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»Wohin führt ihr mich?« fragte ich die Gendarmen, die ohne die Begleitung eines Offiziers mit mir fuhren.
»Ins Untersuchungsgefängnis. Von dort aus wird man Sie in Freiheit setzen, denn geradeaus von der Festung geschieht dies niemals, man kommt immer erst in ein anderes Gefängnis,« antworteten sie.
»Ja, meine Hoffnung bestätigt sich,« dachte ich, »man wird mich befreien! Wie schön ist das! Wie angenehm, in der Zeit der Sitzung der Duma! Viel Zeit habe ich verloren, vieles versäumt; ich werde Mühe haben, um mich mit allem, was in diesem halben Jahre vorgegangen ist, bekannt zu machen.« Von den Gendarmen erfuhr ich auch, daß man in einem uns folgenden Wagen Parvus führte. Das vermehrte noch meine Freude. Es war ein herrlicher Junitag, das Wetter war wunderbar. Ich fühlte mich sehr wohl und blickte mit Vergnügen in die Gesichter aller Menschen, die uns begegneten.
In der Kanzlei des Untersuchungsgefängnisses empfing mich der junge und anscheinend gutmütige Inspektorsgehilfe, und auf meine Frage: »Was für ein Regime herrscht bei Ihnen?« antwortete er:
»Steigen Sie auf einen Stuhl und blicken Sie durchs Fenster!«
Als ich seiner Aufforderung Folge leistete, sah ich ungefähr hundert Menschen, die im Hofe umhergingen. Unter ihnen waren junge Leute in Blusen, Jacketts, Militär- und Studentenuniformen, die sich lebhaft unterhielten, scherzten und lachten. Auf dem Hofe herrschte ein unbeschreiblicher Lärm.
»Nun, was?« fragte mich der Gehilfe lachend.
»Ja, bei Ihnen herrscht kein so strenges Regime wie in der Peter-Pauls-Festung,« antwortete ich.
Kaum war ich in meiner Zelle, als sich die Tür öffnete und ein Herr von ungefähr vierzig Jahren hereintrat.
»Ich bin der Älteste dieses Korridors,« sagte er.
»Wie ist Ihr Name?« fragte ich.
»Veit.«
»Ah! Dr. Veit! Freut mich außerordentlich, ich habe schon lange von Ihnen gehört.«
»Und wer sind Sie?« fragte er.
Ich nannte meinen Namen, und wir drückten uns kräftig die Hände.
Dr. Veit war Mitglied der sozial-revolutionären Partei und ein erprobter und erfahrener Revolutionär, der schon lange an der Bewegung teilnahm. Er war bereits zweimal in Sibirien und erst kurz vor seiner letzten Verhaftung nach Petersburg gekommen, wo man ihn in einer der Sitzungen des Arbeiterdeputiertenrats am 3./16. Dezember 1905 festgenommen hatte.
Als er weggegangen war, kamen nacheinander alte und neue Genossen und manchmal auch zwei zusammen zu mir herein. Ich sah dort Wedenski, Knuniansk, Nasar-Chrustalew und Trotzky, die ich noch von früher her kannte. Sie wurden in Sachen des Arbeiterdeputiertenrats zur Verantwortung gezogen und hatten damals schon die Anklageakte erhalten.
Der Austausch verschiedener Nachrichten und Eindrücke in diesen und den nächsten Tagen war natürlich äußerst lebhaft. Von allen Seiten kamen Nachrichten, von denen ich nicht die geringste Vorstellung hatte. Die Flut der Neuigkeiten wirkte auf mich geradezu betäubend. Dadurch, daß ich lange Zeit von der Außenwelt vollständig abgeschnitten war, konnte ich vieles gar nicht verstehen und hatte das Gefühl, als ob ich mich in einer großen, geräuschvollen ausländischen Stadt, deren Sprache ich nicht verstand, befände.
Um mich in diesem Chaos der Eindrücke und Tatsachen zurechtzufinden, mußte ich mich unbedingt auf einige Zeit zurückziehen, um die Zeitungen und Zeitschriften – ich hatte seit Monaten keine mehr gesehen – zu lesen. Ein Genosse schleppte mir einen ganzen Haufen davon in meine Zelle. Doch auch hier war von Dingen die Rede, wovon ich keine Ahnung hatte. Ich mußte mich deshalb oft um Erklärung an die Genossen wenden, die sich darüber sehr wunderten.
»Sagen Sie, bitte, wer ist die Spiridonowa, von welcher die Zeitungen sprechen?«
»Wie? Sie wissen nichts von Maria Spiridonowa?« fragte der Genosse erstaunt und vergaß dabei, daß es in der Peter-Pauls-Festung weder Zeitungen noch sonst eine Nachrichtenquelle gab; dann erzählten sie mir von dem schrecklichen Schicksal dieser merkwürdigen Märtyrerin.
