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Der kleine blaue Krug

Eigentlich waren sie ein Paar – da aber der eine längst Tülle und Henkel verloren hatte, war er bescheiden hinter eine schreiend grün und gelbe Schüssel, den Stolz der ganzen Schenke, zurückgetreten und ward nicht mehr gesehen.

Die Krüge, das Geschirr, die Schenke und die Kate, worin sie sich befanden, waren das Eigentum Martin Learys, eines Schiffers, Fischers und Fischfrevlers, der geizige Martin genannt. Er wohnte in Kerry an der Landstraße und hatte von seiner Halbtür die schönste Aussicht über den Fluß, den See und die Berge, die man sich wünschen konnte. Martin war ein breitschultriger Sechziger mit harten Zügen. Er arbeitete von früh bis spät und trank oder spielte nie. Seine Nachbarn konnten nicht begreifen, was er mit seinem Verdienst anfing; und da er etwas Finsteres, Verschlossenes hatte, erklärten sie ihn für einen Geizhals, ein Charakter, der in Irland vielleicht noch unbeliebter ist als anderswo.

Im Jahre Siebenundvierzig, als Martin ein junger Mensch von zwanzig Jahren war, wurden er und seine Angehörigen schwer von der großen Hungersnot betroffen, die das Königreich Kerry fast entvölkerte – ein armseliges Königreich selbst in seinen besten Zeiten. Ganze Dörfer verödeten durch Tod oder Auswanderung. Findet man ihre nackten Mauern und verwachsenen Wege doch bis auf den heutigen Tag!

Martin und seine Mutter gehörten zu den wenigen Überlebenden eines Stadtbezirks und wurden mit ihren Leidensgefährten nach Amerika verschifft. Dort hatte er zehn Jahre lang als Lastträger gearbeitet und seine Mutter ernährt, und dort war sie gestorben. Während ihrer letzten Krankheit hatte Frau Leary unaufhörlich nach ihrem Vaterlande gejammert – obgleich es ein Land des Elends gewesen war – und darüber geseufzt, daß ihr Leib in fremder Erde ruhen müsse.

Und wiewohl Martin den ganzen Tag im emsigen, nüchternen New York arbeitete, fand er oft Muße, der Erinnerung an sein Heimatland und an sein fernes Vaterhaus nachzuhängen. Seine lebhafte keltische Einbildungskraft zeigte ihm nicht Scharen abgezehrter Elender, die von gelbem Mehl lebten, schwarz verfaulte Kartoffelfelder und den drückenden Geruch des Meltaus in der Luft. Nein, nichts von alledem, sondern Kerry mit seinen von Wasserlilien umkränzten Seen, seinen Flüssen voller Lachse, seinen blauen Bergen, seinen heiligen Kirchen, heiligen Inseln, Fuchsienhecken und Feen – der feuchten, schmeichelnden Luft und den weichen irischen Lauten.

Kaum war die Mutter begraben, als Martin von wahnsinnigem Heimweh erfaßt wurde. Sein Heim war ein dachloses Häuschen, umgeben von sechzehn Morgen unfruchtbaren Gebirgsbodens, aber mit hohen Fuchsien eingehegt und bewässert durch einen schäumenden Bach, dessen Rauschen das Schlummerlied seiner Kindheit gewesen war. Wie er sich sehnte, diese sechzehn Morgen zu besitzen! Dieses Verlangen nach Land, wie schlecht es auch sei, nur weil es der Boden der Heimat ist, wächst bei dem irischen Ackersmann zu einem Hunger, einer Leidenschaft, von deren Gewalt Fernstehende sich keinen Begriff machen können. Martin Leary schiffte sich als Zwischendeckpassagier auf einem der großen Ozeandampfer ein, die Queenstown anlaufen, und als die Küste von Kerry in Sicht kam, schlug ihm das Herz und seine Augen brannten. Er glich einem Liebenden, der nach langen Jahren der Trennung seine Angebetete wiedersieht.

Martin Leary fand seine Heimat sehr verändert, wurde aber von mehreren Landsleuten wiedererkannt und herzlich begrüßt.

Am nächsten Tage wanderte er fort, um sein Vaterhaus zu besuchen. Von Eschen beschattet, stand es dachlos in einer Schlucht neben einem kleinen Teiche, der mit Wasserlilien bedeckt war – die Fuchsien waren riesengroß geworden, die Nesseln desgleichen; aber ein paar Johannisbeersträucher bezeichneten den Garten, und an der Stelle, wo einst der Kamin gewesen war, stand an der rauchgeschwärzten Wand noch das M. L., das er als Knabe eingekratzt hatte. Doch ach, es gab keine Möglichkeit, den Familienbesitz wiederzuerlangen – der Preis des Anwesens betrug hundertzehn Pfund.

*

Martin Leary fand bald eine Wohnung, guten Verdienst und eine Frau. Er heiratete eine frühere Spielgefährtin, ein stämmiges Landmädchen, das ihm eine Schenke voll Geschirr, einen Satz Betten und zwei Ziegen zubrachte. Sie erwies sich als wackere Gehilfin, starb aber schon nach wenigen Jahren an der Schwindsucht und hinterließ ihm zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Martin heiratete nicht wieder, obgleich der Heiratsvermittler ihn durchaus »verändern« wollte und ihm mehrere verlockende Anträge brachte; denn man wußte, daß Martin zu leben hatte und eifrig sparte – wozu?

Seine Nachbarn würden ihn jedenfalls für »nicht richtig im Kopf« erklärt haben, wenn sie gesehen hätten, wie er sich an Sonntagnachmittagen auf Seitenwegen davonschlich, um seine alte Heimat zu besuchen. Nichts als vier nackte Wände, ein Teich und ein paar verkümmerte Johannisbeerbüsche. Abends, nachdem die Netze geflickt waren, saß er oft, den Kopf in den Händen, am Torffeuer. – Woran dachte er? – An die Zukunft seines Sohnes, eines schmucken Jungen, der eine gute Schulbildung erhielt? – Mit nichten, er dachte an das kleine verfallene Gehöft am Bach und überzählte seine Ersparnisse. Man wußte, daß Martin nie eine Bank oder Sparkasse betrat – wo in aller Welt verwahrte er also sein Geld? – Seine Schwägerin, die dieser Frage lebhaften Anteil entgegenbrachte, hatte unermüdliche Nachforschungen angestellt, aber nichts gefunden. Sie hatte den Fußboden, den Schornstein, das Strohdach und das Bett untersucht, aber nicht im Traum an den kleinen blauen Krug mit dem engen Halse und der behäbigen Gestalt gedacht; er sah so unverfänglich aus!

Der Krug enthielt zweiundfünfzig Pfundnoten! – Martin stocherte sie von Zeit zu Zeit mit einem Draht heraus und zählte sie, den Daumen leckend, mit bedächtigem Genuß durch, und jedesmal, wenn er das tat, vermehrte er ihre Zahl. Er war ein nüchterner Mann, der sich alles versagte und von früh bis spät unermüdlich arbeitete. Seine einzigen Freuden waren das Haus zwischen den Fuchsien und der kleine blaue Krug.

Seine Tochter Mary wagte einmal die Frage, warum er keine zweite Kuh kaufe, wo doch die Kühe so niedrig ständen. Den Tag vorher hatte er bei Fackellicht im Inney gewildert und neun schöne Lachse gefangen.

»Eines Tages wirst du erfahren, warum, mein Kind,« versetzte er ernst. »Ich hab' 'ne bessere Verwendung für mein Geld« – und weiter ließ er sich nicht aus.

Mit den Jahren wurde Martin immer knauseriger – welch eine Menge von Whisky, Porter und Tabak war in dem zweiten Fach der Schenke aufgespeichert!

Als Mary Leary neunzehn Jahre alt war, verheiratete sie sich und zog fort. Wenn sie nicht ein so auffallend hübsches Mädchen gewesen wäre, würde der Heiratsvermittler es schwierig gefunden haben, sie unter die Haube zu bringen; denn ihre ganze Aussteuer bestand in vier Pfund, einer Angel, zwei Gänsen und einem alten Spiegel. Dann führte Donal, der Sohn, eine Frau heim, ein lebhaftes schwarzäugiges junges Weib, die ihm vierzig Pfund, einen Esel und ein Wägelchen zubrachte. Ihre Angehörigen gaben eine große Hochzeit. Massenhaft zu trinken und Hühner und Schinken und eine Hochzeitsreise nach Killarney – unter dem ging's nicht –, Preis des Rundreisebilletts sechseinhalb Schilling.

Aber obgleich Martin sich dreist dazu erbot, durfte er das Vermögen der jungen Frau nicht verwalten. Das junge Paar verfügte selbst darüber und legte die vierzig Pfund zinstragend bei der Bank in Münster an. Dann kamen Enkelkinder. Martin hieß sie willkommen und sorgte für sie, so gut er konnte; denn Frau Donal war lebenslustig und oft mit ihrem Eselfuhrwerk in der Stadt, und Donal war immer auf Arbeit – der tat seinen Verdienst nicht in einen Krug, sondern jagte ihn durch die Gurgel.

Abends versammelte Martin die Kinder um sich und erzählte ihnen alte Märchen und Sagen: Von der Schlange, die im See wohnte und zweimal so lang war wie ein Boot und eine Mähne hatte, so lang wie ein Ruder. Von dem Adler, der vom Berg herabgeflogen kam und ein Herrensöhnlein beim Gürtel nahm und forttrug weit über den See bis zu einer Insel, wo ein Mann stand und Weiden schnitt. Als der den Adler sah, wie er Anstalt machte, den Knaben zu zerreißen, scheuchte er ihn, so daß er seine Beute fallen ließ und rettete des Kindes Leben. Von dem Quell auf der Kircheninsel, die dazumal gar keine Insel war. Vor der Kirchtür sprudelte der aus einem wunderbaren Brunnen, davon die ganze Gegend schöpfte. Er hatte einen Deckel, und es hieß, daß er verzaubert sei; doch der Zauber war unschädlich, solange der Brunnen bei Sonnenuntergang zugedeckt wurde, und das geschah denn auch viele Jahre lang. Aber eines Tages kam ein Mägdlein Wasser holen, das war verliebt und vergaß das mit dem Deckel und ließ den Brunnen bei Dunkelwerden offen, und das Wasser stieg und stieg, bis es alle Felder überflutet hatte – da war kein Halten bei Tag und bei Nacht. Die Leute mußten ihre Häuser verlassen und mit ihrem Vieh auf die Berge fliehen – und als endlich die Flut versiegte, war ein großer See da, fünfeinhalb Meilen in der Runde, und dieser See heißt Lough Currane bis auf den heutigen Tag. Von der verzauberten Insel, die man zu gewissen Zeiten schwimmen sah, und wie einmal ein übermütiger Soldat einen Säbel danach geworfen hatte, und wie seitdem die Insel hinkte.

Zwanzig Jahre schwerer Arbeit hatte Martin durchlebt, seit er aus Amerika zurückgekehrt war – zwanzig Jahre des Sparens und Sammelns für einen Zweck – und nun war der Krug beinahe voll. Noch sechs Monate, und er konnte das Land und die Ruine erstehen – sie wurden für immer sein eigen. Sonntags schlich er sich hin, stopfte Risse, lichtete den Garten, rodete Unterholz aus: das sparte später Zeit.

Heimlich deckte er den Schweinestall mit Heidekraut. Niemand kam jetzt dorthin oder ahnte etwas von Martins Beschäftigung und heimlicher Wonne; Bergvieh und Ziegen waren seine einzigen Zuschauer.

Es war ein gutes Jahr gewesen; er hatte wie gewöhnlich als Schiffer auf dem See drei Schilling den Tag und das Mittagessen verdient, aber die vielen Jahre in Wind und Wetter begannen sich fühlbar zu machen, und wenn der Geist auch stark war, war doch das Fleisch von Rheumatismus gekrümmt – nun aber fehlten ihm nur noch ein paar Pfund. An einem Augusttage vermietete Martin sein Boot, sich selbst und seinen Sohn an einige reisende Engländer, die nach den Skelligs wollten. Nach den Skelligs ist es weit; sobald das Boot die Ballin-Skellig-Bucht verlassen hat, ist es den Wogen des Ozeans ausgesetzt, und wenn der Tag nicht ausnahmsweise still ist, so hat das Anlegen große Schwierigkeiten. Martin beschloß, daß diese Fahrt, die auf zwei Tage berechnet war, sein letztes größeres Unternehmen und das Ende seiner Mühen sein sollte. Mr. Forbes, der Agent, ließ sicher zehn Pfund ab, wenn er hundert bar erhielt. Für den Rest seiner Ersparnisse wollte Martin das Dach decken lassen, ein Himmelbett und eine Wanduhr anschaffen, und dem kleinen Matt, der dann eine Meile zur Schule hatte, ein gebrauchtes Fahrrad kaufen. Das waren so seine Gedanken, während er, über seine schwieligen Hände gebeugt, mit der Schwere des Ruders und den Wogen des Ozeans kämpfte. Wenn seine Arme erlahmen wollten, gab ein Blick auf das Land mit seinen blauen Bergen, seinen silbernen Strömen ihm die Kraft eines Jünglings.

Gott sei Dank, dies war seine letzte Mühsal! Mit ein paar Kühen und Schweinen auf eigenem Land und Raubfischerei im Lawn und Inney konnte er seine Tage in der alten Heimat beschließen wie ein Fürst.

*

Während Martin auf den kleinen Skellig zusteuerte, unternahmen zwei Amerikanerinnen von einem Waterviller Gasthof aus eine Entdeckungsreise in das, was sie die Wildnis nannten. Erst wanderten sie die Fahrstraße entlang, dann einen Landweg, wo Torf- und Tangwagen und hier und da ein Karren verkehrten; dann ging es bergan, und schließlich sahen sie sich in einer Schlucht. Sie kamen von Cahirciveen und wollten am folgenden Tage weiter über Parknasilla nach Glenariff-Cork, Queenstown, New York. Und sie waren entschlossen, zu sehen, was irgend in so kurzer Zeit gesehen werden konnte. Alles kam ihnen neu und entzückend vor: die großen schwarzhaarigen Mädchen mit Schals über den Köpfen, die zahmen kleinen Kühe, die geselligen Schweine mit den Ringelschwänzen, die streckenweit neben ihnen her galoppierten.

Die eine der beiden Damen hatte eine Brille auf und ein Merkbuch bei sich, in das sie hin und wieder etwas eintrug. Die Farne, das Heidekraut, die Fuchsienhecken, die rauschenden Bäche, die krausköpfigen Kinder, die nur irisch verstanden – alles erregte ihre Aufmerksamkeit. Vor der Halbtür eines Häuschens am Wege stand ein auffallend hübsches kleines Mädchen mit schüchternen blauen Augen und einer Flut blonder Haare.

Sie blieben stehen und sprachen sie an, fragten, wie sie hieße, wie alt sie sei, und ob sie zur Schule gehe.

»Wollen Eu'r Gnaden nich näher treten und Platz nehmen?« sagte knicksend Frau Donal, die plötzlich hinter ihrem Töchterchen aufgetaucht war.

»Ihre Gnaden« nahmen das lächelnd an, erfreut über diese Gelegenheit, das Innere einer irischen Kate kennen zu lernen.

Der Boden der Küche bestand aus unebenem Lehmschlag, war aber überraschend sauber. Auf einer Schenke blinkte Geschirr und Angelruten kreuzten sich zwischen den Balken, auch fanden sie ein wärmendes Torffeuer, reinliche Stühle und eine freundliche Wirtin, deren Beflissenheit nicht eigennützigen Beweggründen, sondern dem Geiste echter Gastfreundschaft entsprang, und die eifrig zu Buttermilch und Natronbrot nötigte.

»Wohnen Sie hier ganz allein?« fragte die bebrillte Dame, die das Wort führte.

»Nein, mit meinem Mann und meinem Schwiegervater – in der guten Jahreszeit sind sie den ganzen Tag auf dem See.«

»Ist die Gegend gesund?«

»So gesund wie nur was!«

»Und was tun Sie tagüber?«

»Je nun, nichts Besond'res, Eu'r Gnaden. Ich zieh' Federvieh auf und bring' es zu Markt und halt' das Haus in Ordnung, und schick' die Kinder zur Schule, und mach' Heu, und nehm' die Kartoffeln aus, wenn Donal und der Vater nich dazu kommen.«

»Ihr Haus scheint wirklich nett und behaglich zu sein,« sagte die Dame, sich umsehend. »Das ist ein wunderlicher kleiner Krug, den Sie da haben – ich meine den im zweiten Fach, den blauen – er sieht aus, als ob er alt wäre.«

»Gewiß, das is er auch! Er hat Donal seiner Mutter gehört, und die hatte ihn von ihrer Großmutter – 's is 'ne drollige Form. – Möchten Sie ihn vielleicht von nah besehn?«

Mrs. Leary nahm ihn herunter und fuhr mit der Schürze darüber.

»Ja, er ist ziemlich eigenartig – nicht, Sarah?« Damit reichte sie ihn ihrer Freundin. »Ich möchte ihn gern haben.«

»Ich würd' ihn Eu'r Gnaden herzlich gern verehren; aber er gehört dem Vater.«

»Vielleicht überläßt er ihn mir. Ist er hier?«

»Nein, er kommt auch nich vor morgen abend wieder. Er is mit Reisenden nach den Skelligs gefahren.«

»Und wir wollen um Neun mit der Post weiter. – Glauben Sie, daß er ihn verkaufen würde?« hob Mrs. Blatt wieder an. »Ich möchte ihn gern als Andenken mitnehmen – außerdem ist die Farbe ungewöhnlich.«

»Ganz gewiß kann ich's Eu'r Gnaden nich sagen – aber der Vater is sehr aufs Geld, und aus Geschirr macht er sich gar nichts. Für zweieinhalb Schilling würd' er'n vielleicht lassen, und ich möcht' wetten, daß ihm drei Schilling recht sind. – Früher war's ein Paar, wissen Sie« – sie brachte den andern zum Vorschein – »aber der eine is angeschlagen.«

»Nun, wenn Sie glauben, daß Ihr Vater damit zufrieden ist, will ich Ihnen gern geben, was Sie fordern,« sagte die bebrillte Dame, ihr Portemonnaie ziehend.

»Dank schön, Eu'r Gnaden, er wird gewiß sehr zufrieden sein. Soll ich den Krug erst abwaschen?«

»Nein, danke, bemühen Sie sich nicht.« Sie nahm drei Schillinge heraus und gab sie Frau Leary. »Und hier sind noch sechs Pence für die Kleine. Wie heißt sie?«

»Kathleen, Eu'r Gnaden, Arrah Kathleen. – Willst du wohl den Finger aus dem Mund nehmen und dich bei der Dame bedanken! – Weiß Gott, sonst kann sie reden genug, aber vor Herrschaften schämt sie sich ein bißchen. – Soll ich ihn einwickeln, Eu'r Gnaden?«

»Wenn's Ihnen nicht zu viel Mühe macht, wäre ich Ihnen dankbar.«

So hatte der kleine blaue Krug nicht einmal Zeit, von der Schenke, auf der er zwanzig Jahre gestanden hatte, von seinem Zwilling und der grün und gelben Schüssel Abschied zu nehmen, sondern wurde in ein zerfetztes Stück des »Cork Constitutional« gewickelt und der amerikanischen Dame ausgehändigt, die triumphierend mit ihm davonzog, begleitet von überströmenden Danksagungen und vielen Knicksen. Abends führte Mrs. Blatt ihren köstlichen Fund im Gesellschaftszimmer des Gasthauses vor. »Sehen Sie, was ich in einem Kerryschen Häuschen gefunden habe. Ist es nicht ein eigenartiger kleiner Krug? Ich verliebte mich in ihn und kaufte ihn schlankweg.«

Der Krug wanderte von einer Hand in die andere – dies war der Höhepunkt seiner Laufbahn. Nie zuvor war der reiche kleine Krug in so feiner Gesellschaft gewesen und so bewundert worden. Schließlich wurde er hinaufgebracht und sorgsam für die Reise verpackt.

*

Spät am folgenden Nachmittag kehrte Martin Leary zurück, mit müden Armen und schwerem Schritt, aber mit leichtem Herzen – der Kelch (oder Krug) seines Glückes war nun voll. Abends, als Donal und die Seinen sich die Leiter hinauf zu Bett verfügt hatten, holte er sein Ende Draht aus dem Schornstein, um den letzten Schein zu seinem Kapital zu legen. Dann trat er zu der Schenke – aber wo war der blaue Krug? Er rieb sich die Augen. Leise suchte er auf seinen bestrumpften Füßen umher, jedes Stück einzeln aus den Fächern nehmend. Endlich konnte er die Ungewißheit nicht länger ertragen, ging zur Bodenleiter und rief die Schläfer wach. »Donal! Bridgie! Kommt herunter!« – Seine Stimme klang heiser und sonderbar.

Nach wenigen Augenblicken erschien Frau Donal, noch halb im Schlaf, in einem Warpunterrock und mit übers Gesicht fallendem Haar.

»Was gibt's, Papa?« fragte sie. »Bist du krank? Was fehlt dir?«

Martin war nicht wieder zu erkennen; in seinen Augen lag ein gespannter, entsetzter Ausdruck, sein wetterbraunes Gesicht war aschfahl geworden und zuckte.

»Mir fehlt der Krug! Der Krug!« sagte er, mit zitternder Hand auf eine leere Stelle deutend. »Wo ist der kleine blaue Krug geblieben?«

»Ach so! – Nu, die zwei Damen, wo gestern vorbeigingen, kamen 'rein und waren ganz erpicht auf ihn, und weil ich wußte, daß dir nichts dran lag und er 'n Sprung hatte und zu gar nichts gut war, verkauft ich ihn ihnen für bare drei Schillinge, die ich für dich eingenommen hab'. Ich wußte, dir wär' das Geld lieber als der Krug.«

»Das Geld!« schrie Martin, den Leuchter zu Boden schmetternd und Biddy beim Arm packend. »Wo sind sie, die Damen?«

»Sie sind gestern morgen mit der Post weitergefahren, glaub' ich – sie reisen zurück nach Amerika. Laß mich los, Papa – willst du mich wohl loslassen! Donal!« kreischte sie, »komm herunter – dein Vater ist von Sinnen.« Aber schon hatte Martin das Bewußtsein verloren und war zu Boden gestürzt.

Als der Tag anbrach, war Martin so weit wieder hergestellt, daß er sich in Begleitung Donals und Biddys nach Waterville hinunterschleppen konnte. Er drang in das noch halb schlafende Gasthaus und rief wie toll nach den Damen, die seiner Tochter einen Krug abgekauft hätten; denn das sei ein Irrtum gewesen, und er wolle lieber seine Augäpfel und seine rechte Hand hergeben, als dieses Gefäß.

Der Wirt erklärte Martin, daß die beiden Damen und ihr Kammermädchen am vergangenen Morgen mit der Neunuhrpost abgefahren seien. Ein redseliges Stubenmädchen entsann sich, daß sie einen Krug mit nach Hause gebracht hätten, aber jetzt schwämmen sie wahrscheinlich schon auf dem Wasser – »vielleicht in dem da« – sie zeigte auf einen großen Ozeandampfer, der in diesem Augenblick aus der Bucht glitt.

»Na, viel wert war er schließlich nicht, Martin ma-Bouchal,« bemerkte ein dabeistehender Polizist.

»Wert? Mann Gottes! Er enthielt jeden Pfennig, den ich auf der Welt besitze – hundertacht Pfund! All diese zwanzig Jahre hab' ich darin mein Geld verwahrt, so sicher wie auf der Bank, und nun ist Biddy hingegangen und hat ihn für drei Schilling verkauft. Allmächtiger Gott!« schrie er auf, »wenn ich ihn nicht wieder bekomm', bring' ich mich um oder 'nen andern!« Von Angst überwältigt, taumelte er gegen die Wand.

Hundertacht Pfund! Kein Wunder, daß Martin der Geizhals außer sich war. Also da hatte er sein Geld verwahrt – in einem Krug. Die Zuhörer hatten sich vermehrt und drängten sich mit offenem Munde um die Tür. Der Wirt und ein gutherziger Engländer, den der gebrochene Mann dauerte, fragten telegraphisch in Queenstown nach den beiden Damen, erhielten aber die Antwort, daß die »City of Paris« um Fünf in See gestochen sei. Nun wurde eine zweite Botschaft abgesandt, die in New York das Schiff erwarten sollte. Sie wurde von dem englischen Angler bezahlt, der zu Martins treuesten Kunden gehörte, und lautete folgendermaßen: »Blatt. Kruginhalt zurücksenden an Martin Leary, Waterville.«

Nach acht Tagen traf die Antwort ein. Sie bestand nur aus zwei Worten: »Krug leer.«

Diese Nachricht wirkte unheilvoll auf Martin Leary, der sich bis dahin in trügerischen Hoffnungen gewiegt hatte. Sein Geist verwirrte sich, und er wurde so aufgeregt, daß Donal und ein Nachbar ihn auf dem Eselwagen ins Arbeitshaus nach Cahirciveen bringen mußten. Bridget ging laut jammernd hinterher und klagte den Vorübergehenden ihr Leid. »Oh, was soll ich nur anfangen! Hundertacht Pfund hab' ich für drei Schilling weggegeben. Ich hatte ja keine Ahnung, daß mein Vater 'n Vermögen auf der Schenke stehn hatte, in einem alten blauen Krug versteckt, und ich ließ mich beschwatzen und verkaufte ihn an ein Schafsgesicht von Yankeefrau. Sie ist, weiß Gott, gut weggekommen bei dem Handel, aber Martin Leary hat darüber den Verstand verloren.«

In Wirklichkeit verhielt es sich mit dem verschwundenen Vermögen: Als Mrs. Blatt im Gasthaus ankam, hatte sie ihren kostbaren Fund ihrem Kammermädchen übergeben, mit der Weisung, ihn sorgfältig auszuwaschen. Das Mädchen musterte den Krug verächtlich und entdeckte, daß er voller Papier stak. Sie zog dieses mit vieler Geduld und einer Hutnadel heraus, und es erwies sich als eine festumschnürte dicke Rolle. Schon wollte das Mädchen diese ins Feuer werfen, als etwas in der Beschaffenheit des Papiers sie stutzig machte. Sie riß die Schnur ab und erblickte Banknoten! Hastig zählte sie sie durch: lauter Pfundnoten, alle schmutzig und abgegriffen und nach Torfrauch riechend. Sie hörte ihre Herrin kommen, schob das Päckchen hastig in die Tasche und machte sich daran, den Topf auszuwaschen, worauf er im Gesellschaftszimmer herumgezeigt wurde.

Früh am nächsten Morgen reisten Herrin und Zofe mit der Post nach Cork ab, und hier trug die Zofe die Scheine auf eine Bank, sprach von ihrer Abreise nach Amerika, und wechselte sie gegen Gold um.

»Was für ein Glücksfall!« sagte sie sich, während sie die Goldstücke einnähte, »der Sparpfennig irgend eines schmutzigen irischen Bettlers.« Sie war mit weit mehr Vorteil gereist als ihre Herrin und dampfte mit leichtem Herzen und schwerem Beutel von Queenstown ab. Möge die Nemesis sie ereilen!

Martin Leary hatte der Schlag vernichtet, die Triebfeder seines Lebens war gebrochen. Er verließ die Irrenabteilung des Arbeitshauses als gebeugter, halb schwachsinniger Schatten seines früheren Selbst. Allen, die es hören wollten, erzählte er von seinem Grundstück, seinen Kühen, den Apfelbäumen und Johannisbeersträuchern im Garten, von dem sprudelnden Quell, dem klarsten landauf, landab. Unaufhörlich faselte er über dieses Thema, wenn er am Torffeuer saß und mit glanzlosen Augen in die Flammen starrte. Nie wieder rührte Martin eine Angel oder ein Ruder an, und wenn jemand, um ihn aufzurütteln, von einem Fischzug bei Fackellicht und großen Fängen im Lawn flüsterte, predigte er tauben Ohren.

Man meinte, daß Martins Verstand durch zu vieles Salzfischessen gelitten habe – dem man die Zunahme geistiger Erkrankungen in manchen Gegenden zuschreibt – und daß die Geschichte von dem Vermögen in dem blauen Krug ebenso unsinnig sei wie all das andre Geschwätz über die Besitzung von sechzehn Morgen, das schmucke Haus und die stattlichen Kerryer Kühe. Oder vielleicht hatte er auch die Feen gereizt und geackert oder Bäume gefällt, wo er nichts zu suchen hatte. Wie dem auch sei, Martins Verstand umnachtete sich täglich mehr, und seine körperlichen Kräfte verfielen in demselben Maße wie die geistigen. Das einzige, woran er noch hing, war der angeschlagene Zwilling des blauen Kruges. Der war sein liebstes Spielzeug in seiner zweiten Kindheit. Stundenlang hielt er ihn in den kraftlosen Händen und betrachtete ihn zärtlich. Schließlich wurde er bettlägerig, und als seine Kinder sahen, daß es mit ihm zu Ende ging, riefen sie den Priester, daß er ihm die letzte Ölung gebe. Da flackerte der Geist des Sterbenden noch einmal auf – es war der letzte Strahl des erlöschenden Lebens – und er sprach mit lauter fester Stimme: »Donal, du weißt, wo dein Großvater gewohnt hat, das letzte Haus vorm Wasserfall – droben jenseits Lough Mona – nichts als vier nackte Wände – begrabt mich auf dem kleinen Hügel daneben, unter dem alten Dornbusch ...«

Aber natürlich sah man in Martins letztem Wunsch »wieder eine von seinen verrückten Einbildungen« und begrub ihn in geweihter Erde, neben seiner Frau und Sippe. Da die Learys keinen Stein erschwingen konnten, setzten sie dem alten Manne ein schwarzes Holzkreuz, und Kathleen, sein Lieblingsenkelkind, brachte den kleinen blauen Krug herbei und stellte ihn, mit Feldblumen gefüllt, auf das Grab. – Das kleine Anwesen auf dem Berge, der Gegenstand von Martins vergeblichem Ehrgeiz, versank wieder in Einsamkeit und Verwahrlosung. Im Garten wuchert das Unkraut, das Dach des Schweinestalles ist eingestürzt, der sprudelnde Bach ist versandet. Vielleicht vermissen die schweifenden Kühe und Ziegen die langvertraute Gestalt, vielleicht auch nicht. Jedenfalls sind Martin und sein erfolgloses Streben fast völlig vergessen, und nur wenn die Rede auf Wahnsinn oder Geiz kommt, geschieht ihrer noch Erwähnung.

Das Kreuz auf seinem Grabe ist zu einem Stumpfe verrottet – aber wer sorgfältig zwischen dem hohen Gras und den Nesseln sucht, findet vielleicht noch ein paar Scherben von einem kleinen blauen Krug.


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