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Die Reise nach Odessa ging ohne besondere Ereignisse von statten. Die Ortsveränderung, die Eisenbahnfahrt, der Anblick von Menschen, ihre Gespräche, das Getriebe auf den Bahnhöfen, alles das wirkte natürlich belebend auf mich ein. Aber die Gegenwart dreier Gendarmen ließ mich nicht für einen Augenblick vergessen, daß ich ein Gefangener sei, der dem Gerichte zugeführt wird. Der Gedanke an die Flucht verließ mich daher nicht, und einmal schien es allerdings, daß die Umstände günstig seien. Es war Nacht; wir befanden uns bereits in der Nähe von Odessa. Ich war eingeschlummert, und als ich erwachte, sah ich, daß alle drei Gendarmen in tiefsten Schlaf verfallen waren. Mein Herz begann in tollen Schlägen zu hämmern. Mein erster Gedanke war, die Schere aus dem Versteck hervorzuziehen, den Bart abzuscheren, dann über die schlafenden Wächter hinwegzuschreiten, auf die Plattform zu gelangen und vom Zuge zu springen. Aber in demselben Augenblick erwachte einer der Gendarmen, er weckte die beiden anderen durch Rippenstöße, schimpfte sie aus, daß keiner wache. Ich stellte mich schlafend und hörte die Szene mit an.
In Odessa erwartete mich ein Gefängniswagen mit vergitterten Fenstern. Anfangs wurde ich in einem Gefängnis für politische Gefangene untergebracht, das von Gendarmen bewacht wurde. Als man meine Sachen visitierte, fiel plötzlich die Schere zu Boden. Das setzte den Verwalter, einen gewesenen Gendarmen, in nicht gelindes Erstaunen. »Schöne Ordnung scheinen sie in Petersburg zu haben!« rief er. »Eine Schere selbst lassen sie dem Gefangenen!«
Er glaubte, ich hätte sie offen in meinem Gepäck geführt, und ich ließ ihm natürlich den Stolz, schlauer zu sein als seine Kameraden in der Hauptstadt.
Es ging in diesem Gefängnis ähnlich zu wie in der Peter-Pauls-Feste; ebenso groß, ziemlich düstere Zellen, ebenso erträgliche Kost, die gleiche streng formalistische Haltung der Gendarmen und die gleiche ununterbrochene Stille ringsum. Um auch hier sofort die Lage infolge der Auslieferungsbedingungen von seiten Deutschlands zu pointieren, drückte ich bei der Ankunft mein Erstaunen darüber aus, daß man mich in ein Gefängnis für Staatsverbrecher bringe. Ob dieser Protest oder eine Instruktion aus Petersburg es bewirkte – man brachte mich nach einigen Tagen in das Kriminalgefängnis.
Es war Abend. Ich werde diesen Abend wohl nie im Leben vergessen. Man führte mich in eine Zelle, und als die Tür hinter mir ins Schloß fiel, konnte ich anfangs nichts sehen. Die Zelle war finster, und nur durch das kleine Fenster in der Tür fiel ein schwacher Lichtstrahl von einer Lampe, die sich außerhalb befand. Als sich das Auge so an die Dunkelheit gewöhnt hatte, begann ich mein neues Quartier zu mustern; die Zelle war kreisrund, weder Pritsche, Stuhl oder Tisch waren vorhanden, am Boden lag etwas Stroh, der »Kübel« stand daneben und ein hölzerner Wassereimer – sonst nichts. Ich war höchst erstaunt und glaubte, es handle sich um ein Mißverständnis. Ich ging zur Tür und bemerkte durch das Guckloch, daß zwei Soldaten mit dem Gewehr im Arme Wache standen, während auf einer Bank in der Nähe ein Gendarm und ein Polizeidiener saßen. Ich hatte schon manches Gefängnis gesehen, aber diese Einrichtung war mir neu.
»Hören Sie, was ist denn das? Wo ist die Bettstelle, die Matratze?« fragte ich, den Kopf durch das Fensterchen steckend.
»Weiß nicht!« gab der Gendarm roh zur Antwort.
»So rufen Sie den Verwalter!«
Er rührte sich nicht. – Nach einiger Zeit erschien der Vertreter des Verwalters.
»Sagen Sie mir, was das zu bedeuten hat?« fragte ich, auf die Einrichtung der Zelle deutend.