Wie in einem dunklen Walde irrte ich beim Lesen der stenographischen Berichte der Reichsduma, deren Sitzungen schon sechs Wochen gedauert hatten. Mit Ausnahme einiger mir schon längst bekannter Namen war mir der größte Teil der Abgeordneten, die schon zu großer Berühmtheit gelangt waren, fremd. Ich wußte auch nichts von dem, was den Debatten vorausgegangen war, von den Konflikten mit der Regierung und anderem. Aber nach und nach fand ich mich in dem Material zurecht und folgte mit großem Interesse den Berichten über die Sitzungen.
Durch eben solche Unkenntnis zeichnete ich mich infolge meiner Haft in Parteifragen aus. Ich wußte zum Beispiel nichts von dem im Ausland stattgefundenen sogenannten »Einigungskongreß« unserer sozialdemokratischen Partei, nach welchem die Meinungsverschiedenheiten nur noch schärfer zum Ausdruck kamen. Die gegenseitige schroffe Polemik zwischen beiden Fraktionen, die mich schon früher so sehr betrübt hatte, schien mir jetzt während der Tagung der Reichsduma für unsere allgemeine Sache noch verurteilenswerter und schädlicher. Die Nachrichten über diesen mörderischen Bruderkrieg waren der einzige dunkle Fleck auf dem Grunde der vielen angenehmen Eindrücke, die mich in den ersten Tagen ergriffen.
Gerade zu dieser Zeit erwarteten viele, daß über kurz oder lang ein verantwortliches Ministerium aus den Mitgliedern der konstitutionell-demokratischen Partei ernannt werden würde. Die Zeitungen brachten die Nachricht von einer angeblich stattgefundenen Fahrt des Reichsdumapräsidenten Professor Muromzew nach Zarskoje-Sselo, und eine Zeitlang schien es sehr wahrscheinlich, daß die Regierung den dringenden Forderungen des Landes entgegenkommen werde.
Die allgemeine politische Lage hatte auf unser Gefängnisregime den günstigsten Einfluß. Die Möglichkeit großer Veränderungen in den Reihen der Regierung und der Administration veranlaßte verschiedene Beamte, die zu uns Beziehungen hatten und das Wehen einer anderen Luft fühlten, uns Erleichterungen und Privilegien zu gewähren; so sah die Gefängnisadministration durch die Finger, wenn Zeitungen eingebracht wurden und viele Zellen den ganzen Tag geöffnet waren und anderes mehr.
Durch diese Freiheiten waren wir sehr gut unterrichtet, was in der Welt vorging; manche von uns konnten sogar an den Zeitschriften und Zeitungen mitarbeiten. Alles, was die Gesellschaft erregte, alle Meinungsverschiedenheiten, Pläne und Streitigkeiten, die im Lager der extremen Parteien vorkamen, gelangten zu uns fast noch an demselben Tage. Die Stimmung unter den Gefangenen war eine sehr gehobene, optimistische: keiner von uns ließ den Gedanken aufkommen, daß wir noch lange im Gefängnis sitzen würden; ebenso dachte die Gefängnisadministration.
*
Der Tag verging mit Spazierengehen, in Unterhaltungen mit den Genossen, in Streit mit den Mitgliedern der sozialrevolutionären Partei, mit Zeitunglesen und dem Empfang von Besuchern aus der »Freiheit«. Abends ging ich in meine Zelle, denn ich fühlte mich von der Flut der Eindrücke sehr ermüdet. Ich wollte allein sein, um mich zu erholen oder mit irgend etwas zu beschäftigen. Doch durch das geöffnete Fenster drang dann furchtbarer Lärm und Geschrei. Hunderte von Stimmen sprachen durcheinander, riefen sich gegenseitig zu und sandten sich Zeitungen und andere Gegenstände durch »die Post«, welche aus Schnüren bestand und von jeder Zelle aus nach verschiedenen Richtungen ging. Dabei strömten die massiven Steinmauern, die in Form eines Brunnens gebaut waren und den Tag über durch die Sonne glühend wurden, eine unerträgliche Schwüle aus.
In solchen Stunden wälzte ich mich nur mit Wäsche bekleidet auf meiner Pritsche herum und konnte weder lesen noch schlafen. Der Lärm im Hofe, welcher in den ersten Tagen nach der Haft in der Peter-Pauls-Festung eine angenehme Zerstreuung war, erregte mich jetzt. Manchmal wäre ich gern wieder in den kühlen steinernen Sarg zurückgekehrt, in welchem ich lesen und nachdenken konnte.
An einem dieser heißen Abende drehte sich der Schlüssel im Schlosse, und in meine Zelle trat ein ungefähr fünfzig Jahre alter Herr in der Uniform der Gefängnisbeamten ein.
»Ich glaube, ich habe Sie gestört, Sie wollten schon schlafen?« entschuldigte er sich höflich.
Ich entschuldigte mich meinerseits, daß ich nicht angekleidet war.
»Sie haben sich sehr verändert!« bemerkte der Besucher.
