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Eine Idylle
während der Belagerung


I.

Gegen Mitte des Jahres 1870 bewohnte eine alte Dame mit ihrem Sohne ein bescheidenes Quartier im fünften Stock eines Hauses des Quai Saint-Michel.

Frau Fontaine hatte ihren Gatten, der als Professor am Lyceum Louis-le-Grand angestellt war, verloren. Ihr Sohn Gabriel besaß ein gediegenes Wissen und wollte sich gerade im Augenblick, wo der Vater starb, zur Aufnahmeprüfung an der Ecole normale melden. Der Tod ihres Ernährers war ein furchtbarer Schlag für die Familie. Herr Fontaine hatte weder das Alter noch die Dienstjahre, die ihn zur Pensionirung berechtigten; seine Wittwe erhielt daher von der Regierung nur eine ganz unbedeutende Unterstützung. Gabriel mußte auf die höhere Unterrichtscarrière verzichten und auf augenblicklichen Verdienst bedacht sein, nur um seine Mutter zu erhalten. Der Director des Lyceums, ein freundlicher, wohlwollender Herr, setzte es durch, daß der junge Mann im Unterrichtsministerium mit einem Gehalt von 1500 Francs jährlich angestellt wurde; und dieses Sümmchen, verbunden mit der kleinen Pension, die Frau Fontaine erhielt, und einigen kleinen, bei Lebzeiten des Vaters gemachten Ersparnissen reichte für den täglichen Unterhalt beider aus.

Ihre bescheidene Wohnung bestand aus drei kleinen Stuben und einer Küche. Das Speisezimmer trug mit seiner unvermeidlichen, eichenfarbenen Tapete und dem rothbraun gestrichenen Fußboden einen unendlich banalen Charakter. Es enthielt ganz vorschriftsmäßig ein Mahagonibuffet, einen mit Wachsleinwand überzogenen Tisch und sechs Rohrstühle nebst den üblichen Strohtellern. Die weißen, an Stangen befestigten Gardinen und der Kachelofen mit grüner Schildpattfärbung waren ebenfalls vertreten, und der einzige Schmuck der Wände bestand in eingerahmten Schmetterlingssammlungen, die Zeugniß ablegten von den entomologischen Liebhabereien des seligen Herrn Fontaine. Das Schlafzimmer der Wittwe diente zugleich als Empfangssalon. Den größten Platz nahm hier das frühere Ehebett ein, das unter grünen Damastvorhängen versteckt war. Die Gardinen waren aus demselben Stoff; grauleinene Ueberzüge bedeckten die Stühle und die zu beiden Seiten des Kamins stehenden Lehnsessel. Zwei Bouquets künstlicher Blumen, unter Glasglocken stehend, sowie eine alabasterne Stutzuhr, Stil Empire, schmückten den Kaminaufsatz. Darüber hing der Spiegel, in welchen gerade gegenüber das Portrait des verstorbenen Herrn Fontaine hineinschaute. Ein pietätloser Sausewind vom Fach hätte diesem sogenannten Kunstwerk das energische Epitheton »Sudelei« wohl kaum erspart. Es stellte den würdigen Professor in schwarzer Amtstracht dar, wie er mit dem Barett auf dem Haupte vor einem cylinderförmigen Arbeitstisch sitzend, dessen Original übrigens unter dem Gemälde stand, gerade einen Vers aus Virgil mit einer Gänsefeder niederschrieb. Wenn der Maler in einer, wahrhaft künstlerisches Empfinden äußerst verletzenden, Weise den grellen Contrast zwischen dem sehr weißen Haar und der sehr rothen Gesichtsfarbe des Herrn Fontaine markirt hatte, so zeigten sich doch wenigstens sein guter Wille und seine Gewissenhaftigkeit in der Genauigkeit, mit der die Fauteuilnägel, das Tintenfaß und die Goldverbrämung der Toga wiedergegeben waren.

Wenn wir noch hinzufügen, daß ein schmaler Teppich einen Theil des stets mit Sägespänen bestreuten Fliesenfußbodens bedeckte, daß zwei Kupferstiche nach Delaroche, Abonnementsprämien irgend einer Zeitschrift, neben dem nichtssagenden Bilde des verstorbenen Familienvaters die ganze künstlerische Ausschmückung des Zimmers ausmachten, daß auf einem runden Tischchen neben dem einen Lehnsessel, auf dem Frau Fontaine gewöhnlich saß, ein angefangener Strumpf, eine silberne Brille und ein » Christliches Tagewerk« lagen, und endlich, daß Alles in einer zwar schmucklosen, aber bis auf's Kleinste sich erstreckenden Reinlichkeit funkelte, so wird der Leser einsehen, wie deutlich sich in dieser freudlosen, stillen Häuslichkeit das tugendhafte, anspruchslose, des eigenen Werthes fast unbewußte Leben der Wittwe und ihres Sohnes wiederspiegelte.

Das dritte Zimmer, welches noch kleiner war, als die beiden andern, diente Gabriel zum Aufenthalt. Es war mit einer unschönen Tapete bekleidet, blaue Blumen auf weißem Grunde. Ein sehr niedriger Fayenceofen, dessen schwarzes Rohr an der Stelle, wo es die Mauer durchbrach, eine Biegung machte, diente zu seiner Heizung Das Gesammtmobiliar bestand aus zwei Strohstühlen, einem kurzen, schmalen, eisernen Bett ohne Vorhänge, von fast spartanischer Einfachheit, einem kleinen Tisch mit Decke, einer Commode, die Wäsche und Kleidungsstücke enthielt und auf der ein Waschbecken stand, und endlich aus einer die Bibliothek des jungen Mannes einschließenden Etagère. Hier befanden sich Klassiker und Wörterbücher in Leinwand gebunden neben einer Anzahl von Bänden in Goldschnitt, Zeugen der Auszeichnungen und Prämien, welche Gabriel auf dem Gymnasium bei verschiedenen Gelegenheiten erhalten. Am Kopf des Bettes hing das Portrait seiner Mutter, eine jener alten Daguerrotypien, die man bei voller Beleuchtung nicht ansehen kann, ohne geblendet zu werden.

Dieses Cabinet war noch ärmlicher und trauriger, als der übrige Theil der Wohnung; aber man durfte nur das Fenster öffnen, um eine wundervolle Aussicht vor sich zu haben. Wenn sich der Bewohner dieses hohen Zimmers an einem hellen Morgen zum Fenster hinauslehnte, so konnte er eines der erhabensten Schauspiele genießen, die Paris zu bieten vermag, denn diese Stadt ist in ihrer rein landschaftlichen Schönheit von Schriftstellern und Dichtern noch lange nicht genug gewürdigt worden. Der Ringblick umfaßte den ganzen Lauf der Seine, ihre von Menschen wimmelnden Quais und Brücken, die aus dem Gewirr der Dächer emporsteigenden monumentalen Kunstwerke. Zur Rechten, ganz in der Nähe, der imponirende, massige Bau der Kirche Notre-Dame, vor ihm die Thürmchen des Justizpalastes und der vergoldete Knopf der Sainte-Chapelle; weiter unten zur Linken, erglänzte in der Ferne durch die Morgennebel hindurch jenseits der anmuthigen Biegung des Flusses und der Statue Heinrich des Vierten, die harmonische Linie der Paläste des Louvre, in der wundervollen Umrahmung der Cité und der Häuser des Quai des Augustins. Von allen Seiten stiegen, verstärkt durch den machtvollen Wiederhall des Stroms, die tausend und tausend Lebenslaute der erwachenden Stadt zu ihm empor, die keuchenden Stoßseufzer der Dampfschiffe, das Rollen der Omnibusse und Wagen, der Ruf der Grünzeug- und Obsthändler und das Trompetengeschmetter der aufziehenden Wache. Er konnte sich lange an diesem intensiven Leben, an diesem blendenden Bilde, an diesem zauberhaften Echo berauschen und mit vollen Lungen die freie, reine Lust dieses weiten, von Schwalben durchzogenen Himmelsraumes einathmen.

Gabriel Fontaine war darnach angelegt, so großartige Empfindungen in sich aufzunehmen, obgleich das Leben, das er bis dahin geführt, nicht dazu angethan schien, sie in ihm zu entwickeln.

Im Augenblick, wo diese Erzählung beginnt, war unser Held ein junger Mann von kaum zwanzig Jahren, von mittlerem Wuchs und zarter Gesichtsfarbe, immer schwarz gekleidet und bis obenhin zugeknöpft. Hand und Fuß verriethen Race. Er hatte volles, kastanienbraunes, welliges Haar und große, braune, leidenschaftsglühende und doch dabei schüchterne Augen. Sein Gesicht von matter, heißer Blässe zeigte eine entfernte Aehnlichkeit mit dem Francia'schen » Homme noir« im Louvre, nur mit dem Unterschied, daß er selbst jünger war.

Sein Leben war einförmig. Er stand früh auf, trank seinen Kaffee, steckte ein mit Wurst oder Schinken belegtes Brötchen zu sich und begab sich auf sein Bureau. Er ging langsam dahinschlendernd an der Brustwehr der Quais entlang, betrachtete das Leben auf den Schiffen, sah den Anglern zu und blätterte wohl auch bisweilen in einem alten Buche der dort ihre Waare feilbietenden Antiquare. Gern las er ein Gedicht; aber er kaufte nie etwas, denn er war sehr arm und hörte oft, wie seine Mutter, eine ängstliche, sparsame Frau, von Wirthschaftssorgen sprach.

» Res augusta domi,« wie sein Vater, der selige Professor zu sagen pflegte. Bei seinen Amtsbrüdern im Ministerium war er beliebt. Er nahm scheinbar Antheil an ihren Gesprächen, lächelte über ihre Witze und verrichtete gern die Arbeit eines Abwesenden. Abends kehrte er langsam und auf Umwegen nach dem Quai Saint-Michel zurück, nahm in Gesellschaft seiner Mutter ein bescheidenes, frugales Abendbrot, die reine Puppenmahlzeit, zu sich. Wenn dann die Wittwe, die vom Lande war und gewisse Gewohnheiten des Landlebens beibehalten hatte, sich um acht Uhr zu Bett gelegt, zog er sich auf sein Zimmer zurück, um zu lesen oder zu träumen; oder er ging, wenn auch ziemlich selten, noch einmal fort und besuchte irgend einen Gymnasialfreund, der Jura oder Medicin studirte.

Sonntags führte er seine Mutter in's Hochamt, in die Saint-Severin-Kirche. Dort erschien die kleine, magere, alte Frau, die unter ihrem Witwenschleier noch den ländlichen Kopfputz und die altmodische Haarfrisur des heimatlichen Dorfes trug, mit ihrem langen, ranziggelben Gesicht, ihrer hohen, andachtsvollen Stirn und ihren ausdrucksvollen Augen wie eine jener mystischen Gestalten, welche der Pinsel Holbeins verewigt hat. Sie folgte dem Amt nach den Angaben eines dicken Meßbuches, dessen Einband in schwarzes Tuch eingewickelt war, und sang, wie in einer Dorfkirche, die Antworten auf den Gesang des Priesters laut lateinisch mit. Gabriel, der als Kind sehr fromm gewesen, in dessen Seele jedoch der Zweifel längst eingezogen war, hatte die undeutliche Empfindung, als müsse er sich seiner Mutter schämen; aber aus Achtung vor ihr hatte er es nie gewagt, ihr den Rath zu geben, auf diese echt bäuerische Sitte zu verzichten.

Nach der Messe machten sie einen Spaziergang in den Anlagen des Luxembourg oder des Jardin des Plantes. Gabriel zog den letzten wegen seiner fremdartigen, duftausströmenden Bäume und seiner langen, melancholischen Alleen ganz besonders vor.

Um es mit einem Wort zu sagen, Gabriel war ein sanftes, ruhiges, stilles Wesen mit angeborener Neigung zur Träumerei. Er betrat nie ein Café und war allem Anschein nach immer keusch gewesen.

