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Rivalinnen


I.

Der Ausblick auf das Hôtel und die Esplanade der Invaliden gewährt eine der großartigsten Ansichten von Paris. Es giebt kaum etwas Vornehmeres, Stattlicheres zu schauen als diesen gewaltigen Platz mit seinen alten Bäumen und – ganz im Hintergrunde, jenseits der Schutzgräben und der erbeuteten Kanonen – die goldene Kuppel von Mansard, unter welcher der legendarische Sarg ruht, den man von Sanct-Helena hierher überführt hat. Selbst der nüchternste Fremde, welchen, im carrirten Anzug, den Bädecker in der Hand, das Reisebureau von Cook nach Paris bringt, kann sich dem feierlichen Eindruck nicht entziehen. Er denkt an den großen König und an den großen Kaiser, er bleibt bewundernd und manchmal auch beneidend stehen. An jenes Alt-Frankreich, das solch' dauerhafte und solch' imposante Zeugen seines Ruhmes besitzt, mochte wohl auch Bismarck denken, als ihn in Ferridres der Advocat Jules Favre Namens der Republik um Frieden bat und ihn fragte: »Gegen wen wollen Sie denn eigentlich noch Krieg führen?« – »Gegen Ludwig den Vierzehnten,« soll da der eiserne Kanzler geantwortet haben.

Indessen, in den Augen des Parisers, der ja schon seit Langem an den glänzenden Anblick gewöhnt ist, hat die Esplanade der Invaliden wohl auch ihre melancholischen Seiten. Ganz in der Nähe befindet sich ein armseliges Stadtviertel, der »Große Kieselstein« genannt, und wenn das Wetter mild oder auch nur erträglich ist, so sendet dasselbe in die prachtvollen Anlagen seine betrübten Müßiggänger, seine in Lumpen gehüllten Spaziergänger hinaus. Ein seltsamer Philemon, ein braver Alter, dessen Brust mit Medaillen besät ist und der an seiner Soldatenmütze eine Cocarde trägt, humpelt auf hölzernen Stelzfüßen neben einer scheußlichen Baucis in schmutzigem Camisol dahin. Ein uraltes Mütterchen mit gebeugtem Rücken treibt vor sich oder zieht am Rocke hinter sich zwei oder drei ungesunde Kinder her. Ausgestreckt auf einer Bank und den schäbigen Filzhut in die Augen gedrückt, schläft ein Landstreicher und träumt vielleicht von einem Verbrechen, das er im Sinne hat.

Der Gegensatz zwischen dem schmutzigen Elend und dem königlichen Luxus ist mir immer schmerzlich gewesen.

In Venedig verleiden mir die Weiber mit langem Kopftuch, die mit den Pantoffeln klappern und sich in Einem fort in ihrer rothen Mähne mit den Fingern herumkratzen, San Marco und den Dogenpalast, und im Hyde-Park zu London machen mir die zerlumpten Gestalten mit nackten Füßen, welche sich allenthalben auf dem Rasen herumsielen, das Gewimmel der Equipagen und das Reiten der blonden Amazonen geradezu verhaßt.

Andererseits hat aber die Volksmenge für mich wiederum einen großen Reiz. Ich mische mich gern unter sie. Deshalb führe ich oft meine Gedanken nach der Esplanade und nach dem »Großen Kieselstein« spazieren.

Als ich so eines Tages unter den großen Bäumen der Esplanade der Invaliden einherging, bemerkte ich zwei alte Frauen.

Der Monat Februar neigte sich seinem Ende zu, und die bereits warme Nachmittagssonne ließ an den Zweigen die bronzefarbenen Knospen erglänzen. Die beiden Alten, welche, wahrscheinlich wegen der Feuchtigkeit, noch nicht im Freien zu sitzen wagten, wandelten langsam dahin, wobei die Bejahrtere sich zitternd und schwerfällig auf den Arm der Genossin stützte, die, obschon eine hagere, elende Gestalt, sich dennoch kerzengerade trug und voller Energie schien.

Alle Beide waren ärmlich, aber sauber gekleidet. Ihre schwarzen Halstücher waren sorgfältig aufgesteckt, ihre weißen Hauben glänzten vor Reinlichkeit. Damit die Kranke bei der geringsten Ermüdung ausruhen konnte, trug die Rüstigere einen Klappstuhl unterm Arme. Sie richtete geduldig ihre Schritte nach denen der Freundin und schaute sie alle Augenblicke zärtlich und liebevoll an. Sie mochte etwa zehn Jahre jünger sein als die Andere, welche, eine Ruine in Menschengestalt, mindestens sechzig zählte. Sie allein besaß von Beiden noch ein wenig Kraft, ein wenig Gesundheit. Das mußte für Jene mit genügen. Wenn man ihnen begegnete, so dachte man unwillkürlich an jene ländlichen Gespanne, wo ein Pferd einäugig und das andere völlig blind ist und die trotzdem den Karren ziehen.

Die beiden Frauen interessirten mich sofort. Ich beobachtete sie.

Die Greisin mußte sicher einstmals schön gewesen sein. Die Haube vermochte kaum das reichliche schneeweiße Haar zusammenzuhalten. Ebenmäßig waren die Züge ihres unbeweglichen, gelben, gichtbrüchigen Gesichtes, und unter den noch schwarzen Brauen schimmerten die tief eingesunkenen Augen in einem fieberhaften Glanze.

Die Andere, rothhaarig, einstmals mit weicher Haut und weißem Teint – mochte vielleicht ebenfalls hübsch gewesen sein. Doch grausam verfährt die Zeit mit den Reizen der Jugend! Nur Runzeln und Flecken läßt sie zurück. Und trotzdem erregte dieses elende, welke Gesicht noch Gefallen durch seinen milden Blick und sein gütiges Lächeln.

Schwestern waren sie nicht; sie hatten nicht die geringste Aehnlichkeit mit einander.

Der Anblick jener beiden armen Geschöpfe, die aufeinander gestützt, ihre schwachen Kräfte vereinten, hatte mich wahrhaft gerührt. – Das schöne Wetter hielt einige Tage an, und so traf ich die beiden Alten öfters wieder.

An gewissen Einzelheiten, an ihren Händen, über welche sie immer Handschuhe von grauer Baumwolle gezogen hatten, an einem unerklärlichen Etwas in ihrer ganzen Erscheinung, merkte ich, daß sie nicht immer eine so gewöhnliche Kleidung getragen hatten und daß sie einstmals, wie das Volk sagt, bessere Tage gesehen hatten. Ihr Verlangen, des geringsten Sonnenstrahles zu genießen, trotz ihres Alters und ihrer Hinfälligkeit auszugehen, ließ mich vermuthen, daß sie während des langen Winters in irgend einer traurigen Mansarde des »Großen Kieselsteins« eine Art Gefangenen-Dasein führten. Ich stellte sie mir vor im Geiste, wie sie da hockten, die Füße auf der Wärmflasche, und von ihren Erinnerungen zehrten.

Sie erregten immer mehr mein Mitleid und – daß ich es nur gestehe – auch meine Neugierde.

Nun kannten auch sie mich vom Sehen. Eines Tages, als die ganz ungewöhnlich laue Luft ihnen gestattete, sich auf einer Bank niederzulassen, setzte ich mich neben sie, und alsbald knüpften wir ein Gespräch an. Der weibliche Instinct, der weit sicherer und zarter als der des anderen Geschlechtes ist, ließ sie Vertrauen zu mir fassen. Und kurz und gut, nach einer Stunde kannte ich ihre Lebensgeschichte.

Dieselbe ist rührend, ich will sie erzählen.


II.

Existirt noch ein Besucher des Vandevilletheaters, der sich an Nelly Robin erinnert?

Vielleicht nein. Aber im Winter des Jahres 1859 war sie eine der schönsten Huris des muselmännischen Paradieses, das damals die Truppe dieses Theaters ausführte. Freilich zwischen dieser Darstellung und dem Himmel des Propheten herrschte der Unterschied, daß all' diese reizenden Schauspielerinnen nur sehr zweifelhafte Ansprüche auf den Titel »Fräulein« hatten, einen Titel, welcher, wenn anders man dem Koran glauben will, den Huris ewig und unverbrüchlich zukommt.

Sie war brünett, hatte einen marmorblassen Teint und weiches, wolliges Lockenhaar. Groß und schlank, von wunderbarem Wuchse, besaß sie ein Paar dunkle Augen, die immer in sinniges Träumen verloren schienen.

Ihre göttergleiche Schönheit, in der sich Würde und Anmuth paarten, hätte die florentinischen Meister der Renaissance entzückt. Und doch hatte Nelly nur einen armen Hutmachergehilfen zum Vater, den die Sorge um seine zahlreiche Familie fast zu Boden drückte. Kein Wunder, daß das Mädchen, um welches man sich wenig kümmern konnte, in allen Gassen der Stadt sich herumtrieb. Ein Nachbar, der Maschinist am Belleville-Theater war, verführte sie und nahm sie zu sich. Jetzt mußte sie arbeiten, daß ihre Hände rauh und roth wurden, mußte sie für den Trunkenbold, der sie mit Schlägen tractirte, kochen und ihm seine schmutzige Bude auskehren.

Sie war bereits fast zweiundzwanzig Jahre alt, als Lamorlière, der erste Heldendarsteller des Theaters, welcher trotz seiner Bärentatzen, seines gefärbten Schnurrbartes und seiner fünfzig Jahre noch immer Pascha hinter den Coulissen geblieben war, sie zu bemerken und ihr zum Zeichen seiner Gunst das Taschentuch hinzuwerfen geruhte. Die Vorstadtbewohnerin bekam einen riesigen Respect am ersten Abend, wo sie das bescheidene Logis des Schauspielers betrat, der seine eigenen Möbeln besaß und die Zimmerwände mit alten Theaterzetteln und goldenen Papierkronen decorirt hatte, den glorreichen Zeugen seiner ehemaligen Erfolge im Süden; in Agen, Auch und Montauban.

Der Schauspieler war zweifellos gegen die Verehrung von Seiten der holden Weiblichkeit bereits abgestumpft. Ehemals hatte er bei seinen Gastrollen in der Provinz den häuslichen Frieden von mehr als einer Familie gestört. Die Frau eines Steuereinnehmers im Departement Tarn-et-Garonne war ihm nachgelaufen, und in Gers hatte er die Gattin eines Unter-Präfecten stark compromittirt. Dennoch aber schmeichelte die naive Bewunderung des armen Mädchens dem Herzen des alten Schmetterlings, der es bereits müde war, rastlos von Blume zu Blume zu flattern. Sie sollte am nächsten Morgen wieder heimkehren; so war es abgemacht. Indessen nach acht Tagen wusch und plättete sie ihm bereits seine Wäsche.

Sie knüpften also ein Verhältniß mit einander an. Nelly lebte an der Seite des ersten Helden in einer beständigen Aufregung. Sie nannte ihn »Herr Lamorlière«, wenn sie mit den Nachbarn von ihm sprach, sie diente ihm wie eine verliebte Sklavin. Sie sorgte aufs Peinlichste für ihn, wurde in seine Toilettengeheimnisse eingeweiht und lernte ihm das Haar färben, welches sie mit Hilfe von Wassern und Salben aus Grau-Grün-Roth in's schönste Schwarz sich verwandeln sah, ohne daß sie darum auch nur im Geringsten aufgehört hätte, Lamorlière als den Jüngsten und Schönsten unter den Sterblichen zu betrachten.

Er war im Grunde genommen ein guter Kerl. Er war gerührt, daß sie ihn so sehr bewunderte und so gut bediente. Er interessirte sich für Nelly, erkannte, daß dieselbe trotz ihrer Unwissenheit durchaus nicht dumm war, gab ihr ein wenig declamatorischen Unterricht und sorgte dafür, daß sie in kleinen Rollen debütiren durfte. Nach einem halben Jahre gab sie schon ganz leidlich die Naiven.

Lamorlière, der bereits seit mehreren Jahren nur noch in kleinen Orten gastirte, bekam durch einen glücklichen Zufall ein Engagement an dem »Großen Theater« zu Lille, wo sein in der Provinz erworbener Ruhm zum letzten Male hell aufstrahlte. Diejenigen, welche ihn damals nicht in den »Piraten der Savanne« »Les Pirates de la savane«, Drame à grand spectacle en 5 actes et 6 tableaux, d'Auguste Anicet-Bourgeois et Ferdinand Dugué. 1859. die große Wahnsinnsscene spielen gesehen haben, in der er, wild auflachend, an vergiftetem Java-Liqueur stirbt, können sich keinen Begriff von dem alten pathetischen Spiel machen, das heute gänzlich aus der Mode gekommen ist.

Da er just um diese Zeit eine kleine Erbschaft machte, so konnte Nelly in präsentablen Costümen neben ihm debütiren. Sie war und konnte auch nur immer eine mittelmäßige Schauspielerin sein. Doch bei ihrer außerordentlichen Schönheit hatte sie trotzdem glänzende Erfolge. Alle reichen Lebemänner fingen Feuer. Doch sie schwärmten vergebens. Nelly, die voller Bewunderung und Dankbarkeit für Lamorlière war, blieb ihm unerschütterlich treu, und drei Jahre lang sahen die Bewohner von Lille mit Staunen, wie dieses wunderbare Geschöpf in einem Schmuck aus Talmi Komödie spielte und ehrlich sittsam am Arme des alten Schauspielers allabendlich aus dem Theater kam.

Als Lamorlière am Abende seines Benefizes, wo er sich in der Rolle des Fischers Gasparde sehr erhitzt hatte, heimkehrte, erkältete er sich unterwegs derartig, daß er bald darauf an einer Lungenentzündung starb. Der Schmerz Nellys war ein aufrichtiger; indessen sie ließ sich bald – wie das nicht anders zu erwarten stand – von einem reichen Müßiggänger, einem vier- oder fünffachen Millionär trösten, der seit drei Jahren nur dann seinen Krimstecher Eine Art Feldstecher oder Fernrohr, benannt nach der Verwendung im Krimkrieg (1853-56); hier als Opernglas gebraucht. hervorholte und in's Theater ging, wenn das herrliche Mädchen auf die Bühne kam. Dieser geschmackvolle Mensch begriff, daß zu solch' mattem Teint und solch' dunklen Haaren nur echte Diamanten paßten. Er miethete ihr eine prachtvolle Wohnung und ließ sie auf Gummirädern fahren.

Das ehemalige Gassenmädchen aus Charonne, welches früher sich oft für zwei Sous Backwerk in einer Düte zum Frühstück gekauft hatte, nahm diesen Luxus als etwas ganz Selbstverständliches hin, ohne deshalb interessirt oder habsüchtig zu werden. Im Grunde genommen, langweilte sie ihre neue Lebensweise sogar. In der Gesellschaft ihres Geliebten, eines hübschen, kaum vierzigjährigen Provinzialen, der sich sehr viel auf seinen blonden Backenbart zu gute that, worin noch kein einziges Silberhaar erglänzte und dessen Freigebigkeit Nelly Robin Kutscher, Köchin und Kammerfrau verdankte, sehnte sie sich fast nach der Zeit zurück, wo sie ihren Lamorlière mittelst einer Pomade verjüngte oder ihm nach der Heimkehr von der Probe eigenhändig das Mittagessen bereitete.

