Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wir hatten über die im letzten Kapitel erzählten häuslichen Vorfälle an diesem Abend ein sehr ernstes Gespräch in der Buckinghamstraße. Meine Tante fühlte sich auf das lebhafteste davon mitgenommen, und ging hernach mehr als zwei Stunden lang mit verschränkten Armen im Zimmer auf und ab. Das tat sie stets, wenn ihre Stimmung besonders aus dem Gleichgewicht gekommen war; und der Umfang ihrer Aufregung war immer nach der Dauer ihres Gehens zu bemessen. Bei dieser Gelegenheit war sie so beunruhigt, daß sie die Schlafzimmertür öffnen und sich eine Wandelbahn durch sämtliche Zimmer von einer Wand bis zur andern machen mußte; und während Mr. Dick und ich ruhig beim Feuer saßen, ging sie auf dieser abgesteckten Bahn mit unverändertem Schritt und mit der Regelmäßigkeit eines Uhrpendels auf und ab, kam herein und ging hinaus.
Als Mr. Dick schlafen gegangen war und meine Tante und mich allein gelassen hatte, setzte ich mich hin, um den Brief an die beiden alten Damen zu schreiben. Sie war jetzt müde geworden und saß am Kamin, den Rock wie gewöhnlich aufgesteckt. Aber anstatt wie sonst dazusitzen, das Glas auf dem Knie haltend, ließ sie es unbeachtet auf dem Kaminsims stehen und sah mich gedankenvoll an, den linken Ellbogen auf den rechten Arm gestützt und das Kinn in der linken Hand. So oft ich sie ansah, begegnete ich ihrem Auge. »Ich bin in der allerbesten Stimmung, lieber Sohn,« sagte sie dann mit einem Nicken, »aber ich bin unruhig und bekümmert.«
In meiner Geschäftigkeit bemerkte ich erst, als sie schon zu Bett war, daß sie ihren Schlaftrunk, wie sie es gewöhnlich nannte, unberührt auf dem Kaminsims hatte stehen lassen. Als ich an ihre Tür klopfte, um es ihr mitzuteilen, sagte sie: »Nein Trot, ich habe heute keinen Appetit darauf«, schüttelte den Kopf und zog sich wieder zurück.
Am andern Morgen las sie meinen Brief an die beiden alten Damen und billigte ihn. Ich gab ihn auf die Post und hatte jetzt weiter nichts zu tun, als so geduldig wie möglich auf eine Antwort zu warten. Ich wartete immer noch und wartete schon fast eine Woche lang, als ich eines Abends in einem Schneewetter den Doktor verließ und nach Hause ging.
Es war ein bitterkalter Tag gewesen, und ein schneidender Nordostwind hatte eine Zeitlang geweht. Mit dem Abend hatte sich der Wind gelegt, es schneite jetzt in schweren, großen, dichten Flocken, und die Straßen waren schon mit einer dichten Decke überzogen. Das Geknarr der Räder und der Tritt der Menschen waren so unhörbar, als ob die Straßen in derselben Höhe mit Federn bestreut gewesen wären.
Mein kürzester Nachhauseweg, den ich natürlich bei solchem Wetter wählte, ging durch Saint-Martins-Lane. Die Kirche, die der Straße ihren Namen gibt, stand damals weniger frei als jetzt, und das Gäßchen wand sich hinunter zum Strand. Als ich an den Stufen des Eingangs vorüberging, begegnete ich an der Ecke einer Frauensperson. Sie sah mich an, ging über die schmale Straße und verschwand. Ich kannte das Gesicht. Ich hatte es irgendwo gesehen. Aber ich konnte mich nicht erinnern, wo. Es waren an das Gesicht Erinnerungen geknüpft, die sofort wach wurden, aber ich dachte an ganz andere Sachen, als es mir plötzlich aufstieß, und es verwirrte mich.
Auf den Stufen der Kirche kauerte ein Mann, der ein Bündel auf den Schnee gelegt hatte, um es besser auf die Schulter zu nehmen; ich sah gleichzeitig ihn und das Gesicht. Ich glaube nicht, daß ich vor Überraschung still stand, aber wie ich weiter ging, stand er auf, drehte sich um und kam auf mich zu. Ich stand Mr. Peggotty gegenüber.