Niemand hatte ihn je eine politische Ansicht äußern hören.


II.

Dem Gesetze folgend, welches die Extreme zusammenführt, hatte Gabriel zum speciellen Freunde einen Studenten der Medicin, mit dem er auf dem Gymnasium zusammen gewesen, und dessen Wesen das gerade Gegentheil von dem seinigen war.

Er hieß Marius Cazaban und war aus Valence-d'Agen gebürtig. Klein, vierschrötig, mit wüthend rollenden, feurigen Augen, hatte er einen sein ganzes Gesicht überwuchernden Bart. Obgleich kaum majorenn, schien er doch schon 35 Jahre alt, in Folge jenes eigenthümlichen Vorrechts der Südländer, die zwar nie jung aussehen, bei denen sich aber dafür die Kennzeichen des Alters erst spät einstellen. Mit einem weichen Filz auf dem Kopfe, fiel er durch sein grellrothes Halstuch und sein stets zu kurzes Jaquet auf; sein Hemd kam vor zwischen einer bis auf die Brust hinaufgerutschten Weste und einem hellen, so enganliegenden Beinkleid, daß man jeden Augenblick fürchten mußte, es werde platzen und irgend ein schamhaftes Auge beleidigen.

Marius Cazaban war Atheist, Materialist und ein Unversöhnlicher. Das Wort war damals Mode. Im Café des Boulevard Saint-Michel, auf dessen gepolsterten Bänken er sich so recht breit machen konnte, hielt er mit jenem schrecklichen Accent des Südfranzosen die reinen Brandreden. Er hatte beim Begräbniß Victor Noirs Victor Noir (1848-1870, eigentlich Yvan Salmon) war ein französischer Journalist. Er wurde wegen der Umstände seines Todes und der daraus folgenden politischen Konsequenzen bekannt. Zu dem tödlichen Aufeinandertreffen mit dem Prinzen kam es, als er als Sekundant des Zeitungsherausgebers Paschal Grousset die Bedingungen für ein Duell mit Prinz Pierre Napoleon Bonaparte, einem Neffen Napoleon Bonapartes (d. i. Napoleon III.), aushandeln sollte, nachdem Grousset eine Schmähschrift gegen Napoleon Bonaparte veröffentlicht und der Prinz ihn deshalb als Verräter bezeichnet hatte. Dabei kam es zu einem Streit, in dessen Folge Bonaparte den Revolver zog und Noir erschoss. – Über 100 000 Menschen nahmen an der Beisetzung in Neuilly-sur-Seine teil. Der Freispruch Prinz Bonapartes löste einen Sturm öffentlicher Entrüstung gegen die bereits unbeliebte Monarchie aus, der in mehreren gewaltsamen Demonstrationen mündete. 1891 wurde der Leichnam Victor Noirs auf den Friedhof Père Lachaise in Paris umgebettet. Das Grabmal mit einer Statue des Bildhauers Jules Dalou wurde wegen der deutlich sichtbaren Schwellung im Lendenbereich zu einem Symbol der Fruchtbarkeit.: » Es lebe die Republik!« gerufen, und war der festen Ueberzeugung, er werde von der Polizei im Geheimen beobachtet. Er ging oft des Nachts, mit einem ungeheuren Knüppel bewaffnet, auf den einsamsten Straßen der Stadt spazieren, in der übrigens nicht ganz ernst gemeinten Hoffnung, von einem Polizeibeamten abgefaßt zu werden. Und die wüthenden Hiebe, die er bei diesem Gedanken nach allen Seiten führte, trieben die verspäteten Passanten in die Flucht.

Er bewohnte ein Zimmer in einem Hotel der Rue de l'Ecole-de-Médicine, Der enge Hausflur wurde durch eine schmale Thür geschlossen, über welcher man auf durchsichtigem Glase die Aufschrift las: Hôtel du Progrès et du Turn-et-Garonne meublé. Es verkehrte darin meist jene Sorte von Damen, welche sich ungekämmt und in der Nachtjacke über das Treppengeländer lehnten und nach dem Kellner riefen. Marius besuchte den Ball Bullier und wußte längst, was Liebe heißt. Er sagte: » le quartier«, wenn er vom Quartier latin sprach, und hatte er eine Geliebte, so nannte er sie nachdrucksvoll : » meine Frau«.

Er war sonst gutmüthig und besaß jene leicht erregbare Stimmung und jene Allerweltherzlichkeit, wie sie den Südfranzosen eigen ist. Auf dem Secirboden rauchte er seine Pfeife, deren Kopf die damals so allgemein beliebten Gesichtszüge des Journalisten Henri Rochefort Henri Rochefort (1830-1913), französischer Schriftsteller, Journalist, Theaterdichter und Politiker; typischer Vertreter des polemischen Pamphlets. In der von ihm redigierten Zeitschrift »Marseillaise«, zu deren Mitarbeitern Victor Noir und Paschal Grousset gehörten, griff er die kaiserliche Familie heftig an. Diese brachialen Artikel führten zu jenem Duell, in dessen Verlauf Victor Noir vom Prinzen Pierre Bonaparte am 11. Januar 1870 erschossen wurde. Daraufhin forderte Rochefort geradezu zum Aufstand auf. Sein Journal wurde verboten und er selbst am 22. Januar 1870 zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Auch sein weiteres Leben ist geprägt von Kampf und Abenteuer. trug. Alles in Allem genommen war Cazaban unausstehlich.

Es war daher auch nicht eine wahre, innere Zuneigung, welche Gabriel zu ihm hinzog, sondern vielmehr eine unklare Bewunderung, die bei einem unerfahrenen jungen Manne leicht erklärlich ist. Ja, wir müssen es aussprechen: Gabriel konnte sich sogar nicht eines gewissen Neides erwehren, wenn er das unerschütterliche Selbstvertrauen und das wunderbare zuversichtliche Auftreten des Südfranzosen so täglich vor Augen sah.

Es ist ganz selbstverständlich, daß die geordnete, sittenreine Lebensweise Gabriels seinem Freunde unerschöpflichen Stoff zu spöttischen Randglossen und schlechten Witzen bot.


III.

An einem der letzten Juliabende, einige Tage also nach der Kriegserklärung, ging Gabriel um die Dämmerungsstunde aus.

Er war mißgestimmt. Beim Essen hatte seine Mutter verschiedenemal die Befürchtung geäußert, er könne ihr durch den Krieg entrissen werden, und er hatte ihr nachdrücklich und wiederholt die Versicherung geben müssen, daß er als einziger Sohn einer Wittwe keine Gefahr liefe, eingestellt zu werden.

Aber in dieser jugendlichen, nach wechselnden Eindrücken dürstenden Seele, der das Bewußtsein des täglich abgewickelten Pensums nicht genügte, grollte der Sturm der Empörung.

Das stand ja allerdings fest, Soldat wie die Anderen konnte er nicht werden, das durfte er schon seiner Mutter nicht anthun. Aber er sagte sich, daß ihm das Geschick doch einen sehr beengten und wenig erfreulichen Wirkungskreis angewiesen habe. Und er dachte an die langen Nachmittage auf seinem mit vergilbten Actenstücken vollgepfropften Bureau, an den Ekel erregenden Geruch der alten Papiere, an die beständige, nahe Berührung mit Collegen, mit denen kein Gedankenaustausch möglich war, an die Straße voll Freude und Sonnenschein, der er jeden Morgen den Rücken kehren mußte, um in den langen, feuchten Corridors des Ministeriums zu verschwinden. Er sah sich schon im Geiste als alten, schrullenhaften, verdummten Beamten, seine Rockärmel mit Glanzkittel umhüllt und mit Baumwolle in den Ohren.

Gabriel stellte diese traurigen Betrachtungen bei seinem Spaziergange auf dem Boulevard Sebastopol an, auf dessen Trottoirs sich eine dichtgedrängte Menschenmenge fortschob. Der Abend war sehr heiß. Eben hatte man die Gaslaternen angesteckt. Die Leute saßen vor den lichtstrahlenden Cafés, Bier trinkend und lebhaft debattirend. Jeden Augenblick vernahm das Ohr Gabriels kurz abgerissene Sätze wie: »Der Kaiser hat sich gestern auf den Kriegsschauplatz begeben … Sie können sich darauf verlassen, Le Boeuf Edmond Lebœuf (1809-1888), seit 1869 Kriegsminister, wurde von Napoléon III., der hohes Vertrauen in seine Fähigkeiten setzte, am 24. März 1870 zum Marschall und beim Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges auch zum Generalstabschef ernannt. Leb?uf war zwar ein tapferer Soldat und ausgezeichneter Artilleriegeneral, aber unfähig, eine große Administration zu leiten. Auch fehlten ihm Urteil und Kenntnis über Frankreichs Wehrkraft im Verhältnis zur Wehrkraft Deutschlands. Nach den Niederlagen vom 6. August trat er von seinem Posten zurück und betätigte sich als Kommandeur des III. Korps. Später fiel er mit der Rheinarmee in deutsche Kriegsgefangenschaft. ist ernannt.« Ungeheure Menschenmassen umlagerten die Kioske, und diejenigen, welche sich dem dunklen Knäul mühsam entwanden, schwenkten über ihrem Kopfe eine entfaltete, noch nasse Zeitung. Heulend und johlend zogen dann und wann ganze Schaaren von Straßenjungen und Blousenhelden vorüber, wüthend und in monotonem Tonfall den Schrei ausstoßend: »Nach Berlin!« Dann übertönte plötzlich lauter Trommelwirbel den ganzen Lärm. Es waren die Garderegimenter, welche nach dem Ostbahnhof zogen, und Gabriel bemerkte auf dem Fahrdamm, über den Köpfen der Neugierigen, in dem Wirrwarr der schwarzen Schakos der Chasseurs de Vincennes und der Bärenmützen der Grenadiere den goldenen Adler einer Fahne oder den Helmbusch eines Obersten zu Pferde.

Diese kriegerische Stimmung, dieses militärische Schauspiel weckten in dem Geiste des jungen Mannes Träume von Kampf und Ruhm. Er sieht am Morgen der Schlacht die dunklen Truppenmassen sich endlos dahinziehen und die Adjutanten, dem Auge kaum erkennbar, die Ebene im Carrière durchstürmen. Auch er steht dort, Gewehr bei Fuß, im ersten Gliede der Angriffskolonne. Er vernimmt den dumpfen Donner der Kanonen, hört den schmetternden Schall der Trompeten; mit gefälltem Bajonnet geht's auf den Feind los, Heldenstücklein nach alter Zouavenart Zouaven: Bezeichnung französischer leichter Infanterieeinheiten. Der Name geht auf den kabylischen Stamm der Zuauas im Distrikt Zuaua (Zuavia) in der algerischen Provinz Constantine zurück. Die Zouaven wurden seit der Mitte des 19. Jh. zu einer regulären Infanterietruppe der französischen Armee mit Elitecharakter. Zu den Zouaven-Regimentern wurde ein Großteil der wehrpflichtigen europäischen Einwohner Französisch-Nordafrikas eingezogen, aber auch Franzosen aus dem Mutterland. Zouaven trugen auffällige, an türkisch-orientalische Trachten angelehnte Uniformen. werden vollbracht. Und siehe! dort am äußersten Ende, hoch oben auf dem Hügel, neben einer vom Kartätschenfeuer zerschmetterten Mühle, inmitten der bei ihren Geschützen im Todeskampf röchelnden Kanoniere, erkennt er sich wieder in jenem gemeinen Soldaten, der, von Pulverdampf geschwärzt, im hellen Sonnenschein eine Fahne aufpflanzt!

