinsicht uneins war – die erschreckende Leere in dem Zimmer, wo er sich noch vor so kurzem befunden hatte, wo sein Stuhl und sein Tisch auf ihn zu warten schienen, und wo seine Handschrift von gestern wie ein Gespenst war – die Unmöglichkeit, ihn von dem Orte zu trennen, und nicht zu fühlen, daß er, wenn die Tür aufging, hereintreten könnte – die träge Ruhe, die im Bureau herrschte und der unersättliche Genuß, mit dem unsere Leute davon sprachen, und andere Leute den ganzen Tag über kamen und gingen und sich vollfüllten mit dem Gegenstande – alles das wird sich jeder erklären können.
Aber beschreiben kann ich nicht, wie sich in der tiefsten Tiefe meines Herzens eine stille Eifersucht auf den Tod heimisch gemacht hatte. Wie es mir vorkam, als ob mich seine Macht aus Doras Gedanken verdrängen könnte. Wie ich mit einem Ärger, für den ich keine Worte habe, auf ihren Schmerz neidisch war. Wie es mich unruhig machte, wenn ich dachte, daß sie vor andern weinte und von andern getröstet würde. Wie mich ein selbstsüchtiger Wunsch erfüllte, in dieser schwersten aller Zeiten jeden von ihr fern zu halten außer mir, und ihr alles in allem zu sein.
In dieser verworrenen Seelenstimmung, die auch andern nicht ganz fremd sein wird, ging ich abends nach Norwood, und da ich von einem der Dienerschaft erfuhr, daß Miß Mills dort war, so veranlaßte ich meine Tante, einen Brief an sie zu adressieren, den ich schrieb. Ich beklagte aufrichtig den unerwarteten Tod Mr. Spenlows und vergoß Tränen dabei. Ich bat sie, Dora zu sagen, wenn Dora in einem Gemütszustande sei, um es anzuhören, daß er mit mir mit der größten Güte und Rücksicht gesprochen und bei Erwähnung ihres Namens nur Worte der Liebe und keinen einzigen Vorwurf gebraucht hätte. Ich weiß, ich tat dies aus Eigennutz, damit mein Name vor ihre Augen komme, aber ich bemühte mich zu glauben, daß ich damit nur seinem Andenken Gerechtigkeit widerfahren lasse. Vielleicht glaubte ich es auch.
Meine Tante empfing am nächsten Morgen ein paar Zeilen als Antwort auf den Brief; sie waren außen an sie adressiert, inwendig unter besonderem Kuvert an mich gerichtet. Dora war von Schmerz überwältigt, als ihre Freundin sie gefragt hatte, ob sie mich grüßen sollte, hatte sie nur immer wieder unter vielen Tränen gerufen: »Ach der liebe Papa! Ach der arme Papa!« Aber sie hatte doch nicht Nein gesagt, und daran klammerte ich mich an!
Mr. Jorkins, der seit dem Vorfalle in Norwood gewesen war, kam ein paar Tage später auf das Bureau. Er und Tiffey schlossen sich ein paar Augenblicke lang ein, und dann sah Tiffey zur Tür herein und winkte mir, einzutreten.
»O!« sagte Mr. Jorkins, »Mr. Tiffey und ich, Mr. Copperfield, stehen im Begriff, das Pult, die Schränke und ähnliche Repositorien des Verstorbenen zu untersuchen, um seine Privatpapiere zu versiegeln und das Testament zu suchen. Wir haben bisher nirgends eine Spur davon gefunden. Sie sind wohl so gut, uns ein wenig zu helfen?«
Es hatte mir sehr viele Sorge gemacht und mich in qualvoller Spannung erhalten, zu erfahren, wie sich Doras Verhältnisse ändern würden – z. B. unter wessen Vormundschaft sie kommen würde usw. – und nun konnte ich hier etwas erfahren! Wir fingen unser Nachsuchen sogleich an; Mr. Jorkins schloß die Pulte und Kästen auf, und wir nahmen alle Papiere heraus. Die Akten legten wir auf die eine Seite, die Privatpapiere, die nicht sehr zahlreich waren, auf die andere. Wir waren sehr ernst, und wenn wir ein Siegel oder einen Schreibgriffel oder einen Ring oder irgend eine andere Kleinigkeit fanden, die besonders an ihn erinnerte, so sprachen wir sehr leise.
Wir hatten schon mehrere Pakete zugesiegelt, als Mr. Jorkins zu uns mit denselben Worten, die sein verstorbener Kompagnon auf ihn angewendet hatte, sagte:
»Mr. Spenlow war sehr schwer von dem gewohnten Wege abzubringen. Sie wissen, wie er war! Ich bin geneigt, zu glauben, er hat kein Testament gemacht.«
»O nein, ich weiß, daß er eins gemacht hat«, sagte ich.