Jetzt besann ich mich auch auf das Gesicht der Frau von vorhin. Es war Martha, der Emilie an jenem Abend in der Küche das Geld gegeben hatte. Martha Endell – neben der er seine teure Nichte, wie mir Ham gesagt hatte, für alle im Meer versunkenen Schätze nicht hätte sehen mögen.
Wir schüttelten uns herzlich die Hände; anfangs konnte keiner von uns ein Wort hervorbringen.
»Master Davy,« sagte er und drückte mir fest die Hand, »es tut meinem Herzen wohl, Sie zu sehen. Willkommen! Willkommen!«
»Willkommen, mein guter alter Freund!« entgegnete ich.
»Ich wollte Sie heute abend aufsuchen,« sagte er, »aber da ich weiß, daß Sie mit Ihrer Tante zusammenwohnen – denn ich bin unten gewesen in Yarmouth – fürchtete ich, es sei zu spät. Ich wäre morgen früh ganz zeitig gekommen, ehe ich wieder abreiste.«
»Wieder?« sagte ich.
»Ja, Sir,« gab er zur Antwort und schüttelte geduldig den Kopf, »ich will morgen wieder fort.«
»Wo wollen Sie jetzt hin?« fragte ich.
»Ich wollte mir ein Nachtquartier suchen«, erwiderte er und schüttelte den Schnee aus dem langen Haar.
Zu jener Zeit führte ein Nebeneingang in den Hof des Goldenen Kreuzes, des Gasthofs, der mir in Verbindung mit seinem Unglück so denkwürdig war, in dessen unmittelbarer Nähe wir uns befanden. Ich wies auf den Torweg, schob meinen Arm unter seinen, und wir gingen hinüber. Zwei oder drei Gastzimmer gingen auf den Hof hinaus, und da das eine leer war und ein gutes Feuer darin brannte, nahm ich ihn mit hinein.
Als ich ihn bei Licht sah, bemerkte ich, daß nicht nur sein Haar lang und struppig, sondern auch sein Gesicht von der Sonne braun gebrannt war. Das Haar war auch grauer geworden, die Furchen auf dem Gesicht und der Stirn waren tiefer, und man sah ihm an, daß er allem Wind und Wetter Trotz geboten hatte; aber er sah sehr kräftig aus und wie ein Mann, den ein fester Zweck aufrecht erhält und den nichts ermüden kann.
Er schüttelte den Schnee von Hut und Kleidern und wischte ihn von seinem Gesicht ab, während ich im stillen diese Beobachtungen machte. Als er sich mir gegenüber an einen Tisch setzte, der Tür, durch die wir hereingekommen waren, den Rücken zugekehrt, streckte er seine rauhe Hand noch einmal aus, um die meinige warm zu drücken.
»Ich will Ihnen erzählen, wo ich überall gewesen bin, Master Davy,« sagte er, »und was ich erfahren habe. Ich bin weit gewesen und habe wenig erfahren, aber ich will es Ihnen sagen.«
Ich schellte, ihm etwas Warmes zum Trinken zu bestellen, aber er wollte nichts anderes als Ale haben, und während es geholt und am Feuer gewärmt wurde, saß ich in Gedanken da. Es lag ein schöner tiefer Ernst auf seinem Gesicht, den ich nicht zu stören wagte.
»Als sie noch ein Kind war,« begann er, bald nachdem wir uns allein fanden, »da redete sie mir oft von dem Meere vor und von den Ufern, wo das Meer dunkelblau wird und glänzend und funkelnd in der Sonne daliegt. Manchmal dachte ich, sie denke so viel daran, weil ihr Vater im Meere ertrunken war. Ich weiß es nicht, ob sie vielleicht glaubte oder hoffte, er wäre hingeschwemmt worden nach jenen Ländern, wo die Blumen immer blühen und der Himmel so schön ist.«
»Wohl möglich hat sie eine solche kindliche Vorstellung gehabt«, erwiderte ich.