So dahinschlendernd, gelangte er zum Straßburger Bahnhof; aber ein Umhergehen war hier fast unmöglich geworden. Die Soldaten hatten sich unter die Menge vertheilt, begeistert reichte man ihnen Cigarren und Geld, und in allen Kneipen sah man sie, das Gewehr an der Seite und den Tornister auf dem Rücken, den Civilisten zutrinken.

Gabriel machte es wie alle Anderen, er blieb auf dem Trottoir stehen und sah zu.

Truppen, Munitionswagen, Kanonen drängten sich hier zusammen und versperrten einander den Weg. Pferde bäumten sich, Offiziere fluchten. Nur mühsam vermochten die Polizeisergeanten die Reihen der Neugierigen zu beiden Seiten der Straßen zurückzudrängen. Gassenbuben begrüßten jauchzend eine vorüberfahrende Mitrailleusenbatterie Mitrailleuse: 1850 entwickeltes, manuell bedientes Salvengeschütz; frühe Schnellfeuer-Schusswaffe, die aber nicht automatisch, sondern manuell geladen wurde. Trotz innovativer Konstruktion wurde die Waffe nie erfolgreich, da ihr taktisches Potenzial sehr gering war. Der volkstümliche Spott (»Kaffeemühle«) scheint dies vorweg zu nehmen. und riefen: »Da kommen die Kaffeemühlen!« Der Zeiger der Bahnhofsuhr wies auf neun Uhr.

In diesem Augenblick fühlte Gabriel, daß Jemand seinen Arm berührte, und hörte, wie eine weibliche Stimme zu ihm sagte: »Ach, bitte mein Herr, lassen Sie uns vor, damit wir auch etwas sehen.«

Und in der That drängten sich zwei jugendliche Gestalten in hellen Kleidern vor ihn.

Die größere, eine Brünette mit keckem Gesichtsausdruck, wandte sich um, ein Lächeln des Dankes auf den Lippen; dann neigte sie sich zu ihrer Gefährtin, um ihr etwas in's Ohr zu sagen. Sie schmiegten sich eng aneinander, wie erschreckt darüber, daß sie sich aus ihrer stillen einfachen Häuslichkeit in dieses Getümmel gewagt hatten.

Gabriel beachtete sie anfangs gar nicht; aber der hinter ihm anwachsende Menschenstrom drängte ihn nach vorn und zwang seinen zerstreuten Blick, sich mit ihnen zu beschäftigen. Sie unterhielten sich leise und lachten. Das Gesicht der Kleineren, welche schüchterner schien, als ihre Freundin, war durch einen Schleier verhüllt. Gabriel stand ganz nahe neben ihr, und bei jeder Bewegung, die sie machte, wurde er von ihrem Kleide berührt.

In diesem Augenblick, als gerade ein Zug schwerer Trainwagen im Trabe vorüberkam, drängten die hinten Stehenden ungestüm nach vorn und die kleinere Frau, die vor Gabriel stand, wurde mit Gewalt auf den Fahrdamm geschleudert. Mit einem Aufschrei sank sie zu Boden und wäre vielleicht unter die Räder gerathen, wenn der junge Mann, der gleichfalls vom Trottoir heruntergestoßen worden war, sie nicht aufgefangen hätte.

Sie ruhte lautlos und wie vergangen vor Angst drei oder vier Secunden in seinen Armen, dann raffte sie sich plötzlich auf; aber Gabriel, der bei dem Unfall ihre Hand ergriffen hatte, behielt sie in der seinen und nahm mechanisch ihren Arm, wie von dem instinctiven Verlangen geleitet, sie noch weiter zu beschützen.

»Meinen Sie nicht auch, Eugenie, daß wir von Glück sagen können, daß der Herr gerade hier gestanden hat? Was hätte Ihr Mann wohl gesagt, der Ihnen verboten hatte, auszugehen? Der hätte mich heut Abend gut angesehn! Aber nicht wahr, lieber Herr, Sie werden uns hier nicht im Stich lassen? Sie müssen uns aus dem Gedränge forthelfen. Es ist heut ganz wie neulich am 15. August, wo ich beim Feuerwerk beinahe erdrückt worden wäre. Ach, hab' ich 'ne Angst gehabt! … Sie wissen wohl gar nicht, Eugenie, daß der Herr uns das Leben gerettet hat? – Ist das hübsch! Ganz wie in einem Roman.«

Die zusammenhangslosen Worte sprach die große Brünette. Sie hatte den anderen Arm ihrer Freundin genommen und begleitete ihre Rede mit leisem Kichern

»Ja wohl, meine Damen,« sagte Gabriel mit zitternder Stimme, »wir müssen zunächst sehen, wie wir aus dem Gedränge herauskommen.«

Sie standen wieder auf dem Trottoir und Gabriel fühlte immer noch auf seinem Arm die Hand derjenigen, welche ihre Freundin Eugenie genannt. Er war im höchsten Grade aufgeregt. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte eine Frau an seiner Brust geruht.

Sie brachen sich mühsam durch das Volksgetümmel Bahn, bald ausgehalten von einer Familie, die in Thränen aufgelöst einen Voltigeur Truppengattung der leichten Infanterie, die von Napoleon Bonaparte im März 1804 als Elitetruppe aufgestellt wurde und in Frankreich bis 1870 existierte; sie umfasste Männer mit einer verhältnismäßig geringen Körpergröße, die Spezialisten für das zerstreute Gefecht waren. In der Plänklertaktik ausgebildet, zählten sie zu den besten Schützen der Armee. Sie übernahmen damit die aufgelockerte Kampfesweise der Tirailleure, die während der Französischen Revolution aufgestellt worden waren. zum Abschied umarmte, bald bei Seite geschoben von einem Zouaven, der aus einem Café herauskommend seiner Compagnie mit klirrendem Kochgeschirr und klappernder Feldflasche nachjagte.

Als sie auf dem Boulevard Magenta, an einer Stelle, wo das Gedränge weniger dicht war, angekommen waren, fühlte Gabriel, wie die junge Frau ihren Arm freimachte. Diese Trennung verursachte ihm ein seltsames Unbehagen.

»Jetzt, mein Herr,« sagte sie zu ihm, »haben wir Ihnen noch unseren Dank, unsern großen Dank auszusprechen.«

Ihre Stimme klang sanft, etwas gedämpft, vielleicht wegen des Schreckens, der ihr noch in allen Gliedern lag. Sie stand unbeweglich vor Gabriel, der sie betrachtete Es war ein ungefähr zwanzig Jahr altes Frauchen von zarter, wohlgebildeter Gestalt. Sie trug ein vollständiges Kostüm aus hellgrauem Stoff und einen etwas koketten Hut mit einer Fasanenfeder. Unter dem Schleier, der nur einen kleinen, feingeschnittenen Mund, sowie ein hübsches, wohlgenährtes Kinn sehen ließ, strahlten ihre zu Gabriel emporblickenden Augen. In dem rings herrschenden Halbdunkel schien es ihm, als wären sie sehr groß und voller Glanz. Noch einmal legte sich die große Brünette in's Mittel.

»Wie Eugenie, Sie wollen den Herrn so fortschicken? Im Gegentheil, da er so freundlich ist, will ich ihn bitten, uns auf unseren Weg zurückzubringen. Ueberhaupt finde ich mich in diesem Viertel auch gar nicht zurecht. Vielleicht können Sie uns sagen, mein Herr, wo der Omnibus de la Glacière vorüberkommt? Wir wohnen in jener Gegend.«

»Aber liebste Frau Henry, wir dürfen doch die Güte des Herrn nicht so sehr in Anspruch nehmen,« sagte Eugenie mit leisem Nachdruck.

Da ermannte sich Gabriel zu einer bei ihm ungewöhnlich kühnen Aeußerung. Er betonte, daß er die Damen zunächst in Sicherheit bringen und sie, wenn sie es gestatten, zu dem Omnibus führen wolle, der dort ganz in der Nähe, Rue Rochechouart, vorüberkam.

Frau Henry nahm sofort an, und sie machten sich auf den Weg, alle drei in einer Reihe, die beiden Frauen Arm in Arm.

Die Nacht war prachtvoll. Nicht eine Seele war auf diesem langen Boulevard zu sehen. Kein Mondschein, aber ein milchblauer, mit Sternen übersäeter Himmel. Das Gas leuchtete sehr hell. Gabriel ging neben der großen Brünette; er hatte es nicht gewagt, sich der Anderen anzuschließen. Noch nie hatte er sich in Gesellschaft unbekannter Frauen befunden; sein Herz pochte heftig. Er hörte, wie die Stiefeletten auf dem Asphalt des Trottoirs knackten. Ein leiser, kühler Nachtwind erhob sich und bewegte sanft die Kleider und Mäntel der beiden Frauen.

»Sie dürfen ja nicht etwa glauben,« nahm Frau Henry das Gespräch in jenem familiären, etwas gewöhnlichen Tone wieder auf, der Gabriel so sehr in Erstaunen versetzte, »daß meine Freundin undankbar ist und vergessen könnte, was Sie für sie gethan; aber etwas scheu ist meine kleine Eugenie. Ist sie doch erst seit vorigem Jahre in Paris, und ihr Mann läßt sie nicht von Hause fort. Sie ist noch nicht an das gesellschaftliche Leben gewöhnt.«

Gabriel sah, wie Eugenie bei diesen Worten ihre Freundin zum Zeichen, daß sie schweigen möchte, am Aermel zupfte; und Frau Henry, welcher die Kunst, einen passenden Uebergang zu einem andern Gesprächsthema zu finden, unbekannt zu sein schien, fragte Gabriel urplötzlich, ohne ihm Zeit zur Antwort zu lassen:

»Wie alt sind Sie denn eigentlich? Sie müssen doch noch ganz jung sein – zwanzig, einundzwanzig Jahr höchstens, nicht wahr? Wie schön das ist, erst zwanzig Jahr alt zu sein! Warum lassen Sie sich keinen Bart stehen? Ach so, Sie sind vielleicht Schauspieler. Doch nein, Bühnenkünstler tragen längere Haare. Lassen Sie mich mal rathen. Commis in einem Modewaarengeschäft sind Sie doch auch nicht, dazu sehen Sie zu fein aus … Aha, jetzt glaub' ich, habe ich es … es brennt! … Sie sind im Ministerium angestellt.«

Es ist das eine allgemein gültige Regel: dem Manne aus dem Volke, dem Bürger in bescheidenen Verhältnissen, sowie allen mit Verwaltungssachen unbekannten Personen schwebt nur ein einziges Ministerium als unklarer, unbestimmter Begriff vor.

Gabriel gab zu, daß er in der That Staatsbeamter sei.

Frau Henry fuhr fort:

»Das sind gute Stellen, weil man ein Fixum hat. Sie haben ja gar, wie ich sehe, einen Trauerflor an Ihrem Hute. Armer junger Mann, trauern Sie um Ihre Frau Mama? Nein. Dann wohnen Sie jedenfalls bei ihr. Das sieht man sofort, daß Sie bei Ihren Angehörigen leben. Sie sind wirklich sehr liebenswürdig gegen uns! … Wie heißen Sie mit Ihrem Vornamen?«

»Gabriel.«

»Gabriel. Der Name gefällt mir sehr gut. Und Ihnen, Eugenie? Ich würde jedoch Leo vorziehen. Nur ja nicht Victor! So heißt nämlich mein Scheusal von Mann. Na, Gott sei Dank, den bin ich los, er ist mir durchgebrannt, jedenfalls das Beste, was er thun konnte … Nun, Herr Gabriel, was meinen Sie zu dem Kriege? Ich glaube, wir werden gewinnen. Freilich werden gar manche von den armen Soldaten, die hier vor unseren Augen abmarschirt sind, todtgeschossen werden. Wissen Sie, beim bloßen Gedanken daran thut mir das Herz weh. Schließlich aber war der Kaiser doch gezwungen, den Krieg zu erklären! Sie haben ihn mit dem Plebiscit gerade genug gekränkt.«

Bei solchen Reden vergaß Gabriel seine Schüchternheit; er gab schließlich Antwort und so wurden der junge Mann und Frau Henry mit einander bekannt. Doch führte eine geheimnißvolle Anziehungskraft immer wieder seine Gedanken zu der stillen jungen Frau zurück, welche sie begleitete.

