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Über vier Jahre verlebte ich in Westeuropa, doch gab ich die Hoffnung, auf diese oder jene Art nach Rußland zurückzukehren, nicht auf.
In jedem Jahre wurde es klarer, daß der Augenblick, wo endlich die Selbstherrschaft zusammenbrechen und der heiße Wunsch aller russischen verbannten Emigranten, ihre Heimat frei zu sehen, aufhören würde nur ein Traum zu sein. Für das baldige Herannahen dieses Augenblicks sprachen viele Zeichen.
Das Jahr 1905 brach an. Eines Morgens wurde plötzlich noch sehr früh an meiner Wohnung – ich wohnte damals in Genf – geklingelt; es näherten sich eilige Schritte meinem Zimmer und man klopfte heftig an die Tür.
»In Petersburg ist Revolution ausgebrochen! Einige tausend Tote und Verwundete in den Straßen, das Volk baut Barrikaden!« stieß eilig und sehr aufgeregt ein alter Genosse hervor. »Hier ist ein Telegramm, lesen Sie!« und noch einige Worte murmelnd, entfernte er sich eilig.
Ich durchflog die eingegangene Nachricht über die blutigen Ereignisse des 9./21. Januar und gelangte auch zur Ansicht, daß mit diesem Tage die wirkliche Revolution begonnen habe und man mit einer neuen Ära in der Geschichte unserer Heimat rechnen müsse. Ich kam bald zu der Überzeugung, daß es weiter keinen Sinn habe, im Ausland zu bleiben, daß es notwendig sei, sofort nach Petersburg zu fahren, und ich begann meine Reisevorbereitungen zu treffen. Jedoch aus verschiedenen Parteirücksichten mußte ich meine Absicht bis zum Herbste aufschieben.
Der Oktoberstreik begann; mit angespanntester Aufmerksamkeit beobachteten wir den Verlauf. Mehrmals täglich stürzten wir uns auf die Telegramme, um Nachrichten zu lesen über die Entwicklung und den Ausgang des gigantischen Kampfes, der zwischen der russischen Regierung mit Graf Witte an der Spitze und dem russischen Proletariat entbrannt war.
Gegen 11 Uhr morgens des 18./31. Oktober ging ich wie gewöhnlich an den Kiosk, um mir eine neue Nummer der lokalen Zeitung zu holen. Unter den Telegrammen stand mit fettgedruckten Buchstaben das bekannte Manifest des Zaren, das alle »Freiheiten« gewährte. Ich ging so rasch als möglich zu meinem alten Freund G. W. Plechanow, um ihm dies frohe Ereignis anzukündigen. »Die Konstitution ist proklamiert,« rief ich, ohne ihn zu begrüßen, und reichte ihm statt der Hand die Zeitung.
»Nun, wozu sich so aufregen!« antwortete er. »Man muß sich zu allem philosophisch verhalten. Gehen wir zuerst in mein Kabinett, setzen wir uns, und dann wollen wir ruhig das Telegramm durchlesen: vielleicht scheint es nur so, als ob es eine Konstitution wäre, und in Wirklichkeit ist es nur ein Betrug.«
Mich ärgerte sein Verhalten, und ich meinte, er wolle sich den Anschein geben, daß ihm das vollständig gleichgültig sei. Ich erklärte ihm, daß ich sofort nach Rußland reisen würde. G. W. Plechanow fand meinen Entschluß sehr voreilig und machte auch darüber ein paar Witze. Ich wollte schnell fortgehen, um mich reisefertig zu machen, doch er ließ mich nicht fort und schlug mir vor, erst gut zu überlegen, ob ich reisen könne.
Die nächsten Telegramme bestätigten die erste Nachricht, doch war in ihnen schon von den in verschiedenen Städten ausgebrochenen, von dem »schwarzen Hundert« angestifteten Pogromen die Rede. Außerdem war der Eisenbahnerstreik noch nicht beigelegt und selbstverständlich auch keine Verbindung vorhanden. Das alles schwächte natürlich den ersten freudigen Eindruck bedeutend ab, und meine Abreise wurde durch noch eine sehr wichtige Frage verzögert. Ich wußte nicht, ob ich auf meinen Namen oder mit einem fremden Paß versehen in Rußland ankommen sollte. Ich beschloß schließlich doch, mich auf die erklärten »Freiheiten« nicht zu verlassen und illegal zu reisen. Vor meiner Abreise aus Genf schrieb ich an Wera Sassulitsch, die zu jener Zeit in Paris weilte, und erhielt die Antwort, daß sie und noch viele andere Genossen beabsichtigten, unverzüglich nach Rußland zurückzukehren.
Sie kam erst nach Genf, von wo aus wir zusammen weiter reisten.
*
Aus Berlin kehrten in demselben Wagen noch einige im Exil lebende Genossen nach Rußland zurück. Schon an der Grenze kamen wir zu der Überzeugung, daß Plechanows Zweifel an den verkündeten »Freiheiten« sehr berechtigt waren. Wera Sassulitsch und ich wiesen Auslandspässe mit jüdischen Namen vor. Das genügte schon, daß der Zollbeamte sich uns gegenüber frech und grob benahm. Indessen, wir passierten die Grenze.
Je näher wir Petersburg kamen, desto größer wurde die Enttäuschung. Von den Mitreisenden hörten wir nur über die Pogrome und andere Greueltaten sprechen, die vom »schwarzen Hundert« unter der wohlwollenden Teilnahme von Polizei und Militär vollbracht wurden. Diese Nachrichten wirkten äußerst deprimierend auf uns.
Am Abend des 29. Oktober kamen wir in Petersburg an, das ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ich bemerkte nicht die geringste Veränderung. Noch unter dem Eindruck der sehr sauberen Stadt Berlin, schien mir unsere Hauptstadt mit dem schlechten Pflaster und der ungenügenden Beleuchtung eher einer schmutzigen Provinzstadt ähnlich.
Wir stiegen in einem Hotel ab, gaben unsere falschen Pässe zum Anmelden, und dann machten Wera Sassulitsch und ich uns auf, unsere Bekannten zu besuchen. Dort angekommen, erlebten wir folgende bezeichnende Szene:
Auf unser Klingeln öffnete man die Tür nicht, sondern fragte uns erst, wer wir seien.
»Ja, öffnen Sie nur, was fürchten Sie sich denn?« sprach ich.
»Nein, erst nennen Sie Ihre Namen,« kam es von neuem zurück.
»Fürchten Sie sich doch nicht, wir sind gute Bekannte,« erwiderten wir.
Unsere Unterhandlungen dauerten eine ganze Weile, bis uns endlich die Hausfrau öffnete. Sie erzählten uns, daß man stündlich ein Pogrom der Intelligenz und Juden erwarte. Und das in der Hauptstadt selbst!
So begegneten unsere guten Bekannten uns Heimkehrenden nach der Proklamierung der »Freiheit«.
*