»Ich weiß gar nichts,« antwortete er, »wir haben alles nach Befehl gemacht; wenden Sie sich an den Vertreter der Staatsanwaltschaft, der morgen hier sein wird.«
Ich fühlte mich furchtbar niedergedrückt. Selbst auf und ab gehen konnte ich anfangs in dieser tollen Zelle nicht. »Was fange ich an, wie soll ich mich verhalten, wenn man dieses Regime nicht ändert?« überlegte ich, auf dem Boden sitzend, den Kopf in die Hände gestützt. Schließlich übermannte mich die Müdigkeit, ich streckte mich, ohne mich zu entkleiden, auf das Stroh hin. Kaum aber war ich eingeschlafen, als ich wieder aufsprang: Mäuse waren in das Stroh gekrochen und krabbelten darin herum. Ich begann auf und ab zu laufen. Jetzt fühle ich, daß die Luft zum Ersticken war, der »Kübel« strömte Gestank aus; der Raum, wo die vier Wächter sich aufhielten, war winzig klein, und die verdorbene Luft drang in die Zelle. Ich wollte lüften, aber das war unmöglich, weil das Fenster hoch oben an der Decke war und nicht geöffnet werden konnte.
Ungeduldig erwartete ich den Tag, weil ich hoffte, man würde mich jetzt wenigstens Luft schöpfen lassen. Die Stunden schleppten sich endlos dahin. Wieder warf ich mich auf das Stroh, um bald wieder wegen der Mäuse aufzuspringen. Endlich dämmerte der Tag.
»Führen Sie mich an die Luft!« wandte ich mich an den Gendarmen, der hier die Rolle des Schließers zu spielen schien.
»Habe keinen Befehl,« war die Antwort.
Gegen Mittag erschien der Vertreter des Staatsanwalts. Ich wies ihn auf die furchtbare Lage, in die man mich versetzt hatte, und forderte Remedur; er hörte mich an, versicherte aber, er könne nichts ändern.
»So erklären Sie mir gefälligst, was im Wege steht, mir eine Bettstelle zu gewähren?«
»Sie könnten sie an das Fenster stellen, um zu entfliehen.«
»Aber bitte, überlegen Sie doch nur, was Sie da sagen; vier bewaffnete Leute überwachen mich; wenn ich auf ein Bett steige, gelange ich noch immer nicht an das Fenster, ohne daß einer der Wächter mich bemerkt, dann bin ich doch erst am Fenster im fünften Stockwerk, unter welchem eine Schildwache auf und ab geht, des weiteren hätte ich noch eine haushohe Mauer zu übersteigen, an deren Außenseite abermals eine Schildwache postiert ist. Sie müssen doch einsehen,« suchte ich den Mann zu überzeugen, »daß unter diesen Umständen ein Fluchtversuch absolut ausgeschlossen ist.«
»Wer kann das wissen!« rief er; »Sie sind schon mehrmals entwischt.«
»Nur zweimal im ganzen,« korrigierte ich.
»Das reicht gerade. Nun, ich kann nicht.«
Damit ging er.
Ich hatte bereits meinen Entschluß gefaßt, unter keinen Umständen würde ich mich dieser Behandlung fügen und würde vorerst »passiven Widerstand« leisten. – Der Gendarm brachte das Essen in einer hölzernen Schüssel und stellte es auf den Boden.
»Nehmen Sie es zurück, ich werde nicht essen!« Schweigend ging er damit ab.
Das wiederholte sich Tag für Tag bei jeder Mahlzeit. Die Tage schlichen endlos dahin, ich konnte keine frische Luft schöpfen, konnte nicht lesen, weil man mir auch die Bücher nicht gab, konnte nicht einmal schlafen wegen der Mäuse. Großen Hunger empfand ich nicht und begehrte auch keine Speise, aber Wasser trank ich die ganze Zeit. Psychisch litt ich furchtbar. Ich hatte durchaus keinen Zorn gegen die Menschen, ich ärgerte mich nur über die Beleidigung, die dem gesunden Menschenverstand zugefügt wurde, indem man mich derart behandelte. »Ihr habt Zeit genug,« apostrophierte ich die Verwaltung, »mir das Leben zu vergiften, wenn ich erst einmal verurteilt bin, vorläufig bin ich ja nur in Untersuchung.«
Drei Tage lang hatte ich keine Speise angerührt, es schien sich aber niemand darum zu kümmern, obwohl die Wächter natürlich sahen, was vorging. Am vierten Tage nachmittags wurde ich in die Amtsstube geführt. Ungewaschen – ich hatte in dieser Zeit mich absichtlich nicht ein einziges Mal gewaschen –, in staubbedeckten Kleidern, an denen Strohhalme hafteten, erschien ich vor dem Staatsanwalt des Kriegsgerichts von Odessa und dem Untersuchungsrichter. Sie erklärten mir, daß sie die Voruntersuchung an meinem Prozesse aufnehmen und mich zu verhören wünschten. Ich sagte, daß ich außerstande sei zu antworten, und setzte ihnen auseinander, warum ich zum Hunger als Widerstandsmittel gegriffen habe.
