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Das herzogliche Sommerschloß Herrenhausen, kaum eine Stunde von Hannover gelegen, war der Lieblingsaufenthalt des Herzogs Ernst August und seiner Gemahlin Sophie, der Tochter des Winterkönigs Friedrich von der Pfalz und Elisabeth Stuarts, der Tochter Jakobs I. von England.
Während der Erbprinz Georg, seit neun Jahren mit seiner Kousine der Prinzessin Sophie Dorothee von Celle vermählt, im Stadtschlosse wohnte und die jüngeren Prinzen im Osnabrücker Hof auf der Neustadt ihr Heimwesen hatten, zogen es die Eltern vor, so lange wie möglich und manchmal auch während des ganzen Winters, draußen in Herrenhausen Hof zu halten. Dies Schloß im Grünen, an einem schönen, weitläufigen Park gelegen, geräumig, licht und freundlich, bot allerdings auch einen angenehmeren Aufenthaltsort als das finstere, aus einem Minoritenkloster erbaute Stadtschloß an der Leine, in dem indeß meistens die großen Empfänge und Festlichkeiten gehalten wurden.
Die Herzogin Sophie saß mit einer Stickerei beschäftigt, in einem wohnlichen, schön ausgestatteten Zimmer des Herrenhauser Schlosses. Sie war jetzt 61 Jahre alt, aber eine gesunde, ungewöhnlich geistesfrische Frau, heiter, entschlossen und hochgebildet, Freundin des berühmten Gelehrten Leibniz, der die Stellung eines Beraters in allen ernsten Angelegenheiten am Hofe zu Hannover einnahm.
Während die Fürstin mit raschen Händen ihre Stickerei förderte, sie liebte es, sich eifrig zu beschäftigen, gingen trübe und ernste Gedanken durch ihre Seele.
Das Herzogspaar besaß, außer einer an den Kurfürsten von Brandenburg vermählten Tochter, sechs erwachsene Söhne, die teilweise schon in jungen Jahren an der Seite des Vaters oder auf eigene Hand am Rhein gegen die Franzosen, für den Kaiser gegen die Türken und im Dienste Venedigs gekämpft hatten. Der auf den Erbprinzen Georg folgende zweite Sohn August war vor etwa einem Jahre in Siebenbürgen gefallen und bald darauf auch der vierte Prinz Karl gegen Tartaren und Türken in Albanien geblieben. Diese beiden schweren Verluste konnte das Mutterherz nicht überwinden.
Der Herzogin Schmerz war frisch angeregt worden durch die kürzliche Rückkehr zweier anderen Söhne aus dem Felde, des 25jährigen Prinzen Maximilian und des 20jährigen Christian, die beide während des Winters am hannoverschen Hofe zu bleiben gedachten.
Freute sich nun auch die Mutter an ihrem männlich schönen, hochgemuten Maximilian und dem frischen, lustigen Christian, so fürchtete die kluge Frau doch ernste Konflikte von der Söhne Heimkehr.
Alle jüngeren Prinzen haßten ihren ältesten Bruder, den derben, verschlossenen, hochfahrenden Georg, doch nicht allein seiner Persönlichkeit halber, viel mehr noch der Begünstigung wegen, die ihm vom Vater zuteil geworden war.
Bis jetzt hatte im Hause Braunschweig-Lüneburg unter den herzoglichen Prinzen ein gleiches Erbrecht gegolten, hätte es auch zu unheilvollen Teilungen und Zersplitterungen führen können, so hatte es doch bis jetzt kaum zu ernsten Streitigkeiten Anlaß gegeben und ward von allen Beteiligten als zu recht bestehend anerkannt.
Herzog Ernst August, durchdrungen von ehrgeizigem Streben und von dem Verlangen, seine Familie zu größerer Macht und bedeutenderem Ansehen zu erheben, gründete das Erbgesetz der Primogenitur. Danach sollte Georg dereinst der allein regierende Herr werden und alle Brüder, mäßig abgefundene, untergeordnete, jüngere Prinzen bleiben.
Der nun verstorbene Prinz August, als zweiter Sohn geboren, hatte lebhaft widersprochen und war im Unmut über des Vaters Heftigkeit, die er Härte nannte, ins Feld gezogen.
Die anderen Brüder standen auf seiner Seite, wodurch ein Zwiespalt in der Familie entstand, der durch des begünstigten Ältesten kalte Schroffheit noch klaffender wurde. Noch ein Umstand ließ des Vaters Maßnahmen als besonders hart und unberechtigt erscheinen.
Das Herzogtum Celle-Lüneburg war seit mehreren Jahrhunderten von Kalenberg getrennt regiert worden, jetzt aber sollten beide Häuser vereinigt werden, da der Bruder Ernst August's, der Herzog Georg Wilhelm von Celle und Lüneburg, nur jene mit dem Erbprinzen Georg vermählte Tochter, Dorothea, besaß und längst ein Erbvertrag die demnächstige Verbindung der Landesteile festgesetzt hatte.
Alle diese Fragen und Streitpunkte, während der Prinzen Abwesenheit zur Seite gelegt, gingen jetzt durch den Sinn der Herzogin Sophie.
Der feurige Maximilian, der nun als zweiter Sohn an August's Stelle getreten war, würde gewiß den alten Streit mit erneuter Heftigkeit aufnehmen und ihr Mutterherz, das alle Kinder gleich innig liebte, bedrängen. Wie unangefochten hatte sie in der letzten Zeit gelebt.
So wohl sie sich mit ihrem Gemahl vertrug, so zärtlich sie einst den schönen, hochstrebenden Mann geliebt hatte, jetzt schlug er nun schon nach französischem Vorbilde manches Jahr seinen eigenen Weg ein und hatte wenig Zeit für sie übrig. Doch der Gram darüber war fast verschmerzt, wurde wenigstens von der klugen Frau nie gezeigt.
Es war einmal die Zeit, in der Fürsten, selbst solche, die gar keine Neigung zu Ausschweifungen hegten, der Mode nach es ihrer Würde angemessen erachteten, Gunstdamen zu halten, selbst wenn sie sich mit ihnen langweilten.
Der Erbprinz ging, ohne sich viel um die Familie zu kümmern, seinen Neigungen nach, die sich hauptsächlich auf Liebesabenteuer und Jagden beschränkten und ihr Jüngster, ihr Benjamin, der zarte sechzehnjährige Ernst, war so weich und friedfertig geartet, daß er sie nie störte.
Ihre Liebhaberei aber war sich rege zu beschäftigen. Unter Anleitung ihres geistvollen Freundes, Leibniz, studierte sie Sprachen, Philosophie und Naturwissenschaften und fand ihren höchsten Genuß darin, alle diese Dinge mit dem großen Denker zu besprechen.
Die Herzogin Sophie hatte ehegestern, an der Seite des Gemahls, ihre beiden aus dem Felde heimgekehrten Söhne, Maximilian und Christian, empfangen und liebevoll begrüßt; gestern hatte man zusammen gespeist, heute wollten die Söhne zu einer vertraulichen Unterredung die Mutter besuchen, und diesem Zusammentreffen sah nun die Fürstin mit einer gewissen peinlichen Spannung entgegen. Vermutlich würde der alte, kaum vertagte Streit wieder zur Sprache kommen und sie, zwischen den entschiedenen Willen des Gemahls und die lodernde Unzufriedenheit der Söhne gestellt, von beiden Teilen zu leiden haben.
Wer hatte recht in dieser schwierigen Frage? Besaß der alte Familienbrauch des Teilens, der die gleichen Ansprüche aller Söhne bestimmte, die Heiligkeit eines unumstößlichen Gesetzes, oder hatte doch ihr Gemahl jene, von den jüngeren Prinzen angezweifelte Berechtigung, die ganze Erbfolge nach seinem Gutdünken zu regeln?
Ungewöhnlich beschäftigt mit diesen Gedanken, ließ die Fürstin ihre Arbeit sinken und den Blick in den Park hinaus irren.
Hier war noch kein Schnee gefallen, wie in dem höher gelegenen Lande; die Rasenplätze schimmerten noch grün, in den Alleen, an den hohen Hecken und den Gebüschen flatterten noch herbstlich bunte Blätter an den Zweigen. Auf der Terrasse waren Gärtnerburschen beschäftigt die Orangerie ins Haus zu schaffen, man traute den matten Sonnenstrahlen nicht, die manchmal durchs kahle Gezweig huschten und fürchtete Frost. Dann kamen ein paar Mädchen mit Harken und Besen, um die breite Terrasse vor den Gemächern der hohen Frau von verstreuten welken Blättern zu säubern.
Allein die Herzogin, sonst für alles um sie her interessiert, ließ heute ihren Blick leer, ohne zu sehen, hinausschweifen.
Der leise eintretende Lakai meldete: »Die durchlauchtigsten Prinzen, Maximilian und Christian.«
Herzogin Sophie erhob sich, eine leichte Röte innerer Bewegung flog über ihre Stirn, so stand sie neben ihrem Arbeitstischchen, als die Söhne eintraten.
Prinz Max schritt voran. Ein schöner, feuriger Jüngling, groß, stattlich, mit strahlenden Augen und einem Siegerlächeln.
Christian war gedrungener. Auf seinem geröteten Gesichte lag ein behagliches Schmunzeln, die zwinkernden Augen hatten einen schelmischen Ausdruck und seine vollen roten Lippen, hinter denen die weißen Zähne etwas hervorblickten, schienen zum frohen Lachen geöffnet zu sein. Alles in allem noch ein kindlicher, unbesonnen leichtlebiger junger Gesell.
Die Söhne neigten sich tief und küßten der verehrten Mutter Hand. Die Matrone ließ leise liebkosend ihre schlanken Finger über die vollen, lang herabfallenden Perrücken der Jünglinge gleiten und küßte sie auf die Stirn.
Nach der ersten Bewillkommnung setzte sich die Herzogin wieder in ihren Lehnstuhl und lud die Prinzen ein, sich der bereit stehenden Tabourets zu bedienen.
Alle wußten, daß hinter den Phrasen über Wohlergehen und Tageserlebnisse etwas Ernsteres lauere. Es war als glühe in den Seelen ein unterdrücktes Feuer, das plötzlich emporlodern mußte.
Den zuckenden Mienen Maximilian's sah die Mutter an, wie schwer er sich beherrschte. Endlich brach sein tiefes Denken und Wollen hervor. Aufspringend rief er: »O teuerste Frau Mutter, hören Sie mich gnädigst an. Sie sind unsere confiance, unsere consolation! Sie werden es ja wissen, weshalb wir kommen. Ich bin jetzt der zweite Sohn meiner hochfürstlichen Eltern und der veritable Erbe einer der Herzogskronen, die dereinst mein Herr Vater nachlassen wird. Stehen Sie uns bei in unserm guten Rechte!«
Tief bekümmert blickte Sophie ihren erregten Sohn an: »Wir haben es gefürchtet Maximilian, daß ihr, arg trutzig geartet, solchergestalt hereinbrechen, von eurem Herrn Vater Festgesetztes anfechten und uns tief chagrinieren möchtet. O, mein liebes Kind, haltet Frieden und verstört nicht unser aller Einvernehmen!«
»Die gnädigste Frau Mutter waren für meines hochseligen Herrn Bruders August Protest huldreich gesinnt.«
»Der arme, liebe Gustel!« seufzte die Frau.
»Er hat den Tod gesucht, weil man ihm hier Ehre und Recht abgeschnitten; soll ich hinaus getrieben werden und desgleichen thun?«
»Maximilian!« die Herzogin hob in Angst beide Hände empor.
»Auch Christian ist da, um mit mir gegen die uns jüngeren Prinzen angethane Unbill zu protestieren. Sprich Bruder, ist es nicht deine Meinung?«
»Gewiß Max, ganz einverstanden.«
»Lieben Söhne, was affligiert ihr mein Herz, wo ich euch doch nicht helfen kann? Ich weinte manche Nacht um diesen bösen Handel. Ein Kind ist mir so lieb wie das andere und die unglücklich sind, jammern mich am meisten.«
Maximilian begann jetzt, indem er sich wieder zur Mutter setzte, ihr vorzustellen, was sie für seine Sache thun könne. Er bat, sie solle nach Braunschweig reisen, um Herzog Anton Ulrich, den Lehnsvetter des Hauses, zu einer förmlichen Einsprache zu veranlassen. Auf ihn werde der Vater vielleicht hören, und die Braunschweiger seien berechtigt, ein so wichtiges Gesetz mit zu beraten. Die Herzogin ließ sich zu der Reise überreden und versprach sie auszuführen, sobald sie könne.
Währenddem hatte sich Prinz Christian in eine Fensternische zurückgezogen und seine eigene Unterhaltung gefunden. Er beobachtete die beiden in der Nähe auf der Terrasse beschäftigten Gärtnermädchen und fand, daß die eine hübsch sei. Leise pickte er mit einem Finger an das Fenster. Die Mädchen blickten auf und knixten, was einem Zusammenbruch in den Knieen ähnlich sah. Der Prinz schnitt ihnen ein Gesicht. Kichernd wanden sich die Dirnen unter seinen schielenden Blicken, sie wagten vor Ehrfurcht kaum zu lachen, konnten es aber nicht unterdrücken, was ihn höchlich ergötzte. Er wurde des Spiels nicht müde, die Mädchen stießen sich an, drehten und zierten sich immer drolliger.
Der Lakai trat wieder ein und meldete: »Hofrat von Leibniz.«
Die Herzogin atmete auf, des geistvollen und versöhnlichen Mannes Gegenwart gab ihr immer ein Gefühl der Sicherheit.
Der Gemeldete trat ein, er war fünfundvierzig Jahre alt und von hagerer, mittelgroßer Gestalt, hatte einen großen Kopf, den eine schwarze Perrücke bedeckte. Kurzsichtige Augen, breite Schultern und krumme Beine, aber aus seinen Zügen leuchteten Geist und Güte und sein Mienenspiel war außerordentlich lebendig.
»Wir sind auf dem alten Punkte, Monsieur Leibniz,« rief ihm die hohe Frau entgegen. »Neue Protestation gegen meines hochfürstlichen Herrn Gesetz über die Primogenitur.« Dabei reichte sie dem Freunde die Hand zum Kuß. »Rede er mir doch das junge stürmische Blut zur Ruhe!«
»Verständige Leute sind immer dazu incliniert,« sagte Leibniz mit einem ernsten Blick in die flammenden Augen des Prinzen Max. »Meinungen, die an eine gewisse Zügellosigkeit grenzen, bereiten eine allgemeine Revolution vor.«
»Man kann sich leicht über die Dinge erheben, die uns nicht berühren!«
»Aber auch über diese guten Gründen Gehör geben.«
»Und die wären?«
»Mein durchlauchtigster Prinz kennt sie und würde, unverblendet durch begehrliche Wünsche, ein löbliches Absehen von seinen Intentionen haben.«
»Seine Gründe sind hinfällig, Monsieur! Ich habe die Rechte und Institutionen meiner ganzen hohen Sippe für mich. Wann ist je im Hause Braunschweig-Lüneburg ein nachgeborener Prinz geringer ästimiert worden als der Älteste? Haben wir nicht alle dieselben Eltern, dasselbe Fleisch und Blut? Und der eine Bevorzugte soll die ganze Macht der Souveränität erben, wogegen die anderen in ihrem Nichts ersterben können? Denk' er doch, Herr Hofrat, an das schöne Akkordamento der Brüder meines hochseligen Großvaters, des Herzogs Georg! Die sechs Söhne Herzog Wilhelms billigten sich gleiche Rechte zu und losten untereinander, welcher von ihnen sich standesgemäß vermählen und der Stammhalter sein sollte. Das Los traf den vorjüngsten Georg und er bestimmte in seinem Testamente von anno 1641, daß, so lange noch zwei seiner Söhne am Leben seien, die Landschaften Celle-Lüneburg und Kalenberg-Göttingen nie zu einer Herrschaft verschmolzen werden sollten. Wie kann nun mein Herr Vater eine Ordonnanz, die ihm eine Herzogskrone gab, umstoßen?«
»Jeder Besitzer hat das gleiche Recht, nach bestem Wissen und Gewissen zu testieren.«
»Ich aber kann und will mich nicht in die Niedrigkeit finden!«
»Es kann jeder auf seinem Platze zufrieden und tüchtig sein.«
»Mir gebricht es an der unterwürfigen Zahmheit untergeordneter Geister. Ich bin stolz auf meine Geburt, ich fühle meine Kraft, ich will mir einen würdigen Platz im Leben erringen!«
Der Lakai trat rascher ein als vorher: »Seiner hochfürstlichen Durchlaucht, der Herr Herzog!«
Eine kleine Bewegung ging durch die Anwesenden; die Herzogin erhob sich und schritt ihrem Gemahl entgegen, Prinz Maximilian suchte seine Erregung zu bemeistern, Prinz Christian kam aus der Fensternische hervor und legte sein lustiges Gesicht in ehrbare Falten, und Leibniz trat bescheiden zurück.
Herzog Ernst August, der jetzt mit der raschen Bewegung eines Jünglings eintrat, war noch immer ein stattlicher Mann, wenn er auch jetzt schon zweiundsechzig Jahre zählte, er trug seine kräftige Gestalt aufrecht, und sein kluges Auge überflog mit scharfem Blick die Anwesenden. Von einer mächtigen Allongenperrücke fielen die Locken ihm in wohlverteilten Bündeln über Brust und Schulter und umgaben sein glattrasiertes, frisches Gesicht nicht ungefällig. Feine Spitzen krausten sich auf seiner Brust, eine gestickte Atlasweste, die lang herunterfiel, ein braunroter, goldbordierter Sammetrock, Spitzen vor den Händen und am Knie, seidene Strümpfe und Hackenschuhe mit glänzenden Schnallen vervollständigten seinen Anzug.
Er trug sich nach der prächtigen Mode des französischen Hofes und ahmte, wie viele deutsche Fürsten dieser Zeit, Ludwig XIV. in mehr als einer Hinsicht nach, wenn er ihn auch persönlich haßte.
Der Größenwahn des roi soleil, seine Prachtliebe und lockeren Sitten hatten viel Verführerisches für die unbeschränkte Machtvollkommenheit der Herrscher des siebzehnten Jahrhunderts.
Es war eine wunderliche Zeit. Seit vierzig Jahren hatte der fürchterlichste aller Kriege, der dreißig Jahre lang Deutschlands Gauen verwüstete, sein Ende gefunden. Überall sehnte man sich nach Ordnung, Zucht und Sitte. Aber das Gleichgewicht in den Gemütern war auf lange Zeit hinaus gestört, vorläufig konnten Tugend und Wohlstand noch nicht gesund emporwachsen. Man fand den richtigen Maßstab nicht, aus der Formlosigkeit war ein Übermaß von Form geworden, nach der Zeit harten Entbehrens kam ein zur Schau tragen von Glanz und Üppigkeit und nach dem Mangel an Zucht, kriechende Unterwerfung, die in besonders übertriebener Weise an den Höfen und in deren Umgebung hervortrat.
Nachdem der Herzog seine Frau auf die Stirn geküßt, den Handkuß seiner Söhne und Leibnizens tiefe Reverence empfangen hatte, ließ er sich in einen hochlehnigen Armstuhl, den der Lakai zurecht gerückt, gegenüber dem Sessel seiner Gemahlin nieder, während die anderen drei Herren stehen blieben.
Der scharfe Blick des Fürsten hatte sofort wahrgenommen, daß die Anwesenden keinen gleichgültigen Gesprächsstoff behandelten, auf aller Mienen lag eine gewisse Spannung ausgedrückt, Ernst August hätte weniger scharfsinnig sein müssen, als er war, wenn er nicht geahnt, was es hier gab. Es entsprach seinen Wünschen, klar zu sehen; er faßte, seiner offenen, selbstgewissen Natur nach, gern den Stier bei den Hörnern, hielt sich zu allen seinen Maßnahmen vollauf berechtigt und hegte plötzlich die Anwandlung, gleich und in diesem Kreise das, was wieder in der Luft lag – die Unzufriedenheit der jungen Prinzen – mit dem Übergewicht des Vaters und Regenten ein für allemal zu widerlegen und niederzuwerfen.
Die Herzogin Sophie kam, ohne es zu wissen und zu wollen, seinen Wünschen entgegen. Nach einigen geringfügigen Reden teilte sie ihm ihre Absicht mit, dem braunschweigischen Hofe einen Besuch abzustatten.
Wie ein Blitz ging es über die Mienen des Herzogs, er hatte verstanden, was seine Gemahlin bei Anton Ulrich wollte. Sie ging auf Maximilians Begehren ein, sie wagte es, Partei gegen ihn und seine wohlüberlegten Bestimmungen zu nehmen. Eine Flamme des Zornes stieg ihm in die Stirn:
»Ew. Liebden haben da eine absonderliche Affaire im Sinne!« murrte er. »Dero Mutterzärtlichkeit setzt Madame zur ambassadrice herab, widerspenstigen Gelüsten Succurs zu holen.«
Sophie errötete in peinlicher Verlegenheit, er hatte sie durchschaut und sie schämte sich ihrer Schwäche gegen den Sohn; die Augen niederschlagend stammelte sie: »Wenn Ew. Liebden meine Reise nicht approbieren, so« –
»Wir sind noch Mannes genug, selbst im eigenen Hause zu löschen, wo es brennt. Brauchen dazu nicht des braunschweigischen Vetters eifersüchtige Einmischung. Daß Anton Ulrich malcontent ist, so der Nebenzweig ihm an Saft und Kraft über den Kopf schießt, läßt sich begreifen. Aber was den neidischen Nachbarn chagriniert, ist gewiß zu unserem Frommen. Dies Zeichen sollte allein den Söhnen unseres Hauses genügen, bestehende Verfügungen als weise und zweckdienlich zu consentieren.« Ein scharfer Blick des Tadels traf den Prinzen Maximilian, auf dessen schönem Gesichte Röte und Blässe wechselten und leidenschaftliche Ungeduld brannte.
Als der Vater schwieg und ihn wie herausfordernd anblickte, trat er einen kleinen Schritt vor und sprach in großer Erregung: »Mein hochfürstlicher Herr Vater haben mir das edle Blut mitgegeben, das sich gegen die mir zugedachte Erniedrigung auflehnt. Ich bin der zweite Sohn dieses souverainen Hauses und besitze das angeborene Recht, eine der zu vererbenden Herzogskronen zu tragen. Da Gott mich zu dem gemacht hat, was ich bin, können selbst Ew. Durchlaucht mich nicht zu einem simpeln Edelmann degradieren.«
Die stolze Sprache des Sohnes hatte verwandte Saiten im Herzen des Vaters berührt, milder als zuvor sagte er: »Ich werde Euch ein Einkommen verordnen, Prinz, mit dem Ihr Euch fürstlich und wohl halten könnt.«
Heftig antwortete Maximilian: »Die mir angesonnene Unterordnung würde ich nimmer, weder für mich noch für meine jüngeren Brüder verantworten können. Ich kann unser Erbrecht nicht schnöde hinauswerfen und eine gottgefällige Regierung gegen geringe und ungewisse Geldsummen eintauschen.«
Der Herzog sprang empor und brauste auf: »Hat man Euch consultiert über das, was Ihr könnt und wollt? Bin ich nicht mehr Herr über alles, was Gott in meine Hand gelegt? Wie darf sich ein Kind unterfangen widerbellig zu sein gegen seinen Herrn und Vater?«
Maximilian stand da und nagte an seiner Unterlippe, eine Zornesfalte lag auf seiner Stirn, die Hände zogen sich unter den herabfallenden Spitzen zur Faust zusammen, einzeln und schwer sanken die Worte von seinen Lippen: »Ew. Liebden – verfügen – über geliehene Rechte – über Rechte, die nur vorübergehend Höchstihre sind.«
Vater und Sohn maßen sich mit feindselig flackernden Blicken. Es schien als finde der zornige alte Fürst schwer die Sprache. »Hinaus!« rief er endlich, »hinaus! Ich will euch lehren, aufsessige Brut, wer hier befiehlt und daß mein Recht fest steht.«
Maximilian vergaß den Eltern die Hand zu küssen, er verbeugte sich tief mit dem vornehmen Anstande, der ihn auszeichnete; es war eine unnachahmliche hoheitsvolle und anmutige Bewegung, mit der er die Hand, die den Federhut hielt, fast bis zur Erde senkte, dann drehte er sich kurz um, erreichte die Thür und verschwand nach einer nochmaligen Verbeugung vor seinen Eltern.
Auch Christian hielt sich für entlassen. Er wollte versuchen, des zornigen Vaters Hand zu küssen, wurde aber abgewiesen, darauf folgte er, so rasch er konnte, dem Bruder.
»Er hat mir auch das Kind, den Christian, verhalsstörrigt,« murrte der Herzog, als die Thür sich hinter den Prinzen geschlossen hatte, im Zimmer auf und ab schreitend.
Eine peinliche Stille trat ein, die Herzogin konnte ihre Thränen nicht zurückhalten, sie fühlte sich zu schmerzlich zwischen Vater und Sohn hin und her gezerrt. Das Zusammentreffen harter Gegensätze war ja entsetzlich gewesen. Endlich blieb Ernst August vor seiner Gemahlin stehen, er war von gutmütiger, leicht versöhnlicher Gemütsart und nicht gleichgültig gegen die Thränen seiner Frau, die Sophie sehr selten vergoß.
»Monsieur Leibniz,« sagte der Herzog, »erkläre er seiner Gönnerin noch einmal die markanten Beweggründe meines Primogeniturgesetzes. Ich weiß, er ist mit mir d'accord. Aber die hohe Staatsraison scheint schwer in einen Frauenkopf zu gehen.«
»Sagen Ew. Liebden vielmehr: in ein Mutterherz!« seufzte die Fürstin.
Leibniz trat willfährig herzu und begann in seiner klaren Weise noch einmal darzulegen, wie notwendig es sei, jede Möglichkeit der Länderteilung und Zersplitterung auszuschließen.
Währenddem schritten die beiden prinzlichen Brüder zusammen durch das Vorzimmer.
»O Max, was habt Ihr angerichtet,« sagte Christian mit einer komischen Geberde der Furcht. »Unser Herr Vater war gar übel zufrieden; wir haben seine Gnade und Huld verloren.«
»Mag's sein Bruder,« knirschte der Ältere. »Ich bleibe bei meinem Protest!«
Sie gelangten nun in das Gemach, in dem die Adjutanten ihrer warteten. Es war der Maximilian seit langem zugeteilte Begleiter, Oberstlieutenant Erich von Moltke und Kammerjunker von Krauchenberg, der Führer des jungen Christian. Während die beiden Letzteren das Zimmer verließen, um in die Stadt zurück zu kehren, stieß Prinz Max eine Glasthür auf, die in den Park führte und rief:
»Komm er mit, Moltke, ich muß mir ruhig Blut laufen, eh' ich den Reitknechten unter die Augen trete.«
»Es hat ein böses Renkontre gegeben, Prinz?« fragte der Adjutant teilnehmend.
»Ja, ja, einen harten Stand haben sie mir gemacht, aber ich habe ihnen die Zähne gewiesen und ich ruhe auch nicht eher, als bis der Herzog meine Ansprüche restituiert.«
Starken Schrittes gingen sie durch die herbstlich gefärbten Alleen. Der Wind hatte sich aufgemacht und trieb das beständig herabflatternde Laub im wirbelnden Tanz vor ihnen her.
Schwere Wolken hingen am Himmelsgewölbe, wurden vom Luftstrom der oberen Regionen hin und her geschoben und ballten sich zu wunderlichen Gestalten. Es mochte Schnee drohen und wurde von Minute zu Minute kälter. Die nackten Göttergestalten von Sandstein auf ihren hohen Postamenten, die man allerorten durch kahle Hecken hindurchschimmern sah, schienen vor Unbehagen zusammenzuschauern.
Prinz Maximilian war viel zu erregt, viel zu erfüllt von dem Ebenerlebten, um auch nur ein Wort, von dem was vorgefallen war, vor dem Freunde und Kriegsgefährten zurückhalten zu können. Erich Moltke wußte ja ohnehin, mit welchen Wünschen und Hoffnungen sein junger Herr nach Hannover gekommen war. Und wenn der verständiger denkende Mann auch die Wünsche des hochgemuten jungen Herzens teilte, so vermochte er doch mit dem Hoffen desselben nicht übereinzustimmen.
Der Oberstlieutenant von Moltke war vier Jahre älter als der Prinz und von weniger cholerisch-sanguinischer Gemütsart. Er hatte in seinem ganzen Wesen eine ruhige Klarheit, eine volle Beherrschung natürlicher Wallungen und eine vornehme Größe des Betragens, wodurch er dem heißblütigen Prinzen Achtung einflößte und sogar manchmal einen gewissen Einfluß auf den Starrköpfigen gewann.
»Ich rate Ew. Durchlaucht zur Vorsicht,« sagte Erich, als der Prinz endlich schwieg. »Soll etwas erreicht werden, so wird das nicht aus einer plötzlichen Willensänderung unseres höchsten Herrn resultieren. Es müssen Gründe und zwingende Verhältnisse geschaffen werden, die jetzt Beschlossenes als unhaltbar erscheinen lassen.«
»Meine Frau Mutter wollte noch einmal mit Herzog Anton Ulrich überlegen. Er hat als Agnat sein Interesse zu vertreten, aber Sr. Liebden hat der Herzogin die Reise nach Braunschweig verboten.«
»Vielleicht wäre eine andere Beschickung thunlich?«
Die beiden jungen Männer erörterten die Frage, was zur Förderung der erstrebten Gesetzänderung geschehen könne, des Weiteren und kamen endlich, in ihr Gespräch vertieft, beim Parkthore an.
»Laß er uns heimreiten Moltke,« sagte der Prinz ruhiger geworden, »meine Affaire ist weitaussehend, aber stecken lasse ich sie nicht. Was ein glühender und ernster Wille vermag, wollen wir einsetzen!«
Sie bestiegen ihre Pferde und ritten in die Stadt zurück.
Der Hofhalt für die eben anwesenden jungen Prinzen befand sich im Osnabrücker Hof der Neustadt, am Berge. Hier wohnte auch der sechzehnjährige Ernst mit seinem Hofmeister.
»Auf ihn,« sagte Maximilian an den Zimmern des jüngsten Bruders vorübergehend, mit nichtachtender Handbewegung, »wird nie zu rechnen sein. Er ist ein Weichling, ein Muttersöhnchen, der das Kriegshandwerk verabscheut. Wäre Christian nicht so kindisch, könnte man auf den allewege zählen, Courage hat er wie ein alter Haudegen.«
»Durchlaucht dürfen von einem zwanzigjährigen jungen Blut nicht zu viel prätendieren,« meinte der Adjutant lächelnd. »Prinz Christian kann noch zuverlässig und verständig genug werden. Warum soll er jetzt nicht den Schelm im Nacken haben und lustig sein?«
Maximilian verabschiedete den Begleiter und betrat sein Zimmer, hier kam ihm sein Kammerdiener entgegen und fragte nach den Befehlen des gnädigsten Herrn.
Der Prinz legte in gedankenvoller Stimmung Federhut und Degen ab und sank unmutig in einen Sessel. Der Kammerdiener machte sich in seiner Nähe zu schaffen, endlich fuhr Maximilian auf: »Was will er noch Gimpe?«
»Durchlaucht entschuldigen; wenn ich mir ein Wort erlauben dürfte?«
»Nur zu, keine Vorrede!«
»Ich bin der jungen, hübschen Witwe begegnet, die Ew. Gnaden im vorigen Winter so gern sahen.«
»Wie, der Minette Potthofin?«
»Zu dienen, gnädigster Herr. Und sie schien mir noch viel hübscher geworden.«
Der Prinz machte eine abwehrende Handbewegung, aber Gimpe, dem einmal die Zunge gelöst war, schien die Ablehnung nicht zu bemerken und fuhr eifriger fort: »Sie wurde sogar meinetwegen rot und ihre schwarzen Augen funkelten: ›Ach, der brave Monsieur Gimpe,‹ sagte sie, ›ich habe schon gehört, daß Ihr hochfürstlicher Herr wieder angekommen ist. Befinden sich Sr. Durchlaucht wohl?‹ Vortrefflich, Schönste, sagte ich, und ich zweifle nicht, daß mein gnädigster Herr die Bekanntschaft mit der freundlichen Potthofin wird erneuern mögen.«
»Wie kann er über meinen Gusto verfügen?« brauste der Prinz auf.
»Halten zu Gnaden – ich meinte doch – weil sie so wundernett war. Sie sagte dann noch, indem sie sich scheu umsah, halblaut und eilig: ›Prinzliche Gnaden wissen, wo Sie mich finden,‹ und dann trippelte sie die Kramerstraße entlang auf ihren Bäckerladen zu.«
»Fädle er mir kein insipide affaire ein, Gimpe,« rief Maximilian ungeduldig. »Ich will nichts von Weibern hören, ich habe jetzt andere Dinge im Kopfe. Renkontriert er die Potthofin wieder, so sag' er ihr, daß sie meinetwegen liebeln kann, mit wem sie will, ich mag sie nicht mehr und will nichts von ihr wissen und nun schere er sich hinaus.«
Gimpe zog sich betreten zurück und der Prinz blieb allein. Er schritt ein paarmal mit auf den Rücken gelegten Händen im Gemach auf und ab und murmelte: »Narrenspossen, bin dazu wahrlich nicht hergekommen.«
Maximilian saß wieder am Fenster und starrte zu dem blassen windgefegten Herbsthimmel hinauf, ohne etwas zu sehen, aber die Gedanken arbeiteten mächtig in ihm. Wie nichtig erschien ihm jetzt das vorigjährige Getändel mit der hübschen Bäckerswitwe, in die er damals ganz vernarrt gewesen war. Die Sache lag abgethan weit hinter ihm, mochte er ihr auch allerlei von ewiger Treue und heißer Liebe vorgeredet haben, sie war thöricht gewesen, wenn sie daran geglaubt und seine Worte ernst genommen hatte. Jetzt mochte er sich nur mit seiner Lage beschäftigen.
Kriegsmutig, hochstrebend und schon von manchem Erfolge gekrönt, meinte er, es müsse seinem glühenden Willen gelingen, das ersehnte Ziel: eine Herzogskrone, zu erringen. Er konnte und mochte es nicht denken, daß sein älterer, ungeliebter Bruder alleiniger Erbe des Vaters und Oheims werden sollte, daß er Zeit seines Lebens in Abhängigkeit von Georg bleiben und als ein spärlich abgefundener jüngerer Prinz in fremden Diensten sich umhertreiben müsse. Daß die Zukunft seines Hauses dieses Opfer forderte, wollte er nicht fassen, weil es sein Leben ins innerste Mark traf.