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Erstes Kapitel.
In Erwartung der Maifliege

In der Grafschaft Sandshire ist jedes Dorf sozusagen ein Dreibänder, bestehend aus der oberen, mittleren und unteren Häusergruppe, und ein unbedeutender Weiler mit einem einsamen Landjäger und einem einzigen Bäcker beherrscht mit dem Glanz seines Namens oft den Flächenraum mehrerer Kirchspiele. Diese überaus malerischen Dörfchen, die eine wahre Angst vor großen Heerstraßen und Eisenbahnlinien zu haben scheinen, sich geheimnisvoll in grüne Mulden und hinter Waldesdickicht verkriechen, erreicht man nur auf schmalen, mit hohen Hecken eingesäumten Wiesenpfaden, die sich in vielfachen Windungen durch das einsame Gefilde schlängeln. Es ist eine Gegend, wo man zur rechten Jahreszeit leicht einen Flug Rebhühner aufscheuchen, einen Kaninchenlandtag in wichtigen Beratungen stören, einem Igel' oder Maulwurf höchst ungelegen kommen kann, eine Gegend, die an Zigeunerfuhrwerk von alters her gewöhnt ist, wo aber der Anblick einer Radfahrerin einen eingeborenen Wanderer zum Kopfstehen veranlassen würde.

Ohne sich dessen im geringsten bewußt zu sein, verdient Nieder-Barton unter diesen Dörfchen den Ehrenpreis für malerische Lage, für Alter und Unregelmäßigkeit der Bauart und für schlichte Ursprünglichkeit der Sitten. Und dabei hat das verschlafene Nestchen auch noch einen historischen Hintergrund, denn es darf sich rühmen, schon seit der Sachsenzeit an seinem Fluß zu liegen und einst königliches Lehen gewesen zu sein. Dazu kommt noch der weitverbreitete Ruf seines Ingwerbrots und seines Galgens.

Man stößt urplötzlich auf dieses Dörfchen bei der Windung eines schmalen Heckenwegs: erst kommt eine große schwarze Scheune, dann eine Schmiede mit reichlich aufgestapelten Hufeisen und darauf ein verschämtes rotes Backsteinhäuschen, das dem Gemeinwesen sogar den Rücken zukehrt. Die mit Bäumen besetzte Dorfgasse erweitert sich zum Platz, um den klaren breiten Bach zu umschließen, der, mehrmals von rohen Holzbrücken überspannt, nach dem eigentlichen Mittelpunkt des Dorfes hinunterrieselt, wo die Gebäude etwas zahlreicher werden. Nicht zwei davon gleichen sich, manche sind schwarz, andre weiß, dort versteckt sich das Erdgeschoß unter dem vortretenden Stockwerk, da ragt ein kühner Holzgiebel auf, wie wir ihn für eine Erfindung der Bilderbücher hielten, dort wölbt sich ein breiter geschnitzter Thorbogen, Fenster sind bald am Boden, bald erst am Dachgiebel höchst verschmitzt angebracht, aber alle haben schneeweiße Vorhängchen, denn man hält etwas auf sich in Barton. Dort behauptet eine windschiefe Haushälfte, ein Ueberbleibsel von König Johanns Jagdschloß zu sein, und daneben steht eine naseweise gelb getünchte »Villa«, die schamlos zugibt, daß sie erst 1872 erbaut wurde und ihre Stilwidrigkeit sehr leicht zu nehmen scheint. Die Straße fügt sich jeder Laune des Bachs, der sie begleitet, führt jetzt wieder zwischen Hecken und Wiesen hindurch, als ob das Dorf sie gar nichts anginge, und windet sich dann wieder freundlich um einen Vorgarten mit altmodischen Blumen, um ein Haus, das vor lauter Schlingpflanzen fast in der Hecke verschwindet. Sogar der Schauplatz blutiger Thaten, der Fleischerladen, ist von Jelängerjelieber umrankt, aber ganz am Ende des Dorfs steht breitspurig ein Backsteinbau, der sich das Bewachsen nicht gefallen läßt, und den ein im Wind schaukelnder verwaschener Schild als Wirtshaus ankündigt. Trotzdem der Gasthof zum »Weißen Hund« fünf Meilen von einer Eisenbahnstation, drei von einem Telegraphenamt entfernt und wegen Urfehde mit dem Fleischer in seinem Nahrungsstand von einem achtzigjährigen Boten abhängig ist, drückt seine behäbige Schauseite außerordentliche Selbstgefälligkeit aus.

Es sitzen aber auch gleich vier Herren in seiner Honoratiorenstube! Der eine sitzt zwar nicht, sondern liegt schnarchend auf dem schwarzen Roßhaarsofa, dafür ist er aber auch ein General, General Pollard, den der Sport in diese Welteinsamkeit gelockt hat, wo man so lang auf die Maifliege warten muß, daß man vor Ungeduld – einschläft. Dann ist Herr Wilcox-Whiting hier, ein wohlhabender ältlicher Junggeselle mit steifem Hemdkragen und runden blauen Augen. Die Leidenschaft seines Lebens ist das Angeln, aber da die geliebte Forelle um diese Tageszeit nicht zugänglich ist, hat er seinen gewichtigen Leib zwei Stühlen anvertraut und seine Seele der Redaktion des »Sandshire Anzeigers«, dessen neueste, nur vier Tage alte Nummer er eifrig liest.

Der Raum ist groß, aber niedrig, eichengetäfelt und mit alten Stichen geschmückt, deren Wert der Besitzer nicht ahnt. Große Fliedersträuße in geschmacklosen rosa Blumenvasen auf Kaminsims und Tisch kämpfen redlich, aber vergebens gegen Tabak und Biergeruch.

Die zwei jungen Männer am Fenster sind Offiziere, die einen kurzen Urlaub vom Uebungsfeld in Aldershot hier verlebt haben, der eine, weil er auch leidenschaftlicher Fischer ist und Nieder-Barton ihm als Forellenparadies gerühmt wurde, der andre, weil ihm alles willkommen ist, was nicht Dienst und Parademarsch heißt.

»Verdammt öde,« bemerkt er jetzt gähnend. »Tropische Hitze, schläfrige Fische, Maifliegen der reine Mythus, keine Zeitung und noch vier Stunden bis zum Essen.«

»Du kannst dir's ja gleich auftragen lassen,« bemerkte Kinloch, vom Fischkorbe aufblickend.

»Nachdem ich kaum gefrühstückt habe und auch noch Bier getrunken? Weshalb trink' ich nur Bier? Weshalb bin ich überhaupt hierhergekommen?«

Das konnte ihm der Kamerad entschieden nicht sagen, denn ihm war seine Begleitung nicht einmal angenehm gewesen.

»Du bist noch keine vierundzwanzig Stunden hier,« sagte er beschwichtigend, »da hat man kein Urteil.«

»Wäre ich doch nach New-Market gegangen! Aber der Alte gibt ja nur Urlaub, wenn's zum Fischen geht, weil er selber ein Angelsimpel ist! So ein gottverlassenes Nest ist mir noch nicht vorgekommen! Nichts zu sehen, nichts zu thun – der Dorftroddel ist vielleicht das Interessanteste oder – die Dorfschöne!«

»Mitunter besorgt ein und dieselbe Person beide Aemter,« mischte sich Whiting über seine Zeitung weg ins Gespräch. »Habe hübsche Mädchen gekannt, die dumm waren wie Bohnenstroh!«

»So dumm, daß sie sich nicht auf ihren Vorteil verstanden? Das kommt jetzt selten vor. Die heutigen Dorfschönheiten sind so gewitzt, so verschlagen ...«

»Lassen wir sie doch ungeschoren,« brummte Kinloch.

»O du, du heiliger Antonius, kennst sie ja nicht!«

»Halt! Da ist ja dein Fall. Sieh nur durchs Fenster. Der Kerl mit den einwärts gekehrten Füßen und der rosa Papierkappe muß wohl der Dorftroddel sein und obendrein bringt er ein Telegramm ...«

»An mich!« rief Goring, nach der Thüre stürzend, wobei er über Whitings ausgestreckte Beine stolperte und den General aufweckte. »Du wirst sehen, ich habe den Chesterpreis!«

Hastig riß er im Flug das Telegramm auf, las und sagte dann bitter enttäuscht: »Verfluchtes Pech! Hundert Pfund hin!«

»Achtzehn Pence für den Boten, Euer Gnaden,« quiekte der Ueberbringer mit seiner Fistelstimme.

»Achtzehn Pence! Ihr seid wohl nicht bei Trost?«

»Es sind drei Meilen; für die Meile krieg' ich sechs.«

»Ja, das ist richtig,« bestätigte die geschäftige Wirtin, die im Flur hantierte. »Der Fuchs macht all unsre Botengänge.«

Goring legte denn auch drei Sechser in eine breite braune Tatze. Der Troddel besah jedes einzelne, schob sie in einen wohlgefüllten Lederbeutel und schlurkte grinsend davon.

»Warum heißt er der Fuchs?« fragte Goring.

»Weil er eigentlich recht schlau ist.«

»Was man ihm nicht ansieht! Wie alt ist er denn?«

»Das weiß ich wahrhaftig nicht,« sagte die Wirtin, sich mit einer Handarbeit unter die Hausthüre setzend. »Als ich ein kleines Mädchen war, sah er schon gerade so aus wie jetzt.«

Sie war eine stattliche, dunkeläugige Dreißigerin in einer knallroten Bluse mit einer großen Kamee als Brosche.

»Thut mir leid, daß die Herren heut kein Glück hatten,« bemerkte sie, die beinerne Häkelnadel eifrig handhabend. »In ein paar Tagen wird's besser sein – sie kommen sonst immer früher, die Maifliegen. Morgen treffen auch noch zwei Herren ein.«

»Was? Ich dachte, diese Fischerei sei tiefes Geheimnis!«

»Ach Gott, nein! Herr Whiting und der General, die möchten ja natürlich, daß keine Seele drum wüßte, aber es wird immer bekannter.«

»Da werden sich die Herren morgen schön ärgern!«

»Ja – vor Sonnabend wird schwerlich etwas zu machen sein,« bemerkte Frau Banner gelassen.

»Vor Sonnabend!« wiederholte der junge Offizier entsetzt. »Und, bitte, was soll mittlerweile aus uns werden?«

»Das weiß ich nicht! Die Herren haben in der Regel nichts im Kopf, als den Bach.«

»Ja, gibt's denn hier sonst etwas Merkwürdiges?«

»Das will ich meinen! Unsre Kirche, von der es heißt, sie sei ein paar hundert Jahre alt, und an der Kanzel ist ...«

»Bedaure, davon bin ich kein Liebhaber,« sagte Goring, seinen Cigarrenrest wegwerfend. »Und sonst?«

»Frau Wallers Schweine sind preisgekrönt, und dann hat Hans Travenor Pferde, die ihresgleichen suchen, und dann ist ein altes Haus hier, wo Geister umgehen; falls Sie dafür ...«

»Nein, danke,« sagte Goring, seine breiten Schultern gegen den Thürpfosten drückend. »Gespenster, Ackergäule und preisgekrönte Schweine locken mich nicht! Wie steht's denn mit weiblichen Schönheiten – außer der anwesenden?« setzte er mit einem verwegenen Blick in die dunkeln Zigeuneraugen der Wirtin hinzu.

Frau Banner kicherte und quittierte durch ein Senken der dunkeln Wimpern für diese Artigkeit.

»Schönheiten?« sagte sie. »Nun ich mein', daß es recht hübsche Mädchen gibt in Barton. Die einen schwärmen für Lizzi Gilbert, die Wäscherin, manche wieder für Fanny Lee, andre machen ein großes Aufhebens von Peggy Summerhayes, obwohl das ein junger Grasaff ist und spindeldürr« – Frau Banners Blick glitt wohlgefällig über die eigene stattliche Fülle –. »Da war einmal ein Maler hier, ein Bildermaler, der war ganz drauf versessen, die Peggy abzuzeichnen – was so die Künstler sind, die haben ja alle einen Vogel! Als ›Primel an Baches Rand‹ wolle er sie machen, hat er gesagt – mein Mann und ich, wir haben uns schier zu tot gelacht! Aber der Hans Travenor hat ihn schön heimgeschickt!«

»Der Hans Travenor, der die Ackergäule hat. Was ging's denn den an?«

»Ja, der ist nämlich ihr Schwager. Der hat sie bei sich, seit sie aus der Pension ist. Sie wird jetzt Achtzehn.«

»Achtzehn?« wiederholte Goring, an der Seite der schönen Wirtin Platz nehmend. »Kein übles Alter! Wie sieht sie denn aus?«

»Nun, so mittelgroß; eine Menge lockiges braunes Haar, hübsche Augen und eine Haut – wie eine Lilie.«

»Das hört sich ja ganz nett an. Wie Sie beschreiben können! Wo sieht man denn das Mädchen?«

»In der Kirche. Sie singt im Chor.«

»Doch nicht die ganze Woche?«

»Natürlich nicht, aber ins Dorf kommt sie sonst wenig. Ihre Schwester hält furchtbar auf sich und ist ein bißchen oben hinaus, obwohl Travenor auch nur ein Bauer ist – hab' ihn schon selbst melken und dreschen sehen! Aber sie, sie ist halt von Haus aus 'was Feineres, denn die Summerhayes von Summerford waren einmal vornehme Leute und es sind eine Menge Grabsteine von ihnen auf dem Kirchhof. Es heißt ja auch, sie habe den Travenor nur genommen, damit ihre kleine Schwester, gerade die Peggy, eine Heimat hätte, und sie hat sie auch in die Pension geschickt und paßt ihr höllisch auf. Sie läßt sie nicht mit den andern Mädchen gehen – geschweige denn mit den Buben!«

»Da muß das junge Ding ein ödes Leben haben,« bemerkte Goring, die frisch angesteckte Cigarre dem neugierig herbeigekommenen Hund des Hauses so dicht an die Nase haltend, daß dieser heulend entfloh.

»Was fällt denn dem ein?« bemerkte Frau Banner, ohne die Missethat des Gastes zu rügen. »Ja, so leicht hüten ist die Peggy übrigens nicht! Wenn die ihren Kopf aufsetzt, setzt sie ihn auch durch! Ist mir noch wie heute, als einmal ein alter Gaul am Draufgehen war und erschossen werden sollte, da hat das Mädel ein Gethue gehabt und sich angestellt, gerade wie auf dem Theater! Wie die Augen gefunkelt haben und die Stimme gezittert und die Hände gefuchtelt – ich muß heute noch lachen, wenn ich dran denk'! Ja, ja, die hat ihren Kopf! Nächste Woche ist hier das Fest der ›Alten Forester‹ Forester, ein in England sehr verzweigter Verein zu Geselligkeits- und Unterstützungszwecken. Anm. d. Uebers. da können Sie die Peggy vielleicht sehen, falls es den Travenors gut genug ist.«

»Sehr verlockend, aber wenn dieses unpünktliche Insekt morgen nicht kommt, reiß' ich aus.«

»Ach nein, Herr Hauptmann, das wäre gar nicht recht! Gestern sind Sie erst gekommen, so bald lassen wir Sie nicht fort,« versicherte Frau Banner, und das Bedauern, womit sie ihn ansah, war echt.

Er war auch entschieden angenehm anzusehen, dieser Goring. Scharfgeschnittene feine Züge, kecke blaue Augen voll Uebermut und Schelmerei und ein Lächeln, das nicht nur die Frauen, nein, auch Männer behexte. Dazu eine angenehme Stimme, eine fesselnde Plaudergabe, Leichtigkeit im Verkehr, tadelloser Anzug – das war seine Ausrüstung für den Kampf ums Dasein.

»Was du doch für eine Plaudertasche bist,« sagte Kinloch, auch unter den Thürbogen tretend, »und so neugierig!«

»Frau Banner war so liebenswürdig, mich bestens über die Gegend zu unterrichten, und ...«

»Nun, ich mache vor Tisch noch einen Gang,« erklärte Kinloch, den Lobgesang auf die Wirtin abschneidend.

»Um den Appetit zu schärfen? Was gibt's denn übrigens, Frau Banner?«

»Forellen, Lammbraten, Stachelbeerkompott und Vanilleauflauf,« erwiderte sie mit großer Zungengeläufigkeit.

»So – ja, in dem Fall werde ich auch spazieren gehen!«

»Wenn die Herren einen recht hübschen Weg machen wollen, so gehen Sie quer über die Straße, geradeswegs die Wiese hinauf bis zu dem angestrichenen Zaun, dann kommen Sie auf einen Feldweg, der an Travenors Hof vorüber zu den römischen Ruinen führt.«

»Danke schön, Frau Banner,« sagte Goring, mit seinem gewinnendsten Lächeln die Sportmütze lüftend. »Wir werden nicht ermangeln, den römischen Ruinen unsre Ehrfurcht zu bezeigen – vergessen Sie nur die Kräutersauce nicht zum Lammbraten!«


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