»So! Sie weigern sich, Speise zu nehmen? Dann werden wir Sie künstlich ernähren!« Kurz vorher hatten in dem Gefängnis für Staatsverbrecher die Eingekerkerten eine Hungerrevolte veranstaltet; als sie bereits ganz entkräftet waren, hatte der Gefängnisarzt, Doktor Rosen, ihnen gewaltsam Nahrungsmittel mit Hilfe des Klistiers zugeführt.
Da ich wußte, worauf er anspielte, antwortete ich ihm kurz:
»Versuchen Sie es! Ich erkläre Ihnen aber, daß ich ein Mittel weiß, wie in diesem Falle Erbrechen und Durchfall herbeizuführen ist, allerdings beschleunigt dies das Ende.«
Natürlich wußte ich nichts dergleichen, sondern es kam mir darauf an, die Drohung des Staatsanwalts abzuwehren. Er sah mir aufmerksam ins Gesicht und warf dann dem Untersuchungsrichter einen vielsagenden Blick zu. Es schien mir, als ob er sagen wollte: »Weiß der Kuckuck, vielleicht macht der Kerl das wirklich wahr! Der ist in aller Herren Ländern herumgestrolcht, da kann er auch solche Mittel kennen.«
Eine Weile schwiegen die beiden. Ich sah, daß meine Worte wirkten, und begann den Herrn die ganze Widersinnigkeit der Behandlung, welcher ich ausgesetzt war, zu beweisen.
»Sie müssen doch selbst einsehen, daß das alles kaum Sinn und Zweck hat. Die Regierung verhandelt mit Deutschland über meine Auslieferung; ein hoher Justizbeamter muß nach Baden reisen, um diesen Zweck zu erreichen. Man macht Skandal vor ganz Europa, und schließlich wird man nicht in der Lage sein, diesen Angeklagten vor Gericht zu stellen, dessen habhaft zu werden der ganze Apparat der Staatsgewalt mit so großem Aufwand in Bewegung gesetzt wurde, weil man diesen Angeklagten zum Selbstmord getrieben hat. Und das alles wegen solcher Lappalien, wie ein Bett, kleine Bequemlichkeiten usw. Sie müssen zugeben, daß das unsinnig ist.«
»Nun, ich werde selbst nachsehen, wie man Sie untergebracht hat,« meinte der Staatsanwalt und ging.
Als er wiederkehrte, schien er aufgeregt und erklärte:
»In der Tat, man hat Ihnen Furchtbares zugemutet! Ich versichere Sie, daß mich keine Schuld trifft. Es haben sich drei Behörden gegen Sie vereinigt: der Oberst der Gendarmerie, der Platzkommandant und der Stadtpräsident. Bevor Sie eingeliefert wurden, waren sie alle drei hier, haben das Verlaß gewählt, haben das Regime festgestellt, und jeder hat aus der Zahl seiner Untergebenen Wächter gestellt. Leider kann ich die Anordnung dieser Herren aus eigenen Stücken nicht ändern, doch will ich mich persönlich an die Betreffenden wenden. Alles, was ich tun kann, ist, daß ich dem Verwalter privatim sage, er möge Ihren Wünschen soweit als möglich Rechnung tragen.«
Darauf wurde der Verwalter gerufen, und der Staatsanwalt wiederholte in meiner Gegenwart diese private Anweisung. Wir schlossen also eine Art Waffenstillstand. Für die Nacht wurde mir mein Bettzeug in die Zelle gebracht, meine Bücher wurden mir ausgeliefert, und tagsüber erhielt ich einen Tisch und Schreibzeug. Aber alle diese Dinge mußten sofort entfernt werden, wenn eine höhere Amtsperson das Gefängnis besuchte. Damit ich an die frische Luft komme, sollte der Verwalter einen besonderen Hofraum, wo mich die anderen Gefangenen nicht sehen konnten, zur Verfügung stellen. Unter diesen Bedingungen willigte ich ein, meinen Hungerprotest aufzugeben, und am Abend des vierten Tages nahm ich wieder Speise zu mir. Erst als ich zu essen anfing, fühlte ich, welch großen Hunger ich hatte, einen Ochsen hätte ich verschlingen mögen. Doch wußte ich, daß in solchen Fällen Vorsicht geboten ist, und legte meinem Appetit Zügel an. Die beiden folgenden Tage fühlte ich mich sehr abgemattet, wie nach einer schweren Krankheit. Auch meine Umgebung schien mich wie einen Rekonvaleszenten zu behandeln. Der Verwalter und sein Vertreter erkundigten sich mehrmals nach meinem Befinden, selbst der finstere Gendarm erwies sich gefällig, lief in den Laden, um Lebensmittel und Leckerbissen für mich zu kaufen.