In seiner Schüchternheit ging Gabriel einen oder zwei Schritt von den beiden Freundinnen, und seine und Eugeniens Blicke begegneten sich von Zeit zu Zeit. Aber dann schlug er unwillkürlich die Augen nieder, und nicht ein einziges Mal wagte er es, sie anzureden. Frau Henry schien das Wohlgefallen, welches Gabriel an ihrer Freundin fand, recht gut zu bemerken; aber sie war weit entfernt davon, sich irgendwie ungehalten darüber zu zeigen. Nein, ganz im Gegentheil, wenn sie ihn inmitten ihres Geschwätzes unaufmerksam und mit ihrer Freundin beschäftigt sah, ließ sie jenes muntere, scheinbar grundlose Lachen hören, das ihren rosigen, von Perlenzähnen blitzenden Mund so gut kleidete.

Endlich waren sie auf der Rue Rochechouart angelangt. Der Omnibus kam gerade, und man sah in der Ferne seine beiden großen rothglühenden Augen,

»Herr Gabriel,« sagte jetzt Frau Henry mit ihrer gewöhnlichen Unverfrorenheit, »ich weiß bestimmt, daß Sie gern wissen möchten, ob die kleine Eugenie sich von ihrem Schrecken erholt hat. Damit Sie's wissen, ich wohne Faubourg Saint-Jacques Nr. 17. Sie werden stets willkommen sein.«

Gabriel, von dieser unverhofften Einladung ganz entzückt, wollte antworten, aber der Omnibus stand vor ihnen und Frau Henry hatte dem Kutscher gewinkt. Sie reichte dem jungen Manne die Hand und sagte:

»Auf Wiedersehen, nicht wahr?«

Gabriel gab ihr die Hand, die sie kameradschaftlich schüttelte. Vielleicht hätte er sich zu dem Entschlusse aufgerafft, auch Eugenie die seine zu bieten; aber sie sagte zu ihm schnell, mit einem letzten Blick sich anmuthsvoll verneigend: »Adieu, mein Herr, nochmals meinen besten Dank!« und eilte ihrer Freundin nach.

Gabriel sah sie in den Omnibus einsteigen, der sich von Neuem in Bewegung setzte. Er hörte den zweimaligen, kurzen Klingelton des Conducteurs und blieb unbeweglich auf einer Stelle stehen, dem schwerfällig dahinrollenden Wagen nachschauend, wie er den steilen Abhang hinunterfuhr und endlich an der Straßenbiegung verschwand.

Er kehrte in schnellem Lauf nach Hause zurück. Eine seltsame Aufregung hatte sich seines ganzen Wesens bemächtigt. Die kleinsten Einzelheiten seines Abenteuers standen ihm klar vor der Seele. Er erbebte bei dem Gedanken, daß die Haare der jungen Frau sein Gesicht fast gestreift hatten, als sie in seine Arme gesunken war; noch fühlte er auf seiner Hand den Druck von Eugeniens Hand; er erinnerte sich, daß ihre Handschuhe aus schwedischem Leder waren. Er sagte sich, daß er sie wiedersehen werde; er sprach laut zusammenhangslose Worte. Er wiederholte sich wohl hundertmal Frau Henrys Adresse, Faubourg Saint-Jacques, Nr. 17, als fürchte er, sie zu vergessen. Er kam sich stärker, geschmeidiger und leichter vor wie gewöhnlich; ja, sein Blut schien ihm feuriger in den Adern zu kreisen.

Als er über die Brücke Saint-Michel ging, sah er auf der Mitte des Fahrdammes eine Schaar Studenten daherkommen, unter denen er in der Ferne seinen Freund Cazaban erkannte. Alle brüllten die Marseillaise.

»Ach, s' ist ja wahr, s' ist Krieg; das hatt' ich ganz vergessen.«


IV.

Erst nach drei Tagen entschloß sich Gabriel zu einem Besuch bei Frau Henry.

Es erschien ihm dies als ein äußerst gewagtes und sehr schwieriges Unternehmen. Seine Gedanken weilten beständig bei den beiden Freundinnen. Die Erinnerung an das verschleierte, schweigsame Frauchen, mit der er nur einige schüchterne Blicke gewechselt, hatte seine Seele ganz gefangen genommen. Er wußte, daß sie verheirathet, daß sie scheu und unerfahren war; er ahnte, daß sie sich unglücklich fühlte. Er wollte sie wiedersehen und sagte sich, daß es dazu kein anderes Mittel gäbe, als Frau Henry einen Besuch abzustatten. Aber das Bild der schönen Brünette mit den feurigen Augen, die so ungezwungen in ihrer Ausdrucksweise war, deren kirschrothe Lippen beim Lachen so weiße Perlenzähne zeigten, rief in seinem Geiste eine Unruhe hervor, die fast an Angst grenzte.

Eines Tages jedoch ging er, geleitet von der Erwägung, daß sein ganzes bisheriges Verhalten eigentlich kein besonderes Interesse verrieth, und daß seine Aufnahme eine um so kühlere sein mußte, je länger er seinen Besuch hinausschob, etwas früher aus seinem Büreau fort und lenkte seine Schritte nach dem Faubourg Saint-Jacques.

Wie jeder Feigling, der einer Gefahr entgegengeht, hatte er den längsten Weg gewählt und machte immer langsamere Schritte, je näher er seinem Ziele kam

Auf dem Boulevard Montparnasse blieb er fünf Minuten vor einem Trödlerladen stehn und unterwarf eine Lithographie des Generals Athalin, des früheren Hofcavaliers der Königin Adelaide, einer näheren Betrachtung.

Um seine Gedanken von dem Schritt, den er zu thun im Begriff stand, abzulenken, vertiefte er sich in das Anschauen dieses Militairs und versetzte sich im Geiste in die gemüthliche, spießbürgerliche Zeit Louis Philipps. Alle Holzschnitte, die er je aus dieser Zeit gesehn, standen klar vor seinem geistigen Auge. Er sah den König, einen grauen Hut in der Hand haltend, die Königin nach englischer Mode frisirt, mit langen Hängelocken zu beiden Seiten des Gesichts, die Prinzen in altmodischen Uniformen, und Herrn Guizot auf der Rednertribüne, die Linke in der Brusttasche des Fracks versenkt.

An der Ecke des Boulevard d'Enfer, wo an jenem Tage grade der Pferdemarkt abgehalten wurde, blieb er von Neuem stehn. Hier trieben Straßenjungen ganze Gespanne schöner weißer Percherons Kaltblut-Pferderasse aus dem Perche-Gebiet im Nordwesten Frankreich. vorbei, deren Schweif mit Strohbündeln aufgebunden war. Auch sah er, wie zwei Roßtäuscher Der Begriff bezeichnete zunächst nur einen Pferdehändler, der die Tiere gegen Geld oder gegen andere Ware eintauscht, später war die Rosstäuscherei vor allem ein betrügerisches Verhalten eines Händlers, der Kunden mit verschiedenen Tricks über Gesundheitszustand, Alter und Wert des Pferdes täuscht. in sehr langen Blousen und mit hochaufgebauschten Mützen vor der Thür einer Branntweinschenke über den Preis einer alten Schindmähre mit einander verhandelten und abwechselnd ihre Gangart probirten.

Selbst auf dem Place de l'Observatoire konnte er noch zu keinem Entschlusse kommen und umkreiste zweck- und ziellos die Seiltänzerbuden.

Nachdem er so viel Zeit vergeudet, setzte er sich, ganz wieder wie der richtige Hasenfuß, in schnelle Bewegung und blieb, nachdem er fast rennend aus dem Faubourg Saint-Jacques angelangt war, genau vor jener Nummer 17 stehen, deren beide Ziffern ihm im Traume so oft in feurigen Zügen vorgeschwebt hatten.

Es war ein altes, schmal gebautes Haus, frisch gestrichen und mit einer widerwärtigen, gelblichen Wasserfarbe bemalt. Es hatte nur drei, wenn gleich sehr hohe Stockwerke, und zwei Fenster Vorderfront. Oben auf dem Ziegeldache sah man eine Bodenluke mit einer eisernen Querstange und einem herabhängenden Flaschenzuge. Unten befand sich neben der Hausthür, die zu einem sehr dunklen Gange führte, eine Speisewirthschaft, in deren Schaufenster sich die unvermeidliche, aus Zuckerstücken aufgebaute Pyramide zwischen zwei großen, mit Reis und Chocolade angefüllten Untersätzen präsentirte. Die melancholische, den Anstrich des Gewöhnlichen tragende Physiognomie des Hauses, bei der man unwillkürlich an das Gesicht eines armen Handwerkers dachte, gab unserem Gabriel Muth.

Mit heftig pochendem Herzen stürzte er hinein und eilte im Finstern zur Portierloge, zu der ihm der durchdringende Geruch einer Zwiebelsuppe den Weg wies.

»Wohnt hier Frau Henry?« murmelte er leise zum Guckloch hinein.

»Wie?«

»Wohnt hier Frau Henry?« fragte er etwas lauter.

»Im zweiten Stock, gerade aus,« antwortete die Stimme einer alten Frau.

Und bei jeder Stufe der dunklen Treppe stolpernd, tastete er sich im Finstern an dem alterthümlichen, plumpen Holzgeländer in die Höhe und kam endlich vor der bezeichneten Thür an, blieb hier klopfenden Herzens stehn und zog dann mit zitternder Hand die Klingel, nachdem er noch einmal so recht tief Athem geschöpft hatte.

Frau Henry öffnete sofort.

»Ach, Herr Gabriel!« sagte sie. »Aber bitte, treten Sie doch näher, bitte, setzen Sie sich! Wie liebenswürdig von Ihnen, daß Sie noch an mich gedacht haben!«

Das Zimmer bildete einen ebenso glücklichen wie unerwarteten Gegensatz zum Hausflur und der Treppe. Es machte mit seinen hohen Fenstern einen äußerst freundlichen Eindruck, und Licht und Sonne drangen in breitem Strome herein. Die Tapeten bestanden aus gelbem, mit kleinen Bouquets übersäeten Zitz. Das Zimmer hatte einen Teppich, niedrige Sessel, einen Divan und einen bis auf die Erde reichenden Spiegel, in dem man sich in voller Figur sehen konnte. Unter den zurückgeschobenen Gardinen des Alkovens bemerkte man das hohe, breite Bett, und an seinen Enden eine mit seidenen Fransen besetzte Fußdecke. Weibliche Putzgegenstände lagen überall in malerischer Unordnung umher, auf dem runden Nipptischchen, den ein duftendes Rosenbouquet zierte, auf dem Kamine, dem eine schöne, vergoldete Uhr Glanz verlieh. Gabriels Aufmerksamkeit entgingen auch nicht die bläulichen Kerzen der Candelaber, sowie ein bemalter kleiner Porzellanpantoffel, der mit Streichhölzern gefüllt war.

»Sie sehen, ich war gerade im Begriff, meinen Vögeln Grünes zu geben,« sagte Frau Henry, als Gabriel auf einem Fauteuil Platz genommen hatte. »Sie gestatten, daß ich zu Ende füttere.«

Der Käfig, in welchem ein Zeisig und ein Dompfaff herumhüpften, stand auf dem Tische, und Frau Henry mußte, um die dünnen Halme zwischen den Stäben hindurchschieben zu können, stehen, wobei sie ihr Profil halb abgewendet zeigte, denn sie kehrte Gabriel den Rücken. In ihrem langen Hauskleide aus feinem rothen Tuch, das kaum ihre Taille erkennen ließ und etwas auf der Erde nachschleppte, erschien sie sehr groß. Ihr prachtvolles schwarzes Haar war herausgenommen und bildete auf dem Scheitel einen Chignon Klassische Hochsteckfrisur, Haarknoten oder auch Dutt genannt., welcher durch einen großen Schildpattkamm festgehalten wurde. Am Ohrläppchen hing eine kleine goldene Kugel.