Sie hielten beide inne und sahen mich an.
»Gerade an dem Tage, wo ich ihn zuletzt sprach, sagte er mir, daß er ein Testament gemacht habe, und daß seine Angelegenheiten längst geordnet seien.«
Mr. Jorkins und der alte Tiffey schüttelten beide zugleich den Kopf.
»Das sieht schlimm aus«, sagte Tiffey.
»Sehr schlimm«, sagte Mr. Jorkins.
»Sie glauben doch nicht etwa« – fing ich an –
»Mein guter Mr. Copperfield!« sagte Tiffey, legte die Hand auf meinen Arm und kniff beide Augen zu, während er den Kopf schüttelte, »wenn Sie in den Commons so lange gewesen wären, wie ich, so würden Sie wissen, daß es keinen Gegenstand gibt, hinsichtlich dessen die Menschen so inkonsequent und so wenig verläßlich sind, als im Testamentmachen.«
»Aber mein Gott, ganz dieselbe Bemerkung machte er doch mir gegenüber!« gab ich standhaft zur Antwort.
»Für mich ist dennoch die Sache so gut wie entschieden«, bemerkte Tiffey. »Meine Meinung ist – kein Testament vorhanden!«
Das erschien mir wunderbar, aber es zeigte sich zuletzt, daß wirklich kein Testament vorhanden war. Er hatte niemals daran gedacht, eines aufzusetzen, soweit das aus seinen Papieren hervorgehen konnte, denn es fand sich keine Notiz, kein Entwurf, der auf ein Testament hindeutete. Was mich nicht weniger in Verwunderung setzte, war, daß seine Angelegenheiten in der größten Unordnung waren. Wie ich hörte, hielt es außerordentlich schwer, herauszubekommen, was er schuldete oder was er bezahlt hatte, oder wie groß bei seinem Tode sein Vermögen war. Wie es schien, hatte er es selbst seit Jahren nicht gewußt.
Allmählich zeigte sich's auch, daß er in seinem Wetteifer, es seinen Kollegen in den Commons bei der Aufrechterhaltung des äußeren Scheines gleichzutun, mehr als das Einkommen seines Amtes, das nicht sehr groß war, verbraucht und sein Privatvermögen, das wohl nie sehr groß gewesen war, sehr stark vermindert hatte. Norwood wurde verkauft, und Tiffey sagte mir, ohne zu wissen, wie sehr mich seine Mitteilung interessierte, daß er nach Bezahlung aller Schulden und nach Abzug der schlechten und zweifelhaften Außenstände nicht tausend Pfund für den Rest geben würde.
Das erfuhr ich nach Ablauf von ungefähr sechs Wochen. Ich hatte die ganze Zeit über Höllenqualen erlitten und glaubte wirklich, ich müßte Hand an mich legen, als Miß Mills mir immer noch mitteilte, daß meine arme kleine Dora bei Nennung meines Namens nichts sagte als: »Ach, der arme Papa! ach, der gute Papa!«
Ich erfuhr auch, daß sie keine andern Verwandten hatte als zwei Tanten, unverheiratete Schwestern Mr. Spenlows, die in Putney wohnten und seit vielen Jahren nur selten mit ihrem Bruder verkehrt hatten. Sie hatten sich nicht gezankt, meinte Miß Mills, aber da man sie bei Doras Taufe nur zum Tee eingeladen hatte, während sie ein Recht auf eine Einladung zum Mittagessen zu haben glaubten, so hatten sie sich schriftlich dahin ausgesprochen, »daß es besser für das Wohl aller Beteiligten sei, wenn sie wegblieben.« Seitdem waren sie ihre Straße gegangen, und ihr Bruder die seine.
Jetzt traten diese beiden Damen aus ihrer Zurückgezogenheit hervor und schlugen Dora vor, nach Putney zu ziehen. Dora warf sich in ihre Arme und rief weinend aus: »O ja, gute Tanten, bitte, nehmt mich mit, aber nehmt auch Julia Mills und Jip mit nach Putney.«
So verließen sie denn Norwood kurz nach dem Begräbnis.
Wie ich Zeit fand, mich in der Gegend von Putney herumzutreiben, weiß ich wahrhaftig nicht; aber ich wußte es durch ein oder das andere Mittel zu bewerkstelligen, daß ich sehr häufig dort war. Um ihre Freundschaftspflichten besser zu erfüllen, hielt Miß Mills ein Tagebuch; und sie suchte mich manchmal in der Heide auf und las mir vor, oder lieh es mir, wenn sie dazu keine Zeit hatte.
