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Geliebte Lenore.
Es ist März.
Luft und Licht sind wieder voll jener Lockung und Verheißung, mit denen uns jeder neue Frühling, allem herben Erleben zum Trotz, zu seinem ewig jungen Glauben an Glück und Schönheit zu überreden weiß.
Ein Jahr ist's heute, Geliebte, daß wir Abschied nahmen. Der schwerste Teil der Trennung ist ertragen und leichter richten sich die Blicke zur Ferne, aus der ich Deine Schritte mir nun wieder zugewendet weiß.
Daß ich Dir aber nun nicht entgegen kann, wie wir es so sicher geplant hatten. Daß ich geduldig warten muß, bis Du Deinen ganzen Weg zu mir vollendet hast, ist schwer zu wissen. Wie seltsam stehen wir doch immer vor neuen Türen, die das Leben uns öffnet in Augenblicken, da wir es am wenigsten erwarten. Und in welch unerhört kurzer Zeitspanne vermag es uns mit allen Schauern und Seligkeiten seiner Geheimnisse zu überschütten und die Erfahrungen unserer Seele zu unerschöpflichen Ewigkeiten werden zu lassen neben dem kleinen Maß der Zeiten, an denen die Tatsächlichkeiten unseres äußeren Erlebens ablaufen.
Wie in lange Jahre blicke ich in die Fülle der Wandlungen, die in der kurzen Spanne unserer Trennung mich mir selbst zu einem Neuen machten. – Aber das, was von lange her Dir gehörte, was wie der ruhende Pol in aller Bewegtheit und Ergriffenheit meines Erlebens unberührt in seiner Tiefe blieb – wirst Du ganz und unverändert wiederfinden. Heute nur dieses wenige. Nur, daß Du empfindest, ich bin bei Dir an diesem Tage. – Ich bin in der Unruhe des Aufbruchs. In den nächsten Tagen begleitet mich mein Freund aufs Land. Mitten in der Stille von Feld und Wald fand er mir ein kleines weißes Häuschen mit grünen Fensterladen, dessen liebliche Lage und heimliche Ruhe er mir so deutlich zu machen weiß, daß ich mich auf die Wochen freue, die ich dort sein werde. Es liegt nicht weiter, als daß er mich in zwei Stunden mit dem schnellsten Zuge erreichen kann. Und so mußt Du mich für die nächsten Monate zwischen Marias unwandelbarer Treue und der unerschöpflichen Liebe dieses Mannes geborgen fühlen.
*
Nun hat sie mich aufgenommen, die große feierliche Stille der Natur, der die fiebernden Rhythmen des neuen Werdens wie festliche Tänze eines geheimnisvollen Ritus die Spannung lustvoller Bewegung geben.
In dieser unendlichen Ruhe werden die Tage plötzlich weit und durchsichtig. Das Leben scheint etwas Ganzes und Rundes. Es ist als ob die Grenzen der Dinge und der Einzelheiten sich melodisch ineinander auflösten.
Ich gehe durch eine neue Landschaft. Und doch ist mir's, als kenne ich sie schon lange.
Der warme Brodem der besonnten Erde. Der herbe Duft der knospenden Wälder und Fluren. Die heimliche Süße erster Veilchen und Primeln. Die stille unermüdliche Geduld der arbeitenden Menschen inmitten der lenzenden Felder. Das seltsame Leuchten der Luft. Der wirr durcheinander flatternde Liebesruf der Vogelstimmen – wie glücklich bekannt kommt das alles zu mir. Und diese tiefe Vertrautheit mit den Bewegungen der erwachenden Natur, die mit der grandiosen Monotonie ihrer steten Wiederkehr die Dauer der Zeiten zu verbürgen scheinen – gibt uns jeder neuen heimatlichen Landschaft gegenüber sofort den süßen Gleichlaut langer freudiger Erinnerungen, in denen sich ihr Neues zu längst Gekanntem mischt.
In dieser gütigen Stille und träumerischen Schönheit, wie man sie nur noch in den fernen Winkeln ungestörter Natureinsamkeit findet, will ich ganz mir selbst und dem Werdenden in mir leben. Ganz dieser Natur mich hingegeben fühlen, vor deren Unschuld und Einfachheit alle aufgezüchteten Widersprüche verworrener Lebensanschauungen leer und wertlos werden.
Und was in dieser Ungestörtheit zu meinen Gedanken kommen will, werde ich für Dich zusammentragen, Geliebte, so wie es eben kommt und bei mir ruht und sich zu einem Erkennen gestaltet.
Ich nehme meine Gedanken, meine Sehnsucht, meine Freude und Bangigkeit, allen wundervollen Wechsel der Stimmungen, dem meine Seele sich in dieser besonderen und seltsamen Zeit so leid und lustvoll unterworfen fühlt – oft und lange hinaus in das bunte Glück der blühenden Erde. Und immer stiller und freier macht es mich. Alles Empfinden löst sich von den Fesseln des Zufälligen und findet die leise Spur seiner tiefen Abhängigkeit von dem Willen des Lebens wieder. –
Dieses Bild meiner selbst, wie ich es in den Bewegungen meiner Gedanken hier für Dich niederlege, Geliebte – wirst Du in Händen halten, wenn vielleicht –
Ach wir, die wir neues Leben tragen, haben wohl alle diese schwermütige Ahnung des Sterbens in unserer Seele.
Zu nahe ist die Schwelle des Lebens an die des Todes gebaut. Und so in der Schwebe zwischen diesen beiden gewaltigen Mächten des Seins, das Leben gebend und vom Tode umspielt, empfängt die Mutterschaft ihre geheimnisvolle Weihe, die das Weib für diese bange Zeit in den Augen aller, vor dem Leben Ehrfürchtigen, als ein Bedeutsames und Geheiligtes erscheinen läßt. – Und die Wellen der Schwermut und Freude wogen auf und ab in ihrem schaffenden Blute.
Und mir ist eine ganz besonders schmerzhafte Schwermut gegeben.
Daß ich den Geliebten fern von mir fühlen muß –
Daß ich nicht einmal zu ihm sprechen kann über dieses Erleben.
Daß ich ihn täuschen muß mit jedem meiner Worte, um ihm die Ferne nicht unerträglich zu machen – das alles ist eine Bitterkeit ohne Grenzen. Erst wenn alles ein gutes Ende nahm, soll er um mein Geheimnis wissen.
Und doch ist es mir eine schmerzliche Freude, daß ich die fast übermenschliche Kraft behielt, mich ihm nicht noch im letzten Augenblicke zu verraten.
Aber ich wußte, daß mit diesem einen Worte von mir ihm der ganze Lebensweg verändert und verlegt worden wäre. Er hätte es nicht vermocht, mich in dieser Zeit zu verlassen. Und nicht für einen Augenblick wollte ich ihm das Gefühl der Gebundenheit geben.
Unter den persönlichen Ausnahmsverhältnissen, in denen unsere Liebe uns zusammen führte, die Ehe wollen, die wir später einmal doch aus den unumgänglichen Forderungen eines natürlichen Schönheitsgefühles heraus würden lösen müssen, wäre nur eine Komödie der Konvenienz gewesen, deren unsere große Leidenschaft sich nicht schuldig machen durfte.
Die Ehe als das rein Formale des Liebeslebens verlangt immer ein gewisses Gleichgewichtsverhältnis persönlicher Art, wenn sie nicht von Anfang an den Keim der Auflösung in sich aufnehmen will. –
Die Liebe selbst aber ist an kein Gleichgewicht irgend welcher Art gebunden.
Ihr Wesen ist Freiheit und unerschöpfliche Bewegung. Unabhängig von äußerlicher Gebundenheit strömt sie Flamme zu Flamme und Licht zu Licht, bindet sie Blut an Blut und Seele an Seele und weiß jede Jugend zu finden, die unverbraucht unter wartenden Träumen lag. –
Aber immer wird die Ehe der tiefste und zärtlichste Wunsch der großen Liebe sein. Denn sie ist das mystische Symbol der Treue, die aus der Lust verrauschender Augenblicke, aus jeder Liebkosung, aus jedem Wort, das das Herz des andern errät – an jener Stille und Sicherheit baut, aus dem das Glück seine feinste Fruchtbarkeit nimmt.
Ich gehe durch den Maienglanz der Erde. Und alle guten und feinen Dinge, die im Wandern zu uns kommen, gehen mit mir.
Eine tiefe Dankbarkeit ist in mir.
Reich und üppig umflutet mich der Duft aus den Gärten der Erinnerung,
Vollendet wie der blühende Mai war die Zeit meines Glückes.
An dem glühenden Liebesrausche der Erde entzünden sich tausend Lieder und Blüten und die Wonne des Lebens schäumt hoch wie die Wellen brausender Meere.
Und ich schaue mit der heißen Andacht meines seligwissenden Blutes in diese unendliche Weite endloser Schönheit – in diese flammende Lust des Seins.
Und Schauer der Dankbarkeit erbeben in meiner Seele.
Und solche Dankbarkeit ist die Vollendung unseres Wesens. –
Und meine Gedanken spinnen ihre Fäden weiter von dieser seligen Dankbarkeit zu dem Leide derer, die für nichts Großes und Ganzes zu danken haben. Weder für eine ganze Freude, die all unsere Kraft bewegt. Noch für ein ganzes Leid, das unsere Tiefen fruchtbar macht.
Fehlt unserer Zeit der starke Wille zum Nehmen und Geben.
Der Wille zum Leiden um der Erkenntnis willen.
Der Wille zum Glück überhaupt?
Könnte sie sich sonst so stumpf darein finden, daß ihr Recht auf Glück so verkrümmt und verkümmert bleibt.
Ihr Recht auf das starke Glück, das eine Kraft ist und Kampf will. Kampf um ein Mehr an sich selbst und mehr an dem, das wir lieben. Ein Glück, das nicht stille steht, sondern lachende Augen und tanzende Füße hat. Das weiter will, über sich selbst hinaus. Das mit der Flamme seiner Leidenschaft den ungebornen Geschlechtern neue Wege des Sieges findet. –
Und die den Willen zu diesem starken Glücke haben, müssen die Treue wollen. Und die starke gütige Geduld der Treue, die nicht feige wird im Sturm. Die stehen und warten kann an Scheidewegen und Verführungen. Die viele Arme und Lippen hat, dem wohl zu tun, der wiederkehrt von irrenden Wegen.
Ich sah solche Geduldige. Selten wie der Blitz am Winterhimmel sind sie. Aber daß ich sie sah, deutet, daß es ihrer mehr und viele werden können – Vollkommenes lehrt hoffen.
Diesen Geduldigen schien das Glück, an dem sich ihre Sinne und Seele zu Flammen und Schönheit aufgelöst hatten – eines Tages plötzlich verloren. Keine Brücke und kein Steg führte mehr zwischen ihren Herzen. Und so weit wie rechts und links von einander ist, nahm das Leben die Liebenden auseinander.
Aber alle Furchtbarkeit ihres Leidens, alle Foltern unsagbaren Schmerzes, auch nicht die Wonnen neuer Seligkeiten konnten die Treue töten, die dennoch in jedem Tropfen ihres Blutes lebte, in jedem Schlage ihrer Herzen hoffte. Und ihre unbeugsame Geduld ging mit auf dem Wege des geliebten Menschen zu der Lust und dem Leide seines flüchtigen Glückes, das sie im Letzten doch nicht als das seine wußten, wenn es ihm auch für Zeiten Sinne und Seele unter fremde Mächte beugte. Und ihre sanfte Geduld zwang die irrende Liebe zu sich zurück und ihre stille Treue wurde zu einem Feste flammender Freude, da die unvergessenen Erinnerungen ihres einst so vollkommenen Glückes sie unaufhaltsam wieder zusammen führten.
Die Treue ist der Adel der Liebe.
Alles Edle lebt von langen Erinnerungen und läßt sie zu goldnen Brücken werden, über die das Zukünftige zu neuen Ufern schreitet.
*
Der Frühling hatte seine ganze Schönheit hergegeben.
Reglos im stillen Leuchten des späten Nachmittags lag ringsum die blühende Pracht.
Yvette blickte von ihrem Liegestuhl, der im Schatten einer alten, weitzweigenden Kastanie stand, in das vielfältige Grün des nahen Laubwaldes. In dem kleinen Garten, der das stille Haus umgab, schossen aus allen Winkeln ganze Garben von lachenden Farben hervor und durchklangen die sanfte Stille umher mit einer fast wilden bachantischen Lust.
In Yvettes Augen leuchtete eine tiefe Freude. Ihre Hände spielten unruhig, wie von der Hast eilender Gedanken erregt, mit den Blättern eines umfangreichen Briefes, der ihr im Schoße lag.
Maria saß nicht weit von ihr an einem Tische und ordnete Blumen in eine Schale. Auch auf ihrem Gesicht lag der Schimmer innerer Bewegung, und auch ihre Finger waren hastiger bei der Arbeit als sonst.
»O Maria, wie freue ich mich. Ich kann es nun kaum mehr erwarten. Diese letzten drei Wochen werden am längsten sein,« sagte Yvette und legte die vielen Seiten des Briefes mit langsamen, gleichsam zärtlichen Bewegungen wieder in den Umschlag zurück.
»Aber dann,« entgegnete Maria, »dann, wie wundervoll wird es sein, Sie wieder glücklich und froh zusammen zu sehen, wie früher.«
»Wie früher,« wiederholte Yvette nachdenklich. Und sie wünschte einen Augenblick, daß die nächste Zeit nicht so viel des Schweren und Unbekannten für sie bereit hätte, daß es wirklich ganz wie früher für sie beide hätte sein können.
Maria fühlte den fast unhörbaren Seufzer und sah den Schatten, der Yvettes Gesicht einen Augenblick verdüsterte.
»Wenn Fräulein Lenore da ist, ist alles leicht und hell,« sagte sie wie zu sich selbst.
»Du hast recht, Maria. Sie ist wie die Sonne. Man bekommt Kraft und Wärme von ihr.«
Auf der Landstraße vor dem Garten hörte man Schritte. Maria ließ die Hände ruhen und lauschte hinaus.
Es waren rasche leichte Männerschritte, die eilig wie auf ein ersehntes Ziel zukamen.
»Dr. Reber,« sagte Maria. Sie stand eilig auf und räumte mit flinken Händen alles Umherliegende in den Korb und ging dem Hause zu.
Die Gartentüre fiel ins Schloß und mit Hut und Hand schon von weitem grüßend, kam Reber mit seinem elastischen kraftvollen Gang den sonnigen Weg zum Schatten der Kastanie her. Es war immer wie ein Überschuß von Kraft und Leben um ihn, so als ob nichts ihn jemals zu erschöpfen vermöchte.
Yvette sah ihm lächelnd entgegen. Die Raschheit seiner Bewegung war so sehr im Tempo ihres eigenen Temperamentes, daß sie ganz der momentanen Hemmung vergessend, sich schnell erheben wollte, um ihn zu begrüßen. Aber es gelang ihr nicht, sich so plötzlich aus ihrer halbliegenden Stellung aufzuraffen und so blickte sie hilflos und ein wenig verlegen zu ihm hin. Eine heiße Röte flog ihr über das Gesicht und machte es unglaublich jung und reizvoll.
»Sich nicht derangieren,« sagte Reber und reichte ihr die Hand und sah ihr überrascht und entzückt ins Gesicht.
Sie hatten sich längere Zeit nicht gesehen und Yvette war sich plötzlich peinlich ihrer stark veränderten Körperlichkeit bewußt, sie wechselte in dieser Empfindung jäh ihre Farbe unter seinen Blicken, deren deutliche Bewunderung ihr in der Befangenheit des Augenblicks nicht bewußt wurden. In der tiefen Blässe die sie befiel, wurden ihre Züge scharf und leidend.
»Ich möchte aufstehen,« sagte sie mit unsicherer Stimme und reichte ihm beide Hände.
Er nahm ihr die seidene Decke von den Knieen. Neigte sich zu ihr und half ihr geschickt aus ihrer liegenden Stellung auf.
»Sie dürfen sich durch mich in keiner Weise beunruhigt fühlen,« sagte er gütig und warm.
»Sie wissen, ich wäre beinahe Mediziner geworden – so sehe ich Sie mit einem Auge als Arzt und mit dem andern –« und es kam ein so schalkhaftes Lächeln um seinen Mund, daß Yvette ebenfalls lächeln mußte –
»Und mit dem andern?« fragte sie scherzend.
»Als Verliebter – und diese beiden haben immer ein Recht, alles zu wissen und alles zu verstehen.«
»Ach – Sie sind so wundervoll menschlich, wenn mehr Menschen mehr Mensch wären, wie viel leichter wäre das Leben,« sagte Yvette mit fröhlicher Stimme und erhob sich, auf seinen Arm gestützt, ganz aus dem Stuhle. Der Brief fiel dabei zur Erde. Reber hob ihn auf und reichte ihr ihn hin, dabei sah er ein wenig eifersüchtig auf die fremden Marken.
»Von Lenore,« sagte Yvette schnell. »O so viel Freude hat mir dieser Brief gebracht.«
»Nun leuchten und lachen Ihre Augen wieder, so liebe ich Sie zu sehen, meine liebe Freundin. Kommen Sie, geben Sie mir Ihren Arm; lassen Sie uns in den Wald gehen, dort spricht sich's gut von der Freude – und ich darf mein Teil daran haben, nicht wahr?«
Sie gingen zusammen die Landstraße entlang. Und die reine Frühlingssonnenluft, die noch nichts von Schwere und Schwüle hatte, machte ihre Schritte leicht und jung.
Am rieselnden Bach entlang führte sie der Weg.
Zwischen den zärtlich fallenden Schleiern der schlanken Birken, die an weiten Wiesenrainen wie lauschende Mädchen sich leise neigten. Auf hellen schmalen Pfaden, durch die flirrende Dämmerung sonnenumwogten Laubes in die wartende Stille des Waldes, dessen laue Schatten noch durchsichtig und leicht beweglich mit jedem Lufthauch spielten.
Der Weg wurde enger. Reber mußte Yvette frei geben.
Sie ging vor ihm her. Ein wenig befangen, sich in ihrem, ihr immer noch fremden Zustande, den Blicken eines Mannes preisgegeben zu fühlen.
Er aber freute sich an der kraftvollen elastischen Art ihres Ganges, an der gesunden Schönheit ihres vollendeten Weibtums.
Wie ich sie liebe – wie ich sie liebe – dachte er.
Nicht einen Augenblick hätte er gezögert, sie und das Kind in den warmen Schutz seiner Liebe zu nehmen.
Aber sie geht unbekümmert neben meiner Liebe, von der sie weiß, und frei und stolz wie eine Königin trägt sie die Krone der Liebe.
Lange war jenes süße und bewegte Schweigen zwischen ihnen, das zwischen Zweien, die sich ganz kennen, plötzlich als eine seltsame innerliche Vereinigung empfunden wird, in der ihre Gedanken und Stimmungen sich mengen und mischen, daß sie sich fast Eines werden fühlen. Bis das erste laute Wort ihnen ihre Distanz wieder gibt.
»Ach, daß es der Geliebte wäre,« sagte Yvette in diesem Schweigen. »Daß diese nahen Schritte die seinen wären.« Sie träumte sich langsam in das selige Gefühl, sie brauche sich nur umzuwenden, um von seinen Armen umfangen, heiße Worte und Küsse von seinem Munde zu nehmen. Warum konnte nicht dieser es sein, dessen Sehnsucht und Glut sie zu sich strömen fühlte. Dessen Jahre und Lebenswege sich den ihren so gänzlich anfügten, daß sie zusammen den langen Weg der Liebe hätten gehen können, auf dem jede Sehnsucht einen neuen Tag findet.
Wie seltsam, dachte sie, alles liebe ich an diesem Freunde, seinen scharfen Geist, seine tiefe Güte, die unbeugsame Energie seines Willens, ich bewundre ihn, ich könnte ihn nicht mehr entbehren – und doch könnte ich alle Zeiten neben ihm sein, meine Hand in der seinen, seinen Blick in dem meinen ohne je im geringsten den Aufruhr meiner Sinne zu fühlen, den du, du Geliebter mit einem Lächeln deines Mundes mit der leisesten Berührung deiner Hand in mir aufstürmen ließest. Die Geheimnisse unseres Blutes sind dunkel und unergründlicher wie das Chaos der Töne ehe sie Harmonie werden.
Hier gehen wir und vermengen unsre Seelen, sagte Reber zu sich. Aber gleich wird ein jedes wieder zu sich selbst zurückkehren, ohne daß wir auch nur einen Augenblick über jene Schwelle kamen, hinter welcher der Sturm der Sinne liegt und auf seine Trunkenheit wartet. Fühlt sie nicht die Ungeduld meiner Schritte, die Unruhe meiner Hände, die Sehnsucht, die hinter ihr her geht und wie eine schattende Wolke sie einhüllen möchte? –
Aber sie fühlte dies alles. Fühlte es mit Jubel und Rausch, daß sie ein Weib war, das Begehren und Glut entzünden konnte. Fühlte es mit seligem Erschauern, daß sie dem Geliebten noch zu geben hatte, wenn er wiederkehrte. –
»Da ist meine Bank, von der ich Ihnen schrieb,« sagte Yvette plötzlich und wendete sich Reber zu.
Einen Augenblick standen sie still. Nahmen aus ihren heißen Blicken das stumme Geständnis ihrer Gedanken und wußten, wie nahe sie aneinander gewesen waren, jeder in seiner Weise.
»Kommen Sie, wir setzen uns,« sagte sie, »und ich erzähle Ihnen von meiner großen Freude.«
»Nicht neben Sie, meine Freundin – heute Ihnen zu Füßen.« Er warf sich ins weiche Moos, legte das lange Gewand Yvettes geschickt um ihre Füße und stellte sie auf seine etwas hochgezogenen Kniee.
»So ist's gut für uns beide,« sagte er fröhlich.
»Wie sind Sie für die Liebe geschaffen mit Ihrem schnellen Blick für jede Nuance eines Wunsches, mit Ihrer raschen Hand für jede Güte. Wie viel Gemeinsames haben Sie mit Lenore, immer wieder muß ich das fühlen.
Und denken Sie, in drei Wochen ist sie da – ich ertrage die Freude kaum mehr – hören Sie die letzten Worte ihres Briefes, der mich heute ganz von Sinnen macht vor Freude.«
Sie nahm ihn heraus, und las.
– Selig nahe fühle ich mich Dir Geliebte. Jede Minute trägt mich näher zu Dir und ich verliere alle meine Geduld, die ich doch noch so nötig habe, wenn ich den Augenblick ganz erfasse, der uns endlich wieder ganz zu einander bringt. Endlich. –
»Auch mir geht es so,« sagte Yvette und es kam eine Unruhe über sie, ein leises Zittern ging ihr über den Körper. Da legte Reber seine Hand auf die ihre und hielt sie sanft und still in der seinen. Und es war eine leise Bitterkeit in seiner Freude, sie unter dieser Berührung allmählich ganz ruhig werden zu fühlen.
»Wie Sie sich lieben. Solche Freundschaft von Frau zu Frau ist etwas sehr seltenes. Aber wo sie ist, muß es etwas wundervolles sein, Gleiches von Gleichem so ganz genommen und erkannt zu wissen.«
»Warum muß es so selten sein?« sagte Yvette nachdenklich.
»Wohl deshalb, weil die Frauen so selten ganz in sich werden. Sie sind meist so genügsam in ihrem Werden. Und von gleich zu gleich kann nur Vollendetes sich anziehen. Dem Manne gegenüber ist es ein anderes; da ist Geschlecht zu Geschlecht schon ein so absolut anderes und abgeschlossenes, daß auch das individuell Unvollkommene noch ein generell Ganzes darzustellen vermag, das den Gegensatz anzieht.«
»Sie haben feine Gedanken, mein Freund. Wie wird Lenore sich daran freuen. Ach ich kann ja auch das kaum mehr erwarten, daß Ihr Euch kennt und –«
Sie hielt plötzlich inne und blickte verlegen zur Seite. Da Reber nichts erwiderte, wurde sie unruhig und stand rasch auf, ganz die unfreie Stellung ihrer Füße vergessend. Er mußte ihr zu Hilfe kommen. Um sie schnell dieses ihr so peinliche Bewußtwerden ihrer momentanen Unbeholfenheit vergessen zu machen, sagte er lebhafter und wärmer, als ihm zu Sinne war. »Auch ich freue mich, endlich die Vielbesprochene zu sehen, mir ist, als kenne ich sie schon.«
»Sie werden Sie genießen, wie der Kenner ein Kunstwerk genießt, ich bin viel weniger als sie.«
»Nein, das dulde ich nicht,« entgegnete Reber etwas ärgerlich. »Sie werden verschieden sein im Temperament und das wird aller Unterschied sein.«
»Es ist doch noch etwas anderes. In mir ist manche Dunkelheit und ungelöste Dissonanz. Lenore aber hat eine fast durchsichtige Klarheit und einfache Größe des Wesens, die sie wie eine wundervolle Helligkeit und Sicherheit umgibt und zugleich die sensitive Bewegtheit der Seele, die nur aus der Wärme und Tiefe eines reichen Innenlebens möglich ist.«
»Ich werde bald so ungeduldig vor Erwartung sein wie Sie – und wenn es nur wäre, um Ihnen sagen zu können – trotz allem nur Sie – nur Sie Yvette.«
»Warten wir es ab,« sagte sie mit dem lachenden Übermut einer tiefen Überzeugung.
Sie waren wieder auf der Landstraße.
Von der nahen Dorfkirche schlug es fünf.
»Ah schon so spät. Gut, daß wir gleich zu Hause sind. Maria wird mit dem Tee für uns bereit sein und ungeduldig nach uns ausblicken.«
Sie sahen noch einmal zurück in die milde Harmonie des blühenden Frühlingstages, in der gleichsam alle Schmerzen des Daseins aufgehoben schienen, so als könne es nie wieder kalt und arm und leer werden zwischen diesem leuchtenden Licht und dieser glühenden Lust. Als habe die Erde nur Raum für Schönheit und Glück. –
Sie traten in den Garten.
Maria war noch am Teetisch unter den Kastanien beschäftigt. Als sie die beiden kommen hörte, nahm sie ein Telegramm vom Tisch, ging Yvette mit raschen Schritten entgegen und reichte es ihr.
»Ah,« sagte sie in froher Erregung, »noch eine besondere Freude zum Schluß des schönen Tages.
Bringen Sie uns den Tee, Maria, der Weg hat uns durstig gemacht.«
Sie spielte mit der verschlossenen Botschaft. Sie ließ das Papier auf ihren Fingerspitzen schweben und zögerte, es zu öffnen. »Von ihm – von ihr,« sagte sie leise. Es war, als wolle sie sich für die große Freude sammeln, die hier für sie bereit war.
Endlich öffnete sie die Depesche, eine glückliche Erwartung lag ihr auf den lächelnden Lippen.
»Wie ist sie schön, wenn sie so lächelt,« dachte Reber. »Mich hat sie natürlich ganz vergessen, denn sie denkt an ihn und hofft, daß dies ein Gruß von ihm sei – so lächelt man nur, wenn man liebt.«
Da hörte er sie einen seltsamen Ton ausstoßen. Es war kein Schrei. Es war ein ersticktes Stöhnen.
Eine tödliche Blässe überfiel sie. Er konnte noch eben zu ihr gelangen, um ihren Körper schwer und leblos in seinen Armen aufzufangen.
»Yvette – Geliebte,« sagte er; da er fühlte, sie hörte ihn nicht, kam ihm seine langverhaltene Liebe über die Lippen.
»Mein Geliebtes, was ist es?« Er küßte ihre erkalteten Hände, ihr wie in starrem Entsetzen versteinertes Gesicht.
Er versuchte, sie aufzuheben, um sie ins Haus zu tragen. Aber die Leblosigkeit ihrer Glieder lastete zu schwer aus ihm. Da griff er nach der Tischglocke und läutete so heftig, daß es laut und schrill durch den Garten klang.
Maria kam hastig und erschreckt aus dem Hause gelaufen.
»Um Gotteswillen – was ist geschehen?«
»Ich weiß es selbst noch nicht, Maria. Lassen Sie uns nur schnell die Ärmste ins Haus und zu Bett bringen.«
Als sie sie zusammen aufhoben, fiel das Papier zur Erde. Reber bückte sich, nahm es auf und las.
Seine Augen wurden starr vor Schrecken. Fast versagte ihm die Kraft, den geliebten Körper fest und hilfsam anzufassen. Mit einem schnellen Blick sah er zu Maria hin. Diese aber war über die geliebte Herrin geneigt und hatte nichts gesehen.
Langsam brachten sie Yvette auf ihr Lager. »Entkleiden Sie sie, Maria und dann kommen Sie zu mir,« sagte er.
Mit schweren Schritten ging er im Nebenzimmer hin und her.
Ist's möglich – ist's möglich. Kann sich in einem kleinen Augenblicke das Leben so ändern, daß man es kaum wiedererkennt? Maria kam herein.
»Sie liegt noch wie tot. Ich versuchte alles, sie bleibt kalt und stumm, was war es nur, was sie so erschütterte. Das Telegramm? Ist es aus Afrika?« fragte sie angstvoll.
»Nein, Maria. Aber ebenso schrecklich fast, als wenn es von dort käme –. Seien Sie stark, Maria. Ganz stark für unsere teure und geliebte Frau, wir brauchen jetzt alle unsere Kraft für sie.«
»Was ist – was ist – um aller Heiligen willen – Fräulein Lenore,« rief Maria und ihre Stimme zerbrach in Angst und Qual.
»Ja, Maria. Fräulein Lenore. Nachricht vom deutschen Konsulat in Newyork – der Blitzzug von San Franzisco –«
Er konnte nichts mehr sagen. Sein Herz stand fast still vor dem Schmerz, der nun auch dieses arme Gesicht entstellte.
Er gab ihr das Telegramm.
Maria stieß einen gellenden Schrei aus und sank erschüttert in die Knie.
»Tot – Lenore tot – es kann nicht sein, mein Gott, es kann nicht sein.«
Reber beugte sich gütig zu der in schwerem Schluchzen bebenden Gestalt. Er hob sie zart und gütig auf und setzte sie neben sich. Im Übermaß ihres fassungslosen Schmerzes lehnte sie sich einen Augenblick wie hilfesuchend an ihn.
Er ließ es still geschehen. Strich ihr sanft über Haar und Gesicht und sprach warme gute Worte zu ihr. »Stark sein, Maria – stark sein – Frau Yvette hat uns so nötig jetzt.«
Bei diesem Namen wurde Maria plötzlich still. Sie erhob sich. Schwer und gebrochen taumelte sie einige Schritte vorwärts. Aber sie unterdrückte ihr Weinen und sprach mit einer ganz fremden, fernen Stimme.
»Ja – Frau Yvette. Eine ist so wundergut als die andere. Ich liebe sie beide. Aber wie soll das werden, wenn die Ärmste wieder zu sich kommt.«
»Ich fahre sofort zur Bahn und telegraphiere um Arzt und Pflegerin. Seien Sie ganz ruhig, Maria. Ich bin gleich wieder hier und helfe Ihnen in allem. Denken Sie jetzt nur daran, Ihre Kraft zu behalten.«
Er eilte davon. Froh, eine Bewegung auf ein Ziel zu haben, um seinen gequälten Gedanken auf einen Augenblick zu entkommen.
»Lenore – Lenore,« sagte er immerfort und es war ein so tiefer Schmerz in ihm, als habe auch er sie gekannt und geliebt.
Draußen lachte noch immer der blühende Frühlingstag.
Als habe die Erde nur Raum für Schönheit und Glück.
*
Es war einige Wochen später.
Yvette lag noch immer in dem Zimmer, in das man sie an jenem furchtbaren Tage gebracht hatte.
Durch die weit offenen Fenster strömten die schweren Wellen der heißen Juniluft herein. Und zwischen den Spalten der grünen, nach außen gestellten Jalousien trieben die Sonnenstrahlen ihr leises unruhiges Spiel mit allem, was sie ringsum im Zimmer erreichen tonnten.
Rosen und Akazien verschwendeten ihre vornehmen Düfte.
Schwer und wollüstig kreisten surrende Bienen über den reifen Blüten, von irgendwoher hörte man das Zirpen der Grillen in der heißen Sommerwiese.
Es war jene schweigsame Stunde des sommerlichen Mittags, deren scheinbare Stille voll von geheimer Bewegung ist.
Alles blüht und glüht und schwillt von der heißen Fülle des Lebens. –
Mitten in diese feierliche Stille hinein hörte man plötzlich das Zuschlagen einer Wagentür. Einige Worte gingen zwischen einem Mann und einer Frau hin und her. Und dann kamen rasche Schritte durch den Garten auf das Haus zu.
Yvette schlug die Augen auf.
Zum erstenmal seit ihrer Erkrankung kam sie zu vollem Bewußtsein.
Sie sah sich im Zimmer um. Es gab ihr keinen Zusammenhang zu ihr selbst.
Die stille sommerweiche Luft tat ihr wohl. Es war eine wundervolle Ruhe und Güte darin. Wie eine sanfte Hand, die sich auf ihre erwachenden Gedanken legte und ihnen jede Neugier und Frage nahm.
Die Türe öffnete sich. Eine Frau trat ein. Sie war hoch gewachsen und schlank. Sie trug ein lichtgraues Gewand, das von einer weißen Schürze fast ganz bedeckt war, weiße Schutzärmel umschlossen die Knöchel der Hände, die etwas seltsam Waches und Bereitwilliges in ihrer Geste hatten.
Die behutsame und doch rasche Art ihres Eintretens ließ sie jung und energisch wirken, aber das Haar, das üppig unter der kleinen weißen Haube hervorkam, war grau.
Wer war diese Frau? Yvette schloß die Augen. Nicht wissen, das war das beste. Sie fühlte plötzlich, daß da irgendwo Vieles auf sie wartete, das zu durchdringen, ihre Kraft nicht reichte.
So ließ sie sich wieder in den Halbschlaf hinabgleiten, der sie so lange Zeit von jeder Wirklichkeit weggenommen hatte. Nur war sie jetzt etwas näher an die Schwelle derselben herangerückt.
Sie fühlte, daß die leisen, sichern und raschen Schritte der Frau zu ihr herkamen. Eine weiche Hand legte sich mit einer unendlich gütigen Bewegung auf ihre Stirn.
Es ging Ruhe und Liebe von dieser Hand aus.
Es tat gut, sich von ihr umsorgt zu fühlen, an ihr still zu werden und zu warten.
Ja, das war es. Warten. Es schien ihr, als warte sie schon lange auf etwas, das zu ihr kommen wollte. Und zugleich schien irgendwo eine heimliche Angst zu stehen, die auch wartete. Auf sie wartete.
Aber all das war so schwer zu begreifen. Sie konnte es nicht entwirren. Und so tat es gut, wieder in die Stille umher zu versinken.
Als sie später wieder erwachte, saß die fremde Frau am Fenster über eine Arbeit gebeugt. Ihr Gesicht war schmal und hager. Eine seltsam tiefe Schmerzlichkeit gab den festen, vornehmen Zügen eine weiche Müdigkeit, die das fast strenge Gleichmaß der Linien gleichsam lockerte und sänftigte. Die Augen mußten voll Kraft und Leben sein, denn trotzdem sie von den Lidern bedeckt waren, fühlte man durch sie hindurch, daß sie von Ausdruck und Wärme glühten.
Ihre Hand ging rasch und gleichmäßig, wie von stark arbeitenden Gedanken erregt hin und wieder, wie ein weißer Vogel flog sie von der bunten Seide auf und nieder, auf und nieder.
Yvette folgte dieser gleichmäßigen Bewegung mit den Augen.
Als fühle die Frau diesen Blick, wendete sie sich herum. Und ihre Augen, die ernst und warm aufblickten, füllten sich jäh mit einer strahlenden Freude. Sie erhob sich rasch und kam mit schneller aber lautloser Beweglichkeit an das Bett.
»Endlich sind Sie wieder bei uns,« sagte sie mit einer Stimme, die tief und dunkel war und die Worte warm und lebendig machte. Sie neigte sich zu Yvette, hob sanft ihren Kopf und ordnete die Kissen.
»Es ist alles so fremd,« sagte Yvette.
»Nicht so fremd, wie Sie glauben. Aber lassen Sie Ihre Gedanken noch nicht zu weit gehen, versuchen Sie, sich ein wenig zu freuen,« sagte die fremde Frau. Dabei ging sie ans Fenster und nahm eine große Schale voll wundervoller Rosen, die dort standen, stellte sie auf ein niedriges Taburett und schob es zum Bett.
»Sehen Sie, es ist Sommer draußen, heißer reicher Rosensommer. Diese Farben – dieser Duft tut Ihnen gut – nicht wahr?«
In Yvettes Erinnerungen zuckte etwas auf. Diese Stimme. Ihr war, als müsse sie dieselbe schon irgendwo gehört haben. Nicht die ganze Stimme, aber etwas in ihr hatte einen Klang, das sie zu Fernem, Bekanntem hinzutragen schien. Aber wenn sie anfing, zu denken, war es wieder weit weg. –
Die Türe des Nebenzimmers wurde geöffnet. Man hörte einen Augenblick eine leise weinende Kinderstimme. Dann schloß sich die Türe wieder. Jemand trat ein.
»Maria,« rief Yvette. Und mit diesem Namen stürzten die Wellen der Vergangenheit über sie her und alles Wissen und aller Schmerz kam wieder zu ihr zurück.
Maria eilte zu ihr. Sie kniete an ihrem Bette nieder und mit freudeheißen Lippen küßte sie ihre Hände. »Gott sei Dank, daß Sie wieder bei uns sind,« sagte sie.
Die fremde Frau ging leise aus dem Zimmer und ließ die beiden allein.
»Ach, daß Sie nur wieder bei uns sind,« wiederholte Maria und blickte Yvette mit ihren treuen Augen an, die zu lachen versuchten und doch nur weinen konnten, da die Freude des Augenblicks und alle schweren Erinnerungen an die bange Sorge um dieses geliebte Leben sich seltsam in ihrem Herzen mischten.
»Wer ist die fremde Frau, Maria,« fragte Yvette.
»Das ist Schwester Regine! Dr. Reber rief sie von Hamburg her, sie ist eine Bekannte von ihm. Sie ist so gut und tüchtig und so besorgt um Sie. Sie hat Sie gepflegt Tag und Nacht, nicht wie eine fremde Schwester, so als ob sie Sie sehr lieb hätte.
Und der Professor aus Berlin kam oft. Heute war er auch da. Und Dr. Reber kam immer und immer wieder.«
Maria plauderte fort und fort, denn sie fühlte, daß etwas in Yvette herandrängte, jene furchtbare Erinnerung, und die sollte doch noch nicht auf ihre Lippen kommen. Sie mußte sie davon fortlocken.
»Und das Kindchen – das süße liebe Kleine. Es kam zu früh; das machte Sie so krank, wir haben eine schöne gesunde Amme, eine junge Frau aus dem Dorf, und es gedeiht gut – wollen Sie es sehen, das kleine liebe Mädchen?«
»Ja – ja,« sagte Yvette, von einem plötzlichen glücklichen Verlangen nach dem Leben erfaßt.
Maria eilte in das Nebenzimmer.
Dann brachte sie ihr auf weichen weißen Kissen, ganz nackt unter einem leichten Schleier ihr Kind und legte es neben sie.
Das zarte feine kleine Körperchen in der rührenden Hilflosigkeit der allerersten Lebenswochen war von den sanften Atemzügen eines gesunden Schlummers in eine leise rhythmische Bewegung gehüllt.
Yvette neigte sich mit heißen Augen über das zarte, liebliche Geschöpf. Und ein Lächeln unaussprechlichen Entzückens ging über ihr Gesicht.
»Mein Kind – mein Kind – Geliebter – unser Kind,« flüsterte sie in tiefer Bewegung.
Mit vorsichtigen Händen betastete sie die feinen zarten Glieder. Spielte mit dem dunklen Haar, die ihm schon üppig über die kleine Stirne fielen. »Dein Haar – Geliebter,« sagte sie leise.
Sie öffnete ihr Gewand und nahm das warme, stille weiche Körperchen ganz nahe an den ihren und die Schauer einer seltsam neuen überwältigenden Beglückung ließen einen Strom von Tränen aus ihren Augen hervorbrechen.
Da öffnete das Kleine die seinen. Sie waren groß, tiefblau mit einem fernen goldnen Pünktchen darin, wie ein Licht in einem tiefen Brunnen. Yvette sah lange wie suchend in diese Augen.
Schwester Regine kam leise heran. Sie nahm das Kindchen mit sanften Händen auf und gab es Maria.
»Sie dürfen sich nicht zu sehr erregen – Liebe, Liebe,« sagte sie mit ihrer tiefen, warmen Stimme und neigte sich zu Yvette und küßte sie sanft und weich auf die Stirn.
Yvette fühlte mit diesem Kuß einen warmen Strom von Güte und Verstehen über sich hingehen und eine sanfte Ruhe blieb in ihr zurück.
»Es sind nicht deine Augen, Geliebter,« sprach sie zu sich selbst.
Und plötzlich stand das Bild des geliebten Mannes so greifbar nahe vor ihrem Erinnern, daß ihr Körper in heißer Sehnsucht aufglühte und ihr Blut in seligem Verlangen erbebte. –
»Geliebter, wo bist du. Ich weiß so lange nichts von dir. Geliebter, wie ich dich liebe.«
Es war wie Fieber in ihr und sie wurde unruhig auf ihrem Lager.
Da fühlte sie wieder die weiche Hand auf der ihren. »Yvette,« sagte Schwester Regine, »Yvette, schlafen Sie ein wenig.«
Und wieder dünkte sie diese Stimme so bekannt und nahe, als habe sie schon einmal du zu ihr gesagt.
Und unter dem gleichmäßigen Tonfall dieser Stimme vergaß sie, daß da noch so viel war, das zu ihr wollte, daß irgendwo in der Ferne etwas heran wollte, das schwer und hart war, und das sie doch ertragen mußte.
Einige Tage später lag Yvette auf einem bequemen Divan an der offenen Balkontüre. Die wohlige Sommerluft überströmte sie kosend wie tausend warme weiche gute Hände, die ihr wohl tun wollten.
Schwester Regine stand im Garten an den Beeten und schnitt Rosen von den üppigen hohen Stämmen.
Wie sie so dastand mit den hochgehobenen Armen, traten die schlanken festen Linien ihres Körpers wundervoll hervor und ihre raschen, geschickten und anmutigen Bewegungen waren so unendlich jung, daß das ergraute Haar einen seltsamen Widerspruch dazu bildete und der ganzen Erscheinung etwas Rätselhaftes und Beunruhigendes gab.
Yvette konnte ihre Augen nicht von ihr wenden. Diese Frau fesselte sie eigentümlich. Alles an ihr war ihr fremd und noch nie gesehen und dennoch in plötzlichen schnellen Augenblicken war ein Lachen, ein Blick, eine besondere Bewegung, die sie zu etwas ganz Fernem, schon Gekanntem hinführen wollte.
Regine kam mit einem Korb voll Rosen heran.
»Wir wollen alles schön machen für heute Abend,« sagte sie, da Dr. Reber zum ersten Male wieder mit uns zu Tisch sein wird.« Sie setzte sich auf die Stufen, die vom Balkon zum Garten führten und begann, die Blumen zu ordnen.
»Diese sind Ihre Lieblinge.« Sie legte zwei jener tiefdunklen Rosen Yvette in die Hand, deren schwere gesättigte Pracht den Atem einer heißen, verhaltenen Leidenschaft zu haben scheinen.
»So wie diese Rosen ist Ihre Stimme, Schwester Regine,« sagte Yvette, ihr mit einem langen Blick in die Augen sehend, »und auch in Ihren Augen ist etwas davon, es ist wie Sturm und Glut unter tiefem Schweigen.«
Regine nahm ihren Blick auf. Es war, als öffnete sich ihre Seele unter demselben und ihr war, als sah sie in die dunkle Tiefe eines bewegten Wassers, über dem die schwere Stille einer bangen Sehnsucht lag.
»Und etwas ist in Ihrer Stimme, Schwester Regine, das mich immer wieder zu etwas Bekanntem hinzieht – ganz fern ist's und ganz leise – aber wenn ich ihm nachgehen will, wird's plötzlich unwirklich und verschwindet. Was kann das nur sein?«
Regine lächelte, »Vielleicht brauche ich nur ein Wort zu sagen, damit diese leise anklingende Spur eine Erinnerung wird –«
»O sagen Sie es – sagen Sie es. Es quält mich schon lange, aber ich glaubte, es sei nur die Täuschung meiner angegriffenen Nerven.«
»Jetzt darf ich es ja tun, jetzt sind Sie ja wieder stark genug für das Leben.« Sie stand auf und kam ganz nahe zu Yvette heran.
»Denke an Liebenstein, Yvette – an unsere Jugendzeit im Pensionat.«
»O,« rief Yvette, »ich fühlte es ja, diese Stimme hat schon einmal du zu mir gesagt – Regine von Reichenbach, nicht wahr?«
»Ja,« sagte Regine, »ja. Du erinnerst sogar noch meinen Namen. Und doch war ich dir nicht ganz nahe in jener Zeit. Vier Jahre lagen zwischen uns und das ist in jenen Jahren eine ganze Welt. Aber ich liebte dich heimlich mit jener fesselnden Gewalt, mit der uns die erste Ahnung der Liebe überfällt, jener Liebe, die noch nicht weiß, was sie will, daß sie überhaupt etwas will. Und als du eines Tages von uns gingst, plötzlich und unerwartet, da hing ich weinend und aufgelöst von Schmerz an deinem Halse und du schautest verblüfft zu dem jungen Geschöpf hin, von dessen Liebe du nichts ahntest und mit dessen jäh ausbrechender Leidenschaftlichkeit du nichts anzufangen wußtest.«
»Ja, unsere Unwissenheit macht uns grausam zueinander,« sagte Yvette. »Aber Liebste, wie ist das möglich?« frug sie und legte ihre Hand mit einer sanften und traurigen Bewegung auf das ergraute Haar der Schwester.
»Da ist viel Wissen und Erfahren darüber gegangen – doch davon erzähle ich dir später.
Welch ein Unterschied zwischen dir und mir. Du jung und schön, beruhigt in allen Sinnen von dem Glück der Liebe. Jung, wie nur ein Künstlermensch das Vorrecht besitzt, es zu bleiben. Ich stand schon oft vor diesem köstlichen und erstaunlichen Anblick, der mich an jene seltenen Gewächse des Südens erinnert, die neben ihren Früchten immerfort auch Blüten tragen. Die Fruchtbarkeit des Künstlers ist von der seltsamen Art, die immerfort Jugend braucht und erzeugt. Für den gewöhnlichen Menschen ist die Reife ein Zeichen des Abblühens und Alterns – für den andern die höchste Stufe eines unendlichen Blühens.«
»Aber deine Seele blieb jung und heiß, Regine, und macht dein graues Haar zu einer großen Lüge,« sagte Yvette zärtlich und umarmte sie mit einer neu erstandenen Sehnsucht nach Wärme und Verstehen; mit der ganzen schmerzvollen Kraft ihres untröstlichen Grames um die verlorne und unvergeßliche Gefährtin einer langen und köstlichen Zeit.
Und in dieser Umarmung berührten sich ihre Seelen. Und eine leise sanfte Hoffnung grüßte ihr verwundetes Herz. Wie die neue Sonne die traurige Erde grüßt, die ein Sturm der Nacht grausam zerstört hat.
*
Der Sommer hatte seine Höhe erreicht.
Der Geruch der Fruchtbarkeit lag in der sonnenschweren Luft.
Jene wundervolle gleichmäßige Sommerwärme brütete über der Erde, in die Körper und Gedanken wie in ein weiches Bett versinken und die alles Gesunde glücklich und alles Leidende gesund macht.
Auch Yvette hatte ihre Kraft an diesem Überschuß an Lebenswärme zurückgefunden.
Sie saß im Garten und zeichnete die Landschaft umher. Sie war wieder ganz sie selbst.
Verjüngt durch die Mutterschaft. Mit einem ganz neuen Ausdruck tiefer glücklicher Ruhe über ihrem ganzen Wesen.
Aber wenn sie dem Blick hob, sah man in ihren Augen eine sanfte Schwermut, die sie früher nicht hatten. Wie der leise unweichbare Schatten strahlender Erinnerungen, deren Licht nicht mehr an die Schwelle des Lebens reichte – so war es.
Unter der breitzweigenden Kastanie lag in ihrem hellen Korbbett das kleine Mädchen, sanft und zart wie die Blütenblätter der Rosen, die ringsumher ihren letzten kostbaren Duft verhauchten.
Maria, froh und mütterlich bewegt, saß mit einer Arbeit daneben und dachte vielerlei und fühlte noch mehr.
Es war eine wundervolle Stille umher. Jene satte Stille, die über schwellender Fruchtbarkeit schwebt und tief ist von innerem Werden.
Plötzlich tönte mitten in diese schweigende Ruhe hinein Reginas Stimme aus dem Hause her. Eine tiefe warme Altstimme, die wie auf breiten schwebenden Flügeln die bebenden Wellen einer weitwachen Sehnsucht in schwermütiger Unruhe über die Erde aufwärts trug.
Yvette legte den Stift fort und lauschte.
Immer wieder nahm diese Stimme sie seltsam gefangen. Soviel Leid und Traurigkeit klang darin, soviel stolze Lust an sich selbst und schmerzliche Sehnsucht zur Fülle des Lebens.
Als das Lied zu Ende war, stand Yvette auf, ging zum Fenster und rief Regine.
»Liebste, wollen wir endlich den Gang in den Wald machen, auf den ich mich solange schon freue – ich fühle mich ganz stark dazu.«
»Gleich, Liebe, warte einen Augenblick, ich bin gleich fertig und bei dir.«
Als Regine bald darauf in den Garten kam, sah Yvette erstaunt zu ihr hin. Sie hatte ihr Schwesterkleid abgetan und trug ein einfaches weißes Sommerkleid von tadelloser Eleganz, vornehm und schön sah sie darin aus. Das graue Haar lag kleidsam über der hohen klugen Stirn, es verlor die Bedeutung des Alterns und wirkte zu dem zarten Kolorit der Haut und dem tiefen leuchtenden Dunkel der Augen wie ein gewollter raffinierter Kontrast.
»Welch ein glücklicher Gedanke, wie neu du mir bist und wie wundervoll du aussiehst.«
»Ich will dir jetzt anders nahe sein, Yvette. Kranke lieben es, den, der für sie da ist, ganz und in allem für sich aus und abgesondert zu fühlen. Das Pflegerinnenkleid hat etwas unendlich Beruhigendes für sie. Die gehört mir ganz, denken sie, und ihre plötzlich eng gewordene Welt hat Schutz und Mauern an diesem Kleide.«
»Wie klug du fühlst, Regine.«
»Ich habe mich keinem Verbande, keinerlei Zwang angeschlossen, ich nahm mein Diplom für freiwillige Krankenpflege und außerhalb derselben bin ich immer wieder das, was ich sein will.«
»Komm Regine. Laß uns endlich wieder zu Wald und Feld, ich sehne mich darnach. Ich sehne mich auch, endlich mehr von dir zu hören.«
Sie nahm den Arm Reginens und sie wunderten zusammen, bis der Wald sie aufnahm und sein verschwiegenes Schweigen die Stimmen ihrer Herzen löste. –
»Du hast viel erlebt und viel gelitten,« sagte Yvette, »das sagt jeder Zug in deinem schönen und starken Gesicht. von zu wenig Glück liegt ein dunkles Weh um deinen armen nie geküßten Mund – er macht mich so traurig dieser Mund.«
Sie legte ihren Arm um Regines Nacken, bog ihren Kopf zu sich herab und küßte den blassen stolzen Mund warm und innig. »Laß mich dir alle Liebe geben, die ich zu geben habe.
Die Liebe von Weib zu Weib, die zwar nur ein sanftes Lied ist gegen die brausende Symphonie der Liebe von Geschlecht zu Geschlecht – aber doch immer eine Melodie, die der Seele die Bewegungen der Zärtlichkeit gibt, daß sie nicht starr und kalt wird in ihrem großen Entbehren.«
»Wie recht Du hast, Yvette. Dein eignes Glück gibt dir den Blick, der in die letzten Verschwiegenheiten schaut.
Das Leben ist gewaltig und hat für uns alle mehr als eine Aufgabe. Tausend Kräfte in uns wollen losgebunden sein. Aber wenn die feinste Kraft, die an der Wurzel des Lebens ruht, in uns nicht erlöst wird – bleibt alles Blühen ohne Farbe, es ist wie eine Landschaft im Monde. Ein unwirkliches Licht leuchtet über ihr, eine seltsame kühle Glut verdeckt das Leben der Tiefe.«
»Liebe, was mußt du gelitten haben, daß du dich so erkennen lerntest!«
»Ja ich litt; wie man nur an einer verkehrten Erziehung leidet. Man stellt uns auf den Kopf und bis wir glücklich mit den Füßen aus die Erde kommen, haben wir alle falschen Standpunkte und Anschauungen durchlebt, die solche Verkehrtheit mit sich bringen muß.« Eine tiefe Bitterkeit war in Reginens Stimme.
»Wann wird die Erziehung endlich einfach werden. Einfach und wahr, und im Einklang mit dem Leben derer, die uns erziehen. Wann wird endlich die Ehrfurcht vor dem Leben das einzige Gesetz der Erziehung sein, durch das alle seine Bewegungen und Forderungen verstanden und geleitet werden. – Was an unserer Jugend gesündigt wurde, ist etwas, das man nie vergißt und nie verzeiht.«
»Sprich dein Herz frei, Regine, deine Stimme ist so schwer von Leid, mir dünkt, du hattest nie jemand, dem du dich ganz vertrauen konntest.«
»Laß uns niedersitzen,« sagte Regine, »daß du dich nicht zu sehr ermüdest, dort die Bank.«
»Nicht dorthin,« entgegnete Yvette hastig und ihre Hand zitterte leise – »dort warten furchtbare Erinnerungen auf mich an jenen grauenvollen Tag.«
Regine lenkte rasch in einen andern Weg ein. »Sieh hier dies weiche Moos im sonnenwarmen Schatten.«
»Sprich mir von dir, Regine. Wir wollen uns ganz und innig kennen, da das geheimnisvolle Schicksal uns nach so langen Zeiten wieder zusammenbrachte. Und daß du durch meinen Freund zu mir kommst und sie, die Unvergeßliche kanntest, wenn auch nur von einem Anblick, das macht dich mir so nahe und vertraut.«
»Ja seltsam ist es, dich wieder zu haben. An dir erwachte meine Liebe, jene unschuldige Bewegung der Seele und der Sinne, für die es so selten ein verstehen gibt, wenn uns das wissende Auge der Mutter fehlt. Du ahntest nicht, wie heiß und abgöttisch ich dir zugetan war, du warst ja selbst wohl in einer Zeit, da sich viel Neues in dir gestalten wollte.«
»Du hast recht. Aber die Empfindung deiner warmen leidenschaftlichen Art drang doch so tief in mich ein, daß ich dich beim ersten Sehen sofort als etwas schon Erlebtes fühlte.«
Regine lehnte am breiten Stamme einer Buche.
Ihre dunklen, meist etwas unruhigen Augen blickten jetzt still vor sich hin. Ihre weißen, kraftvoll geformten Hände spielten in zärtlicher Versonnenheit mit dem weichen lauen Moose, das an den knorrigen Baumwurzeln entlang wuchs.
»Ich bin ein einsamer Mensch,« sagte sie und ihre Stimme bekam etwas fernes, sie ging gleichsam von der Zeit fort, die um sie war. »Ich gebe mich schwer. Zu lange mußte ich die überflutende Wärme meiner jungen Seele zurückhalten, verstecken und verleugnen.
Meine Mutter kannte ich nicht. Solange ich denken kann, war es eine fremde Frau, die mich mit ihrem kalten wilden Willen beherrschte. Sie führte den Haushalt meines Vaters in der kleinen Stadt, in die er sich nach seiner Verabschiedung vom Dienste zurückgezogen hatte. – Ich hatte die scharfe Beobachtung einsamer Kinder. Mir entging nicht, daß zwischen jener Frau und meinem Vater etwas Geheimnisvolles und Unbegreifliches bestand. Ihre flackernden Augen sahen mich oft mißtrauisch und forschend an, aber da ich sehr schweigsam war, wußte sie nie, wie weit ich sah und hörte. Später mochten ihnen meine gequälten fragenden Blicke wohl unbequem sein, als ich elf Jahre war, wurde ich ins Pensionat gebracht. Ein Jahr lang liebte ich dich von ferne und war glücklich, etwas Schönes zu haben, das ich lieben durfte, ich lebte auf und wurde gleichsam erst ich selbst. –
Als du fortgingst, verfiel ich wieder in meine stille Verschlossenheit.
Mit sechzehn Jahren holte man mich nach Hause zurück.
Ich fand dieselbe seltsame unruhige Atmosphäre um die beiden im Hause. Nur daß jetzt meine jungen erwachenden Sinne zu allzufrühen Grübeleien angestachelt wurden. Und doch blieb ich ohne Zusammenhang den Wirklichkeiten des Lebensgeheimnisses gegenüber, von halben Ahnungen verwirrt, stand ich verständnislos und gequält vor dem seltsamen Lächeln, das ich immer in den Augen und auf den Lippen der Männer aufsteigen sah, wenn die Sprache auf die Liebe kam und auf alles, was irgendwie mit dem Geschlechtsleben in Beziehung stand. Jenes zynisch-wissende Lächeln, mit dem die junge unwissende Seele des Weibes nichts anzufangen weiß und das ihr allmählich das böse Gewissen ihrer Geschlechtsempfindung gibt.
Ich hatte einen schweren Stand meinem Vater gegenüber, der mich so schnell und glänzend als möglich versorgt wissen wollte. Aber etwas Starkes und Gesundes in mir bewahrte mich davor, trotz alles brennenden Dranges zum Wissen um das Leben eine Ehe aus Lebensneugier einzugehen.
Viel harte Worte und böses Lachen mußte ich ertragen darüber, daß ich das Leben auf Umwegen erkennen wollte, ehe man mich endlich frei ließ und mir erlaubte, die Krankenpflege zu lernen.
Ich ging in ein Schwesternheim, von der Illusion der Freiheit und Selbständigkeit, die mich fortgetrieben hatte, blieb mir dort bald nicht viel übrig. Es war damals noch die rohe Anschauung maßgebend, daß, um die feinste und zarteste aller Leistungen auf sich nehmen zu können, die Schwester erst wie eine Asketin all ihrer Persönlichkeit beraubt, und, Hände und Sinne vergröbert sein mußten an einer Unzahl roher Arbeiten, die mit dem, was den besten Teil der Pflege ausmacht, so gut wie nichts zu tun haben. Erst jetzt in allerletzter Zeit fängt man an zu begreifen, wie schwer man sich mit jenem rohen gedankenlosen Regime nicht nur an den genialsten Zähigkeiten der Pflegerin, sondern auch ebensosehr an den tiefsten Bedürfnissen der Kranken versündigte. – Diese engen Anschauungen befriedigten mich nicht lange, obschon der Kontakt mit den krassesten Wirklichkeiten des Lebens mir in gewissem Sinne gut getan hatte. Als ich mündig war, ließ ich mir mein mütterliches Vermögen aushändigen und wendete mich dem Studium zu. Mit viel Not und Mühe kam ich durchs Gymnasium und dann studierte ich einige Semester Medizin.»
»Und die Leidenschaft kam wohl nun an deine Jugend und deine Schönheit heran?« fragte Yvette.
»Ja. Ich fühlte ihren heißen Atem und sie hatte etwas seltsam Beängstigendes für mich. Denn auch bei dem jüngsten Manne empfand ich etwas eigentümlich Verbrauchtes in seiner Leidenschaft, von den Atomen einer fühlbaren, aber mir unverständlichen Unschönheit durchsetzt, die mich abstieß und reizte zugleich. Und überall fand ich auch hier wieder jenes häßliche unsaubre Lächeln, wenn das Gespräch sich dem Liebes- oder Geschlechtsleben zuwendete; selbst die Ärzte hatten es auf den Lippen; nicht einmal sie, die dem feierlichen Dreiklang des Seins, den Leben, Liebe und Tod zusammen bilden, so ergreifend nahe sind, kennen die Ehrfurcht vor den dunklen Geheimnissen unseres Blutes.«
»Ja, es gibt sehr wenige noch,« sagte Yvette mit dem schönen Lächeln tiefglücklicher Erinnerung in den Augen – sehr wenige, – die das Erotische als eine Schönheit wissen und erfahren, weil sie alles Physische und Psychische ihres Wesens in voller Einheit erleben. Wie traurig müssen die Erinnerungen jener sein, die sich sofort von jeder geistigen und seelischen Ergriffenheit entfernt fühlen, sobald an die Erfahrungen ihres Blutes gerührt wird. Ihre Sinnlichkeit muß ein sehr flaches und böses Gewisses haben.«
»Es ist wohl unserer, mit so viel neuen Erkenntnissen beladenen Zeit vorbehalten, den subtilen vornehmen Ausgleich zwischen den seelischen und sinnlichen Elementen unserer zweilebigen Natur zu finden. Die Auffassungen und Erfahrungen der Liebe müssen etwas ganz Neues, ganz Anderes werden im Durchgang durch die Tiefen und Höhen dieses veränderten Erkennens und Verstehens. Wie ja auch jede neue Evolutionsspanne der Erde ihre veränderte Fauna und Flora hatte. Aus der primitiven Lust der Sinne gestaltet sich die Liebe allmählich zu der grandiosen Ekstase der Einswerdung aller Schönheit unseres so glücklich zweigefügten Wesens, deren Erinnerung keinerlei Raum mehr für irgend welche Scham behält.«
»O Regine, wie nimmst du alle tiefsten Möglichkeiten in deine Worte. Es spricht sich gut mit dir über die besten Dinge des Lebens. Fast so gut als mit Lenore.«
Es war das erstemal, daß Yvette diesen Namen mit Ruhe und ohne Tränen in der Stimme aussprach. Sie fühlte in diesem Augenblick einen so intimen Zusammenklang dieses Geistes mit dem der geliebten Toten und wurde sich mit tiefem Entzücken der geheimnisvollen Kontinuität der seelischen Potenzen so stark bewußt, daß sie plötzlich das seltsame Empfinden hatte, als sei das geliebte Wesen in einer neuen Form zu ihr zurückgekehrt.
Ihr Mund wurde voll von warmen Worten, sie legte die Hand auf die Reginens. Aber sie sah, daß diese noch weit fort war in ihrem Fühlen und so störte sie sie nicht.
»Es ist noch ein weiter Weg,« sagte sie, »bis viele zu diesem Glücke reifen. Einzelne bahnen den Weg auch hier. Alles Große muß von einzelnen erlebt sein, ehe es eine Wahrheit der vielen werden kann. Aber solange nicht jenes furchtbare Zwischenland der Liebe abgetragen ist, in dem die keuschen Träume und die heiße Sehnsucht der Mannesjugend so bald und schnell verzerrt und vergiftet werden, in dem er die ersten Berauschungen der Liebe nur in seinem Blute und nicht in seiner Seele erfährt, wo die Geste der Leidenschaft ohne jeden Zusammenhang mit den sensitiven Erwartungen seiner, durch Erziehung und Kultur unendlich verfeinerten Empfindung bleibt, bleiben der Menschheit auch die furchtbarsten Hemmungen auf dem Wege zum Glücke. Aus diesem Brennpunkte unreiner Erfahrungen kommt dem Manne der Zwiespalt seines Wesens, der Zynismus seines Geschlechtsempfindens.
Als ich das erkannte, ging ich den dunklen Wegen nach, die das Leben des Mannes so tausendfach durchkreuzen und auf denen die Geschlechter sich gegenseitig zerstören und verfeinden. Ich schloß mich den mutigen Frauen und Männern an, die es laut zu sagen wagten, daß dieser uralten zerstörenden Macht endlich der Kampf angeboten werden müßte. Ich blickte in die grauenvollen Abgründe der Leidenschaft, aus denen Schlimmeres als der Tod über die Menschheit kommt, da ihre Gifte die Quellen des Lebens verderben.« –
Regine schwieg, gleichsam erschöpft von den traurigen und schweren Erinnerungen, die sie umdrängten. In ihrem Gesicht war alles Licht erloschen, sie sah alt und müde aus.
»Welch schweren Weg bist du gegangen,« sagte Yvette tief bewegt, »und wie stark hast du deine weiche zärtliche Seele gemacht. Und dein Weg war einsam. Du brauchst eine Heimat, um auszuruhen. Laß mich dir diese Ruhe geben. Ich verlor viel, bleibe bei mir, daß ich wieder viel gewinne.«
»Du tust mir unendlich gut mit deinen Worten, geliebte Yvette. Kann ich dir wirklich etwas sein, so könnte ich mir kein froheres Glück denken, als bei dir zu bleiben.«
»Unendlich viel kannst du mir sein. Meine Kunst wird mich bald wieder ganz haben wollen. Da ist das Kind und unser Heim, das in deiner sichern Hand zu wissen, wäre mir eine große Beruhigung. Wir schaffenden Frauen brauchen so sehr die gütige Willfährigkeit eines andern Weibes, deren nahe Fühlung mit der Wirklichkeit uns im feinsten Sinne die warme Vermittlung zum Alltäglichen gibt, das wir nicht entbehren können und das wir doch immerfort zu vergessen pflegen.«
Regine erhob sich. Sie neigte sich zu Yvette und in ihren Augen leuchtete es von der tiefen und starken Empfindung eines Dankes, für den alle Worte zu wenig schienen.
Und Arm in Arm gingen sie dann schweigend durch die sanfte Stille des sinkenden Tages dem Hause zu. Eine unaussprechbar süße Freude bewegte ihre Gedanken, die sich langsam und wohlig zu dem wundervollen Bewußtsein sammelten, daß sie sich gegenseitig von der schweren Last der Einsamkeit erlöst hatten.
Denn sie kannten beide das Leben zu gut, um zu wissen, daß es seinen tiefsten Reichtum niemals den Einsamen gibt. –
»Ich glaube, ich höre Dr. Rebers Stimme,« sagte Regine, als sie sich dem Hause näherten. »Er kann es nicht lange aushalten, ohne dich zu sehen.«
Als sie in den Garten traten, kam er ihnen wirklich mit raschen Schritten entgegen.
»O meine liebe Freundin, Sie so ganz wieder Sie selbst zu sehen, ist eine wundervolle Freude,« sagte er zu Yvette und neigte sich zu ihren Händen und küßte sie in ehrfürchtiger Bewunderung. Als er sich wieder aufrichtete, waren seine Augen feucht und er wandte sich zu dem Bettchen des Kindes, um seine Bewegung zu verbergen.
»Das Kleine habe ich mir mittlerweile genau angesehen,« sagte er lachend, »es ist das schönste Kind, das ich kenne, kann ich in Wahrheit sagen, da ich mir bislang nie die Mühe gab, eines in diesem frühen Stadium seiner Existenz einer näheren Betrachtung zu unterziehen.«
Regine, die sich während der Begrüßung zwischen Reber und Yvette ins Haus begeben hatte, kam nun die Treppen der Veranda herab.
»O Schwester Regine, verzeihen Sie, daß ich nicht gleich weg konnte von meiner Freude,« sagte Reber ihr entgegen gehend.
»Schwester,« rief Yvette, »heute ist sie es nicht mehr, sehen Sie sie doch genau an.«
»Ich nenne sie immer so – das läßt mich so hübsch nahe kommen, ohne zu nahe zu sein. Fräulein v. Reichenbach, nein das könnte ich nicht mehr zu Ihnen sagen, dazu habe ich Sie zu lange als Schwester gekannt und bewundert,« sagte er mit einem feinen Lächeln. »Aber Sie sehen prachtvoll aus. Es kleidet Sie beides gut, das Gewand der Pflicht und das der Grazie. Nur ein wenig mehr Lachen möchte ich um diesen schönen Mund sehen.«
»Er wird es jetzt wohl bald lernen,« entgegnete Regine mit einem plötzlichen leisen Lächeln um die Lippen, das ihre herben Züge seltsam auflichtete und verjüngte.
»Ja das soll unsere Freude werden, Dr. Reber, sie froh und warm zu machen. Denken Sie nur, lieber Freund, Regine hat meine Bitte erfüllt und bleibt nun für immer bei mir.«
»Ah,« rief Reber und sprang erregt von seinem Sitze auf, »das ist wundervoll. Mir fällt eine schwere Sorge vom Herzen. Wie viel können Sie beide einander sein und das Leben wird immer reicher, wenn zwei Menschen es zusammen leben, die beide viel zu geben haben.«
Er ergriff Reginens Hand und küßte sie mit solcher Innigkeit, daß, wenn es ihr selbst gegolten hätte, ihr ein Schauer der Freude durchs Blut gegangen wäre. Aber sie fühlte, daß diese Glut der anderen galt, um deren schwere Vereinsamung er so tiefe Sorge trug.
Er ließ ihre Hand plötzlich los und ging hastig hin und her, wie es seine Gewohnheit war, wenn irgend ein starkes Gefühl ihn überwältigte. –
Maria, die das Kleine eben aus dem Bettchen genommen und mit ihm die Treppe zum Hause hinauf ging, hörte das alles. Sie wurde einen Augenblick ganz blaß vor Freude.
»Nun sind es wieder Zwei, nun wird vieles wieder gut werden,« sagte sie leise vor sich hin.
*