Am nächstfolgenden Morgen ging ich dann in Begleitung meiner vier Wächter spazieren. Es war hierfür ein kleiner Hofraum gewählt zwischen dem Gefängnisgebäude und der Einschließungsmauer. Die Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett faßten in einiger Entfernung voneinander Posto, ich wanderte die Strecke auf und ab, und das gleiche taten der Gendarm und die Polizeidiener. Es war herrliches Wetter, der linde, klare Herbst des Südens. Da meine Wächter augenscheinlich ebenfalls den Aufenthalt im Freien dem engen, dumpfen Korridor vorzogen, so dauerten die Spaziergänge immer länger. Ich suchte alsbald dem finsteren Gendarm, dem man besonders strenge Instruktionen eingeschärft hatte, menschlich näherzutreten. Wenn wir so auf und ab wanderten, versuchte ich, besonders als die Polizeidiener sich manchmal entfernten, Gespräche anzuknüpfen, indem ich harmlose Fragen an ihn stellte. Auch sein Herz war nicht von Stein. Man hatte diesen Mann als den pflichttreuesten, eifrigsten und bewährtesten unter vielen ausgesucht; aber auch er hatte seine kleinen Schwächen und Bedürfnisse. Er hatte eine zahlreiche Familie. Da er aber gemessenen Befehl hatte, mich nicht einen Augenblick aus den Augen zu lassen, so durfte er nicht einmal einen Besuch zu Hause machen, was ihm natürlich sehr unangenehm war. Bald wußte er also den Verwalter zu bewegen, daß dieser ihm gestatte, hin und wieder eine Stunde fortzubleiben, doch durfte sein Vorgesetzter es nicht erfahren. Diese geheimen Besuche des Gendarmen bei Weib und Kind führten sozusagen zu einem stillschweigenden Bündnis zwischen ihm und mir, brachten uns einander näher. Dann kamen die Klagen über das geringe Gehalt, mit dem nicht auszukommen sei, da er große Familie habe, und als ich hier mit großer Teilnahme zuhörte, kamen wir allmählich auch auf den Dienst und seine Beschwerden zu sprechen. Da erzählte er mir denn, wie er half, die Sozialisten zu vernichten.
»Mein Vorgesetzter befahl mir einmal, eine von euren ›Spezialistinnen‹ Mit den Fremdwörtern stand der Mann natürlich auf schlechtem Fuße, und so waren wir Sozialisten zu »Spezialisten« geworden. heimlich zu überwachen,« erzählte er mir. »Das war eine! Geschickt und schlau, und uns an der Nase herumzuführen verstand sie! Wera Figner war ihr Name. Eine Schönheit war sie, und gebildet soll sie gewesen sein; am meisten hatte sie hier Umgang mit Offizieren. – Na, ich habe also Zivilkleider angezogen und habe mich dann insgeheim hinter ihr hergemacht; wo sie sich hinwendet, überall folge ich ihr auf den Fersen; nimmt sie einen Wagen, alsbald nehme auch ich eine Droschke und fahre ihr nach. Sie betritt ein Haus; sofort notiere ich die Adresse und frage dann den Hausmeister aus, wen die schöne Dame besucht? So überwache ich genau, mit wem sie verkehrte. Drei Tage bin ich so hinter ihr her gewesen. Plötzlich verschwand sie. Nirgends konnte ich sie mehr finden, wie in die Erde versunken! Ich melde es. Teufel, habe ich da eine Nase bekommen! Man sagte, daß sie nach Charkow geflohen sei und daß man sie dann dort endlich abgefaßt habe.« Wera Figner ist in der Tat im Februar 1883 in Charkow verhaftet worden, wo der Verräter Merkuloff sie auf der Straße der Polizei zeigte. Ich komme darauf noch zurück.
