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Wenige Tage nach Kurts Rückkehr in seine Waldeseinsamkeit erhielt Harald von Mrs. White einen Brief, der höfliche Dankesworte enthielt und dem ein glänzendes Honorar beigefügt war. Eine Kabeldepesche hatte, wie sie schrieb, die Damen zu plötzlicher Abreise in die Heimat genötigt.
Von diesem Zeitpunkt an trug Harald einen fast an Haß grenzenden Groll gegen seine Frau in sich. Er lebte sich förmlich in den Gedanken hinein, durch ihre Schuld um glänzende Aussichten gebracht zu sein, und er war rücksichtslos genug, ihr das zu sagen.
Dann kamen Stunden, wo Magdalene meinte, eine Geierkralle bohre sich in ihr Herz. Jetzt wäre der liebevolle Zuspruch und der freundschaftliche Rat Alexandras von dem größten Wert für sie gewesen. Doch sie dachte nicht daran, ihn zu suchen. Nach wie vor lehnte sie es ab, mit Alexandra in ein näheres Verhältnis zu treten, obgleich diese unerschöpflich in Versöhnungsversuchen war. Bei jeder Gelegenheit trafen Spielsachen und andere Gaben für Hänschen von ihr ein. Auch ihren Besuch würde sie wiederholt haben, wenn der Professor es geduldet hätte. Aber so nachsichtig dieser sonst gegen seine Tochter war, so sehr er sich bemühte, jeden Wunsch seiner Gattin zu erfüllen, in diesem Punkte blieb er unbeugsam. Alle noch so herzlichen und dringenden Einladungen, mit dem Kleinen zu kommen, hatte Magdalene zurückgewiesen – nun mußte man sie sich selbst überlassen und sich mit dem Gedanken trösten, daß sie glücklich sei und ihrer Angehörigen nicht bedürfe.
Das war nun freilich keineswegs der Fall. Denn der Winter, der dem Besuche Kurts folgte, war wohl der traurigste, den Magdalene je erlebt hatte. Mißgestimmt, kränkelnd, von beständiger, nagender Sorge gequält, entsagte sie jedem Verkehr oft wochenlang, um sich dann, unfähig, die qualvolle Einsamkeit der langen Abende zu ertragen, in den rauschenden Strom des gesellschaftlichen Lebens zu stürzen. Aber wenn sie sich auch noch so sehr mühte, sich zu betäuben, es war alles vergebens. Gab es doch nur einen, für den sie glänzen, dessen liebevolle Aufmerksamkeit sie fesseln wollte, dieser eine aber blieb ihr innerlich fern. Nie mehr hatte Harald einen Blick der Liebe, ein Lächeln stolzer Freude für seine Gattin.
In ihrer Not und Herzensangst suchte Magdalene vergebens nach einem Helfer und Retter. Stundenlang lag sie in ihrem Zimmer auf den Knieen und rang in heißem Gebet um die Liebe ihres Mannes. Aber ihr mehr trotzig forderndes als demütig bittendes Flehen brachte der Schwergeprüften keinen Trost. Mehr und mehr verfiel sie einer grenzenlosen, Geist und Körper gleichmäßig lähmenden Ermattung; immer stärker und unwiderstehlicher wurde in ihr das Bedürfnis nach einem thatenlosen Dahindämmern. Stundenlang konnte sie auf dem Sofa liegen und ins Leere starren oder in einem Buche blättern, ohne den Sinn des Inhalts zu erfassen.
*
Als der Frühling seine holde Blüten- und Blumenpracht auszustreuen begann, sagte Harald in jenem kalten, verdrossenen Ton, den er jetzt immer anschlug, wenn er mit ihr sprach:
»Was ist's denn eigentlich mit dir und Hänschen? Der Kleine wird immer elender. Es wird nichts anderes übrig bleiben, als daß du mit dem Jungen aufs Land gehst.«
»Gehst du mit?«
»Wie du nur so fragen kannst! Soll ich die wenigen Patienten und die Krankenkasse, die Steiner mir zugewiesen hat, auch noch verlieren?«
»Dann bleibe ich ebenfalls hier.«
»Nein, du mußt fort! Wäre es auch nur der Form halber. Man braucht keine Glossen darüber zu machen, daß ich meine Familie nicht einmal in die Sommerfrische schicken kann.«
»Ah – deshalb! Laß doch die Leute reden! Mich kümmert das nicht im geringsten.«
»Aber mich umsomehr! Der Schein muß so lange wie möglich gewahrt werden.«
»Ich fahre aber nicht, wenn du uns nicht begleitest.«
»Du mußt! Ich gebiete es als Arzt.«
Mit hartnäckiger Entschiedenheit wies sie alle seine Vorschläge zurück. Als Hänschen jedoch bald darauf abermals erkrankte und sich, wieder genesen, nur schwer und langsam erholte, siegte die Mutterliebe über alle Bedenken.
In dem traulichen, waldumschlossenen Dörfchen, in das Harald sie und den Kleinen gebracht hatte, fühlte sie sich auch bald wohl. Sie wohnte in einer Mühle, die fast versteckt im Grünen lag und an der ein Bach von mäßiger Tiefe munter schwatzend vorüberzog. An seinem Ufer saß sie oft mit dem Kleinen, pflückte ihm ein Sträußchen von Vergißmeinnicht, die hier zu vielen Tausenden den Grund bedeckten, oder suchte Steinchen für ihn, die der Knabe jauchzend in das helle Wasser warf. Aber ihre Gedanken weilten fast unausgesetzt bei ihrem Gatten, der ihr versprochen hatte, wöchentlich mindestens einmal die Seinen zu besuchen.
