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Elftes Kapitel

Acht Tage nach dem traurigen Ereignis langte der Herzog, nur begleitet vom Reisemarschall Grafen Luja, in Weißenfels an. Die Beisetzung des kleinen Prinzen in der Gruft unter der Schloßkirche war schon erfolgt, und eine stille Trauer hatte der namenlosen Bestürzung, der wilden Verzweiflung Platz gemacht. Rosas treue, zärtliche Liebe, der ernste Zuspruch der Gräfin Luja hatten der Herzogin wohl getan, aber das Wiedersehen mit ihrem Gemahl war doch der beste Balsam für ihr wundes Herz. So brachte die Ankunft Johann Adolfs die erste freundliche Regung in die Gemüter der Schloßbewohner und in ihren einförmig düstern Tageslauf. Der hohe Herr konnte nicht lange ernst und niedergeschlagen sein. Jegliches Zusammenfassen, jegliches Bedrückterscheinen ging ihm gegen die eigenste Natur. Er war gewiß nicht gleichgültig, er liebte Weib und Kinder, sie gaben ihm die Hoffnung auf ein Fortbestehen seines Hauses, aber das Unglück war bei ihm wie ein Schlag von außen, ein Schmerz, der ausgehalten, dann überwunden wurde. Es fiel kein langer Schatten auf sein Leben, es trat keine Verdüsterung ein, wie bei der Herzogin Friederike; dergleichen lag seiner Natur fern. Er wußte, daß sein Kommen ein Trost für die tief gebeugte Mutter sein werde, und war gütig genug, ihr diesen Trost zu gewähren, er sehnte sich auch nach seiner Gemahlin, aber die Aussicht auf traurige Gesichter, Tränen, ernste Gespräche war ihm von Herzen unangenehm.

Die Fürstin kannte ihn genau und war liebevoll und fein empfindend genug, sich nach allen Kräften seinetwegen zusammenzunehmen. So fiel das Wiedersehen weniger ergreifend aus, als man von allen Seiten gefürchtet.

Am Tage nach der Ankunft des Herzogs bat ihn seine Gemahlin, mit ihr in die Gruft zu gehen.

»Ich weiß«, sagte sie zaghaft, »daß Du, mein Adolf, allen trüben Eindrücken abgeneigt bist; es würde mir aber wie eine Lieblosigkeit gegen unsern armen kleinen Georg erscheinen, wenn Du seinem Sarge nicht einen freundlichen Blick schenken wolltest.«

»Du hast recht, liebes Weib«, entgegnete er, einer solchen Pflicht entziehe ich mich nicht. Ich hoffe, dieser gemeinschaftliche Besuch in der Krypta wird Deinen täglichen einsamen Gängen an diesen trüben Ort, Deiner schwermütigen Versenkung in das, was nicht mehr zu ändern ist, einen Abschluß geben.«

Sie seufzte leise, warum sollte er ihr die so natürliche Hingabe an die Trauer, in der ihr Gemüt Befriedigung fand, nicht gestatten, wenn auch das seine sich nicht danach sehnte?

Die Beleuchtung des Gruftgewölbes war angeordnet, ein paar frische grüne Kränze lagen bereit; im Salon der Herzogin stand sie selbst mit Rosa von Bünau, den Herzog erwartend. Die Damen trugen schwarze, mit Pelz besetzte Kontuschen, über ihre hohen gepuderten Frisuren waren schwarze Spitzenschleier geschlungen, die lang herabfielen. Das verweinte Gesicht der Herzogin sah recht bleich darunter hervor, die blühende Rosa aber, deren übermütiges Lächeln freilich verschwunden war – hatte nie reizender ausgesehen als jetzt. Endlich trat der Herzog mit Luja ein. Rosa nahm die Kränze, ein Liebesdienst, den die Herzogin gern selbst ihrem verstorbenen Kinde leisten wollte, der Herzog beauftragte aber zwei vor der Tür harrende Lakaien, die Gewinde zu tragen, dann bot er seiner Gemahlin den Arm, und der kleine traurige Zug setzte sich quer über den inneren Schloßhof nach der Kirche zu in Bewegung.

Vor der Kirchtür blieben die Lakaien zurück; mit einem bittenden Blick erlangte die Herzogin jetzt von ihrem Gemahl das Recht, ihre Kränze selbst zu tragen.

Welch eine trübe, bleierne Luft lag in dem Raum des Gotteshauses! Seit der Beisetzung hüllten noch Trauerflore die Wappen und Vergoldungen ein. Die Posaunenbläser und Gewinde tragenden Engel sahen erfroren und krank aus, jeder einzelne der kleinen schwellenden Körper, auf denen der Herzogin getrübtes Auge fiel, erinnerte sie an ihren toten Liebling. Der Küster war zur Hand, um mit respektvollem Gruß die Falltür empor zu heben, welche die Treppe zur Gruft bedeckte. Das herzogliche Paar stieg allein hinunter, Kammerfräulein und Kavalier blieben zurück, der Küster verschwand.

