Hedwig Courts-Mahler
Der Abschiedsbrief
Hedwig Courts-Mahler

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Wochen waren vergangen seit Doktor Friesens jähem Tod. Seine schöne, vornehme Villa stand leer, mit herabgelassenen Rolläden. Am Gartentor hing ein Schild: »Diese Villa ist mit allem Inventar zu verkaufen. Näheres bei dem Pförtner.«

Lonny saß jetzt daheim und nähte, von ihrer Stiefmutter fleißig unterstützt, an ihrer Aussteuer.

Der Frühling war mit aller Pracht ins Land gezogen, ein seliger Frühling für Lutz und Lonny. Sie sahen sich jeden Tag. Lutz war sehr zufrieden mit seinen Einkünften, es schien wirklich so, als wenn die Fahrgäste am liebsten immer seine Wagen benutzten.

Die Hauptsorge für das junge Paar war jetzt die um eine Wohnung. Damit sah es schlimmer aus, als man erwartet hatte. Große Wohnungen waren vielleicht noch zu bekommen, aber nicht so kleine, bescheidene, wie sie für das junge Paar in Frage kamen.

Frau Hermine brachte jeden Abend die Zeitungen an, damit man in den Anzeigen nach Wohnungen forschen konnte. Und eine Abends sagte sie, als wieder alle vier um den Tisch saßen und in den neuen Zeitungen blätterten:

»Ich werde doch mal den Stoß Zeitungen hereinholen, der sich angesammelt hat. Es sind da Zeitungen dabei, die wir nicht selber lesen; Meta sammelt sie, wenn sie Waren darin nach Hause bringt.« 166

»Aber Mama, das sind doch keine neuen Zeitungen, darin werden wir kaum etwas finden«, sagte Lutz.

Sie zuckte nervös die Achseln.

»Man muß alles versuchen, sonst kommt ihr überhaupt zu keiner Wohnung. In fünf Wochen wollt ihr heiraten, und wir wissen noch nicht, wo ihr wohnen könnt.«

Lutz und Lonny sahen sich verstohlen an. Sie waren schon fest entschlossen, in die Garagenwohnung zu ziehen, bis sich etwas anderes finden würde.

Frau Hermine brachte nun die Zeitungen herein und ließ den ganzen Stoß auf den Tisch fallen.

»So«, sagte sie unternehmungslustig, »jetzt stehen wir nicht eher auf, als bis wir etwas gefunden haben.«

Wer sie genau beobachtet hätte, dem wäre es aufgefallen, daß sie sehr blaß war. Sie machte sich sogleich daran, eine Zeitung zu entfalten. Die andern wollten ihr den Willen tun und nahmen auch eine Zeitung nach der andern von dem Stoß herunter, obwohl sie sich keinen Erfolg versprachen.

Lutz berichtete dabei, daß er am nächsten Morgen schon um fünf Uhr einen Fahrgast abholen müsse, den er nach Leipzig fahren solle. Er werde erst am Abend zurückkommen, da er den betreffenden Herrn auch noch in der Umgegend von Leipzig herumfahren müsse, wo dieser Geschäfte habe.

Und weiter wurde eine Zeitung nach der andern durchgesehen, ohne nennenswerten Erfolg. So bekam schließlich Lonny eine Zeitung in die Hand, an der ihr auffiel, daß sie seltsam viele Brüche hatte, so, als sei sie sehr eng zusammengefaltet worden. Sie achtete aber erst nicht darauf, sah auch nicht, daß Frau Hermines Blick in einer seltsam funkelnden Unrast zu ihr hinüberflog. Lonny sah nach dem Datum. Es war die 167 Zeitung von jenem Morgen, an der ihr der Tod Doktor Friesens gemeldet worden war.

»Ach sieh, Lutz, diese Zeitung ist von Doktor Friesens Todestag datiert.«

Lutz beugte sich mit Lonny zusammen über diese Zeitung. Lonny schlug den Anzeigenteil auf und sah hinab. Und plötzlich stieß sie einen überraschten Ruf aus.

»Lutz – mein Gott – Lutz!«

Er sah in ihr jäh gerötetes Gesicht.

»Was hast du denn, Lonny?«

Sie sah ihn mit großen, erschreckten Augen an und deutete auf eine ziemlich große Anzeige.

»Lutz – lies doch – lies das doch!« stammelte sie fassungslos.

Lutz beugte sich herab auf die Stelle, die ihr Finger bezeichnete, und sah jetzt auch seinen fettgedruckten Namen. Und nun las er die ganze Anzeige:

»Millionenerbe gesucht!«

Der Freiherr Lutz von Hennersberg, Sohn des im Krieg gefallenen Oberst Freiherr Georg von Hennersberg und seiner Gattin, der Baronesse Brambach, wird gebeten, seine Adresse dem Rechtsanwalt Harry Fleed, San Francisco, Kalifornien, Golden Gate Street 24, möglichst umgehend mitzuteilen. Er ist von seinem Oheim, dem Freiherrn Henner von Hennersberg, verstorben am 24. Januar 1930, zum Universalerben seines etwa einundeinhalb Millionen Dollar betragenden Vermögens eingesetzt worden.«

Lutz starrte mit großen Augen auf die Anzeige, faßte endlich den Sinn derselben und sah wieder auf das Datum hinab. Und da begriff er, daß diese Anzeige am Morgen nach jenem Abend in der Zeitung erschienen 168 war, an dem ihn der Major abgewiesen hatte und an dem Frau Hermine so ausfallend gegen ihn geworden war. Mit einem blitzähnlichen Verstehen hob er den Blick und sah Frau Hermine mit einem scharfen, forschenden Ausdruck an. Es sah, daß sie vor unterdrückter Erregung bebte und rot und blaß wurde, obwohl sie doch noch gar nicht hätte wissen können, was in dieser Anzeige stand. Es sah, wie sie sich krampfhaft bemühte, unbefangen auszusehen, was ihr jedoch nicht gelang.

Inzwischen war aber auch Lonny plötzlich ein Licht aufgegangen; sie sah die Erregung der Stiefmutter, starrte auf die Zeitung hinab und erkannte nun an den vielen Brüchen und Kanten, daß es dieselbe Zeitung war, in die die Stiefmutter an jenem Morgen so sehr vertieft war und die sie dann seltsamerweise so engzusammengefaltet und in der Morgenrocktasche barg. Und sie erinnerte sich, daß diese Zeitung dann einfach verschwunden war und nicht mehr zum Vorschein kam. Plötzlich wurde ihr alles klar.

Jetzt wußte Lonny mit einem Mal, warum ihre Stiefmutter von jenem Morgen an ein so völlig verändertes Wesen zur Schau getragen hatte, wußte, warum diese Zeitung erst verschwunden und nun mit so unverkennbarer Absichtlichkeit hier auf den Tisch gebracht worden war. Einer von ihnen mußte ja die Anzeige sehen, und wenn sie niemand anders gesehen haben würde, dann hätte sie die Stiefmutter eben selbst »entdeckt«.

Lonny sah zu Lutz empor, sah, wie er sein blasses Gesicht jetzt von der Majorin abwandte und sich ihr zuwendete. Und sie las in seinen Augen, daß auch er alles begriffen hatte, sah aber auch in seinen geliebten Augen einen Ausdruck brennenden Zweifels, der ihr selbst galt. Ja, Lutz zweifelte in diesem Augenblick an 169 ihr selbst, das fühlte sie und wurde dunkelrot und verlegen, wie bei einer Sünde ertappt. Sie war wie gelähmt, konnte nur eins fassen, daß Lutz auch ihr mißtraute, nicht nur der Stiefmutter.

Und Lutz sah die tödliche Scham und Verlegenheit in Lonnys Augen und deutete sie falsch in diesem Augenblick, wo er selbst so ganz außer Fassung war. Er raffte die Zeitung mit einem harten Griff zusammen und wurde sehr blaß. Wieder bohrten sich seine Augen erst in das Gesicht der Majorin, die vergeblich ihre Verlegenheit bezwingen wollte, und dann in das Lonnys, das voll banger Unsicherheit war. Ein wahnsinniger Schmerz übermannte ihn und ließ ihn gar nicht zum Bewußtsein seiner reichen Erbschaft kommen. Mit heiserer, verhaltener Stimme sagte er: »Also deshalb! Deshalb wurde ich plötzlich in Gnaden aufgenommen, deshalb wolltest du deinen Abschiedsbrief zurückhaben, ehe ich ihn gelesen hatte. Nun verstehe ich alles.«

Es schien ihm ungeheuerlich, aber er konnte jetzt nichts anderes denken. Es sah Lonnys unbeschreibliche Verlegenheit, sah die Scham in ihrem Antlitz und sah die fassungslose Miene der Majorin. Nur der Major schien von nichts zu wissen, er starrte verblüfft die drei Menschen an. Das alles spielte sich in Sekunden ab. Und ohne noch ein Wort zu sprechen, ohne eine Erklärung zu geben oder entgegenzunehmen, stürmte Lutz plötzlich aus dem Zimmer, riß draußen seine Mütze vom Garderobenständer und verließ die Wohnung.

Wie von Sinnen lief er stundenlang im Freien umher. Nicht, daß er diese große Erbschaft machen sollte erregte ihn jetzt, sondern nur der Ekel und die Verachtung vor der Majorin und die dumpfe Angst, der bohrende Zweifel, daß Lonny von dieser Komödie gewußt haben könnte. 170

Er brauchte fast eine Stunde, um wieder klar denken zu können. Und da kam er wieder zu sich. Er blieb stehen und schlug sich an die Stirn. Nein, Lonny konnte nichts gewußt haben, Lonny war nicht fähig, so eine betrügerische Rolle zu spielen. Wie hatte er bloß so etwas denken können? In den härtesten Ausdrücken schalt er sich wegen seines Mißtrauens, und plötzlich lief er wieder zum Haus des Majors zurück. Aber inzwischen war es sehr spät geworden, der Rückweg dauerte mindestens eine Stunde, und hier draußen war weder ein Wagen, noch eine Elektrische zu sehen. Als er vor dem Haus ankam, war alles dunkel, nur in Lonnys Zimmer brannte noch Licht. Er sah hinauf und streckte wie in heißer Sehnsucht die Hände empor.

»Lonny, süße Lonny, hier unten steht dein törichter Lutz und schämt sich seines Verdachtes. Und er kann es dir doch nicht mehr sagen.«

So sprach er im Herzen mit der Geliebten. Und er blieb lange Zeit stehen und sah hinauf, immer hoffend, sie würde an das Fenster treten und ihn sehen.

Es fiel ihm auf die Seele, daß er morgen nach Leipzig fahren mußte, erst übermorgen konnte er Lonny wiedersehen. Aber inzwischen war er dann wenigstens wieder ganz ruhig geworden. Aber sie durfte doch nicht so lange in Unruhe bleiben. Er wollte ihr eine Zeile schreiben, die sie morgen im Lauf des Tages mit der Post bekommen würde. Und so trat er den Heimweg an. Er dachte nun erst wieder mit vollem Bewußtsein an seine Erbschaft.

»Millionenerbe gesucht!« So hatte über der Anzeige gestanden. Und jetzt mußte er plötzlich wie erlöst vor sich hinlachen. Wie herrlich, er würde reich sein, würde Lonny ein schönes, sonniges Leben schaffen können. Oh, seine arme Lonny hatte sich scheinbar gar 171 nicht gefreut über dies Erbe, ganz fassungslos und erschrocken war sie gewesen. Was hatte er ihr nur Häßliches zugetraut? Sie sollte ihm all die kleinen Sorgen vorgespielt haben, dies ängstliche Rechnen um Groschen? Wo hatte er nur seinen Verstand gehabt?

Am liebsten wäre er wieder umgekehrt und hätte doch noch Einlaß verlangt, um Lonnys Verzeihung zu erhalten. Wenn sie aber sein Mißtrauen gemerkt hatte und deshalb an seiner Liebe zweifelte, was sollte er dann tun ? Er beschloß, ihr wenigstens einige Zeilen zu schreiben.

Und zu Hause angekommen, schrieb er:

»Meine Lonny! Du darfst mir nicht zürnen, was Du auch von mir denken magst. Verzeihe mein törichtes Davonstürmen, es geschah in einer augenblicklichen Verwirrung. Ich bin sehr unglücklich, daß ich nach Leipzig fahren muß, aber ich gab mein Wort. Ich werde sehr unruhig sein, bis ich Dich wiedersehe. Behalte mich lieb, meine Lonny! Verzeihe mir. Übermorgen abend komme ich, sobald ich wieder zurück bin. Mit innigen Küssen

Dein Lutz«

So, mehr wollte und konnte er jetzt nicht schreiben. Daraus würde sie sehen, daß er seine Ruhe wiedergefunden hatte, und auch sie würde ruhiger sein. Müde warf er sich dann auf sein Bett, nachdem er seinen Wecker gestellt hatte. Sehnsüchtig an Lonny denkend, schlief er ein. 172

 


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