Lamorlière hatte immer seine ihm ergebene Freundin mit Nachsicht und Schonung behandelt, wenn er auch ihr gegenüber den überlegenen Ton des ersten Heldendarstellers und die Protectormiene eines vom Publicum verhätschelten Schauspielers niemals verleugnete. Er trug es ihr nicht nach, daß sie aus dem niederen Volke stammte und daß sie gewisse, den Mädchen aus den Vorstädten eigene Manieren beibehielt, so z. B. ihr lautes Lachen oder verschiedene Redensarten oder ihre Lieder, welche sie mit leiernder Stimme hersang, wenn sie ihre bescheidene Garderobe ausbesserte. Sie hatte für den alten Schauspieler ein aufrichtiges Gefühl der Dankbarkeit und Freundschaft empfunden, während Mallet-Deshaumes – so hieß ihr jetziger Verehrer – in vieler Beziehung ihr einen lästigen Zwang auferlegte.

Er war ein bischen conventionell, der schöne Herr aus Lille, und wollte sich mit seiner Maitresse Ehre einlegen, wollte, daß sie Benehmen zeigte. Er hatte eine unangenehme Art und Weise, alle Augenblicke zu wiederholen: »Aber meine Liebe, so was sagt man nicht, so was thut man nicht,« und dabei strich er sich mit einem Schildpattkämmchen, das er stets bei sich trug, den goldenen Bart. Indem so der correcte Gentleman vier Jahre lang an ihr herumschulmeisterte, langweilte sich Nelly Robin zwar gehörig, erhielt aber Erziehung und wurde eine Dame, ohne indessen ihre natürliche Heiterkeit einzubüßen.

Nun kam eines Tages der Director des Vaudeville-Theaters nach Lille, um sich einen Komiker anzusehen, welcher daselbst mit großem Erfolge auftrat, weil seine Nase zwei Centimeter länger war als die des berühmten Hanswursts Hyacinth. Bei dieser Gelegenheit bekam er Nelly Robin zu Gesicht und war von ihrem Anblick wie geblendet. Sie war 28 Jahre alt und hatte den Höhepunkt ihrer Schönheit erreicht. Gerade um diese Zeit suchte er die schönsten Weiber zu engagiren, denn er wollte die »Dirnen« spielen, eines jener satirischen Lustspiele gegen den Luxus der Halbwelt, die damals in der Mode waren und worin die hübschesten Mädchen, mit Diamanten bedeckt, auf der Bühne erscheinen mußten, um die zornigen Tiraden des Sittenrichters einigermaßen zu rechtfertigen. Mit einem Contracte in der Hand kam der Director in Nellys Garderobe. – »Schnell, Feder und Tinte!« Sie unterzeichnete alsbald den gestempelten Bogen auf dem Toilettentische zwischen Schminken und Pomaden. Denn sie hatte die Provinz und die Lebemänner von Lille herzlich satt, die beim Souper vom Steigen der Baumwolle sprachen. Sie hatte genug von Mallet-Deshaumes und seinem decorativen Barte. Noch an demselben Abend brach sie mit ihm, und sechs Wochen später debütirte sie im Vaudeville in den »Dirnen«.

Die Rolle war klein. Sie trat erst im dritten Acte auf und hatte nur 25 Zeilen zu sagen. Aber bei der Première herrschte in den Couloirs eine Aufregung: »Nein, was das für ein hübsches Mädchen ist!« Die Pariser verloren die Köpfe. Im Foyer ließ sich eine Unmenge von Herren im schwarzen Frack und weißer Cravatte Nelly Robin, die man umringte, vorstellen. Ihr Director hüpfte vergnügt in der Schaar der Bewunderer herum. – »Liebe Freundin, ich stelle Ihnen Herrn Cohn vor.« Und der jüdische Bankier präsentirte seinen mit Breloques behängten dicken Bauch. – »Obrist Sagé von den Gardereitern.« Der Offizier knickte mit einer steifen Verbeugung zusammen wie ein Federmesser. Doch auf einmal machte Alles respectvoll einem etwa sechzigjährigen Herrn mit welken Lippen und hohlen Augen Platz. Der Director stürzte auf ihn zu: »Excellenz! …« – Es war Graf B…, der Rath des Kaisers. Er nahm die Schauspielerin bei Seite und sprach lange leise mit ihr. Sie hörte mit zu Boden gesenkten Augen zu.

Endlich konnte sie in die Garderobe zurückkehren und sich umkleiden; aber alle Augenblicke klopfte es: »tock, tock!« – Es war die Garderobière, die mit einer Visitenkarte und mit Blumen kam. Alle Blumenläden der Nachbarschaft wurden an jenem Abend geplündert. Sie wurde eine jener galanten Gebieterinnen, eine verschwenderische, luxuriöse Courtisane. Sie bewohnte ein eigenes Hôtel, besaß die theuersten Toiletten und fuhr die Avenue du Bois in einem kostbaren Wagen entlang, den ein Paar Pferde im Preise von fünfzehnhundert Louisdor zogen. Alle Photographen stellten in den Schaufenstern ihr Bild aus. Die Damen der Halbwelt platzten vor Neid, und die Damen der guten Gesellschaft ahmten ihre Hüte nach. Ein geschickter Schwankdichter schrieb ihr zwei oder drei leichte Rollen auf den Leib, in denen sie fast Talent zeigte und womit das Theater kolossale Einnahmen erzielte. Ihretwegen ruinirte sich Cohn an der Börse und floh nach Belgien, und die alte Herzogin von Esmont mußte ihre Güter verkaufen und ihren Sohn, der sich in wahnsinnige Schulden gestürzt hatte, unter Curatel stellen lassen. Gerade durch die abweisende Kälte, mit der sie die zahlreichen Anbeter behandelte, erzielte sie die größten Triumphe. Launisch, aus purem Trotz, sagte sie Nein und immer wieder Nein zu einer nordischen Hoheit, einem bildhübschen Fürsten, der extra ihretwegen in Paris blieb und sie allabendlich von seiner Loge aus anschmachtete. »Der kann warten, bis er schwarz wird!« pflegte sie lächelnd zu sagen. Doch sie hatte nicht mit Unrecht solch' große Erfolge. Sie war gutmüthig, klug und ungeziert; sie besaß den für ein Weib ihrer Art unschätzbaren Vorzug, daß sie allezeit lustig und guter Dinge sein konnte, sie entzückte und nahm für sich ein durch den Gegensatz zwischen ihrer vornehmen Schönheit und ihrer heiteren Lebensfreude. Sie bezauberte ihre Liebhaber geradezu. Man behauptete allen Ernstes, daß Sagé, der Oberst von den Gardereitern, für den der Kaiser hunderttausend Franken Schulden bezahlte, die jener ihretwegen gemacht hatte, bei Solferino den Tod gesucht habe, weil sie Nichts mehr von ihm wissen wollte.

Gefiel diese Lebensweise Nelly? War sie dabei glücklich? Mein Gott, ja! Sie sehnte sich durchaus nicht mehr nach jener Zeit zurück, wo sie Lamorlière die Wirthschaft geführt hatte. Wie sollte auch ein armes Mädchen, das ohne alle moralische Erziehung aufgewachsen war und in der frühesten Jugend bereits das Laster kennen gelernt hatte, nicht durch ein solches »Glück« geblendet werden?

In zwei Jahren hatte sie vier oder fünf Liebhaber, denen sie willfährig, ja, zu denen sie sogar liebenswürdig war; aber sie brachte sie alle, ohne es selbst zu wollen, an den Bettelstab. Es war ihre Schwäche und auch ihr Vorzug, daß das Gold in ihrer Hand verdampfte wie Wassertropfen auf glühendem Metall. Sie verschwendete ungeheure Summen mit unglaublichem Leichtsinn. Die Männer, die sich ihretwegen ruinirten, sie beklagte sie nicht einmal. Und sie hatte Recht. Keiner von ihnen hatte sie wirklich geliebt. Nicht aus Leidenschaft, sondern aus Genußsucht und Eitelkeit hatten dieselben nach ihrem Besitze gestrebt. In dem festlichen Trubel des eleganten Paris zur Zeit des Kaiserreichs lebte das schöne Mädchen, berauscht von den Triumphen, die es feierte, dahin, ohne zu ahnen, daß es ein Herz besaß.


III.

An einem Novembernachmittage kehrte Nelly Robin von einer langen Probe ermüdet heim. Sie hatte sich eben in ihrem Schlafzimmer auf der Chaiselongue ausgestreckt und rauchte eine russische Cigarette, als ihr die Kammerfrau, indem sie verächtlich ein schiefes Maul zog, eine ziemlich beschmutzte Visitenkarte überreichte, worauf die Schauspielerin folgenden Namen las:

 

Saint-Firmin,
zweiter Regisseur am kaiserlichen Odeon-Theater.

 

»Wie! lebt der arme gute Teufel wirklich noch? … Er soll gleich hereinkommen,« rief Nelly mit ihrem munteren Lächeln.

Das erinnerte sie an ihre Jugendzeit. Dieser Saint-Firmin war ein Komiker, der einstmals in Belleville mit ihr und Lamorlière zusammen gespielt hatte.

Er erschien auf der Thürschwelle, machte eine Verbeugung, die demüthig und anspruchsvoll zugleich war, und obschon Nelly ihn bereits seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte, so erkannte sie doch sofort den kleinen Mann mit dem Gesicht, das braun war wie die Farbe einer gekochten Kartoffel, und mit dem schwarzen Haar, das wie eine Perrücke am Schädel klebte. Er war ziemlich reducirt gekleidet und trug einen falschen Diamanten für vierzig Sous in der Cravatte aus rothem Satin

Sie konnte nicht einmal sagen, daß er gealtert hatte. Saint-Firmin hatte jene schwer auf ihr Alter zu taxirenden Gesichtszüge der Schauspieler, welche schnell welk werden, welche sich aber dennoch verhältnißmäßig lange gegen den Zahn der Zeit vertheidigen.

»Guten Tag, Saint-Firmin!« sagte Nelly herzlich und reichte ihm ihre schöne, warme Hand. – »Wie geht's Dir? Was ist inzwischen aus Dir geworden? … Das ist aber 'mal ein gescheidter Gedanke von Dir, daß Du Deine alte Collegin besuchst.«

Das trübselige Gesicht des Komödianten hellte sich auf. Der feindliche Blick der Kammerfrau und die kostbaren Tapisserien des Vorzimmers hatten ihn einen ganz anderen Empfang befürchten lassen.

Er reckte sich und reichte Nelly mit theatralischer Geberde die Hand.

»Na! ich sehe, daß Du ein gutes Mädel geblieben bist wie früher zu Lamorlières Zeit.«

Und indem er seine wirkliche Bewegung noch übertrieb und in seinen aufgerissenen Augen die Thräne, welche den Leuten vom Theater immer zur Verfügung steht, erblinken ließ, fuhr er fort:

»Man hat gut über sie reden … es geht dennoch nichts über die Künstler.«

Sie hieß ihn neben sich niederzusitzen auf einem bequemen Lehnsessel.

»Nun, Saint-Firmin, womit kann ich Dir helfen? … Auf Deiner Karte hab' ich gesehen, daß Du jetzt am Odeon, an einem kaiserlichen Theater bist … Entschuldigen Sie, daß ich … Aber als Regisseur … Du spielst also nicht mehr Komödie? …«

– »Nein,« erwiderte er, »ich habe vorläufig auf die Bühne verzichtet … ich bin nur noch bei der Leitung beschäftigt.«

In Wahrheit war seine Hauptbeschäftigung am Odeon, die Rufe und die Coulissengeräusche zu machen und auf Treppen und Gängen mit einer Klingel herumzulaufen. Er war der rollende Donner, der plätschernde Regen, der heulende Wind. Er war die rasselnde Postschaise, welche davon fährt, der Papagei der alten Dame, welche schreit: »Hast Du gefrühstückt, Lora?« Der Stoß Teller, welcher klirrend zu Boden fällt, die Uhr, welche beim Eintreten des Verräthers die Mitternachtsstunde mit zwölf schaurigen Schlägen verkündet, der Pistolenschuß des Verzweifelten, der sich an der Straßenecke eine Kugel durch den Kopf jagt. Doch dank der Illusionsfähigkeit der Komödianten, dank ihrer Gabe, Alles in ein glänzenderes Licht zu stellen, sprach er jenes Wort »Leitung« aus, als wenn er Bankdirector oder Präsident irgend einer Eisenbahngesellschaft gewesen wäre.

»Ich kann mir denken,« … sagte Nelly mit freundlichem Lächeln. »Hundertfünfundzwanzig Franken monatlich, nicht wahr? … Solltest Du Dich in momentaner Geldverlegenheit befinden, so genire Dich nicht … Du weißt ja …«

Doch der alte Mime war, obwohl sehr arm, ein rechtschaffener Mensch, der Etwas auf Anstand und Würde gab. Er machte die klassische Geste der Ablehnung, die Geste des Hippokrates vor den Geschenken des Artaxerxes und sagte, ohne sich verletzt zu fühlen, sondern im Gegentheil von Nellys edlem Anerbieten gerührt:

»Ich danke, Robin, ich brauche Nichts. Man ist nicht reich, aber man schlägt sich so durch … Nein, ich komme, Dich um etwas viel Wichtigeres zu bitten … Ich protegire einen jungen Dichter und hab' mir in den Kopf gesetzt, seinem ersten Stücke zu einer Aufführung zu verhelfen.«

Angesichts der trübseligen Miene des Biedermannes versuchte Nelly vergebens ein mitleidiges Lächeln zu unterdrücken. Sie kannte das Theater und wußte, daß der Einfluß eines zweiten Regisseurs im günstigsten Falle gerade ausreiche, um der Tochter eines Portiers, welche ihre Abende frei hat, eine Statistenrolle zu verschaffen.

»Höre und staune!« sagte Saint-Firmin. »Es handelt sich um keine Rolle für Dich, noch überhaupt um ein Stück für's Vaudevilletheater … Das Werk, von dem ich rede, ich möchte, daß die Schauspieler des Kaisers es im Théâtre Français zur Ausführung brächten. Und das wäre auch nicht mehr als billig … Du hast nun glänzende Beziehungen – ja ja, mein schönes Fräulein, wir wissen das – Beziehungen, welche bis in's Ministerium, ja sogar bis in die Tuilerien reichen, und wenn Du Dich für meinen jungen Mann interessiren willst, so kannst Du viel für ihn thun … Du siehst, liebe Robin, was ich von Dir erwarte, ist eine Gefälligkeit, an der ich persönlich gar nicht interessirt bin … Es handelt sich nicht um ein umfangreiches Werk«, fügte er hinzu, indem er aus der Tasche seines Ueberziehers ein kleines Heft hervorzog … »nur um einen Einacter in Versen … Aber es ist etwas Köstliches, es sei denn, daß ich Nichts von der Sache verstünde .Und ich verstehe mich darauf … Du weißt doch noch in Belleville? … Man nannte mich da immer den Dramaturgen … Also darf ich auf Dich rechnen, Robin?«

Nelly fühlte sich sehr geschmeichelt. Bisher hatte sie alle Welt, ihr Director, ihre Collegen, selbst ihre Liebhaber nur als schönes Weib betrachtet, und das war Alles gewesen. Der alte Saint-Firmin, der zu ihr schlechthin als Künstlerin sprach, kitzelte die Eitelkeit des schönen Mädchens. Sie versprach ihre Unterstützung und wollte wissen, wie der Protégé des alten Regisseurs hieß.