Wie glücklich war doch im Vergleich zu ihr die Müllerin, und wie sehr beneidete Magdalene sie! Frohsinn und Zufriedenheit lachten der hübschen blonden Frau förmlich aus den blauen Augen, und ob sie in schwerer Arbeit die Häuslichkeit besorgte, oder nach des Tages Mühen mit Mann und Kind plauderte, immer war sie freundlich, stets hatte sie ein munteres Wort bereit. Und welches Glück umfing die einfachen Leute, wenn sie an einem kalten oder regnerischen Abend in der sauberen Wohnstube vereinigt waren oder bei heiterem Wetter auf der Bank vorm Hause saßen und ihr bescheidenes Abendessen verzehrten! Hektor, der zottige Hofhund, schmiegte dann seinen dicken Kopf an die Kniee der Müllerin, erhielt seinen Anteil an der Mahlzeit und mußte es sich gefallen lassen, daß die kleine rotbäckige Trudel, vom Vater gehalten, auf seinem Rücken ritt. Manchmal hob auch der Müller die jauchzende Kleine auf eine weidende Kuh und ging, behaglich sein Pfeifchen schmauchend, nebenher, während seine Frau, ein lustiges Liedchen trällernd, mit irgend einer Handarbeit beschäftigt war.
Wie freudlos, wie liebeleer erschien Magdalene dann ihr eigenes vereinsamtes Leben! Hier hatte sie stündlich das sorglose, lachende Glück vor Augen, nach dem sich seit Jahren ihr ganzes Sein in unbefriedigtem Sehnen verzehrte. Zu den einfachen Landleuten, zu diesen gesunden, kräftigen, bescheidenen Naturmenschen war es gekommen, ungerufen, wie etwas ganz Selbstverständliches, und bei ihr, die es so heiß begehrte, die Tag und Nacht in wilder Qual darum gerungen, wollte es nicht einkehren.
Ein schneidendes Weh zog jedesmal durch ihre Seele, so oft sie Zeugin des friedlichen, freudevollen Glückes ihrer Wirtsleute ward, und ihre dunklen, traurigen Augen schienen staunend zu fragen, warum nicht auch für sie der Tisch des Lebens gedeckt sei. Die Müllerin verstand diese stumme, schmerzliche Frage zwar nicht; aber ihr gutes, warmes Herz sagte ihr doch, daß die junge Frau mit dem schmerzlichen Zug um die Lippen des Trostes bedürfe. Sicherlich grämte sie sich darüber, daß der Kleine so kränklich war und sich gar nicht erholen wollte, vielleicht auch war sie selbst leidend.
»Sie sollten nicht immer so still und traurig zu Hause sitzen, Frau Doktor,« sagte sie eines Tages, »Ihnen fehlt eine ordentliche Bewegung, und Ihrem Kleinen könnte es sicherlich auch nicht schaden, wenn er recht oft Gelegenheit hätte, sich tüchtig zu tummeln. Wir haben sehr schöne Wege hier; Sie sollten sie aufsuchen. Dort hinauf kommt man nach dem Hasensprung, da wird frische Milch ins Glas gemolken. Wenn Sie sich immer rechts halten, können Sie gar nicht fehlgehen. In kaum einer Stunde sind Sie oben auf dem Berg und haben einen prächtigen Ausblick in das grüne Thal.«
»Ich bin zu müde und mag nicht steigen,« erwiderte Magdalene mit trübem Lächeln, »der Atem stockt mir gleich in der Brust. Auch Hänschen wäre schwerlich im stande, mit seinen kleinen, schwachen Beinen den Berg zu erklimmen.«
»Nun, wenn Ihnen das Bergsteigen zu mühevoll ist, dann schlagen Sie den Weg ein, der hinter der Mühle vorbei nach dem Walde führt. Er steigt zwar auch ein wenig, aber nur ganz allmählich. In zwanzig Minuten sind Sie am Waldteich, der mit dem tannenbestandenen Höhenzuge zur Rechten und mit den großen Wiesen zur Linken zu den Schönheiten unserer Gegend gehört. Soll mein Mann Sie hinführen? Er hat jetzt gerade Zeit.«
Magdalene wollte die Frau durch eine Ablehnung des gut gemeinten Anerbietens nicht kränken und erklärte sich mit der Begleitung des Müllers einverstanden. Dieser nahm den Kleinen auf den Rücken und setzte ihn nicht eher ab, bis der Waldteich erreicht war. Dann zog er linkisch die mehlbestaubte Mütze vom Kopf und entfernte sich eilig, um wieder in sein Heim zurückzukehren.
Die Müllerin hatte nicht zu viel gesagt, als sie den Waldteich einen der schönsten Punkte der Gegend nannte. Samtgrüne Wiesen mit Tausenden von bunten Blumen umsäumten ihn auf der einen Seite, harzduftende Waldeshänge auf der anderen, und unweit hinter ihm strebten starre Felsen empor, an denen wilde Rosen und Brombeerranken bis zur Spitze hinaufkletterten. Ueber dem ganzen Landschaftsbilde aber atmete eine köstliche, traumhafte Stille, die nur selten durch den Ruf eines Vögleins unterbrochen wurde.
Magdalene sog mit langen Zügen die würzige Luft ein. »Hier werden wir oft herkommen, nicht wahr, Bubi?«
Hänschen antwortete nicht, aber er bewies durch die That, daß es ihm gefiel. Unermüdlich tappte er durch das hohe Gras, hier eine Steinnelke pflückend, dort einem Schmetterling nachlaufend, dort wieder mit staunenden Augen einen Käfer betrachtend, der hurtig über den grünen Boden lief. Seine Wangen glühten, sein ganzes Gesichtchen strahlte vor Freude, so daß auch Magdalene nicht länger ihrer trüben Stimmung nachzuhängen vermochte. Sie lachte und scherzte mit dem Kinde, lief mit ihm um die Wette umher und kehrte endlich mit einem wahren Riesenstrauße von Feldblumen in der Hand zur Mühle zurück.
Magdalene begann sich wohl zu fühlen, so mitten im Herzen des Waldes. Ihre Müdigkeit und Gleichgültigkeit verloren sich allmählich, und aus ihren Augen wich der traurige Ausdruck. Nicht wenig zu ihrer Gesundung trug freilich der Umstand bei, daß der Kleine sichtlich kräftiger wurde. Die Wangen wurden voller, die Bewegungen freier, und auch sein geistiges Leben begann sich mehr zu regen. Er spielte jetzt oft mit der kleinen Trudel, und auch Hektor wandte er seine Freundschaft zu.
Eine stille Ergebenheit kam allmählich über die junge Frau, und die schmerzende Wunde, die bis dahin an ihrem Lebensmark gezehrt hatte, begann sich zu schließen. Freilich nur, um bei der ersten rauhen Berührung wieder stärker aufzubrechen. –
*
Der Hochsommer war herangekommen. Eines Morgens kehrte Harald mit heißer Stirn, noch unter dem Banne der verflossenen Stunden stehend, in seine Wohnung zurück. Ein Stoß Briefe lag auf seinem Arbeitstische. Aber er fühlte keine Neigung, von ihrem Inhalt Kenntnis zu nehmen, wußte er doch, ohne sie zu lesen, um was es sich handelte: Mahnungen, teils in höflicher, teils in weniger höflicher Form, Briefe von Magdalene und vermutlich erneuerte dringende Anfragen des Schwiegerpapas, wie es seiner Tochter gehe. Das hatte alles Zeit bis zum Vormittag, dadurch würde er sich die Nachtruhe nicht stören lassen. Da fiel sein Blick auf einen Brief mit ausländischen Marken. Was in aller Welt war denn das? Etwa gar ein Brief von Mrs. White?
Wie ein elektrischer Schlag fuhr es Harald durch alle Nerven. Die Aufregung wich auch nicht von ihm, als er sich durch einen Blick auf die Unterschrift davon überzeugt hatte, daß der Brief nicht von Mrs. White, sondern von ihrem Manne herrührte. Die Buchstaben tanzten förmlich vor seinen Augen. Nur mühsam gelang es ihm bei seiner inneren Erregung, den unleserlich geschriebenen Brief zu entziffern.
»Geehrter Herr Doktor!« las er. »Meine Frau klagt fortgesetzt über ihr Leiden, will sich aber in die Behandlung eines fremden Arztes nicht begeben. Sie allein besitzen ihr ganzes Vertrauen. Ich bitte Sie daher dringend, wenn irgend möglich, Ihren Wohnsitz hierher zu verlegen. Da die plötzliche Uebersiedelung selbstverständlich mit großen Kosten verknüpft wäre, so habe ich ein Kabeltelegramm an den an Ihrem Orte wohnhaften Bankier Kahle geschickt und Ihnen für den Fall der Erfüllung meiner Bitte vollen Kredit eröffnet. Sie und Ihre werte Familie werden in einem meiner Häuser eine sehr angenehme, völlig eingerichtete Wohnung zu Ihrer Verfügung finden. Bitte sofort um telegraphische Nachricht, ob wir auf Ihr Eintreffen rechnen können.«
In höchster Erregung sprang Harald auf und ging mit hastigen Schritten in seinem Zimmer auf und ab. Natürlich nahm er das Anerbieten an, das konnte nicht dem geringsten Zweifel unterliegen. Nur fort, nur heraus aus diesen Verhältnissen, in denen alle seine Versuche, sich eine gesicherte Lebensstellung zu gründen, fehlgeschlagen waren und auch in Zukunft fehlschlagen würden. Seine Zukunft hing an dem Leben einer Frau, und dieses Leben konnte der Tod jeden Tag fordern. Es galt Eile.
Harald verlor keinen Augenblick. Er rechnete zusammen, wieviel Geld er zur Befriedigung seiner Gläubiger und zur Reise bedurfte, und eilte dann sofort zur Post, um Mr. White telegraphisch zu benachrichtigen, daß er in wenigen Tagen die Reise nach New-York antreten werde. Wenige Stunden später begab er sich zu dem von Mr. White ihm genannten Bankier und nahm, nachdem er sich über seine Person genügend ausgewiesen, eine Summe in Empfang, deren er zur Deckung seiner Verpflichtungen zu bedürfen glaubte.
Die Vormittagsstunden wurden durch Besuche bei Gläubigern und andere unerläßliche Geschäftsgänge ausgefüllt, und nachmittags begab er sich auf den Bahnhof und löste eine Fahrkarte, um seiner in der Sommerfrische weilenden Frau die ungeheure Wendung seines Geschickes mitzuteilen.
Magdalene empfing ihren Gatten, dessen Besuch sie nicht erwartet hatte, mit einem Freudenschrei. Schluchzend und lachend hing sie an seinem Halse. Was er ihr auch für Leid zugefügt hatte, alles war verblaßt bei seinem unvermuteten Erscheinen; nur das Glück, ihn zu sehen, lebte in ihr.
Als er ihr indessen den Zweck seines Besuches erklärte, geriet sie in eine außerordentliche Aufregung.
»Ich lasse dich nicht,« rief sie, die Arme noch fester um ihn legend, »ich dulde es nicht, daß du zu jener gehst, die dich mir rauben will. An meine Seite gehörst du und hier sollst du bleiben.«
»Hast du denn nicht gehört, daß du mich begleiten sollst?«
»Ich will dich nicht begleiten!«
»Du wolltest es doch früher?«
»Früher? Ja damals, als ich noch nicht wußte, wie alles zusammenhängt, als mir noch nicht die Augen darüber geöffnet waren, daß ihr Reichtum dir kostbarer und begehrenswerter erscheint als meine Liebe. Aber jetzt ist das anders, jetzt will ich nicht mehr. Eher könntest du mich an einen Abgrund führen und begehren, daß ich mich zugleich mit dir hinabstürze.«
»So bleibe meinetwegen hier!« brauste er auf. »Das wird ohnehin das Vernünftigste und Beste für uns beide sein. Ich reise, das steht fest. Selbst wenn ich deinen Wünschen mich fügen wollte, ich könnte es nicht mehr. Das zusagende Telegramm ist bereits in Mister Whites Händen, und die erforderlichen Gelder habe ich erhoben.«
»Thue es nicht, Harald!« rief sie schluchzend und schaute mit den großen, brennenden Augen angstvoll zu ihm auf, »ich bitte dich, ich flehe dich an, thue es nicht! Ich kann den Gedanken, dich in jenes Mädchens Nähe zu wissen, nicht ertragen. Er wird mich wahnsinnig machen.«
Kalt sah er ihr in das von Angst und Leidenschaft erregte Gesicht und sagte:
»Die Summe, die mir Bankier Kahle eingehändigt hat, befindet sich zum größten Teil nicht mehr in meinem Besitz. Mein Wille ist dadurch gebunden, ein Zurückgehen völlig ausgeschlossen.«
Sie griff mit beiden Händen an ihre schmerzende Stirn.
»Nein, es ist unmöglich, es geht nun und nimmermehr! Du wolltest mich jenes Mädchens wegen zu einer Lösung der Ehe veranlassen, und jetzt sollte ich zugeben, daß du seine Nähe aufsuchst?«
»Ich schlug dir allerdings eine Trennung vor, weil ich sie damals für das einzige Mittel hielt, deine Zukunft sicher zu stellen.«
»Und nun sollte ich dir nach New-York folgen? Nein, Harald! Deine Herzenskälte, deine grausame Lieblosigkeit habe ich kennen gelernt! Ich weiß alles, weiß, daß dich der Glanz des Reichtums lockt, wie die Flamme den Schmetterling. Meine Hoffnungen sind tot, jeder Blutstropfen ist mir durch Sorge und Angst, durch peinliche Befürchtungen vergiftet. Aber die Liebe zu dir will nicht sterben und wird erst mit meinem letzten Atemzuge aufhören. Auf Schritt und Tritt geht sie dir nach. Ich habe soviel geweint, geklagt, gebetet und hoffte nun auf etwas Ruhe. Und jetzt soll der entsetzliche Kampf von neuem beginnen? Nein, dagegen wehre ich mich mit dem letzten Rest meiner erschöpften Kraft.«
»Thue, was dir beliebt – du wirst mich aber in diesem Falle nicht hindern können, so zu handeln, wie die Vernunft und die dringende Pflicht, für das Wohl meiner Familie zu sorgen, es mir gebieten. Ich gehe! Willst du bleiben, kann ich es nicht verhindern.«
»Wenn du wirklich abreisest, so ist mein Platz an deiner Seite.«
»So hätten wir uns ja geeinigt!«
»Aber, so wahr ein Gott im Himmel lebt, so gewiß spreche ich mich gegen Mistreß White offen aus und erzähle ihr den Inhalt des Gespräches, welches wir vor der Abreise der beiden Damen führten. Hat sich doch jedes Wort unauslöschlich meinem Gedächtnis eingeprägt! Aufs genaueste entsinne ich mich des Urteils, das du über die junge Amerikanerin fälltest – es dürfte ihrer Eigenliebe nicht sonderlich schmeicheln.«
»Du wagst es, mir zu drohen?«
»Ich wage, mit jeder Waffe um mein Recht zu kämpfen.«
»Magdalene!«
»Niemals gebe ich dich frei!«
Von Sekunde zu Sekunde wurde der Streit heftiger, und Harald war so verblendet, die krankhaft Erregte nicht zu schonen.
»Du bist mein Unglück!« rief er endlich aus. »Ich kann das Leben an deiner Seite nicht länger ertragen. An diesem unseligen Irrtum, der uns beide aneinander fesselte, gehen alle meine Hoffnungen, gehe ich selbst zu Grunde.«
Ein so wilder Ausbruch der Verzweiflung klang aus seinen Worten, daß sie keine Silbe zu erwidern vermochte sondern ihn nur wie geistesabwesend anstarrte.
Harald schritt an ihr vorüber ins Haus, stürmte in das für ihn hergerichtete Stübchen und schob den Riegel vor.
Es war dunkel geworden, – finstere Wolken stiegen im Osten auf, eine schwarze, scharf abgegrenzte Wand bildend. Ab und zu lohte ein greller Blitz empor, und lauter und lauter grollte der Donner, das nahende Gewitter ankündend.
Magdalene achtete es nicht. Noch immer stand sie auf derselben Stelle, noch immer tönten in ihrem Ohr seine letzten Worte. Schwere Tropfen fielen nieder, erst vereinzelt, dann dichter und dichter – Magdalene fühlte und sah nichts. Ins Leere starrend, stand sie da wie betäubt, während der Gewittersturm in ihrem Haar wühlte.
Plötzlich schreckte sie zusammen. Ein entsetzlicher Gedanke war ihr gekommen, und von wahnsinniger Angst getrieben, stürzte sie in das Haus, die Treppe hinauf, an die Thür, die Haralds Zimmerchen vom Flur trennte. Aber wie sie auch bat und flehte, ihr Einlaß zu gewähren, die Thür blieb verschlossen.
»Zieh' den Riegel zurück, Harald!« rief sie. »Wenn nur ein Funken von Liebe noch zu mir in deiner Brust lebt, laß mich hinein!«
Nichts regte sich, kein Laut drang zu ihr heraus.
Noch einmal pochte sie, noch einmal rief sie mit versagender Stimme:
»So öffne doch! Habe doch Mitleid mit mir!«
Aber auch jetzt blieb alles still.
Schluchzend rang Magdalene die Hände. Ihr war bekannt, daß der Müller in letzter Zeit öfters nach Raubvögeln geschossen hatte, die seinen Hühnerhof bedrohten, und daß er die Flinte in dem Zimmer aufbewahrte, in dem Harald sich aufhielt. Wenn Harald die Waffe entdeckte, wenn er seinem Leben ein Ende machte, dann war sie es, die ihn in den Tod getrieben hatte!
Die Sinne drohten ihr zu schwinden. Jeden Augenblick glaubte sie den verhängnisvollen Schuß fallen zu hören.
Längst waren Zorn und Eifersucht vor der Allmacht ihrer heißen Liebe gewichen. Jetzt kam es ersterbend von ihren Lippen:
»Du sollst frei werden, Harald, ich gelobe es dir. Nur öffne und laß mich hinein!«
Ein gewaltiger Donnerschlag ließ die Fenster des Hauses klirrend erbeben, zu gleicher Zeit flammte grelles Licht auf. Mit einem lauten Schrei des Schreckens brach Magdalene vor der Thür zusammen.
Wie lange sie dort lag, sie wußte es nicht.
Endlich trat Harald heraus, ging achtlos an ihr vorüber die Treppe hinab und schlug den Weg nach der Bahnstation ein.
Magdalene folgte ihm, ungeachtet ihrer schon durchnäßten Kleider. Aber schon nach wenigen Schritten sah sie sich durch die Gewalt des Sturmes gezwungen, Halt zu machen. Gleichwohl dachte sie nicht daran, ins Haus zurückzukehren. Mitten in dem wilden Aufruhr der Elemente stehen bleibend, streckte sie verzweifelt die Arme nach der Richtung aus, in der Harald verschwunden war, und rief immer wieder seinen Namen. Und dazwischen rollte der Donner, klatschte der Regen, brauste der Sturm, als sollte die Erde aus den Fugen gehen.
»Aber Frau Doktor!« rief da plötzlich die Müllerin. »Kommen Sie doch ins Haus.«
Hatte das Toben des Unwetters ihre Worte verschlungen? Magdalene rührte sich nicht, so daß die Müllerin schließlich kurz entschlossen sich ein großes Tuch um Kopf und Schulter warf und selbst hinausstürmte, um fast gewaltsam die junge Frau in den schützenden Hausflur zu ziehen. Doch heftig suchte diese sich ihr zu entwinden.
»Ich muß fort!« rief sie, »muß ihm nach! Er darf nicht im Zorn von mir gehen. Lassen Sie sofort anspannen!«
»Der Lindenhofbauer ist mit unserem Korbwagen nach Amberg hinüber und kommt erst morgen zurück.«
»Dann schnell meinen Regenmantel, meinen Hut! Ich muß ihm nach.«
»Sie holen ja den Herrn Doktor gar nicht mehr ein! Die Bahnstation ist weit entfernt; ehe Sie hinkommen, ist der letzte Zug längst fort. Ueberdies würden Sie bei dem Sturm und auf dem aufgeweichten Boden gar nicht vorwärts kommen!«
Magdalene erkannte selbst die Unmöglichkeit, ihren Vorsatz auszuführen. Fröstelnd suchte sie ihr Lager auf. Doch der Schlaf floh ihre Augen. Seine letzten Worte beschäftigten unausgesetzt ihre Gedanken und gewannen mit jeder Sekunde eine furchtbarere Bedeutung.
Als sie nach ruhelos durchwachter Nacht müde und fiebernd aufstand, meinte sie, ihr Haar müsse ergraut sein, und starrte mit ungläubigem Kopfschütteln in den Spiegel, der ihr die immer noch rabenschwarzen Flechten zeigte.
Die Müllerin trat mit dem Frühstück ein.
»Haben Sie sich wieder erholt, Frau Doktor?« fragte sie, erhielt jedoch keine Antwort.
Als sie eine Stunde später wiederkam, um das Geschirr abzuräumen, stand alles noch unberührt da, nur Hänschen hatte seine Milch getrunken. Magdalene sowohl wie der Kleine standen zur Reise gerüstet da.
»Ich fahre mit Hänschen nach Hause,« sagte Magdalene, und ihre Stimme klang müde und tonlos. »Kann ich bis zur Bahnstation einen Wagen bekommen?«
»Vielleicht den des Adlerwirtes,« lautete die Antwort. »Aber wäre es nicht besser, Sie blieben noch hier?«
»Nein, ich muß fort, doch ich bin wahrscheinlich schon morgen wieder hier.«
»Sie haben ja aber noch gar nicht gefrühstückt! Wollen Sie nicht wenigstens ein Glas frische Milch trinken?«
»Nein, nein, es wäre mir unmöglich! Ich weiß, Sie meinen es gut mit mir. Ich bitte Sie nur, nach dem Wagen zu schicken. Wenn ich ihn nicht bekomme, müssen wir gehen.«
Die Müllerin verließ das Zimmer, und bald darauf rollte der Wagen vor das Haus. Hastig eilte Magdalene, den Kleinen an der Hand, die Treppen hinab.
»Sie sind so gut gegen mich,« sagte sie, der Müllerin, die Hänschen in den Wagen hob, die Hand reichend. »Gott erhalte Ihnen Ihr sonniges Glück!« – –
Magdalenens trübe Gedanken wurden während der zweistündigen Eisenbahnfahrt nicht freundlicher. Ein grauer, regenschwerer Himmel hing über der reizlosen Gegend, die der Zug durchbrauste, und ein kalter Wind drang durch die schlecht schließenden Fenster des Wagens. Fröstelnd hüllte sie den durch die durchwachte Nacht ermüdeten Körper in die schwere Reisedecke, ohne daß sie wärmer wurde, und nur zerstreut folgte sie dem lebhaften Geplauder des Kleinen, der sie mit kindlicher Freude auf jeden Baum, auf jeden Vogel aufmerksam zu machen suchte. Trotzdem sie vor Angst zitterte, daß eine Unglücksbotschaft ihrer harre, war sie doch froh, als endlich der Schaffner den Namen ihres Wohnortes ausrief und sie in einem Mietswagen ihrer Wohnung zufuhr.
Zu Hause angelangt, hörte sie, daß ihr Gatte vor etwa einer Stunde ausgegangen sei. Sie begab sich in sein Zimmer und fand hier den Diener vor, der damit beschäftigt war, einen großen Koffer zu packen. Einige Kisten standen bereits verschnürt und vernagelt neben den Bücherregalen, deren Fächer ihr in unheimlicher Leere entgegenstarrten.
»Hat mein Mann nicht hinterlassen, wann er heimkommt?« fragte Magdalene, und als der Diener verneinte, fuhr sie fort: »Es ist gut, lassen Sie mich allein!«
Sie nahm auf dem Sofa Platz und wartete, während Hänschen munter um sie herumspielte. Dort an der Wand hing ihr Bild – Harald schien es vergessen zu haben.
Da trat Harald ins Zimmer.
»Papa!« rief Hänschen freudig und lief dem Vater entgegen. Magdalene taumelte aus ihrem Halbschlummer empor.
»Was hat denn das wieder zu bedeuten,« fragte Harald überrascht, »und du hast bei diesem Wetter auch den kränklichen Jungen mitgebracht?«
»Ich war in solcher Angst um dich,« antwortete sie, nur mühsam die hervordrängenden Thränen zurückhaltend, »auch glaubte ich, dir eine Freude zu bereiten, als ich den Kleinen mitnahm. Er ist ja gar nicht so schwächlich, wie du immer behauptest. Sieh nur, wie seine Augen vor Freude leuchten, wie sein Gesichtchen glüht!«
»Das muß ich als Arzt doch wohl besser wissen! Er bedarf wirklich der größten Schonung. Doch Magdalene, weshalb kamst du?«
»Weil ich mich um dich ängstigte. Wir trennten uns im Unfrieden. Wenn du wüßtest, wie elend ich die Nacht zugebracht habe, du würdest wenigstens jetzt Mitleid mit mir haben.«
»Nun fängst du schon wieder an zu weinen! Kannst du dich denn gar nicht ein wenig aufraffen?«
»Ich kann es nicht, meine Seele ist todwund. Doch du warst gestern gereizt und aufgebracht, und da sagt man so manches, woran das Herz gar keinen Anteil hat. Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Aber wenn du mich noch ein wenig liebst, wenn deine Neigung zu mir noch nicht ganz geschwunden ist, so widerrufe jetzt deine furchtbaren Worte!«
»Was für Worte?«
»Du sagtest, du ertrügest das Leben an meiner Seite nicht länger.«
»Die Worte kann ich leider nicht widerrufen, Magdalene! Dein Eigenwille, deine Eifersucht, deine Halsstarrigkeit werden dir und mir zum Unsegen gereichen. Ich sehe keine Möglichkeit, das Leben, das du uns beiden bereitest, fortzuführen. Seit Jahren gleichen wir zwei Schiffbrüchigen, die in einem schwachen Boote mit zerrissenen Segeln und zerbrochenen Rudern auf wogender See umhertreiben, beständig den sicheren Untergang vor Augen. Taucht einmal das rettende Land vor mir auf, dann hinderst du mich, es zu erreichen. Eines solchen Daseins bin ich müde, es muß ein Ende nehmen, gleichviel auf welche Weise.«
»Das soll es ja auch, Harald. Ich werde, so schwer es mir fällt, an meinen Vater schreiben und ihn bitten, mir mein bescheidenes Erbteil mütterlicherseits auszuzahlen.«
Harald blickte düster vor sich nieder. Dann sagte er kalt:
»An niemand wirst du dich wenden, weder an deinen Vater, noch an irgend jemand. Jetzt bietet uns das Schicksal noch einmal Gelegenheit, in unabhängige, sorgenfreie Verhältnisse zu kommen, und ein Narr wäre ich, ließe ich sie uns entgehen. Mistreß Whites Anerbieten setzt mich schon jetzt in die Lage, auch dich mit ausreichenden Mitteln zu versehen. Sei überzeugt, daß ich für dich und Hänschen aufs beste sorgen werde.«
Um Magdalenens Lippen zuckte ein herbes, spöttisches Lächeln.
»Du sprichst gerade,« sagte sie, »als wäre ich nicht deine Frau, sondern ein zugelaufenes Geschöpf. Und wenn du mir Millionen hinlegen würdest, mich machst du damit nicht glücklich.«
»Bist du nur in der Absicht hergekommen, die gestrige unfruchtbare Auseinandersetzung fortzusetzen?«
»Nein, ich wollte noch einmal an dein Herz klopfen. Aber ich habe dich zu hoch bewertet. Du hast kein Herz. Weder mich noch deinen Sohn liebst du oder hast du jemals geliebt. Ich war bereit, dir das größte Opfer zu bringen, und du weisest es zurück, nur um mich und das Kind los zu werden. Aber glaube mir, Harald, hier scheitert dein Wille. Wir bleiben dir zur Seite; wo du hingehst, da gehen auch wir hin. Und wie ich schon gestern sagte, werde ich von jedem Mittel Gebrauch machen, um meinem Kinde den Vater, mir selbst den Gatten zu erhalten. So lange ich lebe, stehe ich auch zwischen dir und Kitty White.«
Aus Haralds Antlitz war jede Spur von Farbe gewichen.
So entschlossen Magdalene ihm auch gegenübergetreten war, jetzt vermochte sie doch ein leises Beben der Furcht nicht zu unterdrücken. Plötzlich änderte sich der Ausdruck seines Gesichtes, und ein kaum hörbares Lachen drang über seine Lippen.
»Du bist krank,« sagte er, den Blick durchbohrend auf sie geheftet, »geistig krank bist du, mein Kind. Thue, was dir beliebt, trage aber auch die Folgen.«
Bevor sie noch ein Wort erwidern konnte, hatte er das Zimmer verlassen. Stundenlang wartete Magdalene auf seine Wiederkehr. Ganz in sich selbst zusammengesunken, saß sie regungslos da, nichts sehend und nichts hörend, immer nur beherrscht von dem Gefühl, der nächste Augenblick müsse ihr die Kunde von einem entsetzlichen Unglück bringen. Sie wachte weder, noch schlief sie. Wie in wilden Fieberträumen zogen allerlei rasch wechselnde Bilder an ihr vorüber.
Der Abend brach an, die Nacht wob ihre dunklen Schleier, doch Harald kam nicht.
»Wann pflegt der Herr Doktor gewöhnlich heimzukommen?« fragte Magdalene den Diener.
»Das ist sehr unbestimmt,« lautete die verlegene Antwort.
Magdalene wartete bis zum grauenden Morgen und würde noch länger gewartet haben, hätte sie sich nicht vor den Dienstboten geschämt. So entschloß sie sich denn zur Rückfahrt. Bevor sie jedoch das Haus verließ, schrieb sie einige Zeilen an Harald und legte den Brief versiegelt auf seinen Arbeitstisch. Es standen nur die Worte darin: »Ich bin wieder zur Mühle zurückgefahren. Komme sofort nach! Es muß klar werden zwischen uns.«
Unterwegs schwatzte Hänschen nach Kinderart fortwährend. Magdalene nickte zwar manchmal auf eine seiner vielen Fragen, aber ihrem Geiste blieb fremd, was er sprach. Ebenso wortlos schritt sie neben ihm her, als sie mit ihm von der Bahnstation nach der Mühle ging.
Die Müllerin sah sie von weitem kommen und eilte ihr entgegen. Hektor sprang laut bellend voran. Hans stürmte seinem vierfüßigen Freunde entgegen und legte liebkosend seine Aermchen um den Hals des Tieres.
»Gute Reise gehabt, Frau Doktor?« erkundigte sich das junge Weib, und als Magdalene die Frage unbeantwortet ließ, fuhr sie fort:
»Wie prächtig der Kleine aussieht! Das muß Ihnen doch eine wahre Herzensfreude sein.«
Magdalene hatte auch jetzt nur ein zerstreutes Lächeln für die Worte der Müllerin. Wie seit Stunden, so weilten auch jetzt alle ihre Gedanken bei Harald, und unausgesetzt beschäftigte sie die Frage, ob er ihrem Rufe folgen würde.
Kopfschüttelnd ging die Müllerin neben ihr her. Die junge Frau begriff diese Teilnahmlosigkeit nicht. Sie meinte, wie sie selbst in die freudigste Erregung geriet, wenn jemand ihr über die kleine Trudel etwas Schmeichelhaftes sagte, so müßte jede Mutter sich glücklich fühlen, wenn ihr Kind gelobt würde. Auch das wortkarge Wesen Magdalenens befremdete sie, und sie atmete förmlich erleichtert auf, als diese jetzt sagte:
»Seien Sie so freundlich und schicken Sie gegen Abend nach der Bahn. Mein Mann wird wahrscheinlich mit dem Abendzuge hier eintreffen.«
»Schön, Frau Doktor, der Johann kann hinfahren. Wie wird's denn mit dem Mittagessen? Soll ich's vom Adlerwirt holen lassen, oder werden Sie selbst dorthin gehen?«
»Das ist ja ganz gleichgültig,« antwortete Magdalene zerstreut, doch ihre Unhöflichkeit sofort bereuend, reichte sie der Müllerin ihre Hand und sagte: »Verzeihen Sie! Mir thut der Kopf so weh, als müßte er in Stücke springen. Sie sind ja so gut und lieb zu uns – sorgen Sie nur dafür, daß Hänschen etwas zu essen bekommt.«
»Gewiß, gern, Frau Doktor! Aber Sie selbst –«
»Ich bedarf nichts als Ruhe. Je ungestörter ich sein kann, um so wohler fühle ich mich.«
»Aber dann legen Sie sich doch nieder, Frau Doktor! Sie sehen ohnehin so blaß und angegriffen aus, daß man ordentlich Angst bekommen kann. Wegen des Kleinen brauchen Sie sich nicht zu ängstigen, auf den passe ich auf. Ich will auch dafür sorgen, daß Sie nicht gestört werden, und sollten Sie etwas brauchen –«
»Dann klingle ich.«
»Gut, Frau Doktor. Aber eine Tasse Bouillon –«
»Nein, nein!«
»Wie Sie wünschen!«
Die Müllerin zog die Vorhänge zu, nahm Magdalene Hut und Staubmantel ab und entfernte sich dann, mit der nochmaligen Versicherung, daß sie Hänschen wie ihren Augapfel hüten werde.
Thatsächlich achtete sie auch auf den Kleinen aufs sorgfältigste, und Hänschen fühlte sich in der großen Wohnstube sehr behaglich. Er entwickelte beim Essen einen außerordentlichen Appetit und spielte ruhig und liebevoll mit der kleinen Trudel.
Gegen Abend war der Knecht der empfangenen Weisung gemäß nach der Bahnstation gefahren, um Harald abzuholen. Die Fahrt war indessen vergeblich gewesen. Harald war nicht eingetroffen.
Betrübt schlich die Müllerin die Treppe hinauf, klopfte leise an die Thür von Magdalenens Zimmer und öffnete sie, da sie keine Antwort erhielt, so geräuschlos wie möglich. Wenn sie jedoch geglaubt hatte, die junge Frau schlummere noch, so sah sie sich getäuscht. Magdalene stand am Fenster und starrte regungslos hinaus in die lachende Landschaft, über die die Sonne ein Netz von goldenen Strahlen warf. Erst als die Müllerin sich durch ein verlegenes Husten bemerkbar machte, wandte sie den Kopf und sah ihre Wirtin mit einem trostlosen Blicke an.
»Ich weiß es,« kam es unsäglich traurig von ihren Lippen, »mein Mann ist nicht gekommen. Sie brauchen es mir nicht erst zu sagen.«
»Er wird verhindert gewesen sein,« meinte die Müllerin, nur um überhaupt etwas zu sagen.
Hänschen, der der Müllerin gefolgt war, trat herein. Seine Wangen glühten, seine Augen leuchteten, und sofort begann er zu erzählen, was er alles gesehen und gethan hatte. Magdalene hörte kaum, was er sprach. Aber plötzlich beugte sie sich zu ihm hinab, drückte ihn fest an ihr Herz und rief, sein Gesicht mit heißen Küssen bedeckend:
»Mein herziger, armer Junge!«
Fast erschreckt starrte der Kleine seine Mutter an, während die Müllerin nur mit Mühe die Thränen zurückhalten konnte.
»Sie haben Kummer, Frau Doktor. – Nehmen Sie mir's nicht übel, wenn ich Sie bitte, Ihr Herz zu erleichtern und sich einmal auszusprechen.«
Magdalene schüttelte nur leise den Kopf, und so einfach die Müllerin war, so hatte sie doch Zartgefühl genug, um nicht weiter in sie zu dringen. Ihre Schürze zurecht streichend und sich zum Gehen wendend, sagte sie:
»Sie sollten ein wenig ins Freie hinaus, die frische Luft wird Ihnen gut thun.«
»Mama, komm'!« bat Hans und zupfte die Schweigende am Kleid.
Da nickte sie und schritt mit ihm der Thür zu. Kopfschüttelnd sah die Müllerin ihr nach, als sie mit dem Kleinen den Weg nach dem Waldteiche einschlug.
»Wenn sich die Arme nur einmal ausweinen wollte,« sagte sie zu ihrem Manne. »Ich habe Angst um sie. Mir ist zu Mute, als ob etwas Schlimmes geschehen müßte. Du solltest ihr nachgehen, Andreas!«
»Warum nicht gar,« erwiderte dieser, sein Pfeifchen in Brand setzend. »Sie will allein sein und würde es nicht gern sehen, wenn ich ihr folgte.«
Inzwischen näherte Magdalene sich dem Ziele ihres Spazierganges. Die Pracht der wilden Rosen war noch üppiger und glühender geworden, das Moos glänzte, vom Regen erfrischt, wie hellgrüner Samt, und die Tannen strömten jenen würzigen Duft aus, der so belebend und heilsam auf ein krankes Gemüt einwirkt.
Aber es mußte doch noch Gewitterschwüle in der Luft liegen, so rein und klar sie auch schien. Die Schwalben flogen ganz dicht am Boden hin, schwarze Waldschnecken krochen träge am Wiesenrand entlang, und Tausende von Mücken schwärmten, zur Wolke verdichtet, über dem Teich.
Plötzlich jubelte Hänschen laut auf. Er hatte ein paar reife Erdbeeren entdeckt und pflückte sie mit kindlichem Ungestüm.
Magdalene nahm es kaum wahr, daß der Kleine sich von ihrer Seite entfernte. Sie fühlte sich matt wie eine Sterbende. Auf einem mächtigen Felsblock, hinter dem eine riesige Tanne den schwarzbraunen Stamm in die Höhe reckte, ließ sie sich nieder und schloß für einen Moment die Augen. Aber jäh fuhr sie wieder empor. Ihr war es gewesen, als senke sich ein schwarzes Tuch vor ihr nieder, auf dem mit feurigen Lettern geschrieben stand: »Ich kann das Leben an deiner Seite nicht länger ertragen.«
Der kleine Hans kam zu ihr, um ihr ein Sträußchen von blauen Glockenblumen und weißen Kamillen, die er gepflückt hatte, in den Schoß zu legen. Sie riß das Kind an ihre Brust, und während sie sein Gesicht mit heißen Küssen bedeckte, wühlte in ihrer Seele der Gedanke, daß Harald weder sie, noch das Kind liebe, daß sie ihm eine Last seien, und daß sie beide gehen müßten, wenn er glücklich werden solle.
»Wäre ich doch tot!« schluchzte sie, die überströmenden Augen in das weiche, feuchte Moos drückend. Und dann hörte sie wieder eine Stimme, von der sie nicht wußte, woher sie kam: ›Wenn du tot wärest, würde Hänschen eine Stiefmutter bekommen und dich vergessen, wie Max und Lise die Mutter vergessen haben.‹
Sie preßte, aufspringend, den Kleinen abermals an ihr Herz und blickte angstvoll umher.
»Wer war da eben, Hans? Wer hat hier gesprochen?«
»Niemand!« erwiderte der Kleine und suchte sich ihren Armen zu entwinden, um weiter zu spielen.
Nein – niemand war zugegen, nirgends jemand zu sehen. Nur in den Zweigen der Tannen raunte und rauschte es, und die Bienen summten.
Tief aufatmend ließ Magdalene den Kleinen von sich und sank auf ihren Sitz zurück. Und sogleich stürmte auch wieder die Gedankenflut auf sie ein, wirr, unklar, traumhaft. Nur eines blieb immer deutlich und unverwischt, die Ueberzeugung, daß entweder sie oder Harald zu Grunde gehen müsse. Alles, alles war vorbei. Es gab kein Fleckchen auf der weiten Welt mehr, wo sie friedlich nebeneinander stehen konnten. Warum sollte sie den fruchtlosen Kampf noch fortsetzen? Was jetzt noch kommen konnte, hieß Entsagen, so oder so. –
Hänschen tummelte sich nach Kinderart lustig auf der Wiese. Ganz besonders zogen ihn die blauen Glockenblumen an, weil sie, wie ihm die Mama einmal erzählt hatte, am Abend zu läuten anfangen sollten. Er hielt sie an sein Ohr, konnte aber nichts hören. Eben wollte er sein Glück bei einem zweiten Strauß versuchen, als seine Aufmerksamkeit durch ein kleines, grünes Fröschchen abgelenkt wurde, das dicht neben ihm aufsprang! Wenn er es doch fangen könnte! Dann fiel, wie ihm gleichfalls die Mama erzählt hatte, ein goldenes Krönlein zu Boden, und wer es aufhob, der konnte sich wünschen, was immer er wollte.
Wünsche hatte der Kleine genug. Er verging fast vor Sehnsucht nach einem Schaukelpferd, nach einer Husarenmütze, nach einem Kaninchen. Und das alles würde er bekommen, wenn es ihm nur gelänge, das Fröschlein zu fangen.
Atemlos jagte er hinter dem Tierchen her, ohne es haschen zu können. Jetzt saß es ruhig vor ihm und guckte ihn mit den schwarzen Augen an, aber gleich darauf hüpfte es schon wieder fort, und Hänschen verfolgte es mit unvermindertem Eifer.
»Du fängst ihn nicht!« rief jemand neckend.
»Ich fange ihn doch!« behauptete er und warf dem etwa achtjährigen Mädchen, das hinter einem der Rosenbüsche kauerte und lachend hervorlugte, einen zornigen Blick zu.
Im nächsten Augenblick sprang Magdalene von ihrem Sitze jäh empor und stürzte an den Waldteich. Wie sie in ihrem hellen Kleide so rasch dahinflog, glich sie fast einem jener sagenhaften Wesen, die in sommerlichen Mondnächten auf waldigen Wiesen sich zeigen sollen.