»Das schmeckt mal prächtig, das ist doch was Feines! nicht wahr, ihr süßen Täubchen?« flüsterte die schlanke Brünette in schmeichelndem Tone, beugte sich über den Käfig und ahmte mit den Lippen das Schmatzen eines herzhaften Kusses nach.

Gabriel war geblendet. Die Nähe dieser schönen jungen Frau im Negligé hielt ihn wie mit einem Zauber gefangen. Gedankenlos hafteten seine Blicke an der goldglänzenden Haut ihres Nackens und an den kleinen rebellischen Haarlocken.

Obgleich sie nichts sah, ahnte sie mit dem wunderbaren Instinkt der Frauen diese stumme Bewunderung, fühlte sich angenehm geschmeichelt und beeilte sich nicht, sich umzuwenden.

Plötzlich trat Eugeniens Bild vor den Geist Gabriels. Er erinnerte sich, daß er um ihretwillen gekommen, und warf es sich seltsamerweise wie eine Sünde vor, daß er sich einen Augenblick vergessen und seine Sinne so gefangen nehmen lassen konnte, nach dem Besitz einer Anderen zu verlangen.

»Und hat sich denn Ihre Freundin,« fragte er, »von ihrem neulichen Schrecken schon erholt?«

Frau Henry wandte sich lachend um. »Eugenie?« sagte sie. »Aha, ich sehe schon, das junge Herrchen haben nur an sie gedacht. Sie meinen's sehr gut, Herr Gabriel; aber Eugenie ist verheirathet und tugendhaft … So etwas müssen Sie sich aus dem Kopfe schlagen.«

»Aber ich versichere Sie, Frau Henry –«

»Schon gut, schon gut. Als ob ich neulich gar nichts bemerkt hätte! Sie haben ja die ganze Zeit über, wo wir den Boulevard Magenta entlang gingen, kein Auge von ihr verwandt. Aber es ist so, wie ich Ihnen sage … sittsam wie ein Heiligenbild! Und offen gestanden, das will viel sagen in ihrer Lage. Ein netter Bursche, dieser Clement. Wundert mich übrigens gar nicht. Er ist mit meinem Manne befreundet gewesen«

»Ist sie unglücklich?« fragte Gabriel mit theilnehmender Stimme.

»Zum Steinerbarmen! Armes Frauchen! Auf dem Lande bei ihren Eltern, reichen Gutspächtern, groß geworden, ist das arme Ding von allen Seiten gehätschelt und auf Händen getragen worden. Und da kommt so ein langer Kerl – er war aus ihrem Dorfe und hatte sich in Paris als Zimmermeister niedergelassen, Sie wissen schon, auf dem Boulevard d'Italie – heirathet sie, bekommt natürlich eine ganz hübsche Mitgift mit, und nun sind sie schon über anderthalb Jahr hier. Es hat aber gar nicht lange gedauert. Er hat schon fast Alles durchgebracht, und ich fürchte, er macht keine guten Geschäfte. Und dabei will's mit dem Bauen auch nicht vorwärts. – Wenn er noch wenigstens zu seiner Frau nett wäret Aber er denkt gar nicht daran. Der reine Fleischer, dieser Clement, und brutal und grob dabei, und alle Abende in der Kneipe … Wenn sie mich nicht hätte und bei mir ihre Abende zubringen könnte, sie stürbe vor Langeweile, die arme Seele! Noch ein wahres Glück, daß er ihr erlaubt, mich zu besuchen, wenn er zu Mittag gespeist hat. Sie bringt sich dann ihre Arbeit mit, wir kochen uns Kaffee und plaudern. Sie erzählt mir, was sie Alles zu leiden hat. So was thut einem immer wohl, nicht wahr? Es wäre doch sehr hübsch von Ihnen, Herr Gabriel, wollten Sie manchmal ein Stündchen zu uns kommen. Sie könnten uns immer das Petit Journal vorlesen. Das wird jetzt sehr interessant werden wegen des Krieges. Ich weiß ja, der kann nicht lange dauern, wir sind in vierzehn Tagen mit unseren Turkos Spitzname der 1842-1964 bestehenden algerischen und tunesischen Schützenregimenter des französischen Heeres, die offiziell Tirailleurs algériens bzw. Tirailleurs tunisiens hießen. Sie wurden nach der Eroberung Nordafrikas aus Einheimischen gebildet. S. o.: Zouaven. in Berlin. Die Preußen haben doch keine Mitrailleusen.«

Und so schwatzte Frau Henry unaufhörlich in einem Athemzuge weiter und entfernte sich zu Gabriels großem Leidwesen von dem einzigen Gegenstande, der den naiven Jüngling so sehr interessirte. Kunst und Logik waren ihr unbekannte Begriffe, und die Einzelnheiten ihres eigenen leichtsinnigen, mit Nichtsthun zugebrachten Lebens standen unvermittelt neben den seltsamsten Ansichten über Literatur, Religion, Krieg und Politik.

In wenigen Augenblicken erfuhr Gabriel, daß sie in Clignancourt geboren sei und für den Schauspieler Mélingue Étienne Marin Mélingue (1807-1875), der auch Bildhauer und Maler war, hatte 1870 immerhin bereits das Alter von 63 Jahren. schwärme; ihr Mann habe sie wegen einer Herumtreiberin verlassen; sie verrichte regelmäßig Morgens und Abends ihr Gebet; die Wäsche koste sie ein schweres Geld; sie sei der Ansicht, die Rheinufer müßten von Frankreich annektirt werden; ihre Mahlzeiten lasse sie sich hier unten aus der Speisewirthschaft holen; sie lese die Werke Heinrich Murgers In Deutschland ausschließlich für seinen Roman »Die Boheme. Szenen aus dem Pariser Künstlerleben« (1847/49) berühmt, der von Puccini zu seiner Oper » La Bohème« (1896) verwendet wurde. leidenschaftlich gern, sei eine glühende Verehrerin Garibaldis Giuseppe Garibaldi (1807-1882), italienischer Freiheitskämpfer und einer der populärsten Protagonisten des Risorgimento, der italienischen Einigungsbewegung zwischen 1820 und 1870. und habe der Hinrichtung Troppmanns Jean-Baptiste Troppmann (1849-1870), französischer achtfacher Mörder. Er wurde am 19. Januar 1870 im Alter von 21 Jahren unter der Guillotine des Roquette-Gefängnisses in Paris öffentlich hingerichtet. In der Verfolgung des Prozesses tat sich besonders das am 1863 gegründete Le Petit Journal hervor. Dieses konnte die Auflage von dem ersten Bericht über diesen Mord am 23. September von 357 000, drei Tage später auf 403 950, am Tag der Hinrichtung Troppmanns bis auf 594 000 Exemplare steigern. Die Affäre Troppmann führte zum Durchbruch dieses Blattes und zugleich zur Durchsetzung des Typus der Boulevard-Presse. beigewohnt.

Sie saß auf einem Fauteuil, Gabriel gegenüber. Ihre Ellbogen ruhten auf den Knieen, mit den Händen stützte sie ihr Kinn, und in dieser Stellung sprach sie zu Gabriel und sah ihn dabei unverwandt an wie ein Mann.

Seinen ganzen Muth aufbietend, machte Gabriel noch einen schwachen Versuch, das Gespräch auf Eugenie zu bringen; aber Frau Henry ließ ihrer Heiterkeit so ungehindert die Zügel schießen, sie brach in ein so lautes, spöttisches Lachen aus und machte so boshafte Bemerkungen über seine Beharrlichkeit, immer wieder dasselbe Thema anzuregen, daß Gabriel fühlte, wie ihm das Roth in's Gesicht stieg und seine Ohren brannten.

Daher gab er selbst dem Gespräch eine andere Wendung und stand einige Minuten nachher auf, um sich zu verabschieden.

Er mußte jedoch vorher versprechen, daß er am nächsten Abend seinen Besuch wiederholen würde; dagegen versprach ihm Frau Henry, als er schon an der Thürschwelle stand, daß er dann auch Eugenie antreffen werde. Sie begleitete diese Bemerkung mit einem so bezeichnenden Lächeln, daß er beim Abschiednehmen vor lauter Verlegenheit fast die finstere Treppe hinuntergefallen wäre.

Aber kaum war er auf der Straße, so durchdrang bei dem Gedanken, daß er Eugenie wiedersehen solle, ein unbeschreibliches Wonnegefühl sein ganzes Herz. Er beglückwünschte sich zu seinem Besuch bei Frau Henry, als hätte er eine Heldenthat vollbracht. Mit hoch erhobenem Haupte, mit schnellem, stolzem Schritt durchmaß er beim Nachhausegehen den Luxemburger Park, über und über bestaubt und in Schweiß gebadet in Folge der Gluthhitze der Hundstagssonne.

Unter den schönen Platanen der Fontaine Medicis, in jener Allee, wo Bonnen und Mütter, unter Bäumen gelagert, eifrig stricken und die auf dem Sande hingekauerten, spielenden Kinder bewachen, traf Gabriel seinen Freund Cazaban in düsterer Stimmung, den Hut tief in die Stirn gedrückt.

Gabriel war in so froher Stimmung, daß er die ganze Welt hätte umarmen können. Er drückte dem Manne des Südens die Hand und erkundigte sich mit zärtlichem Interesse nach der Ursache seiner Traurigkeit.

»Und Du fragst noch?« sagte Cazaban unwillig »Doch 's ist ja wahr, Du bist kein Republikaner! Hast Du denn nicht die Depesche gelesen … von dem Jungen, und daß er die Kugel aufgehoben hat … Wenn nämlich Badinguet Spottname Napoleons. ( Anm.d.Übers.) siegt, Dummkopf, so ist seine Dynastie begründet, und dann hat er Frankreich so gut wie in der Tasche.«

Gabriel lag dieser Ideenkreis so fern, daß er zunächst gar nicht daran dachte, wie wenig patriotisch die Befürchtung Cazabans war. Nur daran, daß Krieg war, erinnerte ihn die Aeußerung des Südfranzosen. Doch war in Beziehung hierauf Frau Henrys frohe Zuversicht auch auf ihn übergegangen.

»Um so schlimmer für die Republik,« sagte er heiter. »Ich bin sicher, daß wir auf der ganzen Linie siegen werden.«


V.

Am nächsten Tage war Gabriel pünktlich an Ort und Stelle.

Er fand Frau Henry damit beschäftigt, Kaffee zu kochen, und der Anblick dreier Porzellantassen, die auf einem kleinen Präsentirteller standen, versetzte ihn in nicht gelinde Aufregung, denn sie waren ein Beweis dafür, daß Eugenie kommen würde.

Frau Henry schien sehr erregt, und als Gabriel sich höflich nach ihrem Befinden erkundigte, antwortete sie ihm:

»Ich weiß wahrhaftig nicht, wo mir der Kopf steht. Der Gedanke läßt mir keine Ruhe, daß vielleicht gerade in diesem Augenblicke unsere Soldaten sich mit diesen abscheulichen Preußen herumschlagen. Ach, es giebt Momente, in denen ich es als ein Unglück empfinde, kein Mann zu sein!«

Diese Worte klangen Gabriel wie ein Vorwurf. Seit gestern lebte er nur in der fieberhaften Erwartung des gegenwärtigen Augenblicks, und er mußte sich sagen, daß er auch keine Secunde an das Schicksal unseres Heeres gedacht hatte. Der Gedanke, daß ihm eine Frau, ohne es zu ahnen, seine Pflicht dem Vaterlande gegenüber so vor Augen führte, hatte etwas ungemein Beschämendes für ihn. Halb seitwärts an die Brüstung des Fensters gelehnt, blieb er eine Zeit lang in Stillschweigen versunken und betrachtete die von den schrägen Strahlen der untergehenden Sonne vergoldete Kuppel der Sternwarte, sowie die Gipfel der Bäume, welche über die hohe Mauer auf der gegenüberliegenden Seite der Straße hinausragten.