»Haben Sie mich denn schon früher gesehen?«
»Natürlich, ich war Gehilfe, als Sie im Jahre 1884 hier saßen.«
Es ist immer angenehm, alten Bekannten, wer sie auch sein mögen, zu begegnen, und besonders angenehm sind solche Begegnungen im Gefängnis: alte Erinnerungen werden wieder wach, und man fühlt sich solchen Menschen nahe. Dasselbe empfand ich wieder an diesem Abend.
Ich lud den Besucher ein, sich auf das eiserne Taburett zu setzen, was er auch sehr gerne tat. Ich fragte ihn, ob er noch hier Gehilfe wäre, worauf er sich als Direktor des Untersuchungsgefängnisses vorstellte. Wir sprachen zuerst über längst vergangene Zeiten, von alten Zuständen und anderem und gingen dann zu den jetzigen politischen Verhältnissen über. Wie viele andere in dieser Zeit, war auch der Direktor dieses Hauses sehr liberal gesinnt. Er ließ sogar die Möglichkeit eines verantwortlichen Ministeriums zu, erkannte die Notwendigkeit einer vollständigen Amnestie an und war sogar mit der Landenteignung einverstanden.
»Ich verstehe eines nicht,« sagte er, »warum wollen die Mitglieder der Duma allen Land geben? Was werden zum Beispiel die Juden damit tun? Sie verstehen ja vom Ackerbau gar nichts und wollen sich auch nicht damit beschäftigen.«
Soviel als möglich versuchte ich ihm seine unrichtige Vorstellung von der Absicht der liberalen Abgeordneten, der ganzen Bevölkerung gleiche Teile Land zu geben, zu widerlegen.
Mit dem Wunsche, man möge mich bald befreien, woran er, wie er sagte, nicht zweifelte und ich in jener Zeit auch glaubte, schied er spät in der Nacht von mir.
*
Erst im Untersuchungsgefängnis erfuhr ich, auf welche Weise die Aufmerksamkeit der Polizei auf mich gelenkt worden war und was zu meiner Verhaftung führte.
Ein Genosse im Gefängnis erzählte mir, daß er am 1. Januar auf dem Newskiprospekt den drei Arbeitern, welche vom zweiten Deputiertenrat zu Delegierten für unsere Auslandreise gewählt waren, begegnete. Sie erzählten ihm, daß ihnen ein Spion folge, den sie nicht los werden konnten. Als ich die Zeitumstände verglich, gelangte ich zu der Überzeugung, daß es gerade die Delegierten waren, welche dem Spion die Möglichkeit gegeben hatten, auf meine Spur zu kommen.
Weder vor meiner Überführung in die Peter-Pauls-Festung noch nach meiner Inhaftierung im Untersuchungsgefängnis teilte man mir mit, wie meine »Sache« stand. Ich wartete noch einige Tage und wandte mich dann an den Staatsanwalt des Petersburger Gerichtshofes mit der Frage, aus welchem Grunde man mich im Gefängnis halte.
Bald darauf erhielt ich von ihm ein Schriftstück, in welchem er mir mitteilte, daß das Verfahren gegen mich in »Sachen des zweiten Arbeiterdeputiertenrats« wegen verbrecherischer Absicht aus Mangel an Beweisen eingestellt sei. In derselben Zeit wurde das Geld, welches man mir bei meiner Verhaftung abgenommen hatte, aus der Gendarmerieverwaltung in die Kanzlei des Untersuchungsgefängnisses übersandt.
Darnach glaubte ich, man würde mich nun freilassen. Aber das geschah nicht. Bald darauf erschien im Untersuchungsgefängnis ein Friedensrichter zur Kontrolle der Papiere der Gefangenen.
In der Kanzlei sah er in meiner Gegenwart das Dokument meiner Überführung aus der Peter-Pauls-Festung durch und fand nicht den geringsten Grund, mich weiter in Arrest zu behalten; doch mich zu befreien, traute er sich auch nicht. Nach einigen Tagen kam eine Erklärung des Stadthauptmanns, daß man mich auf Grund des verstärkten Schutzes in »Arrest« genommen hätte.
Es war klar, daß die Regierung nur Zeit gewinnen wollte, bevor sie irgend eine Entscheidung über die Gefangenen traf. Unser Schicksal hing darum ganz davon ab, ob die Freiheitsbewegung unter Leitung der Reichsduma oder die reaktionäre Clique mit dem »schwarzen Hundert« siegen würde.
Wie ja bekannt ist, wurde die Reichsduma plötzlich am 9./22. Juli aufgelöst. Gleich darauf wurde mir und einigen anderen Verhafteten, da das Polizeidepartement gegen uns keine Beschuldigung finden konnte, erklärt, daß man uns auf administrativem Wege auf drei Jahre ins Turuchansker Gebiet verschicke. Anfangs August waren ich und noch einige Genossen, darunter Parvus, Peskin und andere, schon auf dem Weg ins östliche Sibirien.
*