Rosa setzte sich auf einen der hochlehnigen Stühle am Altar, sie hielt die Hände im Schoß gefaltet und sah so aufrichtig betrübt aus, daß Luja, der das schöne Mädchen in Stunden des Unmuts »leichtfertig und kokett« genannt hatte, sie mit Staunen, ja fast mit Rührung betrachtete. Sie hatte doch ein warmes, treues Gefühl für ihre gütige Herrin, aber wie könnte sie wohl anders! dachte er, indem er im Schiff der Kirche auf und ab schritt und Rosa von fern beobachtete. Vielleicht ist sie auch traurig, weil ihr ein lustiger Winter am Dresdener Hofe entgangen ist.

Ein unwillkürlicher Zug führte ihn zu der in sich Verlorenen. Als er vor ihr stand, blickte sie empor.

»Die arme, arme Herzogin!« seufzte sie, indem Tränen ihr ins Auge schossen, »der Kleine war so frisch und rund geworden und nun plötzlich tot, o es ist ein großes Unglück!«

»Und eine rechte Täuschung für Sie, mein Fräulein, daß Sie nicht nach Dresden gehen.«

»Daran mag ich jetzt gar nicht denken!«

»An diese verlorene Aussicht auf einen lustigen Winter?«

»Ach Sie wollen mich mißverstehen; ich mag nicht an Lustbarkeiten denken.«

»In Dresden ist es sehr schön. Sie haben noch gar keine Idee von der Eleganz, von der Solennität dortiger Feste. Ihre Adorateure, unser energischer Baron Storke sowohl, wie der elegante Zscheplitz schmachten nach Ihrem Erscheinen. Nicht daß der Dresdener Hof arm an schönen und gefälligen Damen wäre, aber Sie, Fräulein von Bünau, würden als etwas Neues Mode und Ihre Rivalinnen verdunkeln.«

Das bewegliche Gesicht des schönen Mädchens hatte mit wechselndem Ausdruck zu dem Sprecher emporgesehen. Dem Erstaunten folgte Abwehr. Rosa sprang auf.

»Wie können Sie mir jetzt von solchen Dingen reden!« rief sie fast zornig, mit tiefer Empfindung hinzufügend: »Und hier!« Ein ehrfurchtsvoller Blick streifte den Altar zur Seite. Wie um der ferneren Möglichkeit einer Entweihung des Orts auszuweichen, eilte sie die Stufen hinunter ins Schiff der Kirche.

Graf Luja folgte, seine Augen strahlten, wie trefflich hatte das holde Geschöpf die Probe bestanden! Wie tief und rein wußte dies Mädchen zu empfinden, das er für so oberflächlich gehalten. Er trat neben sie, bot ihr den Arm und sagte: »Lassen Sie uns im Vorbau auf- und abgehen, dort können wir unbefangen von allem plaudern, was uns beliebt.«

Sie schien seinen Arm nicht zu sehen, sondern beschäftigte sich lebhaft mit ihrem großen schwarzen Fächer.

Ihn verletzte ihre stumme Ablehnung nicht, er hielt sich an ihrer Seite und erzählte ihr von der Betrübnis, der Sehnsucht und Unruhe des Herzogs während ihrer Herreise. Dies Thema erwärmte Rosa, bald sah sie mit ernster Aufmerksamkeit zu ihrem Begleiter empor, fragte nach Einzelheiten und gab sich, während sie im vorderen Raum der Kirche hin- und herschritten, mit sichtlicher Teilnahme seiner Unterhaltung hin.

Die Herzogin war schweigend, Hand in Hand mit ihrem Gemahl, auf den breiten Stufen zur Gruft hinuntergestiegen. Zuerst kamen sie an einen kleinen Vorplatz, auf den die Särge von oben heruntergelassen wurden, diesen durchschreitend gelangten sie an die geöffnete Tür zur Gruft. Es war ein weiß getünchtes, geräumiges und luftiges Gewölbe, in dem schon einige dreißig Särge in Reihen standen. Die jetzt regierende Linie war bereits die fünfte der Herzöge von Sachsen-Weißenfels; fast hundert Jahre befand sich das Erbbegräbnis in Benutzung.

Johann Adolf warf einen ernsten Blick über die Ruhestätten der Seinen, die irdischen Ueberreste seines Großvaters, seines Vaters und seiner Brüder standen hier aufgebahrt.