»Nun, erzähl' mal, Alterchen,« sagte sie heiter: »Wie hast Du ihn kennen gelernt? … Wo hast Du ihn getroffen?«

– »In der Garküche! sehr einfach,« antwortete der gute Mann. »Meiner Treue, Du kannst Dir denken, Robin, daß ich nicht im ›Englischen Café‹ zu Mittag esse und daß ich nicht gleich beim ersten Glase eine andere Flasche Champagner für 20 Franken geben lasse unter dem Vorwande, daß die erste nach dem Korken schmecke. Ich nehme meine Mahlzeiten bei einem Weinkaufmann in der Rue Vaugirard ein, an welche eine Kutscherstube anstößt. Daselbst habe ich mein Dichterlein bemerkt, der, wie Du mir glauben kannst, sich kein Beefsteak mit Bratkartoffeln und keinen Schoppen Rothwein leisten darf. Der arme Tropf! Dazu reichen seine Mittel nicht aus. Er begnügt sich gewöhnlich mit einem Menu für fünfzig Centimes, welches aus Brot, Suppe und ausgekochtem Rindfleisch besteht, und dazu trinkt er eine Flasche ›Pumpenheimer‹. Der gute Junge gefiel mir auf den ersten Blick. Aermlich, aber sauber. Seine blonden Haare glänzen goldig im Sonnenschein, er trägt einen kleinen, am Kinn getheilten Bart, hat braune schüchterne Augen, die sich zu Boden senken, wenn man ihn anblickt, mit einem Worte, er schaut sanft und traurig drein, wie ein 25jähriger Christus. Ich mochte ihm noch so oft Oel und Mostrich hinüberreichen, es war nicht möglich, mit ihm ein Gespräch anzuknüpfen. Als ich ihm aber endlich beigebracht hatte, daß ich ein alter Künstler wäre, der seit 30 Jahren Komödie spielte und am Odeon engagirt sei, da hatte er keine Furcht vor mir und wurde aufgeknöpfter … Wir sind mitsammen im Park von Luxemburg spazieren gegangen, und dort hat er mir, während wir um den Springbrunnen herumwandelten, sein allerliebstes kleines Stück auswendig vorgetragen. Bei der zwanzigsten Runde sagte er den letzten Vers. Ich war ganz weg! Vor dem Schwänehause habe ich ihn umarmt. Er hat mir sein Manuscript anvertraut. Ich hab's nochmals gelesen. Famos! Allein, Du begreifst, was konnte ich für ihn thun. Sollte ich von dem Stücke mit dem Director des Odeons sprechen? Ich, der zweite Regisseur? Er würde zu mir gesagt haben: ›Schön, schön,‹ würde darauf das Ding in eine Schublade geworfen und mir den Auftrag gegeben haben, in der Garderobe einen Zettel anzuschlagen, der besagte, daß die dumme Gans, die Deborah, zwanzig Franken Strafe zu zahlen habe, weil sie nur dann pünktlich zur Probe käme, wenn ihr kleiner Unter-Lieutenant Arrest hätte … Und dann sagte ich mir auch: ›Du brauchst ja nicht gleich mit dem Kopf durch die Wand zu rennen. Wer kann Dir hierbei behilflich sein?‹ fragte ich mich. Und da dachte ich gleich an Dich, mein schönes Kind. Ich wußte, daß Du Dein Glück gemacht hattest, ich hatte mir erzählen lassen, daß Du den General-Intendanten persönlich kennst und außerdem noch eine Unmenge anderer großer Thiere … Und ich hab' vielleicht ganz gut daran gethan, Dich zu besuchen, denn Du bist immer noch das gute Mädel, das Du früher warst … Ach, wie würde ich mich freuen, wenn's Dir gelingen möchte … denn, ohne Scherz: ich hab' den Jungen sehr lieb gewonnen. Er ist gerade so alt, wie meiner jetzt sein könnte, wenn ich geheirathet hätte oder wenn ich eine Geliebte gehabt hätte. Doch Du weißt ja, wie das ist. Alles ist immer nur für die ersten Rollen da. Unsereins, beim komischen Fach ist nur im besten Falle im Stande, eine flüchtige Neigung zu erwecken. Ich bin allein alt geworden wie eine Coulissenratte … Na, Du hast nun das Manuscript nebst Namen und Wohnung. Thu, was Du kannst, und sobald Du Näheres weißt, so schreib' mir, ich will Dir dann meinen jungen Dichter herschicken. Denn ich hab' ihm Nichts von diesem Schritte erzählt, für den Fall, daß es mißglückte.«

»Und wie heißt denn Dein Günstling, Saint-Firmin?« fragte Nelly Robin, welche während der malerischen Erzählung des Komödianten träumerisch und sinnend an jenen armen, unbekannten und hübschen Dichter denken mußte.

»Jean Delly … und dieser Name wird dereinst berühmt werden, dafür stehe ich Dir.«

»Ich will mich gleich morgen für Deinen jungen Mann verwenden,« versetzte Nelly. »Es trifft sich gerade gut, daß ich morgen mit einigen einflußreichen Persönlichkeiten soupiren muß … Ich hoffe, Alterchen, Du wirst bald gute Nachrichten von mir erhalten. Jetzt aber muß ich Toilette machen. Ich speise heut außerhalb.«

Sie streckte dem alten Regisseur ihre Hand hin, die dieser artig nach den strengsten Vorschriften des Theaterstils küßte. Dann entfernte er sich, guter Hoffnung voll.


IV.

Frau Delly, die Wittwe eines Infanterieoffiziers, welcher in der Krim der Cholera erlegen war, hatte durch Protection in Beauvais die Leitung eines Tabakladens erhalten. Dieser war ihre alleinige Einnahmequelle. Ihr einziger Sohn, der auf dem Gymnasium seiner Vaterstadt eine Freistelle erhielt, machte daselbst gute Fortschritte, obwohl er eine schwächliche Gesundheit besaß und oft träumerisch und zerstreut war. Mit neun Jahren verlor er seine Mutter, und nachdem die Begräbnißkosten bezahlt waren, hatte er keine hundert Franken in der Tasche. Mit dem problematischen Zeugnisse eines Baccalaureus versehen und dem Hirn voller vager Pläne und schöner Träume kam er nach Paris und fristete dort ein kümmerliches Dasein. Der bedauernswerthe junge Mann, in dem eine Flamme reinster Begeisterung glühte, mußte Schreiberdienste verrichten und verkaufte außerdem an die Schüler höherer Lehranstalten ein wenig von seiner classischen Bildung. Der Dichter mit der feinen, zarten Empfindung trug gebrauchte Stiefeln, welche er bei dem Schuhflicker billig erstand, und aß in übelriechenden Kneipen die breite Bettelsuppe der Tagelöhner. Er hatte keine Angehörigen. Sein Vater hatte lange vor seinem Tode die wenigen Verwandten, die er besaß, aus dem Gesichte verloren. Seine Mutter war ein natürliches Kind gewesen, und als der Offizier sie aus Liebe heirathete, mußte er das Militärreglement, das, wie man weiß, eine gewisse Mitgift vorschreibt, heimlich umgehen. Wohl hatte Delly während seiner Schulzeit einige Freundschaften geschlossen, und die meisten seiner ehemaligen Mitschüler wohnten in Paris. Doch diese gehörten wohlhabenden Familien an, und der Dichter in seinem Stolze suchte keinen von ihnen auf, ja er mied sie sogar geflissentlich.

So lebte er drei Jahre lang in schrecklicher Vereinsamung Er bewohnte in einem alten Hause am Quai Saint-Michel eine elende Mansarde, in der man im Sommer vor Hitze umkam, während Einem im Winter das Waschwasser im Kruge gefror. Die Kammer war gar zu traurig. Delly hielt sich darin nur auf, um den schönen Schlaf der Jugend zu schlafen. Er langweilte sich furchtbar. Ach, die langen Stunden, die er mit niederem Gesindel, mit betrunkenen Copisten zusammen im Schreibbureau verbringen mußte, bis tief in die Nacht hinein, um lumpige drei Franken zu verdienen. Dann konnte er endlich, nachdem er Seite an Seite gefügt, mit Schmerzen im Kreuz und mit dem Krampf in der Hand heimkehren. An einigen Tagen der Woche gab er in kleinbürgerlichen Häusern Unterricht, die Stunde für vierzig Sous. Und auch dies war eine wenig erfreuliche Beschäftigung, wenn er so neben seinen unsauberen Buben sitzen mußte, die sich mit den Fingern in der Nase herumstöberten und sich die Federn in den Haaren abwischten.

Dabei konnte er noch von Glück reden, wenn er Abschriften zu machen oder Nachhilfestunden zu geben hatte. Seine leider allzu zahlreichen Mußestunden verbrachte er mit Lesen auf der Bibliothek Sainte-Geneviève, oder er füllte sie mit ziel- und endlosen Spaziergängen aus, bei denen er, langsam schlendernd, seinen Träumereien nachhing.

Bei einer solch' erbärmlichen Lebensweise hätte der arme Dichter schließlich geistig verkommen müssen. Er schrieb Nichts mehr und fügte der Sammlung seiner zarten sinnigen Gedichte, die er trotz alledem in weniger schlimmen Stunden verfaßt hatte, keine Zeile hinzu.

Jean Delly war bereits der Verzweiflung nahe, da rettete ihn die Liebe.

Es war an einem Junisonntage. Die Luft war, nachdem es soeben aufgehört hatte zu regnen, lau und feucht. Jean Delly wandelte im Jardin des Plantes einher. Dem aufgeweichten Erdboden entströmte ein Geruch von frischem nassen Grün. Aus der Menagerie herüber ertönte in Einem fort seltsames Vogelgeschrei. Jean bewunderte die rothen Trauben an den Bäumen aus Palästina, welche Buffon hierher verpflanzt hatte. Da begegnete ihm die, welche seine Freundin werden sollte.

Ihre Handschuhe waren gerade nicht mehr gut, ihre Schuhe nicht mehr neu zu nennen. Im Monat Juni trug sie ein schwarzes Kleid! Sie hatte einen garstigen Strohhut auf, welcher mit drei Kornblumen garnirt war. Doch welch' ein Glanz, was für eine jugendliche Frische strahlte aus diesem gesunden, zwanzigjährigen Gesichte, das von dichtem rothen Goldhaar umrahmt war!

Ein Kenner würde vielleicht auch die schönen Körperformen des Mädchens mit Wohlgefallen betrachtet haben, doch Jean Delly sah nur die dunkelbraunen Augen, die ihn sanft anblickten

Sie war offenbar arm wie er und machte ebenfalls ihren Sonntagsnachmittagsspaziergang. Instinctiv folgte er ihr einige Schritte. Sie ging in die Menagerie und blieb vor den Zebras stehen. Er machte ebenfalls nicht weit von ihr Halt, und zum zweiten Male begegneten sich die Blicke Beider. Das schlichte Volk liebt nicht die langen Idylle, und so standen sie denn bald darauf dicht nebeneinander über die Brüstung des Bärenzwingers gelehnt. Und wiederum eine Weile später, als sie bei den Antilopen vorbeikamen, hatte Jean Delly, dessen Lippen trocken und dessen Ohren glühend roth waren, den Muth zu sagen: »Ach die hübschen Thiere, nicht, Fräulein?« So kam, wenn auch Anfangs nur stockend, ein Gespräch in Gang. Vor dem Affenhause tauschten sie ihre Namen aus, und als die Wandelgänge des Gartens sie zum zehnten Male zum Elephanten führten, da gaben sie sich den Arm und waren in eine so interessante Unterhaltung vertieft, daß sie jetzt garnicht mehr daran dachten, dem Dickhäuter Roggenbrot anzubieten, obwohl dieser seinen Rüssel mit einer Geduld, die einer besseren Sache werth war, nach ihnen ausstreckte.

Sie, gnädige Frau, die Sie dreimal am Tage sich an- und ausziehen, ärgern sich jetzt vielleicht, wenn Sie mich lesen. Erstens nämlich würden Sie niemals zu bemerken geruhen, daß ein junger Mann hübsche Augen hat, wenn er nicht Ihrer Gesellschaftssphäre angehört und wenn er Ihnen nicht in aller Form vorgestellt wäre. Und sodann würden Sie auch, bevor Sie ihn Ihre Schwäche ahnen ließen, ihm alle nur möglichen Geduldproben auferlegen. Er hätte sie erst bei unzähligen Diners, Thees und Vorstellungen in der Comédie-Française und der Oper treffen müssen. Er wäre gezwungen gewesen, sich fünf- oder sechsmal im Hintergrunde Ihrer Loge die »Favoritin« anzuhören, ehe Ihr Blick gelegentlich des großen Duetts: »Oh, komm', komm', Dir will ich mich ergeben« ermuthigend den seinigen getroffen hätte und wahrscheinlich erst nach drei Bällen und einem Dutzend Walzern hätte Ihre Hand die seinige bedeutsam gedrückt –

Nicht als ob Sie, schöne Frau, ein Ausbund von Tugend wären, aber Sie verlangen eine bestimmte Werbezeit von Ihrem Verehrer. Werden Sie es dem armen Kinde, das Jean Delly im Jardin des Plantes traf, verzeihen, daß es so wenig Umschweife machte? Vielleicht halten Sie gar das Mädchen für schamlos. Doch es war eben nur freimüthig und naiv. Während jenes Spazierganges durch die Menagerie am Arme des Dichters mit der sanften Stimme und den traurigen Augen hatte Marie im Herzen ein geheimnißvolles Maßliebchen entblättert: »er liebt Dich … von Herzen … mit Schmerzen« u. s. w., und auf den letzten Stiel war das Wort: »kann's garnicht lassen« gekommen. Alsbald hatte Jean Marie erzählt, daß er allein und unglücklich wäre, und Marie äußerte sofort darauf den hochherzigen Wunsch, seine Genossin zu werden und ihm ein wenig Glück zu bringen. Doch, glauben Sie mir, gnädige Frau: allzu schnell gab Marie dennoch nicht dem Ungestüm seiner zärtlichen Liebe nach. Sie war ein Weib, wie Sie es sind, und wie Sie besaß sie Schamgefühl und sogar auch ein bischen Koketterie. Acht Tage waren erforderlich und drei Rendezvous zur Abendzeit in der friedlichen Rue Cuvier, bevor sie sich entschloß, zu Jean in die Mansarde am Quai Saint-Michel hinauszukommen Aber in jener Frühlingsnacht wurde da oben im Mondenscheine, der die Dachstube erleuchtete, ein Fest von Thränen und Küssen gefeiert, wie ich Ihnen, gnädige Frau, nur eines wünschen möchte, nachdem Sie für gut befanden, daß Ihnen Ihr Verehrer genügend den Hof gemacht hat und Ihrer Gegenliebe würdig ist.

Marie, bereits mit zehn Jahren Waise, war von einem Onkel, einem Eisenbahnbeamten, aufgezogen worden. Dieser war ein rechtschaffner und nicht mehr junger Mann, ein kinderloser Wittwer. Aus Gutmüthigkeit und auch, weil er es bequem fand, beim Heimkommen den Tisch gedeckt und das Bett gemacht zu sehen, hatte er die Nichte zu sich genommen. Später war dieselbe Lehrmädchen und späterhin Gehilfin bei Frau Indiana, einer sehr beschäftigten Modistin, geworden. Sie bekam aber daselbst nur einen geringen Gehalt, denn sie war nicht sehr geschickt. Man verwandte sie deshalb hauptsächlich dazu, geschäftliche Gänge zu besorgen. Ihr alter Onkel überwachte sie so gut wie gar nicht.

Als sie Jean Delly kennen lernte, war sie nicht mehr unschuldig. Pflegen doch die Unterhaltungen der Mädchen in derartigen Ateliers mitunter sehr indecent zu sein. Nachdem sie im Alter von sechzehn Jahren von einem Ladenschwengel verführt und bald darauf verlassen worden war, hatte sie einen gewissen Abscheu vor den Männern bekommen und war vorsichtig genug, sich mit keinem Anderen mehr einzulassen. Indessen, die Liebkosungen eines Dichters, der in Allem, was er sprach und that, das Weib in ihr respectirte, berauschten und verführten sie. Die beiden jungen Leute, welche Nichts hatten als ihre Küsse, beteten einander an. Marie mußte in Einem fort an ihren Freund denken, sei es nun, daß sie im Atelier saß und nähte oder durch die Straßen von Paris lief. Ja selbst, wenn sie des Abends zu Bette ging und sogar noch im Traume verfolgte sie sein Bild. Und Jean lebte nur noch der Minute, wo Marie zwischen einer Besorgung und der andern zu ihm heraufkam, ihre Hutschachteln unter'm Arm, das Paradies im Auge und im Herzen.

So kam neue Lebenslust über den Dichter, er fing wieder an zu arbeiten, und in einigen Stunden reiner, begeisterter Freude schrieb er in Dialogform jenes entzückende Idyll »Die Sternennacht« nieder, das später nach der Aufführung im Théâtre Français von Seiten des Publicums ihm die Bezeichnung »Theokrit von Paris« eintrug.

Jean las zuweilen Marie seine Verse vor. Sie hörte ihm begeistert und vielleicht mit mehr Gefühl als mit Verständniß zu. Ihn beseligte es, bewundert zu werden, und seine Zärtlichkeit für Marie wuchs infolgedessen noch. Allerdings, er liebte sie nicht mit gleicher Innigkeit wie sie ihn. Bei einer derartigen Musik giebt es nicht einen vollkommenen Accord. Jean war gut, aber er besaß ein beträchtliches Theil Egoismus wie alle wahrhaften Künstler. Trotzdem vermochte er nicht ohne Wärme und ohne innerliche Zufriedenheit an diese schlichte Freundin zu denken, die sich ihm mit Leib und Seele hingegeben und die sich besinnungslos in seine Arme geworfen hatte, wie man sich in einen Abgrund stürzt. Er vermochte sich sein Leben nicht mehr vorzustellen ohne sie; und da er, im Grunde genommen, billig und gerecht dachte, so träumte er nicht von Glück und Erfolg, ohne daß er in seiner Phantasie die mit einbegriff, welche ihm in seinem gegenwärtigen Elend eine Trösterin war.

So liebten sich Jean und Marie bereits seit mehreren Jahren mit einer Liebe, deren eben nur die armen Leute, welche keinen anderen Genuß und keine andere Zerstreuung kennen, fähig sind. Schüchtern von Natur und aller Initiative bar, lebte der junge Mensch dahin, arbeitete wohl hin und wieder, suchte aber keine Gelegenheit auf, die ihn zur Geltung bringen könnte. Da führte ihn der Zufall in dem Wirthshaus, wo er zu speisen pflegte, mit dem alten Saint-Firmin zusammen. Jean Delly hatte keineswegs an's Theater gedacht, als er seine »Sternennacht« schrieb, und der Enthusiasmus des Komödianten nahm ihn daher Wunder. Mit nicht viel Hoffnung vertraute er ihm sein Manuscript an. Was hätte auch ein armer Unter-Regisseur am Odeontheater ausrichten können? Um so größer war deshalb das Erstaunen des Dichters, als er vierzehn Tage später einen äußerst liebenswürdigen Brief erhielt, worin ihn der Leiter der Comédie Française eigenhändig zu seinem Werk beglückwünschte und ihn einlud, ihn baldigst zu besuchen.


V.

Noch an demselben Abend, wo Saint-Firmin ihr das Manuscript übergeben, hatte Nelly Robin es im Bette gelesen. Das hübsche Mädchen verstand nicht viel von Litteratur. Wie viele Schauspielerinnen lernte sie ihre Rolle auswendig, ohne das Stück zu kennen, und schließlich machte sie ihre Sache ganz leidlich, nachdem Verfasser und Regisseur sie in den Proben gehörig gedrillt hatten. Doch für Verse, für gereimte Phrasen, die von Liebe sprachen, hatte sie jenes instinctive Gefühl, das die Mädchen der Vorstädte bereits als Schulkinder bekunden, indem sie auf den Schreibheften für 10 Centimes eifrig den Text der Romanze zu entziffern suchen, welche der Leiermann, seinen Kasten drehend, mit näselnder Stimme hersingt. Die Musik in Jean Dellys Gedicht war köstlich. Dieselbe rührte Nelly und schien ihr noch weit schöner als die Couplets, die sie als kleines Gassenmädchen auf den Straßen gesummt hatte. Sie schlief endlich ein und träumte von dem jungen Dichter, der mit den Kutschern zusammen essen mußte und dessen Verse ihr so zu Herzen gegangen waren.

Der Geliebte Nellys war damals der Herzog von Eylau, der natürliche Sohn des heldenhaften Marschalls, des ehemaligen Tambours, welcher auf der Brücke von Arcole neben Napoleon zum Angriffe getrommelt hatte.

Er war ein hübscher, ein wenig blasirter Mann, von eleganten Manieren, doch von weniger als mittelmäßiger Intelligenz. Das zweite Kaiserreich hatte aus ihm nicht mehr als einen Kammerherrn machen können. Beim Souper, welches der Herzog am folgenden Tage in einem vornehmen Restaurant einigen Freunden aus den Tuilerien gab, erschien Nelly mit dem Manuscript Jean Dellys. Es war nicht gerade eine für Liebespoesien empfängliche Gesellschaft da versammelt. Lauter Leute mit grauen Köpfen und steifen Hälsen. Aber zur Rechten der Schauspielerin saß Herr Caduc, der Privatsecretär und intimste Freund des Kaisers. Er war ein wohlwollender, litterarisch hochgebildeter Mensch, von ungeheurem Einfluß auf das Theater. Dieser mußte ihr das Versprechen geben, die »Sternennacht« zu lesen. Acht Tage darauf erhielt Nelly von Caduc eine Karte folgenden Inhalts: »Ein kleines Meisterwerk. Ich begebe mich sofort nach der Comédie Française.«

Nelly schrieb hocherfreut über den Erfolg ihrer Empfehlung an Saint-Firmin Doch der arme alte Mime bekam den Brief nicht zu lesen. Drei Tage lang lag er bereits im Hospital todtkrank darnieder. Und da er dem Dichter von seinem Besuch bei der Schauspielerin Nichts gesagt hatte, so erhielt diese keine Antwort und war beleidigt wegen des Schweigens, in das sich Saint-Firmin und sein Günstling hüllten. Bald hatte sie im Strudel der Vergnügungen Beide vergessen.

Indessen das mitunter recht launenhafte Glück entschädigte plötzlich Jean Delly für seine unberühmte Vergangenheit.

Noch waren nicht vierzehn Tage verstrichen, seitdem er Saint-Firmin das Manuscript übergeben hatte, als er eines Morgens ein Billet vom Director der Comédie Française erhielt. Marie konnte ihn an diesem Tage nicht besuchen, und der Umstand, daß er die gute Kunde seiner lieben Freundin nicht alsbald mittheilen konnte, erfüllte den Dichter trotz seiner ausgelassenen Freude mit einem Gefühl von Traurigkeit. Heut war auch nicht einmal im Hospital Besuchszeit, sodaß er selbst nicht dem alten Saint-Firmin seinen heißen innigen Dank aussprechen durfte.

Mit klopfendem Herzen und schier beängstigt von seinem Geheimniß, machte Jean Delly, nachdem er den räthselhaften Brief mindestens zehn Mal durchgelesen, sorgfältig Toilette, um sich nach dem Théâtre Français zu begeben. Zum Glück hatte er einen passablen Gesellschaftsrock und eine nette Cravatte, ein Geschenk Maries. Er verließ das Haus. Die schmutzigen Straßen machten auf den Glücklichen einen festlichen Eindruck, der wolkenschwangere, traurige Novemberhimmel schien zu lachen, und die Leute, die er unterwegs traf, kamen ihm vor, als wären sie die verkörperte Güte und Freundlichkeit.

Jean hatte noch mehrere Stunden Zeit bis zu seinem Besuch. Er ging nach der Rue Monsieur-le-Prince, um einem seiner Schüler Unterricht zu geben. In seiner Erregtheit übersah er diesem den schrecklichen Barbarismus » Romanibus« im lateinischen Exercitium. Die Folge davon war, daß der arme Schlucker von Gymnasiast bis an's Ende des Schuljahres für diesen entsetzlichen Schnitzer die ärgsten Sticheleien von Seiten seines Ordinarius zu ertragen hatte.

Darauf wanderte Jean nach der Garküche. Und während er nun in Gesellschaft von Droschkenkutschern speiste, glaubte er mit den Göttern des Olymps bei Tische zu sitzen und Nektar und Ambrosia zu genießen, obwohl man in Wirklichkeit ihm nur einen in ranzigem Oel gebackenen Kalbskopf und einen Schoppen höchst verdächtigen Weines vorgesetzt hatte. Nach dem Mittagsessen machte er sich festen Schrittes und erhobenen Hauptes auf den Weg.

Doch kaum war er vor dem berühmten »Molière-Hause« angelangt, als seine ganze Begeisterung schwand. Es überkam ihn auf einmal eine unbeschreibliche Schüchternheit. Auf der Wendeltreppe schienen ihn die prachtvollen Portraits und die stolzen Büsten der berühmten Schauspieler der Vergangenheit anzublicken, als wollten sie sagen: »Was will denn dieser armselige Gesell bei uns?« Und der Portier, dem er seinen Namen nannte, musterte ihn mit einer so verächtlichen Miene, daß er sich fragte, ob er nicht geträumt habe, oder ob er wirklich nach dieser Stätte des Hochmuths berufen worden sei.

Der Dichter fand indessen in Gegenwart des General-Intendanten, der ihn auf's Schmeichelhafteste empfing, seinen Gleichmuth wieder. Sein Stück würde binnen Kurzem, in zwei oder spätestens drei Monaten, von dem Lesecomité geprüft und gleich darauf angenommen und gespielt werden. Herr Caduc hätte den kaiserlichen Schauspielern einen außerordentlichen Dienst geleistet, indem er dieses kleine Meisterwerk zu ihrer Kenntniß gebracht habe. Nun begriff der junge Mann mit Staunen, daß er vom Hofe protegirt wurde. Und als er verwirrt Dankesworte stammelte, da antwortete ihm der Intendant:

»Danken Sie Herrn Caduc. Besuchen Sie ihn nur. Er ist ein Mann von feinem litterarischen Geschmack und wohnt hier ganz in der Nähe, Rue de Rivoli …«

Jean begab sich alsbald dahin und wurde in ein schönes, hellerleuchtetes Bibliothekszimmer geführt, dessen beide Fenster nach dem Garten der Tuilerien hinausgingen Der liebenswürdige Greis ließ nicht lange auf sich warten und begrüßte ihn mit der gewandten Eleganz eines Hofmannes:

»Sie sind mir zu keinerlei Danke verpflichtet. Im Gegentheil, ich bin stolz darauf, dem Publikum mit Ihrer Dichtung dieselbe Freude zu bereiten, welche ich bei der Lectüre dieser reizenden Verse empfunden habe … Uebrigens habe ich das Werkchen selbst erst von anderer Seite empfangen und zwar aus den Händen der Schönheit. Nelly Robin vom Vaudeville-Theater hat mir Ihr Manuscript übergeben. Sie sagte, daß sie es von einem Ihnen bekannten Schauspieler bekommen habe …«

Und als der junge Mensch in immer größeres Erstaunen gerieth, fügte Caduc hinzu:

»Wußten Sie es denn nicht? … Ja, ja, das Pariser Leben, von dem man viel zu viel Schlechtes spricht und in dem trotz alledem ein Mensch von Verdienst nicht lange unverborgen bleibt, bringt mitunter wunderbare Zufälle mit sich … Legen Sie also Fräulein Robin Ihren Dank zu Füßen. Sie spielt heut Abend; Sie werden sie in ihrem Garderobenzimmer finden … Und ich bin überzeugt,« so schloß der freundliche Greis mit einem Lächeln, das ein ganz klein wenig verschmitzt aussah, »der Dichter wird ihr ebenso gut gefallen wie die Dichtung.«

Nelly Robin! … Jean Delly wiederholte diesen Namen in Einem fort, indem er durch die Straßen von Paris dahineilte. Er hatte diesen Namen bisweilen in der Zeitung gelesen, und mit demselben verband sich ihm die Idee der Freude, des Reichthums und der Ueppigkeit. Er hatte bei den Photographen das Bild der blendend schönen Schauspielerin gesehen. Also Nelly Robin verdankte er diesen Dienst! Er fühlte sich seltsam bewegt bei dem Gedanken, daß dieses schöne Wesen, das, man mochte ihr nachreden, was man wollte, doch immerhin eine Künstlerin war, ihn aus dem Elend und aus dem Dunkel emporziehen würde.

»Wenn ich morgen Marie mein Abenteuer erzählen werde, wird sie diese Nelly Robin anbeten,« dachte er.

Doch alsbald stieg ihm ein Zweifel in dieser Hinsicht auf.

»Wer weiß? Marie wird es vielleicht verdrießen, daß dieses Glück von einem anderen Weibe kommt … Pah, ich werde ihr die Sache schon auseinandersetzen.«

Und nun ging es über die Champs-Elysées, wohin der Zufall seine Schritte gelenkt hatte. Das Bild seiner kleinen Freundin begann ein wenig in seiner Erinnerung zu verblassen bei dem Gedanken an die schöne Wohlthäterin. Ach, wie viele Stunden mußten noch vergehen, bevor er sie sehen konnte. Sie würde ihn in ihrer Garderobe empfangen. Er sollte in die Geheimnisse des Theaters eindringen, hinter jene mysteriösen Coulissen gehen, hinter denen seine naive Phantasie eine Märchenwelt verborgen glaubte. Er fühlte sich so unsicher, daß er fürchtete, er würde sich linkisch und ungeschickt benehmen. Wie sollte er das passende Wort und den richtigen Ton finden, ihr zu danken? Und dann würde sie lächeln und ihm die Hand reichen …

Der empfindsame Dichter schrieb die Unruhe seines Herzens dem Dankbarkeitsgefühle zu, das ihn beherrschte.

