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Wir betraten einen langen, spärlich beleuchteten Korridor. Nahe der Eingangstür stand neben einer gewaltigen Truhe ein Mann in Sträflingskleidung.
»Guten Tag Martynowski!« Obwohl ich ihn nie gesehen, wußte ich bereits aus den Erzählungen der Genossen, die ich unterwegs gesprochen, daß er als Obmann vom frühen Morgen bis zum späten Abend an der Truhe weilte, die die Speisekammer der Gefangenen darstellte.
Martynowski war etwas erstaunt, als wir ihn derart begrüßten, aber als wir ihm unsere Namen nannten, glitt über sein ernstes Gesicht ein gewinnendes Lächeln, und er schüttelte uns herzlich die Hand.
»Deutsch kommt nach Nummer 2 und Tschuikoff nach Nummer 4,« unterbrach einer der Gendarmen unsere Begrüßung.
Eine Tür wurde geöffnet, und ich betrat meine Kammer. Es war ein großer Raum; in der Mitte stand ein langer Tisch mit Bänken, den Wänden entlang waren Pritschen und ein gewaltiger Ofen, drei große Fenster spendeten Licht.
Die neuen Kameraden begrüßten mich; es waren fünfzehn Mann in dieser Kammer. Zwei von ihnen, Sundelewitsch und Paul Orloff, waren alte Bekannte von mir.
Vor allem war die Frage zu lösen, wo mein Platz sein sollte. Man entschied, daß ich mit Sundelewitsch eine der Pritschen teilen sollte. Es mußte deshalb Starinkewitsch auf eine andere Pritsche übersiedeln. Später erfuhr ich, daß es ein großes Opfer war, das mir der Kamerad brachte, indem er seinen Platz räumte. Starinkewitsch trennte sich nämlich auf diese Weise von seinem Freunde Martynowski; nun war aber hier, wo beständig eine Anzahl Menschen in einem Raume hausen mußten, die einzige Möglichkeit, sich mit einem persönlichen Freunde in ein Gespräch einzulassen, intimere Gedanken auszutauschen, darin gegeben, daß die Freunde auf den Pritschen nebeneinander lagen. Die große Bedeutung einer solchen Nachbarschaft lernte ich erst später einsehen.
Als wir eintrafen, war das Abendessen bereits vorüber. Statt dessen bot man uns ein Glas Tee mit einem Stück Schwarzbrot und einem winzigen Stückchen Zucker an. Ich wurde mit Fragen überschüttet; über meine Gefangennahme, mein Schicksal, über alles, was in Rußland vorging, mußte ich erzählen. Wir plauderten, scherzten, lachten, wie es nur die Jugend kann (wir standen alle im Alter zwischen vierundzwanzig und dreißig Jahren, nur Beresnjuk und Dzwonkiewitsch waren älter, vierzig respektive fünfundvierzig Jahre). Ich hatte das Gefühl, als ob ich nach langer Abwesenheit in einen intimen Familienkreis gekommen wäre. Die Zeit verstrich im Fluge, und es war spät, als ich mich auf der Pritsche niederlegte, auf der ich eine kleine Matratze, die ich mitgebracht hatte, ausbreitete. Die Reise von Moskau bis hierher hatte volle sieben Monate gedauert, sie war mir recht überdrüssig geworden; deshalb empfand ich jetzt ein wahres Wohlbehagen, endlich an einem Orte angelangt zu sein, wo ich lange Jahre verbleiben sollte. Ich hatte mich schon im voraus darauf gefreut, in Kara meinen alten Freund Jakob Stefanowitsch wiederzufinden. Seit vier Jahren hatten wir uns nicht mehr gesehen. In der Schweiz hatten wir 1881 Abschied genommen, als er nach Rußland zurückging. Bereits im Februar 1882 war er dann verhaftet worden, und im Sommer des folgenden Jahres wurde er in dem »Prozeß der Siebzehn« abgeurteilt; das Urteil lautete auf acht Jahre Katorga; zwei Jahre vor meiner Ankunft hatte man ihn in Kara eingekerkert. Da er in einer anderen Kammer untergebracht war, konnte ich ihn nur flüchtig begrüßen, denn