Wie einen Schatz behütete ich diese Aufzeichnungen, von denen ich hier ein Beispiel folgen lasse:
Montag. Meine süße D. noch sehr niedergedrückt. – Kopfweh. – Ich machte auf J.s prächtiges, glattes Fell aufmerksam. – D. liebkoste J. – Dadurch erweckte Ideenverbindungen öffneten Schleusen des Kummers. – Schmerzensausbruch gewaltsam. – (Sind Tränen Tautropfen des Herzens? J. M.) –
Dienstag. D. schwach und nervös. – Wunderschön in Blässe. – (Bemerken wir das nicht ebenso am Monde? J. M.). – D., J. M. und J. fuhren aus, um Luft zu schöpfen. – J. sah aus dem Fenster, bellte heftig Straßenkehrer an, veranlaßte, daß flüchtiges Lächeln D.s Gesichtszüge überflog. – (Aus so leichten Gliedern besteht Kette des Lebens. J. M). –
Mittwoch. D. verhältnismäßig heiter. – Sang ihr vor; als der Stimmung angemessen scheinendes Lied wählte ich: Abendglocken. – Wirkung nicht beruhigend, sondern das Gegenteil. – D. unaussprechlich gerührt. Fand sie später schluchzend in ihrem Zimmer. – Zitierte Verse auf sie und die »junge Gazelle«. – Erfolglos. – Verwies auch auf »Geduld auf Denkmal«. – (Frage: Warum eigentlich auf Denkmal? J. M.) –
Donnerstag. D. erholt sich sichtlich. – Nacht besser. – Leichter Ton von Rosenrot erscheint wieder aus Wangen. – Entschlossen, den Namen von D. C. zu erwähnen. – Führe selben wieder vor, vorsichtig, bei Ausfahrt. – D. sofort überwältigt. – »Ach, liebe, liebe Julia! Ach, ich bin ein schlechtes, pflichtvergessenes Kind gewesen!« – Beruhigte und liebkoste. – Zeichnete ideales Bild von D. C. am Rande von Grab. – D. wieder überwältigt. – »Ach, was soll ich tun, was soll ich tun? – Ach, bringe mich irgendwohin!« – Sehr erschrocken. – D. ohnmächtig und Glas Wasser vom Wirtshaus. – (Poetische Verwandtschaft: Buntscheckiges Zeichen am Türpfosten; buntscheckiges Menschenleben. Ach, leider! J. M.)
Freitag. Ereignisvoller Tag. – Mann mit blauem Beutel erscheint in Küche, »ob Damenstiefel zu besohlen seien« – Köchin antwortet: »Nichts gebraucht!« – Mann bleibt dabei. – Köchin zieht sich zurück, um zu fragen. – Mann bleibt allein mit Jip. – Als Köchin zurückkommt, bleibt Mann immer noch dabei, aber geht zuletzt. – J. fehlt. – D. in Verzweiflung. – Polizei benachrichtigt. – Mann zu erkennen an breiter Nase und Beinen wie Brückengeländer. – In jeder Richtung gesucht. – Kein J. – D. weint bitterlich. – Untröstlich. – Erneuter Hinweis auf »junge Gazelle« – Passend, aber nutzlos. – Gegen Abend erscheint fremder Junge. – Wird in Wohnstube gebracht.– Breite Nase, aber keine Brückengeländer. – Sagt, er will ein Pfund haben und weiß, wo Hund ist. – Verweigert nähere Auskunft, obwohl sehr gedrängt. – Nimmt, als D. Pfund zum Vorschein gebracht, Köchin nach kleinem Hause mit, wo J. allein an Tischbein angebunden. – Freude von D., die um J. herumtanzt, während er sein Abendessen verzehrt. – Kühn gemacht durch das glückliche Geschehnis, erwähnte D. C. – D. weint von neuem, ruft erbarmungswürdig, – »O bitte, nein, nein, nein! Es wäre so schlecht, an etwas anderes zu denken als an den armen Papa!« – umarmt J. und schluchzt sich in Schlaf. – (Muß sich nicht D. C. den mächtigen Schwingen der Zeit überlassen? J. M.)
Miß Mills und ihr Tagebuch waren zu jener Zeit mein einziger Trost. Sie, die Dora vor ein paar Augenblicken gesehen, zu sehen, Doras Anfangsbuchstaben durch ihre sympathischen Blätter zu verfolgen – mich von ihr immer unglücklicher machen zu lassen – das war mein einziger Trost. Mir war zumute, als hätte ich in einem Kartenhause gelebt, das eingestürzt war, und nur Miß Mills und mich unter seinen Trümmern übrig gelassen hatte; als ob ein böser Zauberer einen Zauberkreis um die unschuldsvolle Göttin meines Herzens gezogen habe, in den einzudringen mich in der Tat nichts befähigen konnte, als jene mächtigen Schwingen, die schon so viele Menschen über so Vieles hinweggetragen haben.