Die Herzogin hatte nur Auge für jene drei kleinen schwarzen Samtsärge, welche die Namen ihrer Söhne in Goldlettern trugen und in der vorderen Reihe standen. Sie legte ihre Kränze auf den nächsten und bog die Knie, um daneben auf die Steinplatten niederzusinken. Da umfaßte sie der Herzog mit starkem Arm, nahm mit der andern Hand seinen Mantel herunter, warf ihn auf die Erde und ließ die geliebte Frau, indem er sie auf die Stirn küßte, sanft darauf nieder gleiten. Friederike aber preßte knieend ihre Lippen auf den Namen ihres Kindes, umarmte den Sarg und schluchzte laut. Er gönnte dem Ausbruch ihres Schmerzes Zeit. Endlich blickte sie empor und sagte:

»O Adolf, wie fürchterlich zu wissen, daß ich sie alle einem gewissen Verderben geboren habe – daß diesem Verderben auch unser Letzter zum Opfer fallen wird!«

»Noch immer dies Hirngespinst, Geliebte?« erwiderte er unmutig und erschrocken. »Du hast bei keinem Todesfalle Deinem Argwohn Richtung und Namen zu geben vermocht. Auch jetzt erscheint mir nach allen angestellten Fragen und Nachforschungen nicht der mindeste Grund für Dein Mißtrauen.«

»Es muß eine fremde Hand im Spiel gewesen sein«, sagte sie düster.

»Du selbst hast die Amme allein und bei ihrem Souper angetroffen. Der Sturm jenes Abends reißt ein Fenster auf, das zart gewöhnte Kind wird dem eisigen Zuge ausgesetzt –«

»Georg war schon tot, als das Fenster aufflog.«

»Weißt Du, ob es nicht schon einmal geschehen? Die Aerzte konstatieren den Krampf, eine plötzliche Erkältung.«

»Weil sie es nicht besser wußten.«

»Mein armes Weib! Wie konnte ein Kind, das an einem Luftzuge zu Grunde geht, gesund und stark werden! Vielleicht ist es Dir ein Trost zu denken, daß wir es doch nicht behalten hätten!«

»Georg war mein kräftigstes, mein schönstes Kind.«

»Dafür gilt meist das jüngste. Und nun komm und steh auf. Suche nur einmal in Worte zu fassen, auf welche äußere Einmischung dein soupçon richtet? Es hat sich auch nicht der geringste Anhaltspunkt ergeben. Die Wärterin, welche Du lange Jahre kennst, erklärst Du selbst für zuverlässig; die Amme war wie rasend; beide haben ihren bequemen einträglichen Platz verloren, sind fortgeschickt, worüber sie laut jammerten, was hätte diese Weiber zu einer schändlichen Tat veranlassen sollen?«

»Es konnte durch das offene Fenster –«

»Gut, auch eine solche Möglichkeit ist untersucht. Ueber den Baum meinst Du? Während des Sturms ist das Besteigen eines großen, stark schwankenden Baumes gefährlich, fast unmöglich, auch hätte die Amme solchen Einbruch bemerken müssen. Außerdem hat man unter dem Baum keinerlei Spuren gefunden.«

»Der Schnee war am Morgen aufgetaut, abends trat Frost ein, so fand sich nichts.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich lasse den Baum fällen, wenn er Dich beunruhigt. Uebrigens mußte ja auch Mademoiselle Bernard – im zweiten Zimmer davon hören, wenn sich bei der Amme etwas Ungewöhnliches begab. Ich weiß, Du läßt die Türen Deines Schlafzimmers nach beiden Seiten offen.«

»Während Deiner Abwesenheit nahm ich August und seine Bonne mit zur Tafel«, sagte die Herzogin kleinlaut; sie wußte, daß er diese Nichtachtung der Etikette tadeln würde.

»Dann war allerdings die Amme ohne Ueberwachung, aber da der Kleine schlief und sie soupierte –«

»Kann etwas Schreckliches geschehen sein! Bei Tafel ergriff mich plötzlich eine entsetzliche Angst, ich hielt es nicht aus, ich sprang empor; als ich durch mein Vorzimmer lief, war es mir, als sehe ich aus dem Spiegel meiner Toilette, vor der wie immer die Lichter brannten, einen Schatten sich in dem Trumeau des Garderobesaales hin bewegen, es war nur ein Hauch, ein Eindruck, der erst später an Festigkeit gewann – hatte die Amme am offenen Fenster gestanden? sie schwor, sie habe sich nicht von ihrem Eßtische gerührt –«.

»Nun, so glaube ihr doch«, sagte er gutmütig.

»Ich kann es nicht!« Plötzlich warf sie sich dicht vor ihrem Gemahl nieder und umfaßte seine Kniee. »Adolf, verzichte auf Deine Souveränität!« schrie sie zu ihm auf, »rette mir mein letztes Kind! Angesichts dieser teuren Verblichenen beschwöre ich Dich, weiche dem sicheren unabwendbaren Verderben aus, das vielleicht auch auf Dich lauert; wirf den Traum äußerer Größe von Dir; tue Deinen mächtigen, gewissenlosen Feinden den Willen; begnüge Dich mit dem Glücke, das wir Dir bieten; trotze nicht länger dem Unsichtbaren, Gräßlichen!« – Er bemühte sich, sie aufzuheben. Sie widerstand. »Ich weiche nicht«, jammerte sie, »bis Du mich erhört, mir nach allen diesen Opfern und Qualen der Angst den Frieden wieder gegeben hast.«

Er redete ihr zu wie einer Kranken, für die er sie hielt; es half nichts, sie wand sich in flehender Verzweiflung zu seinen Füßen. »Friederike«, sagte er endlich ernst und feierlich, »ich rufe die vier anderen Herzöge von Weißenfels, die hier in Gott ruhen, als Zeugen und Eideshelfer an, daß ich Deinen Wunsch nicht zu erfüllen vermag. Die Souveränität ist das höchste irdische Recht, welches uns die Geburt geben kann. Ein solches Recht insolviert heilige Pflichten; man soll Rechte und Pflichten nicht nach Belieben einer Chimäre opfern. Weiche ich der Gewalt, gut, so kann ich nicht anders. Ich habe im Felde zu den Avancierenden, aber auch zu den Retirierenden gehört, das hat meine Ehre unangetastet gelassen, das ist Glückssache. Aber vor einem Nichts, einem Gespenst die Flucht ergreifen, das ist unmöglich! Es hieße mich vor mir selber vernichten. Ich halte meinen Posten treulich, mag ich auf demselben zu Grunde gehen, mag ich keine Ablösung erleben, wie Gott will, Ehre gerettet, alles gerettet.«

»Ist keine Hoffnung Dich zu erweichen?« rief sie noch einmal.

»Nein, Friederike, keine.«

Sie sank mit dumpfen Stöhnen über den kleinen Sarg.

»Laß uns gehen«, sagte er endlich gepreßt.

Sie gehorchte, es war etwas wie Schlafwandeln in ihr. Er nahm ihre Hand, sie ließ es geschehen, ja sie blickte nicht einmal zurück, als er sie die Treppe hinaufführte. Eine furchtbare Starrheit legte sich um ihr Herz. Ihr war wie einem Menschen, der sein Urteil empfangen hat und mit ratloser Verzweiflung auf den Henker wartet. Wie lange würde ihre Galgenfrist noch dauern? Ins Schloß zurückgekehrt, floh die Herzogin nach dem Zimmer ihres kleinen August, das Kind saß auf dem Schoße der Bonne und spielte vergnügt.

Die verzweiflungsvolle Mutter riß das kleine Wesen an sich und bedeckte es mit Liebkosungen. »Mein Einziger!« stammelte sie. »Mein Alles! O Mademoiselle Bernard, hüten sie mir mein Kleinod!«

»Durchlaucht dürfen ganz ruhig sein«, entgegnete die Bonne herzlich, »ich liebe das Prinzchen und würde es gegen jeden Feind wie eine Löwin verteidigen.«

»Ich danke Ihnen, gute Clemence, o ich will alles für Sie tun, ich will ihre Freundin sein, wenn Sie mir mein Kind behüten!«

Der Herzog konnte nach der peinlichen Szene in der Krypta zu keinem unbefangenen Ton mit seiner Gemahlin kommen. Friederike blieb scheu und einsilbig, bei aller gegenseitigen Liebe verstanden sie sich jetzt nicht. Seine wiederholt ausgesprochenen Vorschläge, sie solle sich entschließen, noch jetzt mit nach Dresden zu kommen, sie könne dort leben wie sie möge, wehrte sie entsetzt ab.

»O nicht dorthin, jetzt nicht, es ist mir unmöglich!« sagte sie. »Laß mich in der Stille, der Einsamkeit meinen Erinnerungen und meine Trauer leben!«

Als er sich überzeugte, daß er ihr jetzt nichts sein konnte, daß sie ihn nicht brauchte, vielleicht heimlich als die Ursache ihrer Leiden ansah, begann ihm das ruhige Leben in Weißenfels lästig zu werden. Sein frischer, nach Heiterkeit und Bewegung verlangender Sinn trieb ihn wieder von dannen. Acht Tage blieb er auf dem Schlosse, dann kehrte er mit dem Grafen Luja nach Dresden zurück.


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