Schließlich wurde der finstere, pflichttreue Gendarm, der so eifrig und geschickt die »Spezialistin« überwacht hatte, ganz zutraulich, besonders, als ich ihm versprach, ich werde ihm dies und jenes von meinen Sachen zum Andenken schenken, sobald ich abgeurteilt sein werde. Von ihm erfuhr ich denn auch die Details der Überwachung, die mir zuteil wurden. Unter anderem verriet er mir, daß der Stadtpräsident, der Platzkommandant und der Gendarmerieoberst gleich in den ersten Tagen mich aufgesucht hatten, ohne daß ich es wußte; sie hatten vom Korridor aus durch das Guckloch mich beobachtet und streng befohlen, daß ich nichts darüber erfahre.
Allmählich wurden die Abende länger, und ich wußte absolut nicht, was ich mit der Zeit anfangen sollte, da mir Licht fehlte. Stundenlang lief ich in der Zelle auf und ab, bis ich müde wurde, und doch war es mir nicht möglich, die langen Abende abzukürzen. Dann stellte ich mich wohl an die Türe und hörte dem Gespräch meiner Wächter zu. Die Polizeidiener hatten am meisten zu erzählen. Sie wurden alle vierundzwanzig Stunden abgelöst; aber da man zu meiner Überwachung nur einige Mann, wohl die Zuverlässigsten, gewählt hatte, so kannte ich sie bald alle. Von ihnen erfuhr ich und der Gendarm die Tagesneuigkeiten, den Stadtklatsch, und zuweilen brachten sie sogar insgeheim eine Zeitung mit, die dann hier in unserem eigenartigen »Klub« vorgelesen wurde. Ich streckte die Hand mit der Zeitung durch das Guckloch, damit ich Licht hatte, drückte das Gesicht an die Öffnung und las laut vor. Dicht neben mir standen dann die beiden Soldaten auf ihre Gewehre gelehnt und hörten aufmerksam zu; ein paar Schritte weiter saßen der Gendarm und der Polizist auf der Pritsche, die sie abwechselnd als Lager benutzten. Gab es keine Zeitung und keinen anderen Gesprächsstoff, so erzählten die Polizisten Märchen von Hexen, dem Teufel, Dämonen, und die ehrenwerten Mitglieder unseres »Klubs« lauschten mit gleichem, wenn nicht mit noch größerem Interesse als meinen Vorlesungen aus der Zeitung.
Auf diese Weise erfuhr ich immerhin, was auf der Welt vorging, trotzdem drei hohe Behörden sich angestrengt hatten, zu verhindern, »daß auch nur eine Fliege in die Zelle gelangt,« wie sich der Verwalter des Gefängnisses ausdrückte. Ja, bald erhielt ich auch Nachrichten über Dinge, die man aus russischen Zeitungen nicht erfährt, nämlich Vorgänge aus dem revolutionären Rußland. Ein Mann, der ein ziemlich hohes Amt bekleidete und unserer Partei zugeneigt war, half mir dabei. Da ich nicht weiß, ob dieser Mann, dem ich viel Gutes verdanke, noch lebt – über edle Taten, die mit der revolutionären Bewegung Rußlands in Berührung sind, darf man ja nur sprechen, wenn die Beteiligten im Exil oder tot sind! –, so darf ich seinen Namen leider nicht nennen und unsere Beziehungen nicht klarlegen. Ich erwähne nur, daß ich durch ihn meinen Kameraden Briefe übersandte und er mich auf dem laufenden hielt über alles, was mich interessieren konnte. – So erfuhr ich unter anderem, daß die bekannten im Exil lebenden Revolutionäre Peter Lawroff, Lopatin und Tichomiroff über Degajeff zu Gericht saßen und zu dem Schlusse kamen, daß zwar Degajeff, indem er behilflich war, Ssudeikin zu beseitigen, der revolutionären Bewegung einen großen Dienst geleistet hatte, daß er aber unbedingt sich jeder Teilnahme an der Bewegung und von jedem Verkehr mit den Revolutionären fernzuhalten habe. Desgleichen erfuhr ich, daß ein zwanzigjähriges Mädchen, Marie Kaljuschna, unternommen hatte, den Gendarmerieobersten Katanski in Odessa in seiner eigenen Wohnung zu erschießen, aber fehlgeschossen hatte. Etwa vierzehn Tage vor meiner Einlieferung in Odessa hatte man sie vor ein Kriegsgericht gestellt und – da sie noch nicht majorenn war – zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt.