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Zwölftes Kapitel

Acht Glasen – Mitternacht!

Der Ausguck in den Fockmastmarsen sang sein letztes: Alles wohl! und machte der Ablösung von der nächsten Wache Platz. Er kletterte an den Klampen des eisernen Mastes herab und verschwand durch die Steuerbordthür im Vorderkastell. Andre folgten ihm, noch andre kamen etwas später, schmutzige Gesellen, die durch die Backbordthür gingen. Das waren die Parias der Besatzung, die Heizer und Kohlenzieher, die von den eigentlichen Seeleuten durch ein in der Kielrichtung gezogenes Schott getrennt waren.

Auch der dritte Offizier und der Schiemann auf der Kommandobrücke wurden abgelöst. Nur zwei dienstfreie Leute waren während dieser windigen ersten Wache nicht zur Ruhe gegangen. Auf der windgeschützten Seite des Wetterschirms saß Kapitän Kettle auf seinem Feldstuhle so zusammengekauert, daß niemand unterscheiden konnte, ob er schlief oder wachte, und unten in seiner Koje, die sich auf die Hauptkajüte öffnete und neben der Schatzkammer lag, beschäftigte sich Onslow mit etwas, was die Gesetze aller Völker als Verbrechen bezeichnen würden, und zwar als eines der schwersten Art.

In der Koje befanden sich zwei Lagerstätten, eine oben, worin er schlief, dicht unter dem Fensterchen, während auf der unteren zwei geöffnete Handkoffer ausgebreitet waren. Unter dieser befanden sich Schiebladen, worin der Steward Tischzeug und Aehnliches aufbewahrte. Onslow hatte zwei dieser Schiebladen herausgezogen und auf den Fußboden gestellt, und dann aus der frei gewordenen Oeffnung die Enden zweier feiner, mit grüner Seide übersponnener Drähte hervorgezogen.

Diese wickelte er vorsichtig auseinander und schraubte dann den porzellanenen Umschalter los, der zum Entzünden der elektrischen Lampe der Koje diente. Darunter wurden verschiedene, in vulkanisiertem Kautschuk eingebettete Stücke Metall sichtbar.

Patrick reckte die Arme aus, und dabei zeigte sich, daß er in jeder Hand einen der an den Enden von der seidenen Umhüllung befreiten Drähte hielt. Als er wahrnahm, daß seine Finger zitterten, machte er bei sich selbst einige Bemerkungen darüber.

»Das wird wohl von der Aufregung kommen, einfache und begreifliche Aufregung! Da ich nicht von Stein bin, muß mich wohl meine großartige Unwissenheit von dem, was eintreten wird, wenn der Strom durch diese Drähte kreist, aufs tiefste erregen. Ein Feigling bin ich nicht. Die Schriftsteller, die andrer Leute Gefühle beschreiben, wenn der Tod anfängt, sie mit seinen Knochenfingern auf die Schulter zu klopfen, schildern diese Empfindungen meist so, wie sie sich einbilden, daß sie sein müßten, doch soweit ich die Sache kennen gelernt habe, schreiben sie dummes Zeug. Ich habe des alten Herrn knochige Berührung mehr als einmal gefühlt, folglich weiß ich Bescheid. Man ist gar nicht notwendigerweise von Furcht erfüllt, die Schattenbilder vergangener Thaten ziehen durchaus nicht mit Blitzesschnelle an unserm inneren Auge vorüber, ebensowenig, als man stets die Spannkraft verliert und umhergeht wie ein wohlfeiler Automat. Von andern kann ich nicht sprechen, aber was ich persönlich gefühlt habe, war eine dumpfe Gleichgültigkeit gegen das, was kommen würde, und Neugier, wie es nachher sein würde. Ich weiß, daß es Menschen gibt, die körperliche Gefahr in ein Bündel zuckender Nerven verwandelt. Ich gäbe einen Finger darum, wenn Theodor Shelf jetzt in meiner Haut steckte und ich ihn zwingen könnte, diese Drähte zu verbinden und die Mine mit seinen eigenen fetten Fingern zu entzünden. Ich glaube, ja wahrhaftig, ich glaube, die Erfahrung würde ihn ehrlich machen. Aha, da schlägt es ein Glasen, die Stunde ist da!«

Während der Wind eine Pause machte, drang der helle Klang der Schiffsglocke zu ihm, und gleich darauf folgte, etwas undeutlicher, in trübseligem Molltone des Ausgucks eintönige Versicherung, daß er wachsam sei und nichts zu melden habe.

Jetzt stellte Patrick Onslow die Verbindung her und sandte durch die mit grüner Seide bedeckten Drähte einen Strom, der unmittelbar von der Dynamomaschine des Schiffes kam. Im nächsten Augenblick wurde er gegen die eiserne Decke seiner Koje geschleudert, als ob die Höllenmaschine gerade unter seinen Füßen geplatzt wäre.


Der Feldstuhl flog in die Luft, und Kapitän Kettle lag wie ein heraldischer Adler auf den Planken der Brücke. Aus der Luke des Zwischendecks vor ihm waren rote Flammen und dicke Rauchwolken wie aus einem Vulkan emporgeschossen, die eisernen Platten daneben waren zerrissen und verbogen, und der ganze Dampfer war wie erschreckt von den Mastspitzen bis zum Kiel erbebt. Gleich darauf fiel aus der schwarzen, windigen Nacht droben einen Hagel von Trümmern, die wie die Kartätschenkugeln aus einem fernen Geschütz aufs Schiff und ringsum ins Wasser schlugen.

Jetzt ertönte ein dumpfes, unangenehm knarrendes Geräusch, das sich zweimal wiederholte, aus dem Maschinenraum, und dann stand die Maschine still.

»Mein Gott!« dachte Kettle, »er hat zu stark geladen! Wenn das Schiff zu schwer beschädigt ist, sind wir verloren.«

Trotzdem aber verlor er keinen Augenblick seine Geistesgegenwart oder das Bewußtsein, daß von seinen Befehlen alles abhing. Er erhob sich, setzte seine dicke, kleine Pfeife an den Mund und entlockte ihr einen schrillen Pfiff.

Zuerst blieb dieser ohne Wirkung, dann aber strömte aus dem Vorderkastell, dem Maschinenraum und von Achtern das Schiffsvolk herbei und drängte instinktmäßig nach dem hoch gelegenen Quarterdeck. Der Kapitän schaute von seiner erhöhten Stellung ärgerlich auf die Leute hinab und fluchte. Ausgewachsene Männer vor Schreck heulend und bleich zu sehen, ist kein erfreulicher Anblick. Durch ausgiebigen Gebrauch seiner scharfen Zunge und bedeutungsvolle Bewegungen nach gewissen Gegenständen, die seine Jackentaschen aufbauschten, brachte Kettle eine Abteilung von fünf Mann dahin, das Schnausegel des Kreuzmastes zu setzen, damit der Dampfer dem Steuer wieder gehorchte. Seine Geschwindigkeit verminderte sich rasch, und wenn er beidrehte und mit dieser schweren See zugewandter Breitseite zum Stehen kam, würden die unteren Decke beständig mit grünem Wasser gefüllt sein, und das bedeutete bei der gähnenden Oeffnung, wo früher der Lukenverschlag gewesen war, rasches Füllen und Sinken.

Hierauf sah sich der Kapitän um, anscheinend, um jemand zu suchen, dem er einen Auftrag geben könne. Der Offizier der Wache klammerte sich an den Handgriff des Maschinentelegraphen, der noch auf »Volldampf voraus« stand, und sah halb betäubt und hilflos aus. Die Hände des Schiemannes drehten das Steuerrad, aber es war klar, daß auch er nicht wußte, was er that. In diesem Augenblicke kam Onslow die Kommandobrücke hinangerannt, indem er immer drei Stufen auf einen Schritt nahm.

»Aha!« rief ihm Kettle zu, »Sie sind ein Mann, der den Kopf nicht gleich verliert, wenn es ein bißchen bunt hergeht, hol mich der Satan, wenn Sie nicht der einzige sind. Laufen Sie nach vorn und gehen Sie mal hinunter. Sehen Sie zu, was eigentlich los ist.«

Onslow nickte und wandte sich ohne ein Wort der Erwiderung zum Gehen. Ein paar der Leute brachen in ein schwaches Hurra aus, als er vorbeirannte, und ehe er den Fuß der nach dem Zwischendeck führenden eisernen Leiter erreicht hatte, war ihm ein halbes Dutzend gefolgt.

Das Besanschnausegel war noch nicht gesetzt, und da der Dampfer keine Fahrt mehr hatte, stellte er sich quer zum Wellenzuge, und seine Schutzverkleidung verschwand bei jedem Rollen unter den Wogen, so daß er viel Wasser übernahm. Die schäumenden Massen, die übers Deck schossen, trafen die Leute mit furchtbarer Gewalt, und wenn einer in einem solchen Augenblick seinen Halt verloren hätte, wäre er in die See hinausgespült worden wie ein Kork. Sich an Lukenrahmen, Winden und Tauen anklammernd, krochen die Leute nach vorn und kauerten sich um die gewaltige, durch die Explosion gerissene Oeffnung. Die Wellen stürzten über ihre Köpfe und fielen in rauschenden Sturzbächen in die schwarze Tiefe, und auch aus dieser war über allem Lärm das Gurgeln einströmenden Wassers zu hören und schien die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen.

»Puh!« sagte einer mit einem schwachen Versuche, die Sache leicht zu nehmen, »das ist nur das bißchen Suppe, das sie übergenommen hat, als die Lukenverschläge in die Luft flogen. Damit werden die Pumpen bald fertig werden.«

»Da bist du schief gewickelt,« meinte ein andrer mit bedenklichem Kopfschütteln.

In diesem Augenblick zuckte ein Blitz durch die tief schwarzen Wolken, und bei seinem Lichte sahen die Leute, wie sich Onslow mit einem Gesicht, das so weiß war als seine Zähne, über den Rand der Oeffnung hinabließ und mit den Knieen einen verbogenen eisernen Träger umklammerte. Die kurze Helligkeit schwand, innerhalb der unklaren, zackigen Umgrenzungslinie der Oeffnung, wo sonst der Lukenverschlag gewesen war, herrschte wieder tiefe Finsternis und über den Häuptern der erschrockenen Seeleute rollte der Donner, als ob tausend Titanengeschütze gelöst würden. Die Leute schauderten. Einem alten, weißhaarigen, befahrenen Matrosen wurde übel. Die »Port Edes« neigte sich abwechselnd rechts und links in einem Winkel von zweiundvierzig Grad, und das grüne Wasser des Golfs von Mexiko strömte bald an Backbord, bald an Steuerbord über die Schanzverkleidung.

Trotz des Heulens des Sturmes konnte man hören, daß das Rauschen des Wassers im Raume mit jedem Rollen des Schiffes stärker und schwerer wurde. Ein zweiter Blitz zuckte auf und ließ in der Tiefe unter der Oeffnung eine schmutzige Flut sehen, worauf Stroh, Faßstäbe und allerhand Gerümpel schwammen. Von Onslow war nichts zu erblicken, und der untere Raum war bis beinahe zu den Spanten voll Wasser.

Gleich darauf aber tauchte Onslow, wie ein neuer Blitz zeigte, mehr schwimmend als gehend auf, und sprang die Reste der nach oben führenden Treppe mit der Hast eines Mannes hinan, der weiß, daß ein verlorener Augenblick Menschenleben kosten kann. Die Leute drängten sich mit weit aufgerissenen Augen um ihn, als er das Deck erreicht hatte, weil sie zu hören hofften, wie es da unten aussähe, allein er schob sie rücksichtslos beiseite und eilte nach hinten. Gewöhnlich suchen die Offiziere bei Unglücksfällen die Sache von der besten Seite darzustellen, wenn sie überhaupt eine beste Seite hat; das wußten die Leute sehr wohl, und deshalb war auch Onslows Schweigen furchtbar vielsagend für sie, und als in diesem Augenblick der Dampfer eine schwere See übernahm, erhob sich über dem Tosen des aufs untere Deck stürzenden Wassers ein wildes Geschrei: »Wir sinken! Der Boden ist ausgeschlagen! Sie sinkt mit dem Vorderteil zuerst!«

Laut durcheinander heulend, suchten die Leute das Quarterdeck wieder zu erreichen, wo bald das ganze Schiffsvolk versammelt war.

»Sie sinkt vorn, und wenn wir uns nicht eilen, gehen wir mit unter!«

»Mag der faule alte Kasten allein zur Hölle fahren,« rief eine andre Stimme. »Ich habe keine Lust, mit zu versaufen, solange ein Boot da ist, das schwimmen kann. Vorwärts, Jungen!« worauf ein halbes Dutzend Matrosen und Feuerleute auf die Treppe der Kommandobrücke zustürzte.

Am oberen Ende dieser Treppe stand Kapitän Kettle und grinste. Die Besatzung benahm sich genau so, wie es für seinen Plan paßte, aber in diesem Augenblick hätte des kleinen Kapitäns Kampflust beinahe die Ueberhand über ihn gewonnen. Der Gedanke, daß diese Leute, der Auswurf aller Nationen, die er während der Fahrt über den Atlantischen Ocean zur Unterwürfigkeit eingeschüchtert hatte, jetzt nach eigenem Willen handelten, war zu viel für ihn, als daß er sich auf einmal darein hätte finden können. Ehe er sich das gefallen ließ, wollte er lieber den ganzen Plan verderben. Dem ersten, der die Treppe hinanstieg, hielt er demnach den Revolver ins Gesicht, und in seinen Augen leuchtete der ruhige, leidenschaftslose Glanz einer tödlichen Entschlossenheit.

Dem Manne, der die Treppe ersteigen wollte, fehlte es keineswegs an Mut, aber angesichts eines gewissen Todes zauderte er doch, und als nun Kettle, selbst die Treppe herabkommend, ihn wütend mit der schwarzen Pistolenmündung vor sich herstieß, zog er sich nach dem Quarterdeck zurück, wohin ihm seine Genossen folgten.

Allein die andern Leute dieser edlen Besatzung waren nicht gesonnen, sich noch länger tyrannisieren zu lassen, während der Dampfer unter ihren Füßen immer tiefer sank und der Tod des Ertrinkens eine Frage von Minuten zu sein schien. Sich an alles anklammernd, was einen Halt bot, stürzten sie sich auf die Boote und fingen an, die schmutzigen Segeltuchdecken mit ihren Messern loszuschneiden. Steuerruder und Klampen wurden eingesteckt, und ein paar, die mehr Umsicht hatten, als ihre vor Angst fast sinnlosen Gefährten, nahmen die Wasserkästen aus den Booten und füllten sie am Auslaufhahn des Kondensators mit Wasser.

Kettle ließ sie gewähren. Er hatte die Kommandobrückentreppe gegen die Anstürmenden behauptet und war sich bewußt, daß damit seiner Ehre genug geschehen sei. Allein er half ihnen auch nicht, gab keine Anweisungen, keine Befehle, sondern stand mit untergeschlagenen Armen und seinem gewohnten, sauren, dünnen Lächeln dabei und sah zu. Patrick Onslow handelte menschlicher.

»Nehmt euch die Zeit, Leute,« rief er ruhig, »wenn ihr denn einmal so feige sein wollt, das Schiff zu verlassen. Ich glaube nicht, daß es sinken wird, wenigstens nicht gleich.«

Die Leute hatten inzwischen die Stützen der Boote weggeschlagen, die Davits ausgeschwungen und die Boote zum Hinablassen fertig gemacht.

»Verliert doch den Kopf nicht. Nehmt die Fangleinen nach vorn und laßt eure Boote nicht eher zu Wasser, als bis ihr Lebensmittel hineingeschafft habt. Ihr müßt wenigstens hundertfünfzig Meilen rudern, bis ihr Charlotte Harbour erreicht, und das dauert vielleicht eine Woche.«

Einige von den Leuten, die die Richtigkeit dieser Vorstellungen einsahen, rannten hinunter und holten alles, was sie tragen konnten, aus der Vorratskammer hervor, aber sie vermochten nur eine Ladung Konservebüchsen heranzuschaffen, da sie Angst hatten, ihre Kameraden möchten ohne sie abfahren. Sie warfen ihre Beute in die Boote, und diese wurden mit einem Dutzend Leute in jedem zu Wasser gelassen. Als sie dieses erreicht hatten, überließen die Leute die Fangleinen dem Winde und machten die Blöcke los. Die Boote waren jetzt nur noch durch die Fangtaue mit dem Schiffe verbunden und tanzten auf den Wellen, so daß sie sich bald auf gleicher Höhe mit dem Deck, bald zwanzig Fuß tiefer befanden und große Gefahr liefen, an der Schiffswand zu zerschellen.

Ein Mann in jedem Boote stand am Fangtau, andre legten die Ruder in die Tollen.

»Wo ist der Oberheizer?« rief eine Stimme.

»Und Mr. Onslow?«

»Und der Kapitän?«

»O, im andern Boot!«

»Dann los! Wir haben alles und müssen klar vom Schiff sein, ehe es sinkt, sonst werden wir vom Strudel mitgerissen.«

Die Fangtaue wurden losgelassen, und von jeder Seite des Schiffes stieß eins der Rettungsboote ab. Hierauf stellten sie ihre Masten auf und dann segelten sie, das eine unter einem Klüversegel, das andre unter dicht gerefftem Sturmsegel vor dem Winde, davon.

Dampfbootmatrosen sind ans Segeln in kleinen Booten bei schwerem Seegang nicht gewöhnt, und es dauert einige Zeit, bis sie sich zurechtfinden. Glücklicherweise konnte der zweite Offizier, der früher auf einer Fischersmack in der Nordsee gefahren war, in einem der Boote das Steuer führen, während ein alter Matrose, der gleiche Erfahrungen hinter sich hatte, die Leitung des zweiten zu übernehmen vermochte. Die andern suchten die Boote möglichst im Gleichgewicht zu halten. Einige schöpften Wasser aus, andre, die zu geängstigt waren – das waren meist die Leute aus dem Maschinenraum – klammerten sich an die Kreuzhölzer, und in diesem Zustand der Verwirrung und Gefahr verschwanden die Rettungsboote im Dunkel der Nacht in nordöstlicher Richtung.

Drei Leute befanden sich noch an Bord der ›Port Edes‹ und sahen vom Kartenraum aus den Booten nach. Einer von ihnen, der Oberheizer, meinte, es sei eine rechte Dummheit gewesen, zurückzubleiben.



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