Aber plötzlich öffnete sich die Thür, und Eugenie trat in's Zimmer, genau so gekleidet wie an dem Abend, wo er sie zum ersten Mal gesehen.

Als sie Gabriel erkannte, blieb sie ganz bestürzt stehn.

»Da sind Sie ja, mein Herzchen!« rief Frau Henry der jungen Frau zu, küßte sie und nahm ihr Hut und Mantel ab. »Sie sind doch hoffentlich mit meiner Ueberraschung zufrieden. Erkennen Sie den Herrn nicht wieder? Es ist ja unser kleiner Beschützer von neulich. Ist er nicht nett?«

Dann sagte sie, in scherzhafter Weise die verbindlichen Formen einer Dame der vornehmen Welt übertreibend und ihren Mund zum anmuthvollsten Lächeln, über das sie gebieten konnte, zuspitzend:

»Frau Clement … Herr Gabriel – Herr Gabriel … Frau Clement«; und brach schließlich in lautes Lachen aus.

Gabriel machte eine linkische Verbeugung. Frau Clement stammelte kaum vernehmbar einige Worte.

Der Jüngling sah sie an, aber er erkannte sie nicht; er hörte sie sprechen, aber er verstand sie nicht. Ihn quälte ein unerträglicher Durst; er wußte nicht, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Wie durch einen Nebel hindurch sah er die kleine, zierliche Gestalt vor sich stehn. Ihre Augen waren zu Boden gesenkt. Ihr graues Kleid hatte einen allerliebsten, mit Musselin besetzten Miederausschnitt. In den Händen trug sie ein Arbeitstäschchen aus schwarzem Leder.

Da machte Gabriel eine ungeheure Anstrengung, fuhr sich mit der Hand über die schweißbedeckte Stirn, und fragte sie, noch ganz fassungslos vor Aufregung, ob sie nicht auch fände, daß es sehr heiß sei?

Frau Henrys lautes Lachen übte auf Beide eine erlösende Wirkung.

»Na, setzt euch, Kinderchens, der Kaffee wird sonst kalt. Sie müssen sich mehr Zucker hineinthun, Herr Gabriel … Nun, mein Schätzchen, schon wieder mit der Stickerei beschäftigt? Sind Sie fleißig! Wo mag ich nur mein Nadeletui hingesteckt haben? Ach so! da hab' ich's in der Tasche. Ich bin doch zu vergeßlich … Das hat mir schon tausenderlei Unannehmlichkeiten bereitet. Zum Beispiel gestern früh, wo ich mich mit dem Omnibus-Controleur auf dem Place Samt-Michel herumgezankt habe, weil ich dachte, ich hätte ihm mein Billet schon gegeben.«

Sie war wieder einmal im Zuge und sprang in ihrem Geplauder von einem Gegenstande zum andern über. Sie beschrieb bis auf die kleinsten Einzelnheiten die Ausstattung einer Cousine, deren Vater, Holzhändler in la Chapelle, sich sein Bein nicht um zweimalhunderttausend Francs hätte abnehmen lassen; oder gerieth ganz außer sich vor Zorn bei der Erinnerung an die Begegnung, die sie neulich auf der Treppe gehabt, wo ein Hausbewohner im zweiten Stock, Unterarzt in der geburtshilflichen Klinik, sie im Finstern hatte küssen wollen.

Sie saßen alle drei an einem runden Tische. Frau Henry hatte ihren Platz in der Mitte und schnitt sich, ohne ihre Plauderei zu unterbrechen, nach den Zeichnungen einer alten Modezeitung die verschiedenen Theile eines Merinokleides zurecht. Eugenie stickte krampfhaft weiter und verwandte kein Auge von ihrer Arbeit. Gabriel war vor lauter Schüchternheit noch immer nicht so recht zu sich gekommen und studirte die Malereien auf seiner Kaffeetasse. Wenn er ja die Augen aufschlug, so wagte er es nicht, sie auf Eugenie zu richten, sondern betrachtete das von den Fenstern eingerahmte Blau des Himmels, an dem leichte, goldig schimmernde Wölkchen dahinschwebten als letzte Erinnerung an die zu Rüste gegangene Sonne.

Als ihm Frau Henry das Petit Journal reichte mit der Bitte, etwas vorzulesen, glaubte er nicht, daß er jemals damit zu Stande kommen könnte. Es schien ihm, als ob sich die Zeilen in schlangenartigen Windungen vor ihm bewegten, und als ob die Buchstaben fortwährend ihre Farbe veränderten. Gleichwohl brachte er es fertig; aber die Worte, welche er aussprach, kamen ihm nicht so recht klar zum Bewußtsein. Er hatte eine undeutliche Vorstellung davon, daß von einem französischen Marschall die Rede war, der ein Commando bei der Rhein-Armee erhalten hatte. Aus der Lebensbeschreibung dieses Offiziers wurde eine heldenmüthige That berichtet, als er noch Major in Afrika war und irgend einen Sturm mit dem Spazierstock in der Hand und der Cigarre im Munde mitmachte.

Die Nacht brach allmählich herein, und ihre Schatten füllten nach und nach das Zimmer. Frau Henry stand auf, um die Lampe anzuzünden.

Erst jetzt sahen Gabriel und Eugenie einander an, einem inneren Drange folgend, der mächtiger war, als ihr Wille.

Nur eine Secunde, eine einzige nur, trafen sich ihre Blicke; dann senkte die junge Frau sofort wieder ihr Haupt auf ihre Stickerei, obgleich fast nichts mehr zu sehen war. Aber Gabriel hatte ihre Augen wiedererkannt, jene großen, im Halbdunkel leuchtenden Augen. Ganz so hatten sie ihn einst aus dem Boulevard Magenta beim Schimmer des Gaslichtes angeschaut, und er fühlte, wie sein Blut machtvoll dem Herzen zuströmte.

Nachdem Frau Henry die Lampe angezündet, setzte sie sich wieder hin und plauderte mit ihrer Freundin. Sie fragte sie um Rath, wie sie ihr Kleid zuschneiden solle; und Eugenie gab Antwort, legte ihre Arbeit bei Seite und zeichnete mit ihrem Finger, auf dem ein kleiner Fingerhut saß, Striche auf dem Stoffe des Kleides. Dabei sah sie Gabriel nicht ein einziges Mal an; aber man fühlte, daß es ihr Ueberwindung kostete, so beharrlich seinem Blick auszuweichen. Er dagegen wurde dreister. Ja, einmal trieb er die Kühnheit soweit, das Wort an sie zu richten. Sie beantwortete seine Bemerkung nur mit wenigen Worten; dabei blieb jedoch ihre Stimme, die kühl und abweisend klingen sollte, sanft und mild. Dann und wann sah Frau Henry das Pärchen mit einem langen, vielsagenden Blicke an, und ein seltsames Lächeln umspielte ihre Lippen.

Endlich verkündeten die vier oder fünf Kirchthürme des Viertels die zehnte Stunde. Es war eine sternenhelle, warme Nacht. Kein Windhauch war bemerkbar. Ein großer Nachtschmetterling war aus den Gärten der Sternwarte zum Fenster hereingeflogen und flatterte in dem Lichtkreise über der Lampe an der Decke umher.

Eugenie legte ihre Stickerei in das lederne Täschchen und stand auf, um nach Hause zu gehn; aber Frau Henry sagte zu ihr mit halblauter Stimme, als sie ihr die Mantille anziehen half:

»Was meinen Sie, Eugenie? Es ist so einsam auf den äußeren Boulevards … Wenn Sie's wünschen, kann Herr Gabriel Sie begleiten.«

»O nein, Frau Henry, das ist unmöglich. Was würde mein Mann sagen, wenn er mich träfe?«

»Der? Sie wissen doch ganz genau, daß er nie vor zwölf Uhr aus der Kneipe kommt … An Ihrer Stelle würde ich mich fürchten, so allein zu gehen … Die Zeitungen bringen alle Tage lange Mordgeschichten!«

»Lassen Sie mich, beste Freundin … es geht nicht.«

Und Frau Clement gab ihrer Freundin einen Abschiedskuß, nickte Gabriel zu und war verschwunden.

Gleich nachher empfahl sich auch Gabriel bei Frau Henry, die, vor dem Kamin stehend, eine Melodie trällerte und sich dehnte, wie Jemand, der so recht schläfrig ist. Hierauf begab er sich über den einsamen, von den Strahlen des Mondes taghell erleuchteten Boulevard Saint-Michel auf den Heimweg zu seiner Mutter.

Da überkam ihn plötzlich eine tiefe Niedergeschlagenheit. Er war mit sich unzufrieden. Er fand Eugeniens Benehmen kalt und zurückweisend, und sich machte er Vorwürfe, daß er sich dumm benommen: er hätte am liebsten weinen mögen.

In der Nähe des Cluny-Museums sah er dichte Menschenschaaren, deren Aussehen ihm unheilverkündend erschien. Bürger, Studenten und Leute aus dem Volk sprachen leise mit einander. Tiefe Trauer lag in ihren Mienen. Mechanisch blieb er stehn, um ihnen zuzuhören.

Weißenburg! General Douay überfallen und getödtet! Die Turkos nach Wundern der Tapferkeit aufgerieben! Der Feind im Lande! Das erfuhr Gabriel in wenigen, mit verbissenem Grimm hingeworfenen Sätzen.

Er war kein Egoist; er liebte sein Vaterland nicht weniger, als irgend ein Anderer, und diese schreckliche Nachricht hatte zunächst die Wirkung, sein Liebessehnen zurückzudrängen. Aber als er wieder zu Haus war, das Licht ausgeblasen hatte und in seinem kleinen Bette lag, in jenem Augenblicke, wo alle anderen Pariser an die Niedermetzelung einer ganzen Division, an das dahinströmende Blut so vieler Franzosen dachten, schaute Gabriel, dessen Geist sich von dem Bilde der heißbegehrten Frau nicht losmachen konnte, nur die holde Gestalt Eugeniens, wie sie in dem Zimmer des Faubourg Saint-Jacques ihrer Stickerei oblag, und Thränen kindlicher Rührung traten in seine Augen, wenn er sich noch einmal vergegenwärtigte, wie sie sich in ihr Fingerchen stach, es behutsam zwischen ihre Perlenzähne preßte, und auf ihrem weißen Grunde ein einziger, ganz kleiner Tropfen Blut zum Vorschein kam!


VI.

Und nun nahmen jene langen, schmerzensreichen Augusttage ihren Anfang, wo die Sonne, wie zum Hohn in beständiger Pracht erglänzend, ihre glühend heißen Strahlen auf die geängstete, entsetzte Stadt herabsandte.

Zunächst wurde Paris mit einer Unzahl unheilvoller Nachrichten überschwemmt Die Niederlage bei Reichshofen So benennen französische Militärschriftsteller die Schlacht bei Wörth. – Anm. d. Uebers wurde bekannt, jenes entsetzliche Unglück, das der Patriotismus des Spießbürgers durch die Legende von dem todesmuthigen Ritt der stolzen Garde-Kürassiere zu beschönigen suchte. Dann kamen in schneller Aufeinanderfolge, Schrecken verbreitend, unklare Telegramme: Keine Nachricht von Frossard. Alles kann noch gut werden. Paris ist schleunigst in Vertheidigungszustand zu setzen. Und Forbach! Allgemeiner Rückzug der Unsrigen! Straßburg belagert! Metz eingeschlossen! Schon werden die Lanzen der ersten Ulanen sichtbar, an allen Punkten rings im Kreise tauchen sie auf, in immer größerer Nähe. Die Kammern erklären sich in Permanenz, das Ministerium fällt der allgemeinen Wuth zum Opfer, die Linke hebt drohend und gebieterisch ihre Stimme, Nothgesetze werden geschaffen, Maueranschläge verkünden den Belagerungszustand.

