Hedwig Courts-Mahler
Der Abschiedsbrief
Hedwig Courts-Mahler

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Der Major hatte Lutz ganz überrascht nachgesehen. Er merkte, daß irgend etwas nicht stimmte, ahnte aber nicht, was es war.

»Was ist denn zum Donnerwetter los? Weshalb stürmt denn Lutz mit solchen Orakelsprüchen davon?« fragte er ärgerlich.

Lonny schrak aus ihrer Betäubung empor. Sie sah mit toten, leeren Augen die Stiefmutter an, die etwas betreten stammelte:

»Ich weiß nicht, ich verstehe nicht!«

Lonny richtete sich mit einem Ruck empor, strich sich das Haar aus der Stirn und sagte tonlos:

»Doch, du weißt es, du weißt es besser als wir alle. Gottlob, daß Papa nicht von dir eingeweiht wurde in deinen feinen Plan, dir um jeden Preis einen reichen Schwiegersohn zu verschaffen. Ich erkannte sehr wohl die Zeitung, in die du an jenem Morgen so vertieft warst, daß du mich nicht eintreten hörtest. Ich sah, wie du die Zeitung eng zusammenfaltetest und in deine Morgenrocktasche stecktest. Die Brüche und Kanten waren ja noch so gut zu sehen. Oh, ich weiß alles! Heute spieltest du uns scheinbar ahnungslos die Zeitung in die Hand, einer von uns mußte ja die Anzeige sehen, die Lutz als Erben sucht. Ich sah dein blasses, erregtes Gesicht, und alles wurde mir klar. Und auch Lutz ist 173 das alles klargeworden, wenn er auch nicht, wie ich, Beweise hatte. Er weiß, welche Komödie du uns vorgespielt hast, das ging aus seinen Worten hervor. Aber – das schlimmste ist, daß er mich mit dir im Bund glaubt, er zweifelt an mir – er –«

Sie brach ab, konnte vor Weh und Jammer nicht weitersprechen. Kein Wort brachte sie mehr heraus. Die Verzweiflung übermannte sie. Hastig lief sie aus dem Zimmer, begab sich in ihr Stübchen und schloß sich ein. Wie vernichtet sank sie in einen Sessel und starrte verzweifelt vor sich hin.

Der Major hatte sich erhoben, als die Tür hinter Lonny zufiel. Er sah streng auf seine Frau.

»Was soll das alles heißen, Hermine?«

Sie warf trotzig den Kopf zurück.

»Nun gut, du sollst Klarheit haben! Ich habe es nur gut gemeint. An jenem Morgen, als ich übernächtig im Wohnzimmer saß und vor Sorgen nicht aus und ein wußte, fand ich in der Zeitung eine Anzeige, in der Lutz als Millionenerbe seines Onkels Henner von Hennersberg gesucht wurde. Natürlich regte mich das sehr auf, aber ich sagte mir sogleich, daß ich verhindern müsse, daß Lutz oder ihr diese Anzeige zu Gesicht bekommen würdet. Wir hatten ihn abgewiesen, und wenn wir nun klein beigeben würden, mußte er sicher glauben, daß dies nur der Erbschaft halber geschah.

Ich sah Lonnys Glück gefährdet, man konnte nicht wissen, ob Lutz, sobald er um diese Erbschaft wußte, zu Lonny zurückkehren würde. Es war doch möglich, daß er der Erbschaft wegen nach Kalifornien reisen und nicht wiederkommen würde. Ich wußte, daß ich es diplomatisch anfangen mußte, ihn zurückzuholen und mit Lonny fest zu verloben, ehe er von der Erbschaft erfuhr. So habe ich glücklich alles wieder eingerenkt 174 und wartete nun auf eine harmlose Gelegenheit, um Lutz diese Zeitung in die Hand zu spielen. Daß er gleich die Sache durchschauen würde, hatte ich nicht erwartet. Ich habe jedenfalls mein Bestes getan, habe dir und Lonny freie Bahn geschaffen, Lonny ist seine Braut, und ich werde mich natürlich hüten, ihm einzugestehen, daß ich die Anzeige schon früher gesehen habe. Er hat ja keine Beweise wie Lonny, und sie darf sie ihm nicht ausliefern. Ich werde ihm Vorwürfe machen über sein Davonstürmen, und er wird schon wieder zur Vernunft kommen. Und Lonny auch. Daß er sehr erregt war, ist ja verständlich; es ist doch keine Kleinigkeit, wenn ein armer Schlucker plötzlich Millionen erbt.

So, das ist alles. Lonny soll mir nur dankbar sein; wer weiß, was geworden wäre, hätte ich nicht eingegriffen. Ihre entrüsteten Bemerkungen hätte sie besser nicht vom Stapel lassen sollen. Ich habe nur ihr Bestes gewollt.«

Fassungslos hatte der Major zugehört.

»Du hättest das alles lieber erst mit mir besprechen sollen«, sagte er bekümmert.

Sie lachte hart auf.

»Du hättest verlangt, daß ich die Zeitung an Lutz ausliefere. Ich kenne doch deine fast krankhaften Ehrbegriffe, mit denen man glatt verhungern kann.

Lonny wird sich schon beruhigen, wenn sie das alles beschlafen hat; ich werde Lutz auch klarmachen, daß sie nicht davon wußte. Es wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Natürlich wäre es mir auch lieber, wenn Lutz nichts gemerkt hätte; aber wenn ihr beide vernünftig seid, du und Lonny, wird sich schon alles wieder einrenken lassen.«

Der Major fuhr sich über die Stirn. 175

»Jedenfalls ist das eine sehr unangenehme Sache.«

»Ich denke, es ist eine sehr angenehme Sache, daß Lutz Millionen erbt. Lonny macht eine glänzende Partie, und wir sind auch aus aller Sorge heraus.«

Es gab noch ein langes Her und Hin zwischen den beiden Gatten, aber schließlich sah der Major ein, daß er nichts ungeschehen machen konnte. Augenblicklich war wirklich nichts anderes zu tun, als Lutz' Rückkehr abzuwarten und sich dann, so gut es ging, aus der Sache zu ziehen.

 

Für Lonny aber lag die Sache viel tragischer. Sie war in einen schweren Herzenskonflikt geraten. Ihr war das schmerzlichste, daß Lutz an ihr zweifelte. Daß er das tat, hatten ihr seine Worte verraten.

»Deshalb wolltest du deinen Abschiedsbrief zurückhaben.« So hatte er gesagt. So glaubte er also, daß sie ihm die ganze Zeit eine abscheuliche Komödie vorgespielt hatte. Und mit dieser Erkenntnis war Lonnys Glück zerstört. Sie saß ganz kraftlos in ihrem Zimmer und fragte sich, was jetzt werden sollte. Nein, nein, sie konnte ihm nicht wieder in die Augen sehen, es würde sie töten, diese geliebten Augen kalt und verächtlich auf sich ruhen zu wissen.

Sie sprang auf, wie auf der Flucht vor diesen Gedanken.

Es wurde ihr klar, sie mußte fort, durfte Lutz nicht wiedersehen. Sie mußte ihn freigeben, und das konnte sie nur, wenn sie von zu Hause fortging. Die Eltern würden nicht wollen, daß sie sich von ihm löste, würden sie quälen und bestürmen, seine Frau zu werden, würden sie einfach nicht verstehen. Deshalb mußte sie fort, weit fort, durfte nicht noch einmal mit Lutz zusammenkommen. 176

Aber, was würde es für eine Szene geben, wenn sie dem Vater und der Stiefmutter morgen erklärte, daß sie die Verlobung mit Lutz lösen wollte? Man würde sie für unsinnig, überspannt erklären und sie nicht verstehen. Es blieb ihr nur die Flucht – ja, schnelle Flucht. Sie mußte fort sein, ehe Lutz wiederkam.

Und plötzlich dachte sie an den Trustmagnaten John Stanhope. Es ging wie ein Ruck durch ihre Gestalt. John Stanhope? Er hatte ihr gesagt, wenn sie je frei würde und drüben ihr Glück versuchen wolle, möge sie zu ihm kommen, jederzeit werde eine gute Stellung für sie frei sein. Wo hatte sie doch die Visitenkarte mit seiner Adresse hingetan? Sie kramte mit fliegenden Händen in ihrer Schreibmappe, und da fiel ihr die Karte in die Hände. Das erschien ihr wie ein Fingerzeig des Schicksals.

So faßte sie endlich den festen Entschluß, zu entfliehen. Mechanisch begann sie einen der Koffer zu packen, in dem sie schon einige fertige Leibwäsche für ihre Aussteuer verwahrt hatte. Und während sie packte, überlegte sie, was sie noch alles zu tun hatte. Dem Vater mußte sie einen Teil von ihrem Geld zurücklassen, er durfte nicht in Not geraten, solange sie es verhindern konnte. Bei Mister Stanhope würde sie ein sehr gutes Gehalt beziehen, davon konnte sie dann dem Vater regelmäßig abgeben.

An ihre Stiefmutter konnte sie nur mit Grauen und Abneigung denken. Ihr nicht mehr zu begegnen, würde für sie eine Wohltat sein. Aber wie kam sie fort, ohne daß jemand ihre Flucht bemerkte? Ganz heimlich mußte sie das Haus verlassen, am besten diese Nacht noch. Aber nein, das ging nicht, ohne Geräusch konnte sie den schweren Koffer nicht aus dem Haus schaffen. Und einen Paß mußte sie haben. Auf die Bank mußte 177 sie auch noch gehen. Also, heute nacht konnte sie nicht fliehen, sie mußte warten, bis morgen früh der Vater fort war und die Stiefmutter ihre täglichen Besorgungen für den Haushalt machte. Da blieb sie immer eine ganze Weile aus. Indessen konnte sie sich schnell ein Auto holen, ihren Koffer hinunterschaffen lassen und davonfahren. Immer vertrauter wurde ihr der Gedanke an ihre Flucht. Sie ging nicht zu Bett in dieser Nacht, sie hätte ja doch keine Ruhe gefunden. Leise, jedes Geräusch vermeidend, setzte sie ihr Werk fort, und als sie alles, was sie brauchte, in den einen Koffer gepackt hatte, begann der Morgen zu grauen. Es war ein feuchter, herb duftender Frühlingsmorgen. Müde ließ sie sich an ihrem kleinen Schreibtisch nieder, um einen Brief an den Vater und einen an Lutz zu schreiben. Da fiel ihr ein, daß sie hier schon einmal einen Abschiedsbrief an Lutz geschrieben hatte, jenen unseligen Brief, den sie von Lutz hatte zurückfordern wollen. Auch damals war ihr das Herz schwer gewesen, als sie ihm geschrieben hatte, daß sie ihn freigeben wollte. Aber, wie viel schwerer wurde es ihr heute!

Zuletzt schrieb sie einen Zettel für ihre Stiefmutter, den diese nach ihrem Verschwinden finden sollte:

»Papa weiß, wohin ich gegangen bin; es wird gut sein, wenn Du kein Aufsehen über mein Verschwinden erregst.

Lonny«

Weiter vermochte sie kein Wort hinzuzufügen. Der Groll gegen diese Frau, die ihr Glück zerstört hatte, ließ es nicht zu. Sie steckte den Zettel in einen Umschlag und schrieb den Namen ihrer Stiefmutter darauf. Das wollte sie auf den Tisch legen, wenn sie sich entfernte. Nun war sie mit ihren Vorbereitungen fertig. 178 Sie kleidete sich für die Reise an. Währenddessen wurde an ihre Tür geklopft, und die Stiefmutter rief ihr zu, sie möge zum Frühstück kommen.

Sie erwiderte, so ruhig sie konnte, daß sie nicht wohl sei und der Ruhe bedürfe.

»Aber Lonny, sei doch vernünftig!« rief die Stiefmutter.

»Ich bitte dich, laß mich in Ruhe, ich brauche kein Frühstück, ich habe Kopfweh.«

Da entfernte sich Frau Hermine. Sie mußte wohl den Vater beruhigt haben, denn er kam nicht an ihre Tür. Gern hätte sie noch einmal seine Stimme gehört, denn ihr war, als gehe sie für immer von ihm. Eine Weile später hörte sie ihn fortgehen. Sie trat an das Fenster und blickte ihm, von der Gardine geborgen, nach. Ihre Augen wurden trüb, als sie der hohen aufrechten Gestalt nachsah.

Unruhig lauschte Lonny nun hinaus. Endlich hörte sie, daß die Stiefmutter zu Meta sagte:

»In spätestens einer Stunde bin ich wieder zurück, Meta; den Frühstückstisch können Sie abräumen, meiner Tochter ist nicht ganz wohl und bleibt auf ihrem Zimmer.«

Dann fiel die Korridortür ins Schloß; Lonny lauschte atemlos. Sie trat an das Fenster und sah ihrer Stiefmutter nach, bis sie verschwunden war.

Da schlich sich Lonny hinaus, ohne Meta, die in der Küche arbeitete, etwas zu sagen. Unbemerkt verließ sie die Wohnung und eilte so schnell sie konnte zur Haltestelle der Elektrischen. Zum Glück kam gerade eine herbei. Mit dieser fuhr sie bis zur nächsten Droschkenstelle. Sie stieg aus, nahm ein geschlossenes Auto und fuhr nach Hause zurück. Der Chauffeur war bereit, ihr den Koffer herunterzuholen, und folgte ihr ins Haus. 179

Mit bebenden Händen, von der Angst gejagt, daß die Stiefmutter schon zurück sein könnte, schloß sie die Tür auf. Meta steckte neugierig ihren Kopf aus der Küchentür und starrte verblüfft auf Lonny.

So ruhig sie konnte, sagte Lonny zu Meta:

»Lassen Sie sich nicht in Ihrer Arbeit stören, Meta; ich will nur meinen Koffer fortbringen.«

Meta war nicht übermäßig mit Intelligenz belastet; sie wunderte sich nur, daß das gnädige Fräulein zur Korridortür hereinkam, da sie doch auf ihrem Zimmer sein sollte. Aber den Kopf zerbrach sie sich darüber nicht.

Der Chauffeur lud den Koffer auf seine Schulter. Lonny legte den Zettel im Umschlag auf den Tisch und folgte dem Chauffeur.

»Bitte, sagen Sie Mama, ich habe ihr aufgeschrieben, wohin ich den Koffer bringe, Meta.«

Diese nickte und trocknete sich die nassen Hände an ihrer Schürze ab. Lonny ging an ihr vorüber zur Korridortür, die der Chauffeur schon passiert hatte. Eine unsinnige Angst befiel sie plötzlich, daß jetzt, aller Berechnung zum Trotz, Lutz die Treppe heraufkommen und ihre Flucht verhindern oder daß die Stiefmutter zu früh zurückkommen könne.

Sie zitterte am ganzen Körper. Aber kein Mensch begegnete ihr, ungestört konnte sie das Auto besteigen. Sie warf noch einen letzten Blick am Haus empor, zu ihrem Fenster. Dann lehnte sie sich aufatmend, wie einer schweren Gefahr entronnen, zurück, und der Wagen fuhr davon.

Am Lehrter Bahnhof ließ sie das Auto halten und löste sich eine Karte zweiter Klasse nach Hamburg. Sie gab ihren Koffer gleich dorthin auf. Dann fuhr sie zum Paßamt. Schnell war dort ihr Anliegen erledigt. Nun begab sie sich zur Bank, hob 180 fünftausenddreihundertfünfundzwanzig Mark ab und gab Anweisung, daß die andern fünftausend Mark für ihren Vater zur Verfügung blieben. Als auch das erledigt war, fuhr sie in ein Reisebüro, erkundigte sich nach dem nächsten Dampfer, der nach New York fuhr, und erhielt den Bescheid, daß dieser morgen von Hamburg abfuhr. Eine Kabine erster Klasse war noch frei, sie belegte dieselbe und reichte gerade mit ihrem Geld noch aus, ohne die fünftausend Mark angreifen zu müssen.

Wie im Fieber hatte sie das alles erledigt. Nun sie sicher war, fortzukommen, gab sie den Brief an ihren Vater durch die Rohrpost auf, und den an Lutz steckte sie in den Briefkasten.

Darauf fuhr sie wieder zum Lehrter Bahnhof zurück und hatte gerade noch Zeit, einen Imbiß zu nehmen.

Mit geschlossenen Augen saß sie dann im Zug. Sie blieb bis Hamburg allein im Abteil, und das war ihr eine Wohltat. Willenlos überließ sie sich ihrem Schmerz. Morgen, wenn Lutz von Leipzig zurückkam, fuhr sie schon auf dem Dampfer in die offene See hinaus. Und – sie würde Lutz nie wiedersehen. Nie mehr würde sein Blick zärtlich und liebevoll in dem ihren ruhen, nie mehr würde sie seine geliebte Stimme hören, die ihren Namen immer wie eine Liebkosung aussprach. Alles das war vorbei für immer. Er würde sie vergessen, würde vielleicht froh sein, daß sie ihn freigab. Lutz war nicht ein Mensch, der noch lieben konnte, wenn er verachten mußte. Alles war vorbei – und Lutz würde sich seiner Freiheit freuen. Dagegen empörte sich aber ihre Liebe. Nein, nein, freuen würde er sich nicht, zumal wenn sie ihm den Beweis brachte durch ihr Fortgehen, daß er ihr unrecht getan hatte. Es würde ihm weh tun, wie es ihm damals weh getan hatte, als sie ihm den Abschiedsbrief geschrieben hatte. 181

Bei diesen Gedanken rannen ihr endlich über die blassen Wangen erlösende Tränen, die sie ungehindert fließen lassen konnte, da sie allein war.

Und als am nächsten Morgen der Dampfer in See stach, stand Lonny mit übernächtigtem Gesicht an der Reling und sah auf die abschiedwinkenden Menschen zurück. Ihr galt keiner dieser Abschiedsgrüße. Sie war ein einsamer, verlassener Mensch, mit einem Herzen, das wie ein Stein in der Brust lag. Mit toten, leeren Augen sah sie zurück auf die entschwindende Heimat. 182

 


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