bald nach unserer Ankunft kam die Abendrunde, und die Kammern wurden für die Nacht abgeschlossen. Am Morgen, sobald die Runde abermals die Kammern passierte und den Appell vollzogen hatte, rief ich durch das Guckloch in der Tür den Gendarmen und ließ mich in die Kammer Nummer 1 führen. Tagsüber war es uns gestattet, aus einer Kammer in die andere zu gehen, aber dieses Recht hatten die »Politischen« erst erkämpfen müssen, während in dem Gefängnis für Kriminalsträflinge in Kara die Kammertüren am Tage überhaupt nicht geschlossen werden. Auch in dieser Kammer waren sechzehn Mann eingesperrt und ebensoviel in allen anderen; die Zahl war jetzt, seit wir eingetroffen waren, voll. Ich begrüßte auch hier die Kameraden und plauderte mit meinem Freunde, um dann in den übrigen Kammern Besuche zu machen. Das Eintreffen von Neulingen war natürlich ein großes Ereignis im Gefängnis. Gewöhnlich war ihre Ankunft bereits signalisiert, denn trotz aller Absperrungsmaßregeln drang doch manches Gerücht durch die Mauern. Man harrte daher mit großer Ungeduld des Eintreffens neuer Leidensgenossen und besprach das Ereignis im voraus. Es ist ja auch erklärlich; die Ankömmlinge brachten für ein paar Tage Abwechslung in das einförmige Gefängnisleben; sie brachten Kunde von der Welt da draußen, sie konnten erzählen, wie es um die revolutionäre Bewegung stand.
Ich mußte also erzählen, hatte aber dabei auch Gelegenheit, die Ansichten der Kameraden kennen zu lernen, die natürlich von größtem Interesse für mich waren. Nicht alles, was ich da zu hören bekam, war mir besonders angenehm. So erinnere ich mich an ein Gespräch mit einem alten Bekannten, Woloschenko. Er galt als ein scharfsinniger Mann, ein scharfer Debatteur, dabei als Sonderling. Im Jahre 1879 war er in Kiew verhaftet worden, und das Urteil lautete auf zehn Jahre Katorga; infolge eines Fluchtversuchs wurde er dann zu weiteren elf Jahren verurteilt. Als ich über die neue Strömung in der russischen revolutionären Bewegung sprach und erwähnte, daß sich eine sozialistische Gruppe gebildet habe, die sich »Befreiung der Arbeit« nannte und die Anschauungen der deutschen Sozialdemokratie teile, also die Ideen von Karl Marx propagieren wolle, schien das Woloschenko höchlich zu belustigen.
»Sozialdemokraten in Rußland! Ha, ha, ha! Ja, wer sind diese Leute?«
»Einen von ihnen sehen Sie vor sich,« antwortete ich.
Auf dem Gesicht von Woloschenko wie aller anderen spiegelte sich großes Erstaunen. Hätten sie erfahren, ich sei ein Bekenner Mohammeds geworden, es würde sie nicht weniger gewundert haben.
In der Tat waren damals die Ideen von Karl Marx in Rußland noch ganz wenig bekannt. Man hielt sich wohl für verpflichtet, den ersten Band des »Kapital«, der damals in russischer Übersetzung erschienen war, zu lesen, und im europäischen Rußland war es bei gebildeten Leuten üblich, die Verdienste Marx' um die Nationalökonomie anzuerkennen, aber in Kara schien man selbst das nicht gelten zu lassen. Was aber die sozialistischen und allgemein philosophischen Grundgedanken von Marx anbetraf, so waren sie zwar allen fremd, nichtsdestoweniger verwarf man sie, weil man sich an Eugen Dühring hielt, zum Teil auch auf die Autorität des russischen Publizisten N. Michailowski hin, und schließlich begnügte man sich mit dem »gesunden Menschenverstand«, der da sagt, daß die Ideen von Marx in Rußland nicht anwendbar seien. Das war auch die Meinung von Woloschenko, dessen Urteil damals durch keinerlei Kenntnis der Marxschen Schriften beeinflußt war.
