Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Inkognito

Der staubige Bombayer Zug stand leer auf dem Bahnhof in Jubbulpore. Hie und da brannten die Lampen in den Wagen und beleuchteten ein Durcheinander von Kissen, Büchern, Frühstückskörben, ausgebreiteten Zeitungen, Papierfächern und dergleichen. Der Zug war jedoch nicht verwaist, sondern die Reisenden waren nur ausgestiegen, um im Wartesaal ein eiliges Mittagessen einzunehmen.

Ein langer, schmaler Tisch war dicht mit Menschen besetzt; denn es war im März, wo der Anglo-Indier heimwärts zieht, und wo die Dampfer überfüllt sind mit Offizieren, Beamten, Missionaren, Jagdliebhabern, Weltbummlern, Frauen und Kindern – einer ganzen Völkerwanderung. Am unteren Ende des Tisches nahe der Tür saßen drei Herren zusammengepfercht. Zwei waren unverkennbar Offiziere, der dritte mochte ein Vergnügungsreisender sein – ein mageres, glattrasiertes kleines Individuum von etwa dreißig Jahren, mit kalten blauen Augen und eigentümlich scharf geschnittenem Mund. Er trug einen tadellosen grauen Flanellanzug und erledigte geschäftsmäßig seine Mahlzeit. Die beiden anderen waren offenbar Bekannte, die sich eben getroffen hatten, und unterhielten sich lebhaft miteinander.

»Was das hier für ein Gedränge ist!« sagte der eine. »Beinahe jeder dritte Mensch scheint dieses Jahr nach Hause zu reisen.«

»Jawohl,« stimmte sein Gefährte bei, »aber wunderbarerweise sehe ich keine Bekannten.« Er bog sich vor und musterte die beiden Reihen Gesichter. »Doch, wahrhaftig! Da ist ja Mutter Bonny mit ihrer ganzen Sippe.«

»Wer ist das?«

»Eine Oberstenfrau aus Lukimpore, riesig nett. Eine Tochter von ihr ist an Dickson von den zehnten Bengalen verheiratet – Sie kennen doch Dicky? Die andre ist mit dem jungen Green von der Gendarmerie verlobt; sie sitzen rechts und links von ihr, und Green sitzt neben seiner Braut.«

»Nun, Schönheiten sind sie beide nicht,« bemerkte sein Freund. »Wer ist denn das brünette Mädchen? – Die ist nicht übel.«

»Das ist Fräulein Wayne. Haben Sie nicht von Fräulein Wayne gehört? Sie ist eine verwaiste Nichte des alten Bonny und eine gute Partie.«

»Nein; wir an der Grenze haben an andre Dinge zu denken als an verwaiste Erbinnen.«

»Sie hat zwölfhundert Pfund jährlich.«

»Und ist folglich verlobt?«

»Nein; das ist das Kuriose: die beiden Bonnys sind vergeben, und Fräulein Wayne mit ihrem guten Aussehen und all ihrem Gelde ist sitzen geblieben. Es behagt ihr durchaus nicht, kann ich Ihnen sagen.«

»Was bedeutet das?« fragte der andre mit vollem Munde.

»Es bedeutet, daß der englische Leutnant keine Krämerseele ist und nicht nur des Geldes wegen heiratet.«

»Mit zwölfhundert Pfund jährlich könnte er sich schöne Poloponies leisten.«

»Ja, und hätte die Hölle auf Erden. Sie ist nämlich ein Satan, schnattert den ganzen Tag und kennt nur ein Thema.«

»Und dieses Thema?«

»Ist sie selbst.– Ach, da kommen sie!« rief er, sich erhebend.

»O, Herr Hauptmann Crofton!« begrüßte ihn eine hübsche, behäbige Dame mit munteren Augen und einem Doppelkinn. »Wie merkwürdig, daß wir Sie hier treffen! Ich hoffe, Sie reisen auch nach Hause – und auch mit dem ›Salamander‹.«

»Und Sie sind eine ganze Gesellschaft, wie ich sehe.« Er begrüßte die andern drei Damen.

»Ja, ich reise mit meiner ganzen kleinen Schar,« sagte die gute Dame. »Aber nun muß ich sehen, daß ich unsre Aja abfasse. – Auf Wiedersehen in Bombay!« Damit eilte Frau Bonny hinaus, gefolgt von ihren beiden Töchtern, blassen, schmächtigen jungen Damen mit rötlichem Haar und weißen Zähnen. Fräulein Wayne blieb einen Augenblick zurück und ließ ihre Blicke selbstbewußt über die Gesellschaft schweifen.

»Also Sie reisen auch mit dem ›Salamander‹,« wandte sie sich in weinerlichem Tone zu Hauptmann Crofton, »aber wir werden sicherlich von Bombay bis London nichts von Ihnen sehen.«

»Warum denn? Sind Sie so wenig seefest?« fragte er, die Brauen hochziehend.

»Das schon, aber wir fahren ja zweiter Kajüte – es ist zu gräßlich. Tante Bonny besteht darauf, weil wir so viele wären. Sie hat allerdings für drei zu bezahlen; aber für mich ist es wirklich hart, daß ich zweiter reisen muß. Ich würde sonst bestimmt erster Kajüte fahren, aber das würde so komisch aussehen. – Die zweite Kajüte paßt wirklich nur für Gesellschaften zweiten Ranges.«

»Ich fahre auch zweiter, Miß Wayne.«

»Wirklich?« Ihr Gesicht erhellte sich. »Dann kennen wir doch wenigstens einen Menschen.«

»Ja, aber heutzutage fahren eine Masse Leute zweiter. Man hat überall Zuganschluß – man ist unter sich – es ist gemütlicher, und ...«

»Männer können eben alles tun,« unterbrach sie ihn. »Ich finde es trotzdem hart, daß ich, die ich's dazu habe, erster zu fahren, Tante Bonnys gräßliche Einschränkungen mitmachen muß. Sie spart für Marys Aussteuer – geben Sie nur acht, wie unleidlich ich sein werde!« Und leichthin nickend folgte sie ihrer Tante.

»Damit hat's keine Not, wie mir scheint,« bemerkte Herr Lomax. »Aber sie sieht wirklich ungewöhnlich gut aus und würde sehr hübsch sein, wenn ihre dunkeln Augen nicht so nahe zusammenständen.«

»O, gegen ihr Äußeres ist nichts zu sagen, und ich weiß von mehreren, die bei einem Haar hereingefallen wären. – Bolter von der Garde war eine ganze Woche mit ihr verlobt; aber dann zankten sie sich wegen eines andern Mädchens, und sie gab ihm sein Wort zurück. – Es läutet, kommen Sie!«

*

Der »Salamander« verließ den Hafen von Bombay mit über vierhundert Passagieren an Bord. Unter ihnen befanden sich Frau Bonny mit ihrer Schar, Hauptmann Crofton, Herr Lomax und das glattrasierte Individuum, das in Jubbulpore neben ihnen gesessen hatte. Auch er reiste zweiter Kajüte. Im Speisesaal tauchte er wieder neben ihnen auf. Die Passagierliste verzeichnete ihn als Herr J. C. Rivers, letzter Aufenthalt Charleville Hotel, Mussouri. Er war augenscheinlich ein harmloser, tadellos gekleideter kleiner Mann, der wenig sprach und viel zuhörte, sich befliß, Frau Bonny und ihrer Gesellschaft Stühle zu bringen und Bücher nachzutragen, und äußerst freigebig mit echten Havannas und russischen Zigaretten war.

Bei der dritten oder vierten Mahlzeit machte er einen kühnen Versuch, Fräulein Wayne, die neben ihm saß, ins Gespräch zu ziehen, wurde aber dermaßen angefahren, daß er verstummte. Die holde Dame wandte ihre ganze Liebenswürdigkeit dem unempfänglichen Herrn Lomax zu, der an ihrer andern Seite saß, und behandelte Herrn Rivers mit vernichtendem Hochmut. Sein demütiges »guten Morgen« blieb unerwidert, und seine Zuvorkommenheit im Reichen von Salz, Zucker und Butter, seine Behendigkeit im Aufheben ihres Taschentuches trug ihm nur ein verächtliches Anstarren ein.

Plötzlich und ohne jeden ersichtlichen Grund geruhte jedoch Fräulein Wayne, von ihrem verachteten Nachbar Notiz zu nehmen. Eines Tages sprach sie ihn beim Frühstück freundlich an, bemerkte beim Mittagessen, daß sie sich entsinne, ihn in Jubbulpore gesehen zu haben, und wandte beim Abendessen Herrn Lomax den Rücken, um sich ausschließlich mit ihrem neuen Bekannten zu unterhalten.

Es war klar, daß Fräulein Wayne ihre bisherige Nichtachtung gut machen wollte. Sie strahlte den kleinen Mann an, während sie unaufhörlich von sich selbst redete. Ihre Augen glänzten, ihre Wangen brannten; sie sah ungewöhnlich hübsch aus, und ihre Cousinen bemerkten, daß sie tatsächlich ihre Perlenkette und ihre beste Brillantbrosche angelegt hatte. Was bedeutete diese plötzliche Liebenswürdigkeit gegen den stillen kleinen Herrn? – Die beiden standen dann gleichzeitig von Tisch auf und gingen an Deck, wo sie wohl eine Stunde bei Sternenschein auf und ab wandelten. Nach Verlauf dieser Zeit war Herr Rivers genau unterrichtet über Fräulein Waynes Vermögensverhältnisse, Familienbeziehungen, Vorurteile und Zukunftspläne.

Obgleich die Bonnyschen Mädchen an Myras heftige Zu- und Abneigungen gewöhnt waren – ihre Freundschaften pflegten plötzlich zu beginnen und vor der Zeit zu enden – standen sie diesmal vor einem Rätsel und fragten einander, was sie nur an dem kühlen, zurückhaltenden Männlein finden könne, das einen halben Kopf kleiner war als sie. Sie saß in dunklen Ecken mit ihm herum, sie kam ihm offenkundig entgegen und hatte, obgleich sie sonst sparsamer Natur war, ihre besten Kleider und Hüte in täglichen Gebrauch genommen. Sie konnte doch unmöglich daran denken, diesen unscheinbaren Fremden zu heiraten! Beide wagten aber nicht, diese Frage an ihre heftige Cousine zu richten, wußten sie doch, welcher scharfen Abfertigung sie sich ausgesetzt hätten.

In Wahrheit hing die Sache so zusammen: Eine unfeine Klatschbase, mit der Myra sich angefreundet hatte, um über die Mitreisenden zu »reden«, hatte eines Abends gefragt: »Gehört der kleine Herr, der an Ihrem Tisch sitzt, eigentlich zu Ihnen?«

»Bewahre!« versetzte Miß Wayne hochfahrend. »Ich weiß nichts über ihn, als daß er ein dreister Patron ist.«

»Aber ich weiß etwas über ihn,« fuhr die andre in geheimnisvollem Tone fort, »und ich will Ihnen erzählen, wer er ist – wenn Sie mir versprechen, es nicht weiterzusagen.«

»O, das will ich Ihnen gern versprechen,« antwortete Myra nachlässig. »Er ist jedenfalls nicht sonderlich interessant.« »Meinen Sie?« versetzte Frau Gibbings eifrig. »Er ist – ein verkappter Graf.«

»Ein Graf?« wiederholte Myra starr. »Wie meinen Sie das?«

»Scht!« sagte Frau Gibbings. »Ich möchte nicht, daß es herumkommt; aber es ist wahr. Mein Bruder schläft mit ihm in einer Kabine und sagt, er habe einen prachtvollen Toilettenkasten, alles in getriebenem Silber, und einen Koffer, der ein Vermögen gekostet haben müsse. Auf seiner Kleiderbürste sei eine Grafenkrone, und sein Schlafrock sei so pomphaft wie ein Krönungsmantel.«

»Was Sie nicht sagen! – Dieser stille, kleine Mann, der mir das Taschentuch aufhebt und mich fast wie ein Lakai bedient?«

»Ja, dieser stille kleine Mann – und Tom sagt, er habe eine Menge Tigerfelle, Krokodilhäute und Geweihe aller Art an Bord und sei äußerst besorgt darum. Er hat in Travankor, Mittelindien und Nepaul gejagt.«

»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß er Tiger geschossen habe?«

»Jawohl, mindestens zwanzig, und Tom sagt, daß er jeden Menschen zu kennen scheine – ich meine jeden, der etwas ist. Er ist so still und anspruchslos, das ist die Art dieser vornehmen Leute; aber er ist in Chatsworth und Sandringham und überall gewesen und scheint mit der ganzen hohen Aristokratie auf du und du zu stehen.«

»Und weshalb reist er allein?«

»Weil seine Gefährten nach Tibet gegangen sind. Das war ihm zu strapaziös; er ist kein Freund von Pferdefleisch und Tee mit gekochter Butter.«

»Aber wie sonderbar, daß er zweiter Kajüte fährt!« wandte Myra lebhaft ein.

»Durchaus nicht – diese vornehmen Herren haben oft sonderbare Grillen. Es macht ihnen Spaß, eine Stufe tiefer zu steigen und sich unter die Männer – und Frauen – andrer Kreise zu mischen. – Sind Sie überhaupt mit ihm bekannt?« »Nur sehr wenig,« gestand Myra, und dachte mit heftigen Gewissensbissen an die letzten vier Tage, die vier verlorenen Tage, so viele versäumte Stunden! Nur noch acht Tage – denn natürlich würde er in Brindisi das Schiff verlassen – aber in acht Tagen läßt sich viel tun!

Sie mußte vorsichtig anfangen, mit ihm zu sprechen. Gleich morgen beim Frühstück wollte sie das Eis brechen. – Frau Gibbings unterbrach sie in diesen Erwägungen.

»Ich will es sonst niemand sagen, denn offenbar wünscht Graf Soundso inkognito zu reisen. Tom sagt, er verberge alle Kronen und decke die Wappenschilder zu, und wenn er ihm eine Zigarre anbiete, gebe er die Tasche nicht aus der Hand, aber Tom hat trotzdem die Krone erspäht. Ich glaube, er wäre wütend, wenn er wüßte, daß ich darüber gesprochen habe. Nicht wahr, Sie sagen's Ihrer Tante und Ihren Cousinen nicht weiter?«

»Gewiß nicht!« versetzte Fräulein Wayne nachdrücklich.

»Und Sie behalten auch alles, was ich Ihnen erzählt habe, für sich? – Herr Rivers darf nicht ahnen, daß Sie um sein Geheimnis wissen.«

Auch das versprach Fräulein Wayne mit Wärme. Dann stand sie auf, sagte gute Nacht und stieg mit ihrer kostbaren Neuigkeit in ihre Kabine hinab. Dort schwankte sie lange in der Wahl ihres kleidsamsten Morgenanzuges und kräuselte sich schließlich mit ungewöhnlicher Sorgfalt das Haar.

*

Als der »Salamander« in den Suezkanal einlief, war das Paar so im Gerede, daß eine Bekannte von Frau Bonny, eine sehr würdige ältere Dame, ein warnendes Wort fallen ließ.

»Sie wissen, beste Polly, wie das mit diesen Schiffständeleien ist, und man spricht über das Mädchen, selbst in der ersten Kajüte. Ich an Ihrer Stelle würde ihr einen Wink geben. Wer ist der Mensch eigentlich? Niemand scheint ihn zu kennen.«

»Ich habe wirklich keine Ahnung, aber er ist höflich und bescheiden, und scheint an gute Gesellschaft gewöhnt zu sein,« versetzte Myras Beschützerin. »Jedenfalls werde ich Ihren Rat befolgen und mit Myra reden, obgleich ich gestehen muß, daß es mir peinlich ist.«

»Pah! Sie haben Angst vor ihr, und sie weiß das. Wenn sie meine Nichte wäre, ich wollte sie bald ducken,« prahlte die Freundin.

»Sie haben gut reden, meine Liebe, aber was soll man mit einem Mädchen machen, das wochenlang den Mund nicht auftut?«

»Einen Schlosser holen lassen.«

»Ja, Sie können scherzen, aber Myra ist wirklich nicht leicht zu behandeln.«

Beklommenen Herzens ließ Frau Bonny ihre Nichte zu sich bitten, um sie ins Gebet zu nehmen.

»Nun, was gibt's, Tante Mary?« fragte Myra in scharfem Ton, offenbar verdrießlich über die Vorladung.

»Ich wollte dir nur einen kleinen Wink geben, Liebste, wie ich es bei einer von meinen Töchtern tun würde, einen Wink wegen dieses Herrn Rivers.«

»Was ist mit Herrn Rivers?« fragte das Mädchen herausfordernd.

»Sieh, wir wissen nichts über ihn, nicht einmal, wer er ist. Er mag verheiratet sein, wer kann das ergründen, und er bringt dich durch seine Aufmerksamkeiten ins Gerede. Gewiß ist er sehr gewandt und höflich und wunderbar schnell mit Stühlen und Schals bei der Hand, aber ... wir wissen wirklich nichts über ihn,« schloß sie etwas hilflos.

»Jedenfalls ist er gut erzogen, das sieht ein jeder. Du glaubst doch wohl nicht, daß ich mit jemand umgehen würde, der kein gebildeter Mann wäre?«

»Das will ich nicht bestreiten, meine Liebe; aber wer ist er?«

»Er ist kein gewöhnlicher Vergnügungsreisender, kann ich dir versichern,« antwortete Myra würdevoll, »sondern ist gewöhnt, in den höchsten Kreisen zu verkehren. Ich dächte, das wäre genug. Du meinst, jeder müßte Offizier sein, wie der eingebildete Hauptmann Crofton. Herr Rivers ist sein eigener Herr und kann tun und lassen, was er will, und braucht nicht nach andrer Leute Pfeife zu tanzen, als wenn er den bunten Rock trüge.«

»Nun, meine Liebe, ich wollte dich nur bitten, auf der Hut zu sein. Es könnte sich doch herausstellen, daß Herr Rivers etwas ganz andres ist, als du denkst.«

Myras Augen blitzten triumphierend, und Frau Bonny fuhr fort: »Er hat etwas Eigentümliches an sich, etwas, worüber ich nicht ins reine kommen kann. Nie spricht er von seiner Heimat oder seinen Angehörigen. Ich werde nicht klug aus ihm. Er ist anders, als alle Leute, die ich kenne.«

»Um so schlimmer für dich!« entgegnete Herrn Rivers' Parteigängerin schnippisch. »Wenn er mir recht ist, so ist das, dächte ich, die Hauptsache.«

»Aber du darfst ihn wirklich nicht ermutigen, liebes Kind, bevor wir zu Hause angelangt sind und uns nach ihm erkundigt haben,« mahnte ihre Pflegemutter fast weinend. »Niemand an Bord hat ihn je gesehen oder auch nur von ihm gehört – und ich bin deinem Onkel für dich verantwortlich. Wenn du meine eigene Tochter wärest, könnte ich nicht ängstlicher sein. Ich wollte, du wärest erst glücklich versorgt, wie Alice und Mary.«

Das war ein übel angebrachter Wunsch. Fräulein Wayne, die auf dem Rande einer Koje gesessen und ungeduldig mit dem Fuße geklopft hatte, sprang mit purpurrotem Gesicht auf.

»Du bist sehr gütig, aber ich strebe wirklich nicht nach einem Leutnant oder einem Gendarmerieoffizier. Ehe ich so eine Partie machte, wie Alice und Mary, möchte ich tausendmal lieber alte Jungfer werden!« Damit stürmte sie hinaus und warf die Tür ins Schloß, daß die Wände zitterten.

Seit dieser Unterredung ließ Herrn Rivers' Zurückhaltung merklich nach, er wurde mitteilsamer, begann gleichsam widerwillig in der ersten Person zu sprechen, und Frau Bonny, die jetzt ein scharfes Auge auf sein Benehmen und seine Äußerungen hatte, hörte mit Beschämung und Unbehagen, wie der kleine Mann Bemerkungen über hochstehende Leute hinwarf, die weit über ihrem Kreise, ihm aber augenscheinlich nahe standen; denn er sprach mit verblüffender, kaltblütiger Vertraulichkeit von ihnen. Er wußte, warum der Herzog von Burleigh die berühmten Perlen aus der Familie hatte gehen lassen – warum Gräfin Hotspur und Baronin Una Millefois nicht mehr miteinander sprachen, seit sie in Kairo im selben Hotel gewohnt hatten – bei wem die Herzogin von Leicester ihre Kleider machen ließ und was sie kosteten, was der Herzog seinen Förstern zahlte, und wieviel er für Wildbret einnahm.

»O ja,« versetzte er auf Befragen, »er sei wiederholt auf Schloß Fortingall gewesen und kenne jeden Fußbreit im Hirschpark. Aber er liebe Schottland nicht; das Klima sei ihm zu rauh, und die Moore zu windig – er pflege den Winter an der Riviera zu verbringen. Ob Frau Bonny vielleicht Graf Lochfoyle kenne? Nicht? – nun, er sehe ihn häufiger als irgend jemand. Der Graf sei ein prächtiger Mensch, und seine älteste Tochter wachse jetzt heran und verspreche eine Schönheit zu werden; sie sei ein nettes, natürliches Mädchen.«

Offenbar war dieser stille, zurückhaltende kleine Mann mit den kalten blauen Augen und der tadellosen Kleidung an vornehmere Gesellschaft gewöhnt, als die zweite Kajüte des »Salamander« sie bot. Für Myra waren das Tage des Triumphes. Ihr schwoll der Kamm, sie trat ihre Cousinen erbarmungslos unter die Füße; denn Herrn Rivers' »ernste Absichten« waren unverkennbar. Für einen Charakter wie Myra Wayne war die Aussicht auf Rangerhöhung verderblich. Sie sah bereits eine Grafenkrone über ihrem Haupte und antwortete kaum, wenn man sie anredete. Herr Rivers (»Johnny«, wie sie ihn unter vier Augen nannte) hatte ihr mitgeteilt, daß der Anblick ihres süßen Gesichts in Jubbulpore sein Schicksal entschieden habe. Er sei ihr nach Bombay und auf den »Salamander« gefolgt, habe den Aufwärter bestochen, um neben ihr zu sitzen, und sei bereit, ihr bis ans Ende der Welt zu folgen.

*

»Ihr Fräulein Wayne geht wirklich scharf ins Zeug mit dem geleckten kleinen Wicht,« bemerkte Herr Lomax zu Hauptmann Crofton, während sie Nachmittags auf Deck spazieren gingen, »jetzt sitzen sie tatsächlich zusammen in einem der Boote, und gestern abend begegnete ich ihnen, wie sie um Mitternacht lustwandelten.«

»Ich glaube, die beständige Gegenwart einer verlobten Cousine bringt Fräulein Wayne aus dem Häuschen.«

»Wahrscheinlich! Wenigstens benimmt sie sich, als wäre sie gleichfalls verlobt; die Sache ist selbst für eine Schiffsliebelei etwas weit gediehen. Sie schreibt ihm Briefchen – der Aufwärter brachte mir aus Versehen eines. Rivers ist ein bedächtiger kleiner Kerl, klug, kaltblütig und willensstark. Er scheint keine besonderen Passionen zu haben – außer Fräulein Wayne – und ich werde nicht recht aus ihm klug. Was meinen Sie?«

»Daß stille Wasser tief sind.«

»Fräulein Wayne hat offenbar die Absicht, ihn zu heiraten.«

»Ja, aber nur, wenn es ihm paßt, kann ich Ihnen sagen. Auch ist er kein übler Mensch, und seine Zigarren sind prima. Er spielt brillant Poker und hat, denke ich, noch irgend ein andres Spiel vor – irgend einen Trumpf im Ärmel.«

»Jawohl – die Ballkönigin – die minnigliche Maid – die gekirrte Erbin.«

*

Der »Salamander« landete in Brindisi die Post und die Hälfte seiner Passagiere und setzte dann seine Reise nach London fort. Frau Bonny und die Ihrigen blieben an Bord – aber als die Passagiere sich zum Abendessen versammelten, waren zwei Plätze leer: Herr Rivers und Fräulein Wayne hatten ohne die Förmlichkeit des Abschiednehmens das Schiff in Brindisi verlassen. Ein beflissener Aufwärter mit einem Hundertmarkschein in der Westentasche brachte Frau Bonny ein Schreiben ihrer Schutzbefohlenen, das also lautete:

 

»Liebe Tante Polly!

Mr. Rivers und ich machen uns heimlich aus dem Staube und wollen uns ohne Klimbim trauen lassen. Ich habe eine Reisetasche und meinen Handkoffer mitgenommen; das übrige Gepäck geht mit Deinen Sachen weiter. Wenn wir uns wiedersehen, werde ich Johnnys Frau sein und eine Stellung einnehmen, die meine Bekannten überraschen wird.

Mit bestem Gruß

Deine Dich liebende Nichte
Myra.«

 

Die Entlaufenen bildeten während der ganzen Fahrt bis London ein unerschöpfliches Gesprächsthema, das selbst im heimtückischen Kanal noch vorhielt. Sobald der »Salamander« im Dock war, erhielt Frau Bonny folgende Depesche:

»Hotel Victoria. Komm sofort zu mir. Sehr dringend. Myra.«

Erregt und beunruhigt beeilte Frau Bonny sich, dem Rufe zu folgen, sobald sie ihre Töchter und ihr Gepäck untergebracht hatte. Im Hotel angelangt, wurde sie in ein Wohnzimmer geführt, wo sie Frau Rivers allein, zerrauft und in Tränen fand.

»O, Tante Polly,« rief sie händeringend, »es hat sich etwas Schreckliches mit meinem Mann ereignet!«

»Er ist doch nicht – tot?« stammelte Frau Bonny.

»O nein,« schluchzte die junge Frau, »ich wollte, er wäre es!«

»Aber meine Liebe!« mahnte ihre Tante, entsetzt über diesen Wunsch.

»Ja – denn denke nur – er ist – oder war – Lord Lochfoyles Kammerdiener! – Und ich habe ihn geheiratet!« Die Betrogene warf sich aufs Sofa und brach in krampfhaftes Schluchzen aus.

»Nimm dich zusammen, Myra,« sagte Frau Bonny, »und sprich vernünftig. Sage mir, wie es gekommen ist.«

»Frau Gibbings ist an allem schuld!« stieß Myra hervor, ihr verweintes Gesicht erhebend. »Sie erzählte mir, er habe Kronen auf allen seinen Sachen. Ihr Bruder schlief in einer Kabine mit ihm und behauptete, er sei ein Graf, der als Herr Rivers reiste – und – und – nun, du weißt ja, wie wir uns anfreundeten – und da er nie von sich oder seinen Angehörigen sprach, war ich fest überzeugt, er sei etwas Vornehmeres – –auch sah ich eine Krone auf seiner Zigarrentasche und auf einem Briefumschlag in einem Buch, das er mir lieh. – Und dann schwor er, er habe sich in Jubbulpore in mich verliebt und sei mir nach England gefolgt – und ich glaubte alles!«

»Ja – nur weiter,« drängte Frau Bonny. »Wie soll ich das nur deinem Onkel beibringen! – Er wird mir gewiß Vorwürfe machen.«

»O Tante Polly, kann ich mich nicht von ihm scheiden lassen?«

»Scheiden? – Nein! Du hast geschworen, Freud und Leid mit ihm zu teilen. – Wann hast du denn die Wahrheit entdeckt?«

»Erst gestern abend – obgleich ich manches etwas sonderbar gefunden hatte: er sagte nie eine Silbe über seinen Rang – doch ich dachte, er wolle mich überraschen. Aber wie wir gestern zu Tisch gingen, trat ein Diener in Livree in der Vorhalle auf ihn zu: »Heda, Johnny, seit wann bist du denn wieder da? Und wo hast du seine Herrlichkeit gelassen?« Dabei stierte er mich so dreist an, daß ich dachte, er sei betrunken, und rasch weiter ging. Und als er – ich kann ihn nicht Johnny nennen – mir nachkam und ich ihn über den Vorfall befragte, lachte er und machte allerhand Ausflüchte. Ich wurde heftig und sagte ihm, ich fände es äußerst sonderbar, daß die Leute im Hotel Continental in Paris so vertraulich gewesen seien und ihn so genau zu kennen schienen, und fragte ihn, ob er niedrige Gesellschaft liebe. Und er sagte: ja, das täte er, und wenn er gegessen habe, wolle er mir auch sagen, weshalb. Dann gingen wir auf dieses Zimmer, statt ins Theater zu fahren, wie wir beabsichtigt hatten, und er zündete sich eine Zigarre an und erzählte mir ganz ruhig, daß er selbst ... nur ein ... Bedienter sei. Er sei Lord Lochfoyles Kammerdiener, den sein Herr mit dem schweren Gepäck und den Trophäen nach Hause geschickt habe, während er selbst nach Tibet ging.

»Das ist ja eine schreckliche Geschichte!« rief Frau Bonny, erregt im Zimmer auf und ab gehend. »Was wird nur dein Onkel sagen! – Und was sagtest du?«

»O, ich bekam Weinkrämpfe – du weißt, wie nervös ich bin – und es mußte ein Arzt geholt werden, der völlige Ruhe und ein Schlafmittel verordnete. Seitdem hab' ich ihn nicht gesehen. – O, was soll ich anfangen, Tante Polly? Denk nur, sein Vater war Grünkrämer, und ich bin seine Frau!«

Ach, jedes Wort dieser Erzählung war nur zu wahr. Rivers hatte in Jubbulpore das Tischgespräch der beiden Offiziere mitangehört und sofort beschlossen, die verschmähte Erbin zu heiraten und sich so auf Lebenszeit eine Stelle mit zwölfhundert Pfund jährlich zu sichern. Er nahm einen Platz auf dem »Salamander«, näherte sich der jungen Dame und spielte seine Rolle wie ein vollendeter Schauspieler. Seine Besorgnis, seinen Rang zu verbergen, war einer der feinsten Züge in der ganzen Leistung. Als er sich herbeiließ, von großen Herren und ihren Landsitzen zu erzählen, war seine Darstellung völlig richtig – vom Standpunkte der Gesindestube. J. C. Rivers' schlauer Plan glückte vollkommen; er ließ den glänzenden Köder vor dem törichten Mädchen tanzen, und sie biß an. Rivers war ein klarblickender Mann, und seine lange Bekanntschaft mit den oberen Zehntausend hatte jene Vertrautheit erzeugt, die einen Beigeschmack von Verachtung hat. Kein Mann war ein Held in seinen Augen, und in den Frauen sah er nichts als eitle, jämmerliche Puppen. Er fühlte daher auch nicht die geringste Scheu vor Frau Bonny und suchte sofort eine Unterredung mit dieser unglücklichen Dame nach, deren Nerven durch das Entsetzen über die Mißheirat und die Angst vor dem Zorne ihres Gatten schwer erschüttert waren.

Der freche Betrüger wußte, daß der Hieb die beste Waffe ist, und ergriff daher sogleich das Wort.

»Ihre Nichte ist meine Frau,« erklärte er, nachdem er sich verbeugt und mit berufsmäßiger Beflissenheit einen Stuhl gebracht hatte, »sie ist mündig und hat mich freiwillig geheiratet. Ich gebe zu, daß sie eine bessere Wahl hätte treffen können – aber auch eine schlimmere. Ich beabsichtige, nicht weiter zu dienen – wir wollen es Diensttun nennen. Ich habe ansehnliche Ersparnisse und gedenke, ein hübsches Landhaus an der Themse zu mieten. Die Gegend gefällt mir, und wir werden dort genau so leben wie unsre Nachbarn. Ich brauche wohl nicht zu versichern, daß ich mich stets freuen werde, Sie und die Ihrigen bei mir zu sehen.«

Frau Bonny wollte diese Einladung entrüstet ablehnen, konnte aber kein Wort hervorbringen.

»Niemand braucht etwas von meinem früheren Berufe zu wissen,« fuhr Rivers fort. »Nicht, daß ich mich seiner schämte – ich bin ein ausgezeichneter Diener gewesen, wie meine Zeugnisse beweisen – aber ich will mir jetzt selbst einen Diener halten. – Was Myra betrifft, so haben Sie sie verwöhnt, gnädige Frau; sie braucht eine starke Hand über sich, und diese Hand –« er streckte seine nervige Rechte aus – »ist hier. Sie haben alle Angst vor ihr gehabt und geduldet, daß sie keinen andern Gedanken hatte als sich selbst. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß sie in einem Jahre keinen andern Gedanken haben wird als mich« – welche Prophezeiung buchstäblich in Erfüllung ging.

So kam es, daß Fräulein Myra Wayne, die hochmütige Erbin, einen Bedienten heiratete!

 

Ende.

 


 << zurück