Dann plötzliche Stille, das Ausbleiben jeder Nachricht, beängstigender als die schlimmsten Nachrichten. Die Häuslichkeit wird auf die Straße verlegt; dort werden die Zeitungen vorgelesen, lange Reden gehalten, Debatten aller Art geführt. Die große Masse, von Leichtgläubigkeit und Hoffnung bethört, nimmt alle Märchen von Siegen vor Metz und in den Steinbrüchen von Jaumont für baare Münze. Paris erhält jeden Tag ein anderes Aussehen. Noch gestern sah man überall die lächerlichen Uniformen der Feuerwehrleute aus der Provinz. Die Regierung, welche vollständig den Kopf verloren hat, hat sie herbeigerufen, um einen möglicherweise ausbrechenden Aufstand zu unterdrücken.

Heute sind die Straßen gedrängt voll von schmutzbedeckten, unvollständig ausgerüsteten früheren Soldaten und Reservisten in meist betrunkenem Zustande. Morgen begleiten Lieder und rasende Hurrahs die Abfahrt der noch unbewaffneten Mobilgarden. Heute hat Paris, durch eine falsche Siegesnachricht betrogen, einen Tag lang geflaggt; morgen strömt es in hellen Schaaren zu den Festungswerken. Bis dahin waren sie nur Zeugen der Schäferstunden des Rekruten und seiner Liebsten, oder dienten den Vorstadtsbewohnern als Tummelplatz ihrer Sonntagsvergnügungen. Heute sind sie durch die Schaufel der Erdarbeiter aufgewühlt, mit Pferden und Arbeitern bedeckt. Ringsum hört man die von den Abtheilungsführern gegebenen Befehle, hie und da funkelt im Grase der Böschungen die Bronze der großen Belagerungsgeschütze.

Vom Kriegsfieber erfaßt, lernen die Bürger in den Kasernenhöfen exercieren; sie sind rottenweise aufgestellt und ihre Gewehrkolben erdröhnen auf dem Pflaster. Aus den Thüren der Mairien, an denen die dichtgeschaarte Menge die noch feuchten Anschlagzettel liest, treten Bürger heraus. Jeder trägt ein Gewehr auf der Schulter, aber er hält das Bajonett verkehrt. Schon treibt die Furcht vor der Invasion die Bewohner der Umgegend stromweis zu den Faubourgs herein. Ihr armseliges Mobiliar befindet sich auf einem Handwagen, der Mann hat sich vorn eingespannt, die Frau stößt von hinten, die Kinder sind mit Packeten beladen. Und als letztes Symptom der nahenden Belagerung sieht man zahlreiche Heerden magerer abgehetzter Ochsen und staubbedeckter Schafe in Umzäunungen eingepfercht, die in aller Eile inmitten der öffentlichen Gärten und auf den vorstädtischen Boulevards angelegt worden sind.

Aber derjenige Pariser, der sich am wenigsten um diese rasende Aufregung, diese schmerzvollen Befürchtungen, diese thörichten Hoffnungen bekümmerte, war ganz bestimmt unser Gabriel.

Er hatte Frau Henry wieder besucht, Eugenie wiedergesehen. Anfangs war er alle drei oder vier Tage hingegangen, dann öfter, dann alle Abende, und jetzt lebte er nur noch für die zwei Stunden, die er in jenem Zimmer des Faubourg, an der Seite der beiden bei Lampenschein arbeitenden Frauen zubrachte, während zu den offenen Fenstern der würzige Duft des Laubes hereinströmte, und am Himmel die Sterne der schönen Sommernächte funkelten.

In der ersten Zeit schien es, als sei die Gegenwart des jungen Mannes Eugenien unbequem, denn sie hatte sich ihm gegenüber stets äußerst kühl und zurückhaltend gezeigt; aber da sie wie er naiv und schüchtern war, hatte sie sein stilles, sanftes Wesen zuletzt gerührt, und einige alltägliche Redensarten, die er mit einer vor tiefer Aufregung zitternden Stimme vorzubringen gewagt hatte, waren von ihr mit größerem Zutrauen beantwortet worden. Bisweilen ruhte ihr Blick voller Sympathie auf dem Gesichte Gabriels. Eines Abends richtete sie sogar zuerst das Wort an ihn, und unwillkürlich glitt ein trauriges Lächeln über ihre Lippen, als sie die unaussprechliche Freude bemerkte, welche in diesem Augenblicke in seinen Augen aufleuchtete.

Gabriel war augenscheinlich Frau Henrys Schützling. Diese Frau ohne Erziehung und von vielleicht nicht ganz vorwurfsfreien Sitten konnte in Liebesangelegenheiten unmöglich ein allzu strenges Richteramt üben. Sie hätte vielleicht ihrer Freundin gerade keinen schlechten Rath gegeben; aber es machte ihr Vergnügen, zu sehen, wie die Liebe im Herzen des jungen Mannes keimte und wuchs, und in ihrer unbewußten Unmoralität hegte sie fast den stillen Wunsch, daß diese Liebe getheilt würde.

Gabriel liebte mit jener leidenschaftlichen Gluth, welche die erste Liebe kennzeichnet, und die, ach leider! nur einmal im Leben unser Herz entzündet. Was ihm Frau Henry von ihrer Freundin erzählt, was ihm Eugenie von ihrem Wesen und ihrem Leben in ihren Abendunterhaltungen offenbart hatte, dies Alles hatte in seiner Brust ein glühendes Feuer der Zärtlichkeit und des Mitleids entflammt. Er ahnte jetzt, welch trauriges, qualvolles Dasein die kleine Frau in der Ehe führte. Einfachen Herzens, von zarter, liebevoller Naturanlage, war sie mit einem Arbeiter verbunden worden, der sich zwar über seinen Stand erhoben, aber, von Hause aus roh und heftig, jetzt noch durch die schlechten Zeitverhältnisse verbittert war.

Unser Held fühlte, wie elend und verlassen sie sich in der unermeßlich großen Stadt, in der sie Niemand kannte, vorkommen mußte. Sein geistiges Auge folgte ihr in ihre Häuslichkeit; er sah, wie sie einsam und allein, ohne Dienstmädchen Alles besorgte und ihrem Manne das Essen kochte. Im Arbeitsrock kam er aus der Werkstatt herüber, blieb oft noch an der Thürschwelle stehen, um irgend einem seiner Leute einen Verweis zu ertheilen, und verzehrte dann in aller Eile sein Mittagbrot. Seine ganze Unterhaltung bestand in einigen kurzen, mit rauher Stimme an seine Frau gerichteten Worten, wobei seine umdüsterte Stirn nicht einen Augenblick heiter wurde, denn er hatte beständig Angst um einen fälligen Wechsel.

Gabriel kannte die unendlich langen Abende, welche Eugenie vor ihrer Bekanntschaft mit Frau Henry in dem dürftig ausgestatteten Hochzeitszimmer zugebracht, beim Licht einer Kerze nähend und die Mitternachtsstunde erwartend, wo ihr Mann endlich aus dem Wirthshaus kam. Seine Blouse trug dann gewöhnlich weiße Kreideflecke vom Billardspiel, sein Athem roch nach Glühwein, und vor dem Schlafengehn klopfte er die Asche seiner letzten Pfeife auf dem Marmor des Kamins aus. Im Lauf der mit Eugenie gepflogenen Unterhaltungen hatte Gabriel oft nur durch einen Seufzer, durch einen zum Himmel empor gerichteten Blick, durch ein schmerzlich ironisches Lächeln erfahren, welche Leiden sie erduldet, welch' bittere Thränen sie im Geheimen schon vergossen. Welch Marter für den armen Verliebten, der sich noch dazu sagen mußte, daß es daraus keine Rettung gab, daß sie verheirathet und mithin alles Mitleid vergeblich, aller Zorn ohnmächtig war.

Einen Trost jedoch hatte er: er bemerkte, daß jene Stunden harmloser Plauderei, die sie alle drei bei Frau Henry vereinten, einen gewissen Zauber auf Eugenie ausübten. Er hatte in seiner Herzenseinfalt keine Ahnung und Eugenie hatte sicherlich selbst keine so rechte Vorstellung davon, welch tief inneres Glück sie bei dem Gedanken empfand, von diesem Jüngling geliebt und bewundert zu werden. Sein sanftes, stilles Wesen, seine Zurückhaltung, seine zu Herzen gehende Stimme, seine schöne weiße Hand, die zum Streicheln und Liebkosen wie geschaffen schien, sein träumerisches, ausdrucksvolles schwarzes Auge hatten ihr's angethan. In seiner Unschuld sah er nicht, welche Fortschritte die Liebe schon in dem Herzen der jungen Frau gemacht hatte; aber soviel war ihm klar geworden, daß sie bei ihren traulichen Zusammenkünften auf dem Zimmer des Faubourg Saint-Jacques gar schnell ihr schwermüthiges, trauriges Wesen ablegte, ja, daß sie sogar manchmal ganz fröhlich und vergnügt lachte, was ihn ungemein beglückte.

Jeden Abend las er den beiden Freundinnen das Petit Journal vor. Es war dies allen Dreien schon zur lieben Gewohnheit geworden, und für Frau Henry, die nach den ersten Niederlagen aufgehört hatte, Bonapartistin zu sein, eine Gelegenheit, die Republik zu predigen, und das Massenaufgebot und den Sieg bei den Klängen der Marseillaise zu fordern.

Gabriel freute sich, wenn sich die schöne Brünette diesen patriotischen Herzensergüssen hingab; nicht als ob er ihnen sonderliche Aufmerksamkeit geschenkt hätte, sondern weil er dann seine Lektüre unterbrechen und sich so recht in den Anblick Eugeniens vertiefen konnte.

Bisweilen brachte er auch, um die Sitzung zu verlängern, ein Buch mit und würzte die tägliche Zeitungskost durch den Vortrag einiger Verse oder eines fesselnden Romans. So machte er die beiden Frauen mit den unsterblichen Erzählungen des Abbé Prevost und einigen der leidenschaftlichsten Dichtungen Alfred de Mussets bekannt; und wieder einmal dienten die schönen Bücher, die von Liebe sprechen, zwei schüchternen Liebenden als Vermittler.


VII.

An einem der letzten Augustabende hatte die Lektüre länger als gewöhnlich gedauert, und auf Frau Henrys eindringliches Bitten gab Eugenie schließlich ihre Einwilligung dazu, daß Gabriel sie nach Hause begleitete. Ihr Mann war nicht in Paris, er hatte sich in geschäftlichen Angelegenheiten auf kurze Zeit nach Chartres begeben, und die Gefahr einer Begegnung war daher ausgeschlossen.

Zum erstenmal in seinem Leben fühlte Gabriel, wie der Arm der jungen Frau sich vertrauensvoll in den seinen legte, während sie Beide langsamen Schritts und schweigend den einsamen Faubourg entlang gingen, wo ihre Schritte in der stillen Sommernacht auf dem über die Katakomben führenden Wege einen dumpfen Wiederhall fanden.

So gelangten sie, ohne ein Wort miteinander gewechselt zu haben, auf den breiten, schönen Boulevard de la Glacière, dessen hohe, heut verschwundene Bäume ihre dunklen Wipfel zur Pracht des Sternenhimmels emporstreckten. In der Mitte der Allee bemerkte man eine sich weit hinziehende, aus schlechten Brettern zusammengefügte Verzäunung, über welche die schwarzfarbenen Hörner der hier wegen der drohenden Belagerung zusammengepferchten Rinder hinausragten.

Als sie sich im Schatten des Boulevard befanden, mäßigte Eugenie plötzlich ihren Schritt und sprach mit bebender Stimme:

»Herr Gabriel, ich muß Ihnen etwas sagen, das Sie mir hoffentlich nicht übel nehmen werden. Ich sehe, daß Sie mir seit einiger Zeit zu große Aufmerksamkeit widmen, und das macht mir viele Sorge. Nur um mich mit Ihnen darüber in aller Offenheit auszusprechen, habe ich Ihre Begleitung angenommen. Ich will nicht, daß Sie sich um meinethalben Kummer machen. Wissen Sie, was Sie thun müßten, wenn Sie verständig wären? Frau Henry nicht mehr besuchen. Wohin sollte es uns führen, wenn wir einander gut würden? Sie würden darunter leiden, und auch ich bin so schon unglücklich genug. Dabei ist's gar nicht recht von mir, daß ich klage … denn das Leben ist nun einmal so.«

Sie war stehen geblieben, sie sprach schnell, in größter Aufregung, und hatte nicht bemerkt, daß ihre Hände schon in denen des jungen Mannes ruhten. Aber plötzlich hörte sie ein Schluchzen, und sie fühlte, wie ein glühendheißer Tropfen auf ihre Hand fiel. Gabriel weinte.

Was sprachen sie da miteinander? Ach, ihr wißt es, die ihr einst im Dunklen am Busen eines Weibes geweint, die ihr einst das Wort » auf ewig« mit tiefster Ueberzeugung ausgesprochen, die ihr den wonnigen Schmerz der Liebe kennt! Ihr allein wißt es, die ihr durch einen vorwurfsvollen Blick theurer Augen bestimmt, die heiligsten Schwüre, fest und tugendhaft zu bleiben, verrathen habt! Naive, erhabene Herzen, die ihr, in einer einzigen Stunde eurer Jugend das ganze Ideal eures Lebens verwirklicht zu sehen geglaubt; die ihr mit jenem göttlichen Traum das Glück eures Daseins begraben, deren Aug' seit jener Stunde erloschen, deren Stirn seit jenem Moment gebleicht ist – ihr allein werdet Mitleid haben mit den beiden armen Wesen, denen das Geschick so wenig Trost und Freude gegeben, und die, verloren in der Einsamkeit jener heißen, von Wohlgerüchen durchwürzten Sommernacht, bei dem milden Licht der Sterne die Pflichten der Gesellschaft vergaßen und ganz in der Unendlichkeit der Liebe aufgingen.

Sie hatten sich auf eine Bank gesetzt, Gabriel weinte bitterlich. Eugenie suchte ihn zu beruhigen, zu trösten; sie trocknete seine Thränen mit ihrem Taschentuche und flehte ihn an, ihr ein Lächeln zu schenken.

Dann standen sie auf, liefen Hand in Hand, dicht an einander gepreßt, unter den Bäumen umher und plauderten mit leiser Stimme. Sie erzählte ihm ihre ganze Lebensgeschichte: wie sie als Kind bei ihren Eltern auf dem Lande gelebt, wie man sie zu jung verheirathet, und wie sie sich vor der rauhen Stimme und dem struppigen Barte ihres Mannes gefürchtet habe. Paris sei ihr verhaßt, es sei zu groß. Und auch manchen kindlichen Zug verflocht sie in ihre Rede, und berichtete ihm, daß der große Wachhund zu Hause sie nie erkenne, und daß er, wenn sie in der Nacht heimkehre, an der Kette reißend ihr nachbelle.

Gabriel hörte ihr zu wie im Traum; er blickte sie an, das Auge umflort von Thränen. Dann überschüttete er sie plötzlich mit Fragen; er wollte ihr ganzes Schicksal erfahren, die unbedeutendsten Einzelheiten ihres Lebens, die geheimsten Gedanken ihrer Seele

Keiner sprach zum andern von Liebe; sie bedurften dessen nicht. Eugeniens gefaltete Hände hielten Gabriels Arm fest umschlossen, und so sahen sie einander in die Augen.

Sie blieben in dem Theile des Boulevards, welcher über die Bièvre führt, am Rande der steinernen Brustwehr stehen und schauten einen Augenblick hin auf die in der finsteren Nacht nur noch schwer erkennbare, düstere Landschaft, auf das dunkle, schmale Bett des Flusses, die unbeweglichen, hochragenden, den Fernblick beschränkenden Pappeln und die freien Plätze, wo an Schnüren Wäsche zum Trocknen aufgehängt war.

Langsam ertönten Glockenschläge in der Ferne, es war Mitternacht.

»Ach, ist das spät geworden!« rief Eugenie erschrocken; »ich sollte schon längst zu Haus sein. Schnell, schnell!«

Sie beeilten ihre Schritte und befanden sich in wenigen Minuten auf dem Boulevard d'Italie, vor der Wohnung Eugeniens.

Beim Schein einer Gaslaterne bemerkte Gabriel inmitten einer halb zerfallenen Mauer eine große, roh gearbeitete hölzerne Thür. Ueber derselben war ein weiß gestrichenes Brett angebracht, auf welchem sich in schwarzen Lettern folgende Worte befanden, die der Liebende nur mit gepreßtem Herzen zu lesen vermochte: »Clement, Zimmermeister.« Als sie dann ganz nahe an dieser Thür standen, unterschied Gabriel undeutlich durch die auseinanderstehenden Bretter, aus denen sie gezimmert war, einen ziemlich großen Bauhof, in welchem eine Unzahl Balken und Bohlen aufgeschichtet lag, und wo ein wüthendes Hundegebell erscholl. Am äußersten Ende des Hofes sah man das niedrige, flache Dach der Werkstätte, und zur Linken endlich das kleine, im regelmäßigen Viereck erbaute Wohnhaus, das nur einen Stock hoch war. Es war noch ganz neu, und machte mit seinen symmetrischen Fenstern und seiner schmucklosen, jeder Verzierung entbehrenden Façade einen trübseligen Eindruck. Hier also, in so nichtssagender, reizloser Umgebung lebte Eugenie mit dem Andern zusammen; und bei diesem Gedanken konnte sich Gabriel eines Gefühls der Bitterkeit nicht erwehren. Eugenie hatte schon den Schlüssel ins Schloß gesteckt.

»Sehen wir uns morgen?« fragte der junge Mann und seine Stimme flehte um Erhörung.

Sie hatte seine Begleitung nur angenommen, um ihn zu bitten, auf ein Wiedersehen zu verzichten; aber jetzt, im entscheidenden Augenblicke, ließ sie ihr Muth vollständig im Stich.

»Ja, morgen!« antwortete sie, indem sie mit der einen Hand die schwere Thür öffnete, und die andere ihm entgegenstreckte.

Er ergriff die dargereichte Hand; und plötzlich, einem inneren, unwiderstehlichen Drange nachgebend, sanken die Liebenden einander in die Arme, und von leidenschaftlichem Sehnen erfaßt, seiner Sinne kaum mächtig, preßte Gabriel seine heißen Lippen auf Eugeniens Stirn, ihre gesenkten Augenlider, ihren halbgeöffneten Mund.

»Das ist Unrecht! Lassen Sie mich, Herr Gabriel! Das ist sehr Unrecht!« murmelte Eugenie, am ganzen Leibe erhebend; sich den Armen des jungen Mannes entwindend, stürzte sie in den Hof und schlug die Thür heftig hinter sich zu. Mit lautem Krach fiel diese in's Schloß und zitterte noch lange nachher.

Gabriel sah sie entfliehen und in dem Häuschen verschwinden. Festgebannt blieb er vor dem düsteren, abgelegenen Bauhofe stehen, in welchem man das Heulen eines im Dunkel verborgenen Hundes vernahm. Sein Auge richtete sich empor zum Himmelszelt, an welchem unzählige Sterne funkelten. Seine Hände zitterten wie die eines Greises. Ihm jauchzte das Herz laut auf in der Brust. Er hätte am liebsten sterben mögen.


VIII.

Eines Tages ging Gabriel gegen drei Uhr Nachmittags den Quai d'Orsay, der sich am Garten des Corps Legislatif entlang zieht und im Bogen um das Eingangsthor des Ministeriums des Auswärtigen wendet, langsam auf und nieder.

Es war ein sehr schöner, aber dabei sehr heißer Tag. Man merkte es dem jungen Manne an, daß er auf seine Toilette die möglichste Sorgfalt verwendet hatte. Er trug ein graues, elegantes Sommerbeinkleid und einen Hut von imitirtem Panama. Er wartete auf Eugenie.

Am Tage nach dem von uns beschriebenen nächtlichen Spaziergange kehrte ihr Mann von seiner Reise zurück, und Gabriel durfte in Folge dessen die junge Frau nicht mehr bis nach Hause begleiten. Aber seit der Liebende die Wonne des Zusammenseins zu Zweien kennen gelernt, genügten ihm die Besuche bei Frau Henry nicht mehr. Jeden Abend verabschiedete er sich zugleich mit Eugenie von der schlanken Brünette, ging einige Schritte mit und bat so lange und so dringend, bis sie ihm eingestand, sie gehe manchmal allein aus. »Vielleicht können wir uns sogar gleich morgen treffen; ich habe gerade eine Besorgung auf dem Gros-Caillou. Ist sie erledigt, dann gehe ich über den Quai d'Orsay nach Hause.« Und an dieser Stelle ist es, wo wir unsern Freund, gepeinigt von allen Qualen der Erwartung, wiederfinden.

Obgleich die Stunde des Rendezvous noch nicht geschlagen hatte, konnte sich Gabriel vor Ungeduld kaum fassen. Den heißen Strahlen der Sonne schutzlos preisgegeben, ging er unruhig auf dem Asphaltpflaster hin und her. Die glühende Hitze hatte es erweicht, so daß der Abdruck jedes Fußes, der es betreten, deutlich erkennbar war, von den schmalen, dicht neben einander hinlaufenden Spuren niedlicher Damenschuhe bis zu den breiten Sohlen schwerer Reiterstiefel, deren Nägel man hätte zählen können.

Gabriel hatte schon alles Mögliche versucht, um die Zeit hinzubringen und seinen Geist zu beschäftigen. Er wußte die Zahl der eisernen Stäbe auswendig, welche das Gitterthor des Ministeriums bildeten, er konnte genau angeben, wie viel Bäumchen auf dem Trottoir gegenüber, die Brustwehr entlang zwischen dem Pont de la Concorde und dem Pont des Invalides standen. Ein oder zweimal war er sogar schon über den Fahrdamm gegangen und hatte seine Augen an den mit Annoncen bemalten Glaswänden der Zeitungs-Kioske auf- und niedergleiten lassen, ohne sich in seiner Gedankenlosigkeit über ihren Sinn klar zu werden. Aufmerksam hatte er die Profile aller gekrönter Häupter auf den Preismedaillen betrachtet, welche der Colonial-Gesellschaft auf den verschiedensten Ausstellungen für Herstellung vorzüglicher Chokolade zuerkannt worden waren, und mit starrem Blick den Mann mir dem struppigen Haupthaar gemessen, der die Nacktheit seines Torso hinter einem Hute verbirgt.

Er dachte an die Möglichkeit, daß sie nicht kommen könnte; vielleicht hatte sie irgend eine Abhaltung gehabt, das wäre doch schließlich ganz natürlich. Gleich darauf schien es ihm wieder, als müßte er bei dem bloßen Gedanken hieran vor Schmerz vergehen, und er sagte sich, daß sie damit eine unglaubliche Herzlosigkeit an den Tag legen würde.

Plötzlich sah er sie unter den Bäumen der Esplanade im schnellen Laufe auf sich zukommen. Er eilte ihr entgegen, sie schon von fern mit freudigem Lächeln begrüßend. Bald standen sie bