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Ein Wagen hielt vor dem hübschesten Hause in Park Lane, und Mr. Theodor Shelf sprang heraus und trat ein. Er war ein wohlbeleibter Herr mittleren Alters mit glatt rasiertem Gesicht und trug einen kurzen schwarzen Gehrock. Nachdem er sich Hut und Regenschirm hatte abnehmen lassen, schritt er durch den prächtigen Flur ins Billardzimmer, wo er seinen Gast, Mr. Patrick Onslow, fand, der es sich bequem gemacht hatte und in Hemdärmeln mit sich selbst spielte.
»Was? Sie sind allein, Mr. Onslow?«
»Wie Sie sehen! Ich habe vorhin hundert Points mit Ihrer Nichte gespielt, aber sie wurde abgerufen.«
»Nichte? O, Sie meinen Miß Rivers? Ja, ja, lieber Herr, die Liebe, die wir ihr entgegenbringen, und die Art, wie wir sie behandeln, hat Sie zu dem Irrtum veranlaßt, sie für eine Verwandte zu halten. Das ist eine sehr liebenswürdige Schmeichelei von Ihnen, Mr. Onslow, allein es ist meine Pflicht, Sie aufzuklären. Miß Rivers ist nur mein Mündel.«
»Mündel? – Haben Sie das gesehen? Feiner Stoß, was? Wenn man die lange Zeit in Betracht zieht, daß ich keine Queue in der Hand gehabt habe.«
»Das einzige Kind meines verstorbenen Partners! Wie Sie wissen, heißt ja die Firma immer noch Marmaduke Rivers & Shelf. Am Kopfe unsrer Drucksachen bezeichnen wir uns als ›Agenten der überseeischen Dampfschiffahrtsgesellschaft‹, obgleich die ganze Linie natürlich uns gehört. Sie begegnen unsrer Flagge in jedem Meere, verehrter Herr.«
»Ich weiß, ich weiß, von Nagasaki bis Buenos Ayres. Schnaps und Schießpulver für die Westküste von Afrika. Kohlen nach und Baumwolle von New Orleans.«
»Und wir schicken unsre Dampfer nicht bloß zu Handelszwecken hinaus, Mr. Onslow. Wir wählen unsre Kapitäne und Schiffsoffiziere mit Rücksicht auf heiligere Zwecke und geben uns der Hoffnung hin, daß sie in den von ihnen angelaufenen Häfen einen christlichen Einfluß ausüben,« schloß Shelf salbungsvoll.
»Ja, ich habe sie einmal in Axim auf einem Ihrer Dampfer bei der Arbeit gesehen. Sie nahmen Krujungen an Bord, und der Kapitän empfing sie an einer der Decktreppen mit einem Tauende und beförderte sie mit einem Fußtritt weiter; der Obersteuermann stand mit einer Handspeiche bereit und kitzelte sie damit, als sie auf ihrem Wege nach dem Achterdeck an ihm vorüberkamen. Sie sprachen damals davon, daß dieses Verfahren einen ganz ungewöhnlich christianisierenden Einfluß habe, da es die Krujungen zur Demut erziehe. – Hören Sie mal, dieses Billard zieht nach der Ecke dort; es muß jemand drauf gesessen haben.«
»Aber, Mr. Onslow! Sie erheben da eine sehr schwere Anklage gegen Angestellte meiner Schiffsbesatzungen.«
»Anklagen? Ich? Fällt mir gar nicht ein! Das ist die einzige Seeleuten bekannte Art, Krujungen zum Arbeiten zu bringen. Wollen Sie ein Spiel mit mir machen? Ich gebe Ihnen fünfzig vor.«
»Danke, ich selbst spiele kein Billard,« entgegnete Shelf, indem er seine weiße Hand abwehrend erhob. »So viele junge Leute sind durch das Spiel zu Grunde gerichtet worden, daß ich mich dessen des Beispiels wegen enthalte; allein meine Freunde, die mich hier besuchen, sind nicht so gewissenhaft, und für sie habe ich das Billard angeschafft.«
»Herrlich!« rief Onslow, und es blieb ungewiß, ob er sein Spiel, oder Shelfs erhabenen Standpunkt meinte.
»Sehen Sie, Mr. Onslow, in meiner Stellung blicken so viele Leute zu mir empor, daß es einfach meine Pflicht und Schuldigkeit ist, mich gewisser Dinge zu enthalten und meinen Nebenmenschen in aller Demut als Vorbild zu dienen. Schon lange bevor ich ins Parlament gewählt wurde, habe ich meine besten Kräfte der Aufgabe gewidmet, die unteren Klassen fürs Christentum zu gewinnen, und ich hoffe, nicht ohne Erfolg. Wenn es erlaubt ist, aus Zeichen der Anerkennungen einen Schluß zu ziehen, so erlaube ich mir, zu erwähnen, daß ich zum Vorsitzenden von nicht weniger als zwölf Gesellschaften erwählt worden bin, die sich die Besserung der Menschen zur Aufgabe gemacht haben.«
»Ja, die Ecke zieht, gerade als ob ein Gleis dahinführte. – Hm, sehr anerkennenswert von Ihnen, aber werden Sie der Geschichte nicht manchmal überdrüssig? Sehnen Sie sich nicht gelegentlich mal nach einem Tage, wo Sie sich gehen lassen können, einem kleinen Abstecher nach Monte Carlo zum Beispiel?«
»Monte Carlo! Ich bin geradezu entsetzt, Mr. Onslow, aber Sie sind mein Gast, und deshalb kann ich keinen stärkeren Ausdruck gebrauchen, allein ich muß doch aussprechen, daß das ein ziemlich schlechter Scherz war.«
»Na, Sie werden den Ort ja wohl besser kennen. Für manche Leute ist Monte Carlo immer ein bißchen gewagt, denn man trifft zu leicht Massen von Bekannten, die, wenn ihre eigenen Missethaten sie nicht zum Schweigen zwingen, nach ihrer Rückkehr klatschen. Aber weshalb Sie so entsetzt sind, wo wir uns unter vier Augen befinden, kann ich, offen gestanden, nicht begreifen. Sie sind doch in einer viel heißeren Hölle gewesen als Monte Carlo, nämlich Barcelona. Sie wohnten in den ›Cuatro Naciones‹ und gingen nachts gewöhnlich über die Rhambla, um –«
»Woher wissen Sie das alles, Mr. Onslow?«
»Erinnern Sie sich noch eines Abends, wo Sie sich weigerten, ein Päckchen, offenbar falscher, Banknoten anzunehmen, und es infolgedessen zu einer Prügelei kam, wobei einer ein Messer zog und ein andrer den Messerhelden mit einem Stuhle zu Boden schlug?«
»Ja – nein.«
»Worauf Sie sehr verständigerweise auskniffen. Nun, ich war gerade in dem Augenblicke dazugekommen, erkannte Sie aber sofort als Mitbewohner dieser schönen Insel, und das war der Grund, weshalb ich etwas mit dem Stuhle spielte. Ich entsann mich Ihrer sogleich wieder, als Ihre Frau Gemahlin uns einander vorstellte, denn ich vergesse nie ein Gesicht.«
»Sie irren sich dennoch; ich bin nie an einem solchen Orte gewesen. Denken Sie doch mal an meine Stellung. Die Sache ist einfach unmöglich.«
»Aber mein lieber Herr, warum verschwenden Sie so viele Lügen? Unbesorgt, ich werde Sie nicht bloßstellen. Was sollte mich wohl dazu veranlassen? Es würde Sie wahrscheinlich gesellschaftlich zu Grunde richten, und ich würde mich selbst als Besucher einer der verzweifeltsten und gemeinsten Spielhöllen Europas an den Pranger stellen, ohne daß es mir einen Pfennig einbrächte. Ich meinte nur, es wäre bequemer, wenn wir über unsre kleinen Liebhabereien offen miteinander wären. Wer weiß, ob wir nicht einmal ein vorteilhaftes Geschäft gemeinsam unternehmen könnten?« Onslow legte seine Queue nieder und drehte sich mit tief in die Taschen seiner Beinkleider versenkten Händen nach seinem Gastgeber um. »Es wäre der Mühe wert, darüber nachzudenken.«
Theodor Shelf stand vor dem Kamin und fuhr sich mit dem Taschentuch in den zitternden Fingern übers Gesicht.
»Was für ein Geschäft meinen Sie?« fragte er endlich.
»O, kein bestimmtes. Ich bin kein Geschäftsmann. Manchmal mache ich Entdeckungen, weiß sie aber nicht zu verwerten. Sie sind Geschäftsmann und sehen vielleicht besser, wie sie sich zu Gelde machen lassen. Können Sie das, gut, so teilen wir die Beute; wenn nicht, nun, dann sind wir nicht schlimmer daran als vorher.«
»Das ist etwas sehr unbestimmt. Um was für Entdeckungen handelt es sich? Haben Sie eine Gold- oder Silbermine gefunden?«
»Nein, diesmal handelt sich's um eine Einfahrt.«
»Eine Einfahrt? Ich verstehe Sie nicht.«
»Eine Einfahrt für Schiffe mit großem Tiefgang. Sie führt zu einer Küste, wovon alle Welt annimmt, daß nur ganz seichtes Wasser davorläge. Die Karten der Regierung bezeichnen sie als teilweise unvermessen und für die Schiffahrt gänzlich ungeeignet. Das ist auch in weitgehendem Maße vollkommen richtig, allein an einer Stelle, und die habe ich entdeckt, mündet ein aus dem Innern kommender Fluß, und dieser hat eine schmale Fahrrinne durch das vorliegende Korallenriff bis zur tiefen See außerhalb gerissen.«
»Nun,« rief Shelf dazwischen, »bis jetzt sehe ich noch nicht, wo der Wert Ihrer Entdeckung stecken soll.«
»Nur Geduld, es wird schon kommen. Ganz im Vertrauen will ich Ihnen mitteilen, daß es sich um die Westküste von Florida handelt. Das Innere von Südflorida heißt ›Everglades‹, und besteht zum Teil aus Seen, zum Teil aus Sümpfen, die mit Mangrovegebüschen, grobem Riedgras und Cypressen bewachsen sind und von Schlangen, Krokodilen, Raubtieren und ein paar Seminolen Ein Indianerstamm. bewohnt werden. Nur eine Expedition von Weißen ist bis jetzt hineingedrungen; aber ich bin auch dagewesen, im Herzen der Everglades, und, gerade herausgesagt, ich komme geradeswegs von dort und habe tausend Pfund bei dem kleinen Abstecher herausgeschlagen.«
»Wie haben Sie denn das angefangen?« fragte Shelf neugierig.
»Das ist Nebensache und zum Teil das Geheimnis eines andern. Aber um auf die Einfahrt zurückzukommen: wenn ich meine Entdeckung den Topographen mitteile, so sagen sie: ›Danke schön‹, und nennen meinen Namen in der nächsten Nummer ihrer Zeitschrift, die kein Mensch liest, doch eine Berühmtheit dieser Art hat für mich nicht den mindesten Reiz; mein Geschmack ist so entartet, daß ich Gold vorziehe.«
»Hm, ich glaube, ich fange an, Sie zu verstehen,« sprach Shelf langsam. »Lassen Sie mir eine Minute Zeit zum Nachdenken.«
»Eine Woche, wenn Sie wollen,« entgegnete Onslow, nahm seine Queue wieder auf und wandte sich dem Billard zu.
Die Bälle klapperten, und die Uhr tickte mit scharfem Klange Sekunde um Sekunde. Shelf lehnte sich auf seinem Stuhle zurück, legte die Fingerspitzen unter seinem eckigen Kinn zusammen und betrachtete die Schatten, die die Lampe an der gemalten Decke hervorbrachte. Niemand hätte geahnt, welche Richtung die Gedanken nahmen, die in seinem Gehirn gärten und kochten. Ein Strom von Plänen zog vor ihm vorüber, mit Blitzesschnelle durchschaute er sie in allen ihren Einzelheiten und gab sie als unausführbar auf. Es war einer der hervorragendsten Züge des Geistes dieses Mannes, daß er mit Sturmesschnelle denken und sich einen unfruchtbaren Gedanken, kaum daß er geboren war, aus dem Sinne schlagen konnte. Zwanzig Pläne waren vor ihm aufgetaucht, nur um verworfen zu werden, bis der einundzwanzigste kam, der blieb. Alle Haupteinzelheiten ging er in Gedanken durch, grübelte über tausend Kleinigkeiten nach und kam endlich zu der Ueberzeugung, daß die Sache seinen Zwecken entsprach.
Kaum eine Minute war vergangen, aber sie genügte für seine Ueberlegung. Der Plan erschien ihm vollendet, ohne Lücke, ohne die Möglichkeit, ihn noch zu verbessern.
Jäh sprang er auf und ergriff Onslow am Arme.
»Wenn Ihr Fahrwasser und die Everglades einem Zwecke, den ich im Auge habe, entsprechen, dann ist eine halbe Million englischer Sovereigns herauszuschlagen.«
Mit einem leisen, langgezogenen Pfeifen wandte Onslow sich um und sah ihn an.
»Fünfmalhunderttausend Pfund? Puh!«
»Still, es kommt jemand, aber wenn Sie etwas Gefahr nicht scheuen, sind sie zu verdienen.«
»Ich fürchte nichts in der Welt, wenn mein Vorteil es notwendig macht, mich nicht zu fürchten,« entgegnete Onslow. »Außerdem ist mein sittlicher Maßstab wahrscheinlich um eine Kleinigkeit höher als der Ihre. Ich scheue mich nicht, mich mit mancherlei schmutzigen Dingen abzugeben, aber auch im Schmutze gibt es Abstufungen, und vor gewissen Arten mache ich Halt. – Die Belederung an diesen Queues ist aber sehr schlecht aufgeleimt. Sie fliegt ab und könnte jemand verletzen.«
Die Thür hatte sich inzwischen geöffnet, und Amy Rivers war in Begleitung von Fairfax eingetreten, daher Onslows Abschweifung. In klaren Worten war es zwar nicht ausgesprochen worden, aber er wußte sicher, daß ihm eine Räuberei in großem Maßstabe vorgeschlagen worden war, und er hatte große Lust, Theodor Shelfs lügnerisches Heuchlergesicht auf der Stelle die Bekanntschaft seiner Fäuste machen zu lassen.