An jenem Abende war Nelly bei schlechter Laune, als sie in's Theater kam. Erstens hatte sie nämlich mit dem vierundfünfzigjährigen Herzog von Eylau eine schrecklich langweilige Partie Bézigue von vier bis um sechs Uhr spielen müssen, und sodann hatte sie der Kammerherr es auch entgelten lassen, daß der neu erschienene Gotha'sche Hofkalender einen genealogischen Irrthum enthielt. Wie der Sturmwind war Nelly in ihr Ankleidezimmer geeilt und hatte dabei eine Garderobenfrau fast über den Haufen gerannt. Indessen unfähig, lange böse zu sein, hatte sie sich im Pudermantel an den Toilettentisch gesetzt und begann sich zu frisiren, als der Theaterdiener ihr melden kam, daß ein gewisser Herr Jean Delly beim Portier sei und sie einen Augenblick zu sprechen wünsche.

»Jean Delly? … Wer ist das, Jean Delly? … Ah, ja, der junge Dichter, der Freund Saint-Firmins … Na, der hat sich aber 'mal Zeit genommen, mir seinen Dank zu sagen … Er soll hereinkommen.«

Sie nahm sich vor, trotz alledem liebenswürdig zu sein und dem genialen jungen Manne einen freundlichen Empfang zu bereiten.

Und als er nun auf der Thürschwelle erschien, kreideweiß im Gesicht vor Aufregung, da erhob sie sich, und, ohne den Pudermantel, der über dem kostbaren Mieder geöffnet war, zu schließen, ging sie auf ihn zu und streckte ihm beide Hände entgegen,

»Kommen Sie nur näher, damit man Sie beglückwünscht, mein Herr … Ihr kleines Stück ist allerliebst, und ich hoffe, es wird bald aufgeführt werden … Kommen Sie nur weiter, lassen Sie sich doch 'mal anschauen … ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Sie zog ihn in's Zimmer herein und hieß ihn neben ihr auf einem schmalen Divan niedersitzen. Und während nun Jean, in Folge des herzlichen Empfanges, des Parfüms ihrer Kleidung, des warmen Druckes ihrer Hände und überhaupt der Berührung mit dem schönen Weibe verwirrt und entzückt, Worte des Dankes stammelte, betrachtete sie ihn mit Aufmerksamkeit.

Nelly zählte bereits dreißig Jahre und hatte eine ziemlich schwelgerische Vergangenheit hinter sich. Dennoch überkam sie plötzlich ein ganz eigenartiges Gefühl, wie sie es nie zuvor gekannt hatte. Dieser schöne junge Mann, dieser talentvolle Dichter, der mit großen seelenvollen Augen schüchtern zu ihr aufschaute, wie kam es nur, daß er einen so seltsamen Eindruck auf sie machte?

War das etwa Liebe, was sie heut zum ersten Mal in ihrem Leben empfand?

Instinctiv und unwiderstehlich fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Sie war wieder das schlichte Mädchen aus dem Volke geworden und erinnerte sich ihrer heißblütigen Jugendgefährtinnen von den Straßen der Vorstadt, zu denen der brutale Geliebte nur zu sagen braucht: »Komm!« und welche diesem dann gesenkten Hauptes folgen.

Was sie einander sagten? Banale Phrasen. Sie machte ihm irgend einige Complimente, wobei sie mehrmals dieselben Worte gebrauchte. Dann auch befragte sie ihn, wenn auch in wohlwollender, so doch in ziemlich ungeschickter Weise, über sein bisheriges Leben. Er antwortete kaum. Trotz seiner Unerfahrenheit Frauen gegenüber, fiel ihm doch an der Schauspielerin eine gewisse Unruhe auf, deren Ursache er sich freilich nicht zu deuten wußte. Die warme, parfümgeschwängerte Luft im Garderobenzimmer nahm ihm den Kopf ein, und da er Nichts mehr zu sagen hatte und durch längeres Verbleiben zu stören fürchtete, stand er auf, um sich zu verabschieden.

»Sie werden mich bald wieder besuchen, nicht wahr?« … sagte Nelly leise, fast bittend.

»Mit Freuden,« antwortete er. »Wann darf ich …?«

»Um dieselbe Zeit in meinem Ankleidezimmer … bin ich stets allein.«

Er verbeugte sich; sie reichte ihm ihre Hand Und als nun Jean in die kühle Abendluft hinaustrat, da schien es ihm, als ob Nellys Hand vorhin in der seinigen gezittert habe.

»Wie schön sie ist!« dachte er, während er seiner entfernten Wohnung zuschritt … »Meiner Treu! ich will doch lieber Marie sagen, daß Saint-Firmin mein Manuscript direct Caduc übergeben hat. Wenn Marie erführe, daß diese herrliche Person mich protegirt, so würde sie am Ende vielleicht eifersüchtig werden und sich betrüben … Besser, die Kleine erfährt Nichts.«


VI.

Der Dichter brachte seine Lüge vor, und Maries Freude war groß, als sie hörte, daß die »Sternennacht« bald aufgeführt werden würde. Aber es dauerte nicht lange, da verdrängten Kummer und Sorgen die Festesstimmung in ihr. Es schien ihr, als ob mit einem Male der Geliebte kühler gegen sie geworden wäre. Vor Kurzem noch, wenn sie zu ihm kam, so stand Jean schon ungeduldig und erwartete sie auf der Thürschwelle, noch bevor sie die letzte Treppe erstiegen hatte. Und dann das glückselige Lächeln, die Umarmung, der Kuß, womit er sie empfing! Doch jetzt war er nicht mehr derselbe. Immer noch sanft und gut zu ihr, ja, aber weniger zärtlich. Dabei zerstreut. Sie suchte ihn zu entschuldigen. Ohne Zweifel ging ihm gegenwärtig Vieles im Kopfe herum. Pläne und Hoffnungen bezüglich der Gestaltung seines ferneren Schicksals beschäftigten ihn. Dennoch beunruhigte es sie, daß er so war, sogar in ihren Armen, im Augenblick der innigsten Hingebung. Aengstlich fragte sie ihn:

»Woran denkst Du eigentlich?«

Die Antwort, die er gab, konnte sie beruhigen.

»Nun, an mein Stück! Woran denn sonst … In vierzehn Tagen ist Leseprobe, Du weißt es ja.«

Er sagte die Unwahrheit, und während Marie sich dicht an ihn schmiegte und sein Gesicht mit unzähligen Küssen bedeckte, dachte er an Nelly, an jene üppige Blume, deren Duft er eine Weile lang geathmet hatte und deren sinneverwirrendes Parfüm ihn überall hin verfolgte.

Warum war er seit zehn Tagen immer noch nicht wieder im Vaudeville-Theater gewesen? Nun einfach: Mariens wegen. Es war doch nicht hübsch von ihm, ihr gegenüber ein Geheimniß zu haben. Er tadelte sich selbst wegen seiner Treulosigkeit. Sie liebte ihn doch so sehr! Und er liebte sie doch auch! Was auch kommen würde, sie sollte immer seine Gefährtin, seine Freundin bleiben, immer im Innersten seines Herzens die erste Stelle einnehmen. Und nun lehnte er liebestrunken sein Haupt an ihre Schulter und betrachtete dieses naive Kindergesicht, das lange, ausgelöste und in goldigen Strähnen über ihren Rücken hinabfallende röthliche Haar, das weiche, rundliche Kinn und die dunkelbraunen, großen Augen, die von Zeit zu Zeit ihm vertrauensvoll entgegenglänzten.

»Nein! es wäre unrecht von mir!« sagte er sich. »Ich werde diese Nelly Robin nicht mehr besuchen. «

Aber er sollte ihr bald wieder begegnen, ohne daß er es beabsichtigte. Es geschah dies auf dem Kirchhofe Père-Lachaise an einem offenen Grabe, in das man soeben den Sarg des im Hospitale verstorbenen Saint-Firmin hinabgelassen hatte. Schmerzlich bewegt durch den Verlust des ihm aufrichtig und treu ergebenen Freundes, hörte Jean Delly, dessen Stück am Tage zuvor mit großem Beifall in der Comédie Française aufgenommen worden war, die Worte des De profundis an. Ein feiner, kalter Regen fiel vom Himmel hernieder, und nur eine kleine Anzahl Collegen des alten Regisseurs hatte diesem bis nach dem Kirchhof das Geleit gegeben. Nur drei oder vier junge Schauspieler vom Odeon und etwa ein Dutzend alter Mimen mit glattrasirten, welken Gesichtern, die einstens zusammen mit Saint-Firmin gespielt hatten, waren anwesend.

Als man das Weihwasser sprengte, erschien plötzlich, in einen prächtigen Pelz gehüllt und einen kostbaren Kranz am Arme tragend, ein Weib. Jean erkannte alsbald Nelly Robin. Das gute Mädchen kam, dem Zeugen ihrer traurigen Vergangenheit den letzten Liebesdienst zu erweisen.

Rasch näherte sie sich dem Grabe, senkte das Haupt, schlug ein Kreuz, murmelte leise ein kurzes Gebet und übergab dem Todtengräber den Kranz. Nun bemerkte sie Jean, der sie begrüßte.

Unter dem schwarzen Schleier hervor warf sie ihm einen zärtlichen und zugleich betrübten Blick zu. Seit vierzehn Tagen hatte sie immerwährend an den jungen Dichter denken müssen. Jeden Abend hatte sie ihn in ihrem Ankleidezimmer erwartet, aber vergebens. Wie ein Vorwurf lag's in ihren Augen, und er deutete sich das zu seinen Gunsten.

Sie standen auf dem schmutzigen Kirchhofe in der Nähe der Leichenhalle, und über ihnen breitete sich, düster und wolkenschwer, der Decemberhimmel aus.

Die Liebe ist stärker als der Tod.

Die Schauspielerin wandte sich an Jean.

»Der arme Saint-Firmin! … Wir hatten ihn alle Beide gern, nicht wahr?«

In Wahrheit aber dachten sie kaum noch an ihn, den armen Saint-Firmin. Nachsichtig lächelnd, sah sein Schatten gewiß schon auf sie herab aus dem Paradiese der Schauspieler, wo diese alle immer eine dankbare Hauptrolle zu spielen haben und wo sie ihren Namen immer fett gedruckt auf dem Anschlagszettel erblicken.

Jean und Nelly entfernten sich von dem Grabe und schritten die mit traurigen, entlaubten Bäumen bestandene Allee entlang.

»Warum haben Sie mich denn nicht besucht?« fragte sie leise.

Er antwortete in demselben Tone. »Ich wagte es nicht …«

Nun gingen sie schweigend neben einander her. Am Ausgange des Kirchhofes wartete das Coupé Nelly Robins.

»Sie fahren doch mit mir nach Paris zurück? Nicht wahr, Herr Delly?«

Kaum saß Jean neben ihr in dem engen Wagen, dicht an sie gedrängt und von ihrem Parfüm und von dem weichen Pelze sanft umschmeichelt, da verlor er den Kopf. Nelly, die gar wohl das Leuchten seiner Augen bemerkte, schmiegte sich noch dichter an ihn und lehnte den Kopf auf seine Schulter.

»Ich lieb' Dich ja, weißt Du's denn nicht?« hauchte sie.

Sie hatten Küsse ohne Zahl gewechselt, als das Coupé vor der Wohnung der Schauspielerin hielt. Nelly sprang zuerst aus dem Wagen, Jean hinterdrein. Er wollte sich verabschieden, doch sie zog ihn mit sich in's Haus hinein.

Im Vorzimmer kam ihnen die Kammerfrau entgegen.

»Der Herr Herzog ist seit zwanzig Minuten da,« sagte sie. »Er erwartet Madame im Boudoir.«

Der Herzog! Sie hatte ganz vergessen! Das war die Zeit, um welche er mit ihr seine endlose Partie Bézigue zu spielen pflegte.

Mit einer Handbewegung entließ sie die Kammerfrau; und, indem sie um den Hals Jeans, dessen Gesicht plötzlich einen stolzen, finsteren Ausdruck angenommen hatte, ihre Arme schlang, bat sie:

»Ach, sei nicht bös! Verzeih mir. Morgen, wenn Du willst, wirst Du der Herr hier im Hause sein … Und Du mußt mir auch versprechen, heut Abend in's Vaudeville zu kommen …«

Also ihr Geliebter! Einer von Vielen! … O nein; er besaß Ehrgefühl und Eigenliebe, der Dichter. Er machte sich von ihr los, grüßte und verließ ohne Antwort das Zimmer.

Draußen auf der Straße eilte er erregt mit großen Schritten dahin. »Nein!« dachte er, »ich werde heut Abend bestimmt nicht in's Vaudeville gehen! … Schön ist sie wie der Tag, und wie Feuer brennen ihre Küsse auf den Lippen. Aber ich bin nicht einer von denen, die mit Anderen die Liebe theilen und die, wenn einer von diesen Anderen plötzlich erscheint, sich im Kleiderschrank verstecken … Der Herr! hat sie gesagt … morgen, wenn ich will! Der Herr in all' dem Luxus, den sie einem Anderen … mehreren Anderen verdankt! Und ich habe nicht Geld genug in der Tasche, um ihr einen Rosenstrauß zu kaufen! … Wofür hält sie mich denn eigentlich? … Und dennoch … ich bin thöricht und undankbar … Aber Marie? …«

Er suchte sich durch den Gedanken an Marie zu erheben. Hatte er wirklich ernstlich daran gedacht, sie zu verlassen? Niemals! Ein bischen Untreue, das war das ganze Verbrechen, das er hatte begehen wollen. Das war am Ende verzeihlich, und er hatte darum noch lange nicht aufgehört, seine kleine Freundin zu lieben … Jedoch? … Jean wunderte sich selbst darüber, mit welcher Gemüthsruhe er soeben es fertig gebracht hatte, sie, wenn auch nur in Gedanken, zu betrügen. Unwillkürlich verglich er die beiden Frauen mit einander, und alsbald bemächtigte sich ein plötzlicher Rausch seiner Sinne. Noch fühlte er auf seinen Lippen die glühenden Küsse der heißblütigen Sünderin! Ach was! er war auch gar zu scrupulös … Das schöne Geschöpf hatte für ihn eben einen kleinen Faible. Warum sollte er sich das nicht gefallen lassen? Freilich, vor allen Dingen Offenheit. Sie sollte es erfahren, daß er nicht frei war; er würde das ihr selbst sagen, heute Abend noch.

Um acht Uhr war er im Ankleideraum bei Nelly. Sie bestürmte ihn mit Liebkosungen. Sie kniete vor ihm nieder, küßte ihm die Hände.

»Du brauchst nur ein Wort zu sagen,« wiederholte sie ein Mal über das andere, »und ich weise dem Herzog die Thür, und ich gehöre Dir, Dir ganz allein.«

Der Dichter faßte sich ein Herz und beichtete.

Bebend schnellte sie empor:

»Wie, Du hast eine Geliebte?«

Jean suchte einzulenken, zu erklären. Ja, ein Mädchen, das gut und lieb in seinem Unglück und in seiner Einsamkeit zu ihm gewesen wäre. Aus Dankbarkeit hatte er sie anfangs wieder geliebt, jetzt fühlte er nur noch Freundschaft für sie. – Und er sprach die Wahrheit. Nelly konnte sich nicht darüber wundern. War es ihr doch dereinst ebenso gegangen!