»Als sie – mir verloren ging,« sagte Mr. Peggotty, »da wußte ich gleich, daß er sie nach jenen Gegenden bringen würde. Ich dachte mir, er hätte ihr gewiß oft Wunderdinge davon erzählt, und wie sie dort auch eine vornehme Dame sein sollte, und wie er sich durch solche Geschichten zuerst Gehör bei ihr verschaffte. Als ich seine Mutter sah, da merkte ich gleich, daß ich recht hatte. Ich ging über den Kanal nach Frankreich und landete dort, als ob ich vom Himmel gefallen wäre.«
Ich sah sich die Tür bewegen und Schnee hereinwehen. Ich sah sie sich noch ein wenig mehr öffnen und eine Hand vorsichtig dazwischen greifen, um sie offen zu halten.
»Ich suchte einen Engländer auf, der ein Amt hatte,« fuhr Mr. Peggotty fort, »und sagte ihm, ich wollte meine Nichte aufsuchen. Er verschaffte mir die Papiere, die ich brauchte, um vorwärts zu kommen – ich weiß nicht recht, wie sie heißen – und er wollte mir auch Geld geben, aber Gott sei Dank, ich brauchte es nicht. Aber ich bin ihm dankbar für alles, was er getan hat! ›Ich habe schon nach verschiedenen Orten, durch die Sie kommen, geschrieben‹, sagte er zu mir, ›und ich werde mit vielen sprechen, die diesen Weg gehen, und viele werden Sie kennen weit weg von hier, wenn Sie allein reisen.‹ Ich sprach ihm, so gut ich konnte, meine Dankbarkeit aus und reiste durch Frankreich weiter.«
»Allein und zu Fuß?« fragte ich.
»Meistens zu Fuß«, gab er zur Antwort, »manchmal im Marktwagen mit den Bauern, manchmal in leeren Retourwagen. Manche Meile des Tages zu Fuß und oft mit wandernden Handwerksburschen oder armen Soldaten, die zu ihren Verwandten nach Hause reisten. Ich konnte freilich nicht mit ihnen sprechen, und sie nicht mit mir, aber wir waren uns doch Gesellschaft auf der staubigen langen Straße.«
Das konnte ich mir schon nach seinem herzlichen Ton denken.
»Wenn ich in eine Stadt kam,« fuhr er fort, »suchte ich den Gasthof auf und wartete auf dem Hofe, bis sich jemand fand, der Englisch verstand, was meistens der Fall war. Dann sagte ich ihm, daß ich meine Nichte suche, und sie sagten mir, was für Herrschaften im Hause wären, und wenn Frauen dabei waren, die Emilie ähnlich sahen, so wartete ich ab, bis sie herauskamen. War es nicht Emilie, so ging ich weiter. Allmählich, wenn ich in ein neues Dorf zu den armen Leuten kam, kannten sie mich schon. Sie räumten mir einen Platz vor der Tür ihrer Hütte ein und gaben mir das beste, was sie hatten, zu essen und zu trinken, und eine Schlafstelle; und manche Frau, Master Davy, die eine Tochter von Emilies Alter hatte, hat draußen vor dem Dorfe an unsres Erlösers Kreuz auf mich gewartet, um mir solche Freundschaft zu erweisen. Manche hatten Töchter, die gestorben waren. Und nur Gott weiß, wie gut diese Mütter gegen mich waren!«
Martha stand an der Tür. Ich sah ihr abgehärmtes lauschendes Gesicht deutlich. Ich fürchtete nur, er werde sich, umdrehen und sie sehen.
»Oft setzten sie mir ihre Kinder – vornehmlich die Mädchen –« sagte Mr. Peggotty, »auf die Knie, und manchmal hätten Sie mich abends an ihren Türen sitzen sehen können, fast als ob es meine Goldkindes Kinder gewesen wären. O mein Goldkind!«
Überwältigt von plötzlichem Schmerz, schluchzte er laut. Ich legte meine zitternde Hand auf die Hand, womit er sein Gesicht bedeckte. »Ich danke Ihnen, Sir,« sagte er, »beachten Sie es weiter nicht.«
Bald entfernte er seine Hand wieder, steckte sie vorn in den Rock und fuhr fort in seiner Erzählung.
»Oft begleiteten sie mich des Morgens wohl eine halbe Stunde auf dem Wege, und als wir schieden und ich sagte: Ich danke Euch! Gott segne Euch! schienen sie es immer zu verstehen und antworteten freundlich. –
Endlich erreichte ich das Meer. –
Für einen Seemann, wie ich bin, war es nicht schwer, sich die Überfahrt nach Italien zu verdienen, das können Sie sich leicht denken. Als ich dorthin kam, wanderte ich weiter, wie früher. Das Volk war ebensogut gegen mich, und ich wäre von Stadt zu Stadt gewandert, vielleicht durch das ganze Land, wenn ich nicht Nachricht erhalten hätte, daß man sie in den Schweizerbergen gesehen hatte. Jemand, der seinen Bedienten kannte, hatte sie dort alle drei gesehen, und sagte mir, wie sie reisten und wo sie waren. Tag und Nacht wanderte ich den Bergen entgegen, Master Davy, Tag und Nacht. Aber je weiter ich kam, desto weiter schienen die Berge vor mir zurückzuweichen. Aber endlich erreichte ich sie doch und stieg über sie. Als ich in die Nähe des Ortes kam, wo sie sein sollten, da fing ich an bei mir zu denken: ›Was soll ich tun, wenn ich sie vor mir sehe?‹«
Das lauschende Gesicht, unempfindlich gegen die rauhe Nacht, war immer noch an der Tür, und die Hände flehten mich an, sie nicht fortzujagen.
»Ich habe nie an ihr gezweifelt«, sagte Mr. Peggotty. »Nein! Nicht im geringsten! Sie soll nur mein Gesicht sehen – meine Stimme hören – mich nur ansehen, damit sie sich wieder erinnert an die Häuslichkeit, die sie verlassen hat, und an das Kind, das sie gewesen ist – und wenn sie eine Königin geworden wäre, würde sie niedergesunken sein vor meinen Füßen! Ich wußte es wohl! Wie oft in meinen Träumen hatte ich sie rufen hören: ›Onkel!‹ und hatte sie wie tot vor mir niederfallen sehen. Wie oft in meinen Träumen hatte ich sie aufgehoben und zu ihr gesagt: ›Liebe Emily, ich komme, um dir Verzeihung zu bringen und dich mit nach Hause zu nehmen!‹«
Er hielt inne, schüttelte den Kopf und fuhr mit einem Seufzer fort zu erzählen:
»Er war mir nichts, Emily war mir alles. Ich kaufte einen Bauernmädchenanzug für sie, wie ihn dort das Landvolk trägt, und ich wußte, wenn ich sie einmal fand, würde sie neben mir hergehen auf diesen rauhen Wegen, wohin ich immer gehen würde, und mich nie, nie mehr verlassen. Ihr dieses Kleid anzuziehen und das, was sie trug, hinzuwerfen – sie wieder auf meinen Arm zu nehmen und der Heimat entgegen zu wandern – manchmal auf dem Wege auszuruhen, und ihre wunden Füße und ihr noch wunderes Herz zu heilen – an weiter dachte ich nichts. Ich glaube kaum, daß ich ihn angesehen hätte! Aber, Master Davy, es sollte nicht sein – noch nicht! Es war zu spät, und sie waren schon fort. Wohin, konnte ich nicht erfahren. Einige sagten hierhin, andere sagten dorthin, aber ich fand Emily nirgends, und ich reiste nach Hause.«
»Wie lange ist das her?« fragte ich.
»Vielleicht vier Tage«, sagte Mr. Peggotty, »Ich bekam das alte Boot nach Dunkelwerden zu Gesicht, und das Licht schimmerte im Fenster. Als ich hereinkam und durch die Scheiben blickte, sah ich die alte treue Mrs. Gummidge allein am Fenster sitzen, wie wir es verabredet hatten.
Ich rief: ›Erschrick nicht! Es ist Daniel!‹ und ging hinein. Ich hätte nie gedacht, daß mir das alte Boot so unheimlich hätte vorkommen können.«
Er zog jetzt sehr vorsichtig aus seiner Brusttasche ein kleines Paket von zwei oder drei Briefen, die er auf den Tisch legte,
»Der erste hier«, sagte er und nahm einen, »kam, ehe ich eine Woche fort war. Eine Fünfzigpfundnote in einen Bogen Papier gewickelt, an mich adressiert und nachts unter die Tür gesteckt. Sie versuchte ihre Hand zu verstellen, aber vor mir kann sie sie nicht verstellen!«
Er kniffte den Brief sehr sorgfältig nach den Falten und genau in seiner frühern Form wieder zusammen und legte ihn auf die eine Seite.
»Dieser kam an Mrs. Gummidge«, sagte er und öffnete den zweiten, »vor zwei oder drei Monaten.« Nachdem er ihn ein paar Augenblicke angesehen, reichte er ihn mir hin und setzte mit leiser Stimme hinzu:
»Seien Sie so gut und lesen Sie ihn, Sir.«
Ich las folgendes:
»O, was wirst Du fühlen, wenn Du diese Handschrift siehst und weißt, daß sie von meiner bösen Hand kommt! Aber versuch's, versuch's, – nicht um meinetwillen, sondern um des guten Herzens meines Onkels willen, nur auf eine kleine, kleine Zeit mit weicherm Herzen meiner zu gedenken! Ich bitte Dich, versuch's, barmherziger zu sein gegen ein unglückliches Mädchen und auf ein Zettelchen zu schreiben, ob er sich wohl befindet und was er von mir sagte, bevor Ihr aufhörtet, meinen Namen unter Euch zu nennen – und ob er abends, wenn meine alte Zeit des Nachhausekommens naht, aussieht, als ob er an eine dächte, die er früher so zärtlich liebte. Ach, mein Herz bricht, wenn ich daran denke! Ich falle vor Euch nieder auf die Knie und bitte und flehe Euch an, nicht so streng gegen mich zu sein, wie ich es verdiene, sondern gut und mild, und mir etwas von ihm zu schreiben und es mir zu schicken. Nennt mich nicht Eure Kleine, nennt mich nicht bei dem Namen, den ich geschändet habe, aber nehmt Rücksicht auf meine Seelenangst und habt wenigstens soweit Mitleid mit mir, daß Ihr mir ein Wort von meinem Onkel schreibt, den meine Augen nie, nie wieder sehen sollen.
Wenn Dein Herz hart gegen mich ist – mit Recht hart, das weiß ich wohl – o so bitte ich, frage den, dem ich am wehesten getan habe – den, dessen Gattin ich werden sollte, ehe Du mir meine demütige Bitte ganz abschlägst! Wenn er so barmherzig sein sollte, zu sagen, daß Du etwas an mich schreiben sollst, – ich glaube, er tut es, ja ich glaube, er tut es, wenn Du ihn nur darum fragst, denn sein Herz war immer voll Güte und Verzeihung – dann saget ihm – aber nicht eher –, daß es mir vorkommt, wenn ich den Wind des Nachts wehen höre, als käme er zürnend herangebraust von ihm und dem Onkel und stiege zu Gott empor, um mich anzuklagen. Sag ihm, daß, wenn ich morgen stürbe – und ach, wenn ich vor Gott treten könnte, wie gern würde ich sterben! – so würde ich ihn und den Onkel mit meinen letzten Worten segnen und mit dem letzten Atemzuge für seine glückliche Häuslichkeit beten!«
Auch in diesem Briefe lag Geld. Fünf Pfund. Es war ebensowenig berührt wie der andere Schein, und er packte ihn ebenso wieder ein. Ausführliche Instruktionen über die der Antwort zu gebende Adresse waren beigefügt, und wenn das auch nicht mit Sicherheit auf ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort schließen ließ, so war es doch nicht unwahrscheinlich, daß er an dem Orte geschrieben war, wo sie gewesen sein sollte.
»Was wurde ihr geantwortet?« fragte ich Mr. Peggotty.
»Da Mrs. Gummidge nicht gut Briefe schreiben kann, so verfaßte ihn Ham, und sie schrieb ihn ab. Sie sagten ihr, ich sei fort, um sie aufzusuchen, und was ich zum Abschied gesprochen hatte.«
»Sie haben da noch einen Brief«, sagte ich.
»Es ist Geld, Sir«, sagte Mr. Peggotty und öffnete ihn ein wenig. »Zehn Pfund, sehen Sie. Darinnen steht ›von einem wahren Freunde‹, wie in dem ersten. Aber der erste wurde unter die Tür gesteckt, und dies kam mit der Post vorgestern. Ich will sie an dem Orte aufsuchen, den der Poststempel angibt.«
Er zeigte mir den Brief. Er war aus einer Stadt am Oberrhein abgestempelt. Er hatte in Yarmouth ein paar auswärtige Kaufleute aufgefunden, die jene Gegend kannten, und sie hatten ihm eine flüchtige Skizze einer Art Karte entworfen, die er recht gut verstand. Er legte sie vor uns auf den Tisch und verfolgte seinen Weg darauf mit dem Finger, das Kinn auf die Hand gestützt.
Ich fragte ihn, wie sich Ham befinde. Er schüttelte mit dem Kopfe.
»Er arbeitet so forsch, wie es einem Menschen nur möglich ist«, erwiderte er. »Sein Name ist in der ganzen Gegend so gut angeschrieben, wie der keines andern Menschen. Jedermann ist bereit, ihm zu helfen, und auch er hilft jedem gern. Klagen hört man ihn nie. Aber meine Schwester meint, – unter uns – daß es ihn tief getroffen hat.«
»Der arme, gute Mensch, ich kann es wohl glauben!«
»Sein Leben hält er für gar nichts mehr, Master Davy«, sagte Mr. Peggotty mit einem feierlichen Flüstern. »Wenn man im schlimmen Wetter jemand für ein gefährliches Unternehmen braucht, so ist er da. Wenn etwas Anstrengendes und Gefährliches zu verrichten ist, so tritt er zuerst hervor, und dennoch ist er so sanft wie ein Kind. Jedes Kind in Yarmouth kennt ihn.«
Er nahm die Briefe nachdenklich zusammen, glättete sie mit der Hand, packte sie wieder ein und steckte sie sorgfältig in die Tasche. Das Gesicht war von der Tür verschwunden. Der Schnee wehte immer noch herein, aber sonst war nichts da.
»Nun, da ich Sie noch heute abend gesehen habe, Master Davy – und es tut mir gut! –« sagte er mit einem Blick auf sein Gepäck, »so werde ich mich morgen früh beizeiten wieder auf den Weg machen. Sie sehen, was ich hier habe«, fuhr er fort und legte die Hand auf die Tasche, wo er die Briefe hatte. »Ich habe nur die eine Sorge, daß mir etwas zustoßen könnte, ehe ich das Geld zurückgeben kann. Wenn ich sterben sollte und es verloren ginge oder gestohlen würde, und der andere wüßte nicht anders, als daß ich es angenommen hätte, so glaube ich nicht, daß ich es in der andern Welt aushalten würde! Ich glaube, ich müßte zurück.«
Er stand auf, und ich folgte seinem Beispiele; wir drückten uns noch einmal herzlich die Hand, ehe wir hinausgingen.
»Ich würde zehntausend Meilen gehen,« sagte er, »bis ich tot niederfiele, um ihm das Geld vor die Füße zu werfen. Wenn ich das getan und meine Emily gefunden habe, so bin ich zufrieden. Wenn ich sie nicht finde, so hört sie vielleicht einmal, daß ihr Onkel nur mit seinem Leben aufhörte, sie zu suchen, und kenne ich sie recht, so wird sie selbst dieser Gedanke zuletzt nach Hause führen!«
Als wir hinaus in die kalte scharfwehende Nacht traten, sah ich die einsame Gestalt in der Ferne vor uns herschweben. Unter irgend einem Vorwand bewog ich ihn, sich umzukehren, und hielt ihn im Gespräch fest, bis sie ganz fort war.
Er sprach von einem Wirtshaus auf der Straße nach Dover, wo er eine saubere, einfache Stube für die Nacht finden würde. Ich ging mit ihm über die Westminster-Brücke und trennte mich am Surrey-Ufer von ihm.
Als er seine einsame Wanderung durch den Schnee wieder aufnahm, schien mir alles umher aus Ehrfurcht vor ihm in Schweigen gehüllt zu sein.
Ich kehrte nach dem Hofe des Gasthauses zurück, und unter dem Eindruck meiner Erinnerung an das Gesicht sah ich mich mit Grauen danach um. Es war nicht mehr da. Der Schnee hatte unsere frischen Fußspuren überdeckt, mein neuer Pfad war der einzig sichtbare; und selbst der begann zu verschwinden – so stark schneite es – während ich über die Schulter zurückblickte.