Ich war in der Lage, nicht nur mündlich Kunde von der neuen Richtung zu bringen. Trotz aller sorgfältigen Revisionen, war es uns gelungen, einige verbotene Schriften bis in das Gefängnis durchzuschmuggeln, und darunter befand sich auch die erste Broschüre, die unsere Gruppe herausgegeben hatte, Plechanows »Sozialismus und politischer Kampf«. Da die Kameraden in Kara schon lange keine in Rußland verbotenen Schriften zu sehen bekommen hatten, war die Sensation groß und man stürzte sich mit Begierde auf den neuen Stoff.
Sehr gespannt war ich, wie sich Sundelewitsch zu diesen Problemen stellen würde, der früher gewissermaßen für einen Sozialdemokraten gegolten hatte, wenigstens hielt er die Taktik der Sozialdemokratie in Deutschland für richtig in bezug auf dieses Land. Wir hatten einander im Jahre 1878 kennen gelernt; ihm lag damals die Leitung der Transporte der verbotenen Schriften für die Gruppe »Land und Freiheit« ob, und seine Kenntnisse der Grenzverhältnisse ausnützend, brachte er mich und Stefanowitsch nach unserer Flucht aus dem Kiewer Gefängnis über die Grenze. Wir hatten damals über die revolutionäre Kampfesweise in Rußland scharf gestritten. Damals war ich ein entschiedener Gegner der Sozialdemokratie; als »Volkstümler« und Terrorist hielt ich die friedliche Taktik der deutschen Sozialdemokratie für unzweckmäßig, ja schädlich; daß ich eine ähnliche Tätigkeit in Rußland für unmöglich hielt, versteht sich von selbst. Sundelewitsch dagegen hielt von der »Volkstümlerei« gar nichts und eine agitatorische Tätigkeit unter den russischen arbeitenden Klassen für ganz unmöglich. Seiner Anschauung nach galt es vor allem, in Rußland die politische Freiheit zu erkämpfen, dazu war ihm jedes Mittel recht. Es war daher nur konsequent, daß er sich der politischen terroristischen Partei anschloß, als diese um das Jahr 1878 ihre Tätigkeit begann, und er gehörte zu den ersten, die den Gedanken verbreiteten, nur auf diese Weise könne man in Rußland die bestehende politische Ordnung stürzen. Er gehörte denn auch zu denen, die aktiv an der Organisation einiger Attentate teilnahmen. Seine Partei verdankte ihm ungemein viel, denn in bezug aus die praktische Durchführung verschiedener Dinge bei der revolutionären Tätigkeit war er unvergleichlich, wußte stets die zweckmäßigsten und praktischsten Mittel zu finden. Durch einen Zufall wurde er im Herbst 1879 in Petersburg in der öffentlichen Bibliothek verhaftet und in den »Prozeß der Sechzehn« verwickelt, in dem Kwiatkowski und Presenjakoff zum Tode und er selbst zu lebenslänglicher Katorga verurteilt wurden.
Die Hoffnung, in Sundelewitsch jetzt einen sozialdemokratischen Gesinnungsgenossen zu finden, erwies sich als unrichtig. Das war höchst betrüblich. Sobald man von der Richtigkeit seiner eigenen politischen Anschauung überzeugt ist, muß man sich unbehaglich fühlen, wenn man jahrelang unter Leuten leben soll, die zwar im allgemeinen die gesellschaftlichen Verhältnisse verurteilen, aber in bezug auf die Anschauungen, wie da zu bessern und umzugestalten ist, anders gesinnt sind; man mag noch so tolerant gegen Andersdenkende sein, über diese Gegensätze kommt man nicht hinweg. Schon deshalb also mußte ich dringend wünschen, mit meinen Ideen nicht ganz vereinsamt zu sein. Und niemand wünschte ich so sehr als Freund zu sehen, wie gerade Sundelewitsch, der als Kamerad unvergleichlich war. Er war einer der feinfühligsten Menschen, die ich kannte, dabei selbstlos, zuverlässig und klug.
Als ich nun neben ihm die langen Abende auf der Pritsche lag, hatten wir uns unendlich viel zu erzählen, wir sprachen über die gemeinsamen Bekannten, die noch in Freiheit waren und für die Ideen kämpften, von den Opfern dieses Kampfes, die in Schlüsselburg schmachteten oder den Heldentod gestorben waren ... Aber ich scheute mich mit der Zeit instinktiv, die theoretischen Fragen zu berühren, ich fürchtete, wir würden einander nicht verstehen können. Und leider hatte ich es erraten, der Freund wurde mir nicht zum Gesinnungsgenossen. Wie viele andere war Sundelewitsch ein absoluter Gegner der Marxschen Weltanschauung, selbst die ökonomischen Lehren des »Kapital« ließ er nicht gelten. Wir haben deshalb manch harten Strauß miteinander ausgefochten im Gefängnis. Für Deutschland ließ mein Freund die Sozialdemokratie gelten, für Rußland erklärte er wie Woloschenko diese Ideen als »unanwendbar«.
Mit meinem zweiten Freunde, Stefanowitsch, konnte ich weniger debattieren, da wir in verschiedenen Kammern saßen. Auch ihm kamen meine Anschauungen durchaus unerwartet, sie schienen ihm fremd und unbegreiflich. Als wir uns vor vier Jahren getrennt hatten, waren wir durchaus einig; er war dann die ganze Zeit geblieben, was er war: halb Volkstümler, halb Terrorist; ich hatte die neuen Ideen aufgenommen, hatte mit anderen Kameraden aus der Organisation »Tscherny Peredjell« die sozialdemokratische Gruppe gegründet; das erfuhr er erst jetzt und wußte nicht, was er davon halten sollte. Aber anders als die übrigen, als ungemein ernster und denkender Mensch, wußte er die Wendung, die seine Kampfgenossen durchgemacht hatten, zu würdigen; er erfaßte die Tragweite der neuen Gedanken und suchte sie zu begreifen. Vor allem wurde er sich darüber klar, daß es sich hier um eine ganz neue Weltanschauung handle, der durch unsere Gruppe der Weg in Rußland gebahnt wurde. Ob diese Weltanschauung in Rußland Boden finden würde, das bezweifelte er, aber es lag ihm fern, diesen Ideen mit Feindschaft und Hohn zu begegnen, wie es viele Revolutionäre damals und noch später taten.
*
Das Zusammenleben einer Anzahl junger Leute im Gefängnis hatte dazu geführt, einen eigenartigen Jargon entstehen zu lassen. So hatte auch jede der Kammern einen besonderen Namen erhalten; die erste hieß »Synedrion«, die zweite »Adelskammer«, die dritte »Jakutenkammer«, die vierte »Wolost« (Dorf). Woher diese Bezeichnungen stammten, war in der »grauen Vorzeit« zu suchen, ich habe es nicht herausgefunden.
Die »Adelskammer«, in die ich kam, wies lauter recht sympathische Insassen auf. Es waren kluge, lebensfrohe und gebildete junge Leute. Jeder von ihnen repräsentierte in gewissem Sinne einen originellen Typus. Es befanden sich unter ihnen einige wirklich hervorragende Persönlichkeiten.
Zu diesen zähle ich vor allem Nikolaus Jazewitsch. Er war der Sohn eines Geistlichen aus dem Gouvernement Poltawa. Als siebzehnjähriger Jüngling – er war Student in der Tierarzneischule zu Charkow – wurde er verhaftet, weil er den Versuch unternommen hatte, Alexei Medwedjeff aus dem Gefängnis zu befreien; das Urteil lautete auf fünfzehn Jahre Katorga. Unterwegs war er, wie bereits erwähnt, aus dem Gefängnis in Irkutsk geflohen, jedoch wieder eingefangen und wegen dieses Fluchtversuches zu weiteren vierzehn Jahren Katorga verurteilt worden. Er war kaum neunzehn Jahre alt, als man ihn nach Kara brachte. Hier eroberte er sich im Fluge die Herzen durch seinen edlen Charakter. Bescheiden bis zur Schüchternheit, schweigsam und in sich gekehrt, übte er auf alle Kameraden einen geradezu magischen Einfluß aus. Seine Wißbegier schien grenzenlos; mit eisernem Fleiße lernte er im Gefängnis und erwarb sich bedeutende Kenntnisse besonders in Naturwissenschaften, Philosophie, Literatur und erlernte einige Sprachen. Dabei fand er noch Zeit für physische Arbeit und zeigte sich hierbei geschickt und gewandt. Im Kerker war er mit den Kameraden stets freundlich ohne Ausnahme, zartfühlend und hilfsbereit. Kein Wunder, daß er allseitiges Vertrauen genoß und daß man ihn gern als Autorität anerkannte, trotz seiner Jugend (als ich ihn kennen lernte, war er erst fünfundzwanzig Jahre alt). Ob es sich um Angelegenheiten der Hauswirtschaft handelte oder um schwierige theoretische Fragen, stets konnte man sicher sein, daß seine Meinung bei der Mehrheit Anklang finden würde. Seiner ganzen Geistesrichtung nach war er Metaphysiker, und in der Philosophie sowohl als in den Sozialwissenschaften gab er sich als Eklektiker; er teilte die Anschauungen Dührings und der Neo-Kantianer, in der Nationalökonomie war er Anhänger Careys, Bastiats und ähnlicher bürgerlicher Theoretiker; natürlich gehörte er infolgedessen zu den Gegnern der Marxschen Ideen.
Etwas anders geartet waren die Busenfreunde Martynowski und Starinkewitsch, die man gewöhnlich »die beiden Hänschen« nannte, obwohl nur der letztere eigentlich Hans hieß. Starinkewitsch gehörte ebenfalls zu den Lieblingen der Kameraden, obwohl er ganz anders geartet war als Jazewitsch. Er war von unverwüstlichem Temperament, stets gut gelaunt und von Witz sprühend. Seine Scherze, Bonmonts und tolle Einfälle entlockten uns oft herzlichstes Lachen, wobei sein eigenes übermütiges, helles Gelächter stets am lautesten ertönte. Auch er war ungemein begabt, aber nicht so fleißig und ausdauernd wie Jazewitsch. Es war einer von den glücklichen Geistern, die alles im Fluge erfassen, aber er verzettelte sich, indem er alles und doch nichts gründlich trieb. Sein Wesen war fast mädchenhaft zärtlich, zutraulich und anhänglich, aber er konnte dabei auch aufbrausend und heftig werden. Sein Geburtsort war Moskau, und auch er war als Jüngling direkt von der Universität weg (im Jahre 1881) zu zwanzig Jahren Kerker verurteilt worden, einzig deshalb, weil er sich weigerte, zu gestehen, von wem er eine Proklamation erhalten hatte, die man bei ihm fand. Seinen politischen Anschauungen nach war er begeisterter Anhänger der »Narodnaja Wolja«.
Man behauptet, daß gewöhnlich Freunde entgegengesetzte Charaktereigenschaften besitzen; bei den beiden »Hänschen« traf das jedenfalls zu. War Starinkewitsch ausgelassen fröhlich und leichtlebig, so war sein Freund Martynowski ernst, gesetzt, fast mürrisch zu nennen. Man sah ihn selten lächeln, und ich kann mich nicht erinnern, ihn lachen gehört zu haben. Er machte den Eindruck eines Menschen von großer Willensstärke, standhaftem und selbstherrlichem Charakter. Ich kann mir nicht denken, daß Martynowski jemals nachgegeben hätte, oder auch nur um Haaresbreite von seiner Meinung abzubringen gewesen wäre; stets hatte man den Eindruck, daß er im Gegenteil jedem seinen Willen aufzwingen würde. Er war ein zweifellos begabter und fleißiger Mensch und seinem ganzen Wesen nach Praktiker; doch verstand er es, sich in theoretische Probleme zu vertiefen, und gehörte zu den ersten, die sich im Gefängnis mit dem Studium des Marxismus beschäftigten. Er stammte ebenfalls aus Moskau und war wie sein Freund mit zwanzig Jahren verhaftet worden. Man verurteilte ihn in dem gleichen Prozesse wie Sundelewitsch, Kwiatkowski und andere zu fünfzehn Jahren Katorga, und ein Fluchtversuch brachte ihm weitere sechs Jahre ein. Wie erwähnt, war er bei meiner Ankunft in Kara Obmann, und daß man ihn auf diesen Posten gewählt, beweist schon an sich, welch großes Vertrauen er bei den Kameraden genoß; er war allerdings auch ein musterhafter Vertreter unserer Interessen in jeder Hinsicht. Wäre es diesem Manne beschieden gewesen, unter anderen politischen Verhältnissen zu leben, er hätte zweifellos ein weites Wirkungsfeld gefunden und würde sich zur Führerrolle im öffentlichen Leben aufgeschwungen haben.
Noch eine weitere sehr interessante Persönlichkeit befand sich im Kerker, der Student Mirski, der das Attentat aus den General Drenteln ausgeführt hatte. Die Affäre ist interessant genug, um hier erzählt zu werden.
Am 25. Dezember 1879 fuhr General Drenteln in seiner Equipage über die Straßen von Petersburg. Er war vor kurzem als Nachfolger des von den Revolutionären umgebrachten General Mesenzeff zum Chef der Gendarmerie und zum Leiter der berüchtigten »dritten Abteilung« ernannt worden. Plötzlich holte ein Reiter auf einem prächtigen Renner die Equipage ein und feuerte mehrere Schüsse durch die Wagenscheibe auf den General. Die Schüsse verfehlten ihr Ziel, der General schrie dem Kutscher zu, den Reiter zu verfolgen, und es begann eine tolle Hetzjagd. Das Publikum wußte nicht, was geschehen war, und sah erstaunt diesem eigenartigen Wettrennen zwischen einem glänzenden Reiter und dem Wagen des Generals nach. Der Kutscher war dem Flüchtenden hart auf den Fersen und es schien einigemale, daß er ihn stellen würde, aber der Reiter gewann eine Seitengasse und entkam, um abermals von den Trabern des Generals eingeholt zu werden. Endlich hatte der Reiter einen Vorsprung gewonnen und jagte in vollem Karriere davon. Aber plötzlich strauchelt sein Pferd, und er muß halten. Doch verliert er die Geistesgegenwart nicht; mit aller Ruhe winkt er einen Schutzmann herbei:
»Mein Lieber, das Pferd hat sich verletzt, halte es, bis ich den Kutscher schicke.«
»Zu Befehl!« antwortete der biedere Wächter der Ordnung und nimmt dem Kavalier die Zügel ab.
Dieser verschwindet an einer Straßenecke, gewinnt eine Passage, setzt sich in eine Droschke und entkommt.
Der General schäumt vor Wut, als er das Pferd in so guter Obhut findet. Die ganze Polizei wird in Bewegung gesetzt und findet denn auch heraus, daß das Pferd ein Rennpferd aus einer Manege ist, und daß der Reiter, der es gemietet, der Student Mirski sein müsse, eine schon lange von der Polizei beobachtete Persönlichkeit. Man war auf der Fährte, aber Mirski war nicht mehr in Petersburg zu finden, er war sofort nach Südrußland gereist. Aber schon nach wenigen Monaten ereilte ihn sein Schicksal. Er hielt sich bei einem Freunde und Gesinnungsgenossen, dem Artillerieleutnant Tarchoff in Taganrog auf; ein Offizier schöpfte Verdacht gegen den Gast seines Kameraden und führte die Polizei auf die Spur. Das Haus wurde umzingelt, doch Mirski wollte sich nicht freiwillig in die Hände seiner Häscher geben; er feuerte einige Revolverschüsse gegen die Polizisten ab und versuchte die Kette zu durchbrechen, wurde jedoch überwältigt und gefangen genommen. Im November 1880 wurde er mit Tarchoff, dem Dichter A. Olchin und noch einigen Personen zusammen vor ein Kriegsgericht gestellt. Es war das eine Zeit, wo, wie gesagt, selbst Leute, die nicht direkt an terroristischen Taten beteiligt waren, von den Kriegsgerichten kurzerhand zum Tode verurteilt wurden; daher zweifelte kein Mensch, daß Mirski, der ein Attentat gegen den Chef der Gendarmerie begangen hatte, hingerichtet werde. Nur er selbst schien anderer Meinung zu sein. Ich erinnere mich, daß kurz vor der Gerichtsverhandlung jemand, der ihn im Kerker besuchte, zu uns kam und sagte, Mirski wünsche, daß man ihm einen schwarzen Anzug und eine weiße Krawatte ins Gefängnis schicke; er wolle in diesem Anzuge vor Gericht erscheinen. Wir, seine Kameraden, waren erstaunt darüber und belächelten den sonderbaren Gedanken, denn bis dahin war es wohl keinem der russischen Revolutionäre eingefallen, sich Gedanken darüber zu machen, in welchem Rocke er vor die Richter treten werde. Doch kamen wir natürlich dem Wunsche nach. »Lassen wir ihm das Vergnügen, zum letztenmal zu glänzen, dem Publikum zu imponieren.«
Die Zeitungen meldeten dann, der Hauptangeklagte Mirski habe sich »gentlemenlike« gehalten; seine Verteidigungsrede wurde in einigen ausländischen Blättern wiedergegeben und bewundert. Natürlich wurde er zum Tode verurteilt, und nur eine glückliche Verkettung von Umständen führte dazu, daß dieses Urteil nicht vollstreckt, sondern in lebenslängliche Kerkerhaft umgewandelt wurde. Wäre das gerade in jenen Tagen geplante Attentat gegen Alexander II. bei der Station Alexandrowskaja geglückt, was nur ein Zufall verhinderte, oder hätte die Gerichtsverhandlung zwei Tage später stattgefunden, nach dem 19. November, wo der Zug des Zaren bei Moskau in die Luft gesprengt wurde, so wäre es um Mirski geschehen gewesen. So entging er nur zufällig dem Tode und wurde in den berühmten Alexejew-Ravelin der Peter-Pauls-Feste gesperrt, wo damals die wichtigsten Staatsverbrecher (Njetschajeff, Schirajeff und andere) gefangen gehalten wurden. Vier Jahre später brachte man ihn nach Kara, und dort wurde ich sein Genosse in der »Adelskammer«.
Statt des eleganten schlanken Jünglings, als welcher Mirski zur Zeit seines Prozesses geschildert wurde, lernte ich einen ziemlich starken und etwas untersetzten, aber wohlgebauten Mann im Alter von etwa siebenundzwanzig Jahren kennen. Aber nicht nur äußerlich hatte er sich stark verändert; das war nicht mehr der heißblütige Jüngling, der kühnes Wagnis beging, sondern ein ernster Mann, der viel erfahren und viel gedacht hatte. Als scharfsinniger und gebildeter Mensch, machte sich Mirski seine eigenen Gedanken über die sozialen Zustände Rußlands und ihre Entwicklung in der Zukunft. Die Lehren der Marxisten waren ihm fremd geblieben, aber er war zu denselben Schlußfolgerungen wie sie gelangt; besonders hielt er sich skeptisch den damals unter den russischen Revolutionären allgemein verbreiteten Anschauungen gegenüber, wonach das Gemeineigentum der Dorfgemeinde am Boden und das Artel zur Begründung eines eigenartigen russischen Programms führen sollte, dessen Grundzüge wesentlich von dem Programm der Sozialisten aller Kulturstaaten abweichen müsse. Seiner Meinung nach war auf diesen Rudimenten patriarchalischer Wirtschaftsformen nicht weiterzubauen. Er war der Meinung, daß allerdings vor allem die Umwälzung der politischen Zustände in Rußland erstrebt werden müsse. Daß durch die terroristische Taktik dieses Ziel nicht erreicht werden könne, darüber war er sich klar; auf eine Erhebung der Arbeitermassen wagte er nicht zu hoffen, da damals diese Masse noch in starrer Gleichgültigkeit verharrte, und deshalb quälte er sich mit der Frage ab, wie die unlösbare Aufgabe in Angriff zu nehmen sei. Jedenfalls war er von allen in Kara Eingekerkerten dem Ideengang der Marxisten am nächsten. Als Student hatte Mirski Medizin studiert, aber während seiner Gefängniszeit beschäftigte er sich eifrig mit Jurisprudenz und galt als zuverlässiger Gesetzeskenner; man traute in dieser Beziehung seinen Kenntnissen mehr als denen absolvierter Juristen unter uns.