»Ich werde dem Herzog mein Haus verbieten!« rief die Schauspielerin … »Brich Du mit dem Mädchen.«

Eine so grausame Logik erschreckte Jean Delly förmlich. In seiner Harmlosigkeit machte er den thörichten und unnützen Versuch, ein Weib seiner Rivalin gegenüber zu vertheidigen. Nie würde er es übers Herz bringen, Marie so schnöde zu verlassen. Sie würde ja ganz verzweifelt sein. Er mußte Zeit haben, sie auf die Trennung vorzubereiten, sonst wäre sie zu Allem fähig. Sie liebte ihn ja so grenzenlos.

In den Augen einer Kokette würde Jean sich durch seine derartige Ungeschicklichkeit unmöglich gemacht haben. Da aber Nelly wirklich in ihn verliebt war und ein gutes Herz besaß, so senkte sie den Kopf und flüsterte:

»'s ist wahr. Die Kleine hat Dich gewiß sehr lieb …«

Nun machte sich der Dichter die eigne Naivetät zum Vorwurf. Er umarmte Nelly, sprach zu ihr zärtlich, leidenschaftlich:

»Was schert uns Dein Herzog? Was schert uns Marie? Können wir uns nicht trotzdem gut sein?«

Aber sie wandte den Kopf bei Seite.

»Nelly, was ist Dir?« rief er besorgt.

Und wie er nun einen Kuß auf ihren Mund drücken wollte, sah er, daß das schöne Mädchen die Augen voller Thränen hatte.

Er glaubte sie verletzt zu haben und bat sie reumüthig um Verzeihung. Da ergriff sie von Neuem seine Hände, bedeckte sie mit Küssen, netzte sie mit der warmen Fluth ihrer Thränen und sagte ihm, wie innig lieb er ihr sei. Nein, böse war sie ihm nicht. Im Gegentheil, sie hatte ihn um Entschuldigung zu bitten dafür, daß sie ihn zu gewinnen gehofft. Sie hatte, wie ihresgleichen alle es wenigstens einmal in ihrem Leben thun, sich der trügerischen Hoffnung hingegeben, ihre Schuld durch Liebe zu sühnen. Das war eine Thorheit, sie sah es ein. Ueberdies sei er ja auch nicht mehr frei.

»Entweder Du täuschst mich absichtlich, oder Du belügst Dich selbst,« rief sie schluchzend, »wenn Du behauptest, daß Du Deine Marie nicht mehr liebst. Sie ist Deine erste und einzige Freundin gewesen, sie hat Dir Trost gebracht in den Tagen des Unglücks. Ich beneide sie, aber ich kann sie nicht hassen … Hören Sie, theurer Freund,« fuhr sie nach einer Pause scheinbar ruhig fort, »glauben Sie, es ist das Beste, wir gehen von einander jetzt und sehen uns nie wieder, – das wird Ihnen und mir gut sein. Versuchen wir, einander zu vergessen.«

Außer sich vor Schmerz, stürzte der Dichter Nelly zu Füßen, bat und flehte, schwur, daß er sie aufrichtig liebte, und glaubte an seine Schwüre. Doch sie blieb standhaft und besaß sogar die Kraft, ihm »nur noch einen einzigen Kuß« zu versagen. Zu allen seinen Betheuerungen schüttelte sie blos den Kopf. Und als er endlich, mehr gezwungen, als freiwillig, sie verließ, da konnte sie hoffen – oder auch fürchten – daß er nicht mehr zurückkehren würde.


VII.

Er kam schon am nächsten Tage wieder, er kam alle Abende wieder, und sie empfing ihn, war gut und zärtlich zu ihm, ohne ihm indeß nachzugeben, noch ihm Hoffnung zu lassen, daß sie ihm jemals nachgeben könnte. Und, wie es so oft bei Liebesabenteuern vorkommt: sie waren Alle unglücklich.

Alle; zunächst Nelly. Sie hatte jetzt volle Gewißheit, daß der Dichter rasend in sie verliebt und völlig bereit war, seine Marie zu verlassen. Auch sie dachte jetzt daran, ihre Kette zu brechen, und man würde alsdann, so gut es anging, als ein rechtes Liebespaar, von Liebe und Luft leben. Aber sie besaß einen Fonds von Edelmuth. Es widerstrebte ihr, daß ihr Glück das Unglück einer Anderen herbeiführen, das Ergebniß einer grausamen Handlungsweise sein sollte. Auf alle Fälle wollte sie dies nicht veranlassen. Niemals hätte sie zu Jean gesagt: »Brich mit Deiner Marie,« und wiederum, wäre er gekommen, ihr zu sagen: »Ich habe mit ihr gebrochen,« sie wäre ihm an den Hals geflogen. Indessen, er sagte es nicht, und sie fragte sich dann mit gar bitterem Zweifel, ob er denn für sie mir sinnliche Begier, nur eine vorübergehende Neigung hege.

Marie war nicht minder zu beklagen. Jeden Tag wurde Jean Delly gleichgiltiger, verdrießlicher. Beklagte sie sich darüber, so entschuldigte er den Wechsel seiner Laune mit seiner Zerstreutheit: denn er ging jetzt alle Nachmittage in's Théâtre Français, der Einstudirung seines Stückes beizuwohnen. Aber das einfache Mädchen, gewarnt durch den sehr sicheren Instinct des vernachlässigten Weibes, täuschte sich hierin nicht, und jeden Augenblick durch ein rauhes Wort, durch eine ungeduldige Geste ihres Geliebten erschreckt, lebte die arme Kleine in beständigem Aufruhr des Herzens und ahnte eine Katastrophe.

Jean litt ebenfalls. War er bei Nelly Robin, so lebte er, unaufhörlich allen Tantalusqualen preisgegeben, in einer Aufregung der Sinne, und sobald er zu Marie zurückkehrte, empfand er ein schreckliches Gefühl von Müdigkeit und Mitleid. Denn, ohne sich bis jetzt dazu entschließen zu können, dachte er doch bereits daran, sie zu verlassen, und dabei empfand er im Voraus Abscheu vor seiner Feigheit und seiner Undankbarkeit.

Sie waren eben Alle unglücklich. Ja! Alle, bis zu dem unglückseligen Herzog von Eylau, der jetzt mehr denn je die Gabe besaß, die nervöse Nelly Robin im höchsten Grade zu reizen, und der die barschen Abweisungen seiner Maitresse ebenso wenig wie die zahllosen Fehler begriff, die er seit einiger Zeit beging, wenn er Bézigue spielte.

Er war das erste Opfer der Situation, der arme Herzog: Wegen eines Nichts, des Ausspielens einer Karte – rundweg verabschiedet. Er war gleichwohl nicht anspruchsvoll gewesen, wenn er nur seine obligate Partie von 4 bis 6 hatte. Er entfernte sich discret, und mit ihm verschwanden die Päckchen Tausendfrankscheine. Bah! Nelly kümmerte sich viel um Geld! Sie liebte.

Ohne irgendwie ihre Ausgaben, ihr Hauswesen zu verringern, verkaufte sie einen Schmuck nach dem andern und lebte in den Tag hinein mit der Sorglosigkeit der Maitressen.

Endlich wurde die »Sternennacht« im Théâtre Français gespielt. Man erinnert sich noch des Triumphes! Das Premierenpublicum, alle die alten, abgelebten Roués weinten dabei vor Rührung. Das erfrischte sie, das that ihnen wohl.

Den Tag nach der Ausführung machte der Name Jean Delly, hoch gepriesen, die Runde durch die Zeitungen, d. h. durch Frankreich, durch Europa. Der Dichter, dessen Gesicht noch ganz pudrig war vom Bruderkuß seiner Interpreten, wurde hinter einer Coulisse von dem dicken Verleger Beer erwischt, der ihm schnurstracks das Manuscript seines Stückes abkaufte und ihm 5000 Franken in die Hand drückte. Bei den ersten Aufführungen saß Nelly in der Loge des Herrn Caduc, weinte Freudenthränen und applaudirte so stürmisch, daß sie ihren Fächer zerbrach, während ganz im Hintergrunde der einzigen Loge, die man dem Dichter bewilligt hatte, Marie in den Armen der Freundin aus dem Atelier, die sie begleitet hatte, vor Aufregung verging.

Mißtrauen wir dem Glück. Es macht die Guten besser, aber für den Egoisten ist es gefährlich, und der Mann, der Erfolg gehabt, glaubt, ihm sei Alles erlaubt.

Bei seinem späten Erwachen am nächsten Morgen in der Mansarde des Quai St. Michel erhielt Jean Delly von Nelly Robin einen überschwänglichen Brief und ein Packet Journale, die warm seinen Ruhm verkündeten. Er war berühmt, er war geliebt. Auf einmal. Nein! Er besaß ja Nelly nicht. Ein einziges Hinderniß – und das war Marie. Da fiel sein Blick auf die Banknoten, die ihm Beer am Abend gegeben, und die er bei der Heimkehr auf den Tisch geworfen hatte. Geld! Lösten sich nicht mit Geld am häufigsten die Jugendliebschaften, die Liebeleien des Quartier Latin? 5000 Franken, das war für eine Handwerkerin schon Etwas, womit sie sich etabliren konnte, eine Art Aussteuer, der Anfang eines Glücks vielleicht. Und für ihn konnten sie das Lösegeld, seine Freiheit bedeuten. Und schließlich hatte er ja keine Jungfrau verführt. Marie hatte ihm nur, und zwar aus eigenstem freien Antriebe, zwei Jahre ihres Lebens geschenkt. 5000 Franken! Das hieß bezahlt! …

Und Jean Delly war kein Bösewicht! Noch am Abend, im Hochgefühl des Triumphes, hatte er seine kleine Freundin, die ihn ganz schüchtern auf der Straße, am Eingang für die Schauspieler, erwartete, freudig umarmt … Aber ein ungestillter, rasender Wunsch verblendete ihn.

O Gefühllosigkeit, o Härte des Menschenherzens! O über die Niedrigkeiten, die in einer Minute erdacht, beschlossen, ausgeführt sind!

Marie würde ihn ohne Zweifel so bald als möglich besuchen, vielleicht diesen Morgen schon.

Er kleidete sich hastig an und schrieb in einem Zuge den Abschiedsbrief. Er beschwor Marie, ihm zu verzeihen. Aber er liebte sie nun einmal nicht mehr. Sie könnten sich hinfort gegenseitig doch nur noch zur Qual leben. Und, das Geld anzubieten, fand er, der Mann der Feder, eine geistvolle, fast zärtliche Wendung

Er legte die Hülle, die den Brief und die Banknoten enthielt, recht augenfällig auf den Tisch, sagte im Fortgehen dem Portier, daß, wenn Fräulein Marie käme, oben Etwas für sie läge, stieg in eine Droschke und ließ sich zu Nelly fahren.

Seit einigen Tagen spielte sie nicht mehr im Vaudeville, wo ihr Engagement soeben zu Ende gegangen war. Einige Monate zuvor hatte sie, angesichts sehr vortheilhafter Anerbietungen nach Rußland, abgelehnt, es zu erneuern. Dann war Jean erschienen, sie hatte sich nicht mehr von ihm entfernen wollen, und noch am Abend zuvor hatte sie den Theateragenten abgeschüttelt, der in sie drang und sich nicht erklären konnte, warum ein hübsches Weib eine Reise in das Land der Rubel abschlug

»Es ist geschehen. Ich habe mit ihr gebrochen!« rief Jean in den Armen der Schauspielerin.

Und er erzählte ihr, mit häßlicher, egoistischer Freude, die schlechte Handlung, die er soeben begangen. Nelly, eine Maitresse trotz alledem, bewunderte ihn und war stolz und gerührt, daß er, ohne zu zögern, Um ganz ihr anzugehören, das erste Gold geopfert hatte, das ihm das Glück zuwarf.

»Und ich, ich bin auch frei!« sagte sie zu ihm, auf seine Schulter gelehnt, »ich bin Dein und gehöre Dir für immer! … Dieser Luxus, der mich umgiebt, erregt Dir Abscheu … Du bist stolz, Du hast Recht … Nun, beruhige Dich nur … Ich habe bis jetzt, ohne zu rechnen, gelebt, und seit vierzehn Tagen habe ich den Herzog fortgeschickt, der meine Schulden bezahlen wollte … Wohlan, Möbel, Toiletten, Schmuck, Alles lasse ich meinen Gläubigern … Du wirst eine Kameradin haben, die eben so arm ist wie Du … Sprechen Sie, mein Herr, werden Sie dann auch noch Ihre Freundin im Grisettenkleide lieb haben? Bah! Es ist gar nicht so lange her, daß ich höchst eigenhändig meine Wäsche ausbesserte und meine Suppe kochte … Ich werde das Theater verlassen, willst Du? … Du würdest doch zu eifersüchtig sein, nicht wahr? wenn ich dort bliebe, und ich, ich könnte nicht genug bei Dir sein … Nein, ich will Deine Wirthschafterin werden, und Du sollst sehen, wie ich Dich pflegen werde, während Du allerhand schöne Sachen schreiben wirst … Zunächst wirst Du jetzt Deinen Lebensunterhalt verdienen; Du wirst nicht reich sein, bei Gott! … Dichter haben kein Glück. Aber ich werde so vernünftig sein … Ja! wir werden sogar noch große Sprünge machen können. Und Du wirst mir bald mein erstes Schmuckstück kaufen … Ohrringe in Double, zehn Franken das Paar, wie jene beim Juwelier in der Rue Ménilmontant, die so sehr meinen Neid erregten, da ich mich noch als Kind auf der Straße umhertrieb … O mein Jean, wie liebe ich Dicht!« …

Und wie er sie feurig an sich preßte, fügte sie, sich losmachend, hinzu:

»Nein, noch nicht, noch nicht und nicht hier … Hier erinnert mich Alles an meine Vergangenheit, widert mich Alles an … O vergieb mir! Ich war ja Dir noch nicht begegnet, ich wußte ja nicht, was es heißt, zu lieben … Nein, ich will noch heut Abend zu Dir kommen, in die ärmliche Wohnung, wo Du so unglücklich gewesen bist. Ich werde dorthin kommen, um nicht mehr fortzugehen, und Nichts will ich mitbringen als die Kleider, die ich am Leibe trage … Sprich, bist Du einverstanden? … Jetzt gehe an Deine Geschäfte … Du mußt Dich im Theater zeigen, Du mußt allen Deinen Bekannten danken, Deinen Interpreten, jenen Journalisten, die Dich soeben als großen Dichter ausposaunt haben und die man subtil behandeln muß … Ich kenne das … Währenddem werde ich hier Alles regeln, und das wird nicht lange dauern, ich versichere Dich. Ich werde nicht einmal die wenigen Louis in meinem Portemonnaie behalten … Es giebt ja genug Sammelbüchsen für die Armen … Erwarte mich heut Abend, um sechs Uhr, und laß uns unser gemeinsames Leben damit beginnen, daß wir in Deiner Kneipe speisen, mit jenen Kutschern zusammen, weißt Du? dort, wo Du den armen St. Firmin kennen gelernt hast … Es liegt mir daran, daß auch ich ein wenig Dein großes Elend getheilt habe!« …

Jean ging, berauscht von Stolz, eine solche Leidenschaft eingeflößt, solche Opfer veranlaßt zu haben.

Allein und von dem Wunsche beseelt, sobald als möglich die Spuren ihres galanten Lebens zu vernichten, nahm Nelly zuerst aus einem Schubfache einige Packete Briefe und warf sie in's Feuer.

Sie sah sie brennen und wollte gerade ihrer Kammerfrau klingeln, um ihr den soeben gefaßten Entschluß anzukündigen, als diese erschien und sagte:

»Kann Madame das Mädchen Ihrer Modistin empfangen? … Sie ist unten mit dem bewußten Hut, den Madame vor acht Tagen bestellt hat«

»Laß sie heraufkommen,« erwiderte Nelly Robin mechanisch.

Und während die Kammerfrau gehorchte, dachte die Schauspielerin und konnte nicht umhin zu lächeln:

»Ein Hut für fünf Louis! Ich werde ohne Zweifel auf lange hinaus keinen solchen mehr tragen, und dieser soll nach der Execution durch die Gerichtsdiener bezahlt werden wie das Uebrige … Bah! ich will ihn heut Abend aufsetzen, wenn ich mich bei Jean einlogiren werde.«

Denn welche Macht der Erde vermöchte eine Frau, selbst wenn sie närrisch vor Liebe, selbst wenn sie in einer Krise der Leidenschaft ist, zu hindern, daß sie einen hübschen Hut probirt?

Das Mädchen trat ein und öffnete seinen Carton.

»Lassen Sie sehen,« sagte Nelly.

Sie stellte sich vor ihren Spiegel, rückte den koketten Chiffon auf ihrem Kopfe zurecht und bemerkte erst jetzt im Spiegel das Gesicht der jungen Modistin.

Was hatte sie nur, die arme Kleine mit den goldrothen Haaren?

Warum waren jene hübschen kaffeebraunen Augen mit Thränen gefüllt?

Und warum stützte sie sich wie ohnmächtig auf die Lehne eines Fauteuils?

Es war Marie, die den Hut gebracht hatte.

Oh! wie war sie heut Morgen so fröhlich aus dem Atelier weggegangen, ihren Carton unterm Arm!

Schnell, erst zu Jean! Er mußte lange geschlafen haben, nach all' den Aufregungen seines Triumphes. Sie würde ihn beim Aufstehen finden, ihren Vielgeliebten, ihren Dichter, wie er endlich glücklich war. Aber nein, schon ausgegangen! »Sie können sofort hinaufgehen, Fräulein,« hatte ihr der Portier gesagt, »es ist oben Etwas für Sie.«

Was das oben war? großer Gott! es war der schreckliche Brief und jene Banknoten, die sie sogleich wieder fortgeworfen hatte, die ihr in den Fingern gebrannt hatten. So, das war zu Ende. Jean liebte sie nicht mehr und verabschiedete sie, bezahlte sie wie eine Dirne. Roth, als hätte sie einen Backenstreich erhalten, todt das Herz, das Blut im Gehirn, war sie geflohen und weinte auf der Straße, ohne sich zu schämen.

Wenn Sie einen großen Kummer haben, wenn Ihr Liebhaber Sie verläßt, schöne Dame mit den drei Toiletten täglich, so verriegeln Sie Ihre Thür, Sie schließen sich in Ihr Boudoir ein mit einem Flacon englischen Riechsalzes, und Sie können dann wenigstens in der Einsamkeit schluchzen. Ich beklage Sie, gewiß! denn das Leiden ist dasselbe für das Herz einer verlassenen Frau, ob es nun unter Seide oder unter grobem Zwillich schlägt. Aber haben Sie gütigst Mitleid mit dem kleinen Laufburschen von Modistin, die vor allen Passanten, die Trottoirs entlang, um ihr verlorenes Glück weint, und die, trotz ihres Schmerzes, – der ebenso grausam ist wie der Ihrige, schöne Dame, – dennoch ihre triviale Besorgung nicht vergessen darf und einen Hut zur Kundin tragen muß.

Marie hatte Nelly Robin niemals gesehen, hatte ihren Namen erst heut Morgen erfahren, wußte Nichts von ihr. Ohne daß die Eine oder die Andere es ahnte, standen sich die beiden Rivalinnen gegenüber.

Vor dem Gesicht der Unbekannten, das durch den Schmerz verstört war, wurde Nelly von Mitleid erfüllt. Von Natur sehr gutmüthig, war sie es um so mehr an diesem für sie so glücklichen Tage.

»Was fehlt Ihnen denn, meine liebe Kleine?«

Aber Marie sank unter der Wucht ihres allzu schweren Kummers auf einen Divan und barg den Kopf in ihren Händen. Nelly setzte sich liebreich neben sie und war mit mütterlicher Zärtlichkeit um sie bemüht.

»Ein schwerer Kummer wohl? … Kommen Sie, mein liebes Kind, weinen Sie nicht so … Sie kennen mich zwar nicht, aber Sie können Vertrauen zu mir haben! … Ich würde so zufrieden sein, wenn ich Ihnen helfen könnte … Und, auf alle Fälle, sagen Sie mir getrost, was Sie so betrübt.«

Sich anvertrauen ist ein so natürliches Bedürfniß, und diese schöne Dame schien so gütig! Seit zwei Stunden irrte Marie in Paris umher, sterbensmatt vor Verzweiflung: Sie offenbarte das Geheimniß derselben in einem Weheruf.

»Jean! … Mein Jean hat mich verlassen! …«

Ihr Jean? … Nelly war das Herz wie zugeschnürt infolge einer Vorahnung. Mehrmals hatte sie mit eifersüchtiger Neugier den Dichter über seine kleine Freundin befragt: »Hübsch, nicht wahr? Wie sieht sie denn aus?« Und jetzt, just während sie dieses jugendliche, von Thränen überströmte Gesicht betrachtete, das dem ihren so nahe war, und unter dem in Unordnung gerathenen rothen Haar diese Stirn, auf die sie, einer Regung der Sympathie folgend, beinahe ihre Lippen gedrückt hätte, erinnerte sich die Schauspielerin der verlegenen Antwort Jean Dellys: »Ein Rothkopf mit braunen Augen.«

»Ein Liebeskummer also. Ich dachte mir's,« sagte Nelly mit veränderter Stimme. »Lassen Sie hören, Liebchen, erzählen Sie mir das … Und vor Allem: wie heißt denn das herzige Kind, das so großen Kummer hat?«

Und das junge Mädchen warf Nelly unter Thränen einen Blick der Dankbarkeit zu und antwortete mit Anstrengung:

»Wie gütig Sie sind, Madame! … Ich heiße Marie.«

Da wurde die Hand, welche die ihrige drückte, eisig kalt, der Arm, der um ihre Taille lag, sank herab. Aber Marie achtete nicht darauf. Eine Stimme von Mitgefühl hatte sie gebeten, ihr Herz zu erleichtern. Es schüttete sich aus, es ergoß sich in Klagen und Schluchzen.

»Mein Jean! … Ich liebte ihn so sehr! …Wenn Sie wüßten!«

Und Marie ließ sich zu Nellys Füßen gleiten, behielt die Hand der Dame, die soviel Mitleid zeigte, in der ihrigen, küßte sie wiederholt schmeichelnd wie ein krankes Kind und erzählte von den zwei Jahren ihres Glücks und ihrer Liebe, wo alle Minuten ihres Lebens Jean gehört hatten, wo jeder Stich ihrer Nadel von einem Gedanken der Anbetung für ihren Vielgeliebten begleitet gewesen war. Sie hatte geglaubt, daß er sie liebte. Aber sie war weder thöricht noch eitel gewesen. Sie sagte sich wohl manchmal mit Seufzen, daß ein unwissendes Mädchen wie sie nicht die einzige Liebe eines Dichters sein könnte. Zweifellos wird er von anderen Frauen verführt werden, die ihn liebten – er war ja so entzückend! – und würde ihr untreu werden. Alles vergeht, Alles hat ein Ende, sie wußte es wohl. Sie durfte nur hoffen, daß er ihr einen kleinen Raum in seiner Freundschaft wahren werde, daß er stets ein wenig Zärtlichkeit für diejenige haben werde, die ihm während seiner traurigen Jugend Glück gespendet hätte. Hundert Mal hatte er es ihr geschworen. Wenn sie ihn doch wenigstens sehen, mit ihm zusammenkommen könnte – und gar nicht einmal oft, wenn er es so gefordert hätte – ihn zu pflegen, sobald er krank wäre, sie hätte sich mit einer kargen Zärtlichkeit begnügt, solch einer, wie man sie wohl beiläufig dem Hunde des Quartiers zu Theil werden läßt. Aber nein. Er trieb sie in hartherziger, in brutaler Weise von sich. Oh! über den Schlechten und Undankbaren! Und er warf ihr wie einen Schimpf dieses elende Geld hin! Geld! Sie brauchte Nichts mehr. Ihr Jean hatte ihr das Herz gebrochen. Sie würde daran sterben, ja wohl! sie würde daran sterben! Und wenn der Tod auf sich warten ließe, je nun, es gab Wasser unter den Brücken und Kohlen bei dem Kohlenhändler! –

Heftig legte ihr Nelly die Hand auf den Mund.

»Was sagen Sie da, kleine Unglückliche? …«

Vor ihrer Rivalin hingesunken, den Kopf auf deren Knieen, schwieg Marie, und jetzt weinte sie, weinte und weinte.

Und während Nelly noch das trostlose Mädchen betrachtete, fühlte sie sich von namenlosem Mitleid ergriffen. Denn: das Unglück, das sie hier vor Augen hatte, es war ihr eigenes Werk. Wahrhaftig, das erste Mal, wo sie ernstlich liebte, hatte sie kein Glück. Sie konnte nur glücklich sein, indem sie Böses stiftete. Und während sie diese arme kleine Marie betrachtete, die Jean ihr opferte, empfand sie ein unbestimmtes Gefühl des Neides. Sie selbst hatte diese echte und aufrichtige Leidenschaft, diesen schönen Schmerz, nie kennen gelernt. Das Beste, was ihr noch das Leben, dessen goldene Schande sie jetzt verabscheute, geboten hatte, das waren – welcher Hohn! – die bei Lamorlière verlebten Jahre, ihre Ergebenheit als dienende Maitresse eines alten und lächerlichen Komödianten. Marie konnte doch nach alledem wenigstens sterben. Sie hatte gelebt, hatte geliebt; sie hatte eine kurze, aber entzückende Jugend genossen. Oh! Wie beneidete Nelly sie um ihren schönen Traum, selbst um den Preis eines so rauhen Erwachens! …

Aber wie sie so von Neuem ihr Opfer betrachtete, das völlig niedergeschmettert war, dem beständig große Thränen unter den geschlossenen Augenlidern hervorquollen, und das den rührenden Eindruck eines verwundeten Vögleins machte, da regte sich das gute Herz Nellys, und sie wurde zugleich von einer unbestimmten Verachtung, einer Art von Abscheu gegen diesen Jean erfaßt, diesen Egoisten und verführerischen Dichter, dem sie sich so unklug hingegeben hatte, dem sie, sie konnte es sich nicht verhehlen, jene schlechte Handlungsweise inspirirt hatte, und der sie ohne Zweifel bald ihrerseits würde Qualen erleiden lassen, da sie ihn ja auch liebte.

»Und sagen Sie mir, Liebchen,« fragte sie das junge Mädchen, das sich ein wenig beruhigte, »wissen Sie, um wessen willen Sie verlassen sind?«

»Ach! nein,« antwortete Marie, »Seit einiger Zeit hatte ich wohl bemerkt, daß Jean mir gegenüber nicht mehr derselbe war. Aber ich hatte so viel Vertrauen zu ihm! Ich wies meinen Argwohn weit von mir, tadelte mich sogar deswegen … Aber die Lebensweise Jeans ist eine andere geworden; er geht jetzt hinter die Coulissen. Dort wird er vermuthlich irgend eine schöne Schauspielerin gefunden haben, die viel liebenswürdiger ist als ich, Toiletten hat und Luxus treibt, von Huldigungen umgeben ist, und die es versteht, die Kokette zu spielen und einen Mann eifersüchtig zu machen … Oh! so ist es, gewiß, und ich war von Anfang an verloren … Denn ich verstand ja nur, ihn unsinnig zu lieben, meinen Jean, und hatte ihm Nichts weiter zu geben, als mein armes Herz! …«

Und während Marie mit keuchenden Worten ihrem Schmerze noch freien Lauf läßt, siehe, da ist im Geiste Nelly Robins soeben ein Wunsch entstanden, ach! ein Wunsch, der ihr viel Schmerz bereitet, der aber gebieterisch, unwiderstehlich ist, nämlich: sie will auf Jean verzichten und ihn dieser armen Kleinen zurückgeben. Sie kennt das Leben, sie weiß, was sie aufgiebt. Mit dreißig Jahren liebte sie zum ersten Male, und es war köstlich. Ach! es ist sehr hart, diese späte Liebesblüthe sich aus dem Herzen zu reißen. Dieselbe wird nicht wiederkehren, deß ist sie sicher. Und nicht allein Jean vermißt sie, sondern auch die Empfindung, die sie für ihn hegte. Ja, es ist hart! Aber das schöne Mädchen hat alle Verderbniß gekostet, ohne ihren Fonds von Edelmuth, ohne ihr angeborenes Gerechtigkeitsgefühl, ihren plebejischen Sinn für Gleichheit zu verlieren. Daß ihr die schönen, aber duftlosen Camelien widerwärtig geworden sind, ist das ein Grund, jenem Kinde, das da vorübergeht, sein armseliges Veilchensträußchen zu nehmen, das nur zwei Sous werth ist, aber gut duftet? …

Schöne Dame, mit den drei Toiletten täglich, Sie würden ebenso handeln, davon bin ich überzeugt. Sie tragen in Herzensangelegenheiten keine Eitelkeit und keine Selbstliebe hinein; und sollte der Cavalier Ihrer besten Freundin versuchen, Ihnen den Hof zu machen, so ist Ihnen das, ich zweifle nicht daran, im höchsten Grade unangenehm. Geben Sie mir nur das Eine zu: daß diese Nelly Robin, trotz all' ihrer Flecken, das Herz ganz ebenso auf dem rechten Fleck hatte, da sie, selbst in voller Leidenschaft, in vollem Begehren, einem Instincte der Gerechtigkeit und des Erbarmens gehorchte.

Nelly hatte Marie aufgehoben, hatte sie neben sich niedersitzen lassen.

»Wollen Sie, mein Kind,« sagte sie mit herzlicher Stimme, »daß ich Ihnen jetzt einen guten Rath gebe?«

»Gewiß, Madame, aber zuvor lassen Sie mich Ihnen sagen, wie sehr ich verwirrt bin … Ich habe Ihnen soeben tausend Thorheiten erzählt, und ich bitte Sie dafür recht sehr um Vergebung.«

»Lassen wir das, Sie sollen mir später danken … Die Brutalität, womit Ihr Geliebter Sie verlassen hat, ist meines Erachtens ein Beweis dafür, daß er in einer Augenblickslaune, in der Heftigkeit gehandelt hat … Und dies ist nicht das Gewöhnliche bei ihm, nicht wahr? …«

»Oh! gewiß nicht … Er ist immer so nett gegen mich gewesen!«

»Nun wohl, Sie müssen ihn wiedersehen. Ja! ich kenne die Menschen. Zu dieser Stunde, ich möchte darauf schwören, bereut er schon, so schlecht gewesen zu sein; denn er muß inzwischen nach Hause zurückgekehrt sein und dort jenes Geld wiedergefunden haben  … Sie müssen ihn so bald als möglich wiedersehen … Können Sie es schon heute?«

»Ich kann zu ihm gehen, wie ich es oft that, nach 6 Uhr, wenn ich aus dem Geschäft komme.«

»Versäumen Sie das nicht. Wollen Sie es mir versprechen? … Entweder hat dieser Jean kein Herz, oder er wird erröthen über seine Handlungsweise vor diesen schönen, ganz verweinten Augen …«

»Ach, Madame, hoffen Sie das? … Oh! ich bin nicht so stolz, ich würde schon mehr als zufrieden sein, wenn er mich nur noch ein bischen lieben wollte, nur aus Mitleid … Aber ich wage selbst daran nicht zu glauben.«

»Aber ich, mein Liebling, ich bin beinahe gewiß, daß er Ihnen einen Empfang bereiten wird, über den Sie erstaunt sein werden … Also abgemacht. Sie werden heut Abend zu ihm gehen … Versuchen Sie nur, bis dahin nicht mehr zu weinen … Und jetzt umarmen Sie mich, denn ich werde Ihnen zu beweisen wissen, wie sehr ich Ihre Freundin bin.«

Und Nelly küßte sie auf die Stirn. und verabschiedete das junge Mädchen, das noch sehr in Unruhe war, ein wenig getröstet jedoch und von einer leichten Hoffnung beseelt.

Bei der Rückkehr in seine Wohnung hatte Jean auf seinem Tische die Banknoten vorgefunden, die Marie hatte liegen lassen.

»Bah! ich werde schon machen, daß sie das Geld nimmt,« hatte er zu sich gesagt, wobei er indessen ein wenig üble Laune und einige Scham empfand.

Aber er hatte auch nicht umhin gekannt, zu denken:

»Diese herzige Kleine! Sie liebte mich trotzdem.«

Dann hatte er aber diese unbequeme Erinnerung wieder von sich gewiesen, hatte ein wenig Ordnung in sein Zimmer gebracht und schritt nun, in nervöser Aufregung, mit klopfendem Herzen, wie ein gefangener Löwe im Käfig auf und ab; er sehnte ja so heiß die Stunde herbei, den Augenblick des Triumphes und der Liebe, da Nelly zu ihm kommen würde. Aber um 5½ Uhr erschien der Portier mit einem Briefe, den ein Dienstmann soeben gebracht hatte, ohne auf Antwort zu warten, und Jean las, das Herz von einem Schüttelfrost durchbebt, folgende abscheuliche Zeilen.

»Erwarten Sie mich heut Abend nicht, mein lieber Poet. Weder heut Abend, noch jemals. Behandeln Sie mich als Kokette, als eine Elende. Verachten Sie mich, hassen Sie mich. Aber es geht nun einmal nicht anders.

Heute Morgen, nach Ihrem Weggange, ist mir plötzlich klar geworden, daß wir alle Beide im Begriff standen, eine große Thorheit zu begehen. Und zwar hat mich, ich gebe es zu, eine unbedeutende Kleinigkeit ans meinem Traume gerissen. Meine Modistin hat mir einen neuen Hut für fünf Louis gebracht, und ich habe mich hierbei erinnert, daß solche Blumen nicht am Fenster einer Mansarde wachsen. Nach acht Tagen schon hätte ich die hübschen Hüte und das Uebrige vermißt. Sie haben sich getäuscht, ich bin nur eine Maitresse, aber ein gutes Mädchen, das Ihnen trotz alledem eine große Enttäuschung erspart. Versuchen Sie nicht, mich wiederzusehen. Ich habe soeben ein Engagement nach St. Petersburg abgeschlossen, wo der Großherzog, der mich vorigen Winter in einer Loge des Vaudeville bewunderte, mich durchaus, und zwar nicht so sehr aus der Entfernung, wiedersehen will. Aber bevor ich mich nach den Eisfeldern des Nordens aufmache, will ich ein Sonnenbad nehmen und reise daher noch heut Abend nach Nizza ab, wohin mich der Herzog von Eylau, ein Freund, gegen den ich sehr ungerecht war, begleiten wird. Leben Sie wohl und viel Glück. Ich hoffe, daß Sie in einigen Tagen, nach ruhiger Ueberlegung, nicht allzu sehr einem Weibe zürnen werden, die so glücklich gewesen ist, mein lieber Poet, Ihr erstes Debüt am Theater zu erleichtern, und die nicht aufhören wird, sich für die neuen Erfolge zu interessiren, die Ihnen sicherlich noch beschieden sind.

Ihre Freundin trotz alledem

Nelly Robin

Diesen Brief, den Nelly im Fieber ihrer guten Regung, aber doch mit recht schwerem Herzen und mit so mühsamer Anstrengung geschrieben hatte, las Jean Delly zum zehnten Male wieder, allen Qualen der ungestillten Sehnsucht und tödtlich verletzten Eigenliebe preisgegeben, als Marie ankam.

Obwohl der Schlüssel in der Thür steckte, hatte das junge Mädchen doch zuerst schüchtern geklopft, ach! wie bei einem Fremden. Aber Jean, ganz außer Fassung, hatte Nichts gehört. Sie erschien daher plötzlich, ganz eingeschüchtert vor ihm und richtete zu ihrem undankbaren Freunde einen furchtsamen und treuen Blick empor wie ein geschlagener Hund.

Die gute Nelly hatte sich nicht getäuscht. In einem Gedankenblitze verglich der phantasiereiche Mann die beiden Frauen, ihre beiderseitige Liebe zu ihm. Wie hatte er doch diesem herzigen Kinde entsagen können um eines eitlen und verdorbenen Frauenzimmers willen? Ihn schauderte. Und dann kam Marie auch gelegen: sie war die Tröstung.

Jean eilte auf sie zu und preßte sie leidenschaftlich an sich.

»Vergieb mir!« sagte er zu ihr mit zitternder Stimme. »Vergieb mir, meine innig geliebte Marie! … Du bist die Treuherzigkeit, die Offenheit, Du bist das schlichte Glück und die wahrhafte Liebe! Und ich stand im Begriff, Dich zu verlassen, um einer Lügnerin, einer Elenden willen! … Aber das ist ganz aus, ich schwöre es Dir! … Und da ich hinfort kein Geheimniß mehr vor Dir haben will, nimm, lies« – fügte er hinzu, indem er ihr den Brief reichte – »und sieh, um welcher Person willen ich im Begriff war, Dir soviel Leiden zu bereiten und eine Infamie und eine Feigheit zu begehen!«

Marie, berauscht und wie betäubt von Glück, schwankte und ließ sich auf einen Stuhl nieder, und während der Dichter vor ihr auf die Kniee sank und seine vor Scham rothe Stirn in den Schooß seiner Geliebten barg, las sie den verhängnißvollen Brief und den Namen, mit dem er unterzeichnet war: »Nelly Robin!«

So, also um Nelly Robin hatte sie Jean verlassen wollen! Nelly Robin, dieselbe, der sie heut Morgen ihr Unglück anvertraut hatte! … Und nun begriff Marie die großmüthige Lüge und das hochherzige Opfer ihrer Rivalin und war gerührt bis in's innerste Herz.


VIII.

Dreißig Jahre sind nun seit damals vergangen, und die beiden alten Freundinnen, die mir an einem lauen Nachmittage des Vorfrühlings auf einer Bank der Esplanade der Invaliden ihre Geschichte erzählt haben, sind Niemand anders als Marie und Nelly,

Alle Beide aus dem Volke und aus dem Elende hervorgegangen, sind sie auf ihr alten Tage, gedrängt durch widriges Geschick, dorthin zurückgekehrt.

Jean Delly erschien am Dichterhimmel wie ein Meteor: er glänzte plötzlich hellleuchtend auf, um alsbald wieder zu verschwinden. Kurze Zeit nach dem Erfolge seiner »Sternennacht« und des Bandes Gedichte, welcher ihr folgte und der der litterarischen Welt die Hoffnung gab, daß ein großer Dichter geboren sei, – wurde er krank, siechte dahin und arbeitete nicht mehr. Kaum 25 Jahr alt, starb er, von der Schwindsucht dahingerafft, in den Armen seiner treuen Marie, der er, ein Egoist bis zum Ende, nicht einmal seinen Namen vermachte Mit der bescheidenen Baarschaft, die er ihr hinterließ, miethete das arme Mädchen einen kleinen Laden und versuchte, von ihrem Geschäft zu leben. Aber sie war weder eine gewandte Verkäuferin noch eine sehr geschickte Arbeiterin; ihr Unternehmen prosperirte nicht, und sie war überglücklich, daß sie, dank einer geringen Summe Geld, die ihr noch blieb, eine alte Leihbibliothek im »Großen Kieselstein« kaufen konnte, wo sie ihr Dasein fristete, indem sie gleicherweise Schreibmaterialien wie Zeitungen verkaufte. Ihre Sinne waren abgestorben am Krankenbett Jeans, in den langen Nachtwachen, und ihr Herz hatte sich bei dem letzten Seufzer des Dichters für immer geschlossen.

Uebrigens, ihr weiblicher Reiz, ganz Anmuth und Frische, verging schnell. Nach und nach, in Folge nagender Arbeit des Kummers, der Armuth, der Einsamkeit, ließ sie sich gehen und wurde ziemlich rasch eine alte Frau, die in einem Umschlagetuch und einer Haube einherging.

Nelly hingegen, die bis in die Vierziger schön geblieben, setzte ihr tolles Leben in St. Petersburg fort, als sie plötzlich von einer Gliederlähmung getroffen wurde. Ihr Verfall vollzog sich rasch und war schrecklich. Nach Paris fast lahm zurückgekehrt, lebte sie daselbst eine Zeit lang von den Trümmern ihres Schiffbruchs und von dem Ertrag einer ihr bewilligten Benefizvorstellung. Aber da sie in keiner Weise auf die Zukunft bedacht war, so lernte sie rasch das Elend kennen. Die alten Bewunderer waren todt oder in alle Winde zerstreut. Sie mußte bei einigen Colleginnen von ehemals, die glücklicher oder verständiger als sie gewesen waren, die demüthigende Rolle einer heruntergekommenen Freundin spielen, der man hie und da einen Louis oder ein altes Kleid giebt. Bald, ach! versagten ihr auch diese schmachvollen Almosen. Ihre allzu bittere Noth, ihre Gebrechlichkeit wirkten abstoßend.

Da, mitten in ihrer Verzweiflung schöpfte die unglückliche Frau wieder ein wenig Muth. Sie erinnerte sieh, daß sie ja als junges Mädchen im Camisol gegangen und oft zum Frühstück eine ganz gewöhnliche Wurst gegessen, die sie im Schlächterladen schmarotzt hatte. Als ehemalige Schauspielerin konnte sie auf Unterstützung, sehr minimale zwar, aber regelmäßige, von Seiten der Theater-Verwaltung und einiger Wohlthätigkeitsgesellschaften rechnen. Sie verkaufte ihre letzten galanten Lumpen, miethete in einem entlegenen Viertel nahe am Marsfelde eine Mansarde und beschied sich damit, dort wie eine Vettelfrau, aber ohne Schande, zu leben.

So trat Nelly Robin, der Prinzen von Geblüt zu Füßen gelegen hatten, die aber jetzt ungefähr wie eine alte Wollkämmerin aussah, eines Tages, um ihr »Kleines Journal« zu kaufen, in den Laden Maries, der »Mutter Marie«, wie man sie in der Vorstadt zu nennen pflegte.

Sie hatten sich nur einmal in ihrem Leben gesehen, aber in welcher unvergeßlichen Stunde! Sie betrachteten einander lange, und trotz ihrer so grausam verwüsteten Züge erkannten sie einander schließlich am Blick, der sich nicht verändert.

»Aber … Sie sind die Geliebte Jean Dellys? …«

»Sie sind Nelly Robin!«

Und, die Kehle wie zugeschnürt, erstickend vor Aufregung, näherten sich die beiden Frauen, faßten sich an den Händen und umarmten sich unter Thränen.

Sie sahen sich alle Tage, um von der Vergangenheit zu plaudern. Marie sagte jetzt Nelly, wie dankbar sie ihr stets dafür gewesen sei, daß Jene ihr einst Schonung bewiesen; und Nelly konnte Marie gestehen, daß jene Liebe, die sie angesichts des Unglücks ihrer Nebenbuhlerin geopfert hatte, die einzige wahrhafte ihres zügellosen, im Grunde so traurigen Lebens gewesen war.

Es that ihnen allen Beiden unendlich wohl, von dem theuren Verstorbenen zu sprechen. Sie liebten einander im Andenken an ihn, Bald entschlossen sie sich, beisammen zu wohnen, und die gutmüthige Marie pflegte die Gebrechliche nach besten Kräften und brachte es durch die Macht des Beispiels nach und nach dahin, daß die einstige Courtisane ihre Gewohnheiten der Ordnung und der Decenz annahm. Ihr beiderseitiges Unglück wurde vereint erträglich. Welch sauberen und anständigen Eindruck machten die beiden armen Freundinnen an dem Tage, wo sie mir ihre Mittheilungen anvertrauten! Man hätte sie für zwei recht würdige Matronen gehalten, ich versichere es. Wie rührend war es, wenn Marie in ihren Händen die fast leblose Hand der Gelähmten wieder zu erwärmen versuchte!

Und wie glänzten die noch immer wundervollen Augen Nellys, die einst ganze Säle von Zuschauern entzückt hatten, von Dankbarkeit, wenn sie auf ihrer Freundin ruhten!

»Sie können sich keinen Begriff machen, mein Herr, von ihrer Ergebenheit für mich,« sagte die alte Nelly am Schlusse ihres Berichts zu mir. »Aber sie ist ein wahrer Schatz für mich, diese Marie … Und so erfinderisch, so sparsam! Wenn wir unsere vier Sous zusammenlegen, so leiden wir wahrhaftig an Nichts Mangel … Niemals eine Klage, eine Ungeduld, obgleich ich immer krank und recht beschwerlich bin … die zärtlichste Tochter könnte nicht mehr für ihre Mutter thun … Und warum ist sie so? – frage ich Sie. Weil ich sie einmal, das ist schon sehr lange her, unglücklich gesehen und ein gutes Herz gehabt habe … Sollte man nicht meinen, sie fühlt sich, um ein so Geringes, meine Schuldnerin?« . .

Aber die andere Greisin unterbrach sie mit einem Blick, und ich werde niemals den tiefen, den leidenschaftlichen Klang ihrer Worte vergessen:

»Nun ja, ich bin Deine Schuldnerin, Deine Schuldnerin auf ewig! … Du hast mir einst das gelassen, was Du mir nehmen konntest und, was Du selbst ach! niemals besessen hast, meine liebe Nelly … Ich werde das niemals vergessen, und ich werde niemals genug für Dich thun … Denn, sehen Sie,« fügte sie hinzu und wandte mir ihr verwelktes Gesicht zu, dem ihr Lächeln gleichwohl einen flüchtigen Reiz verlieh – »sehen Sie, ein wenig Liebesglück in der Jugend, das ist Alles, was wir Gutes im Leben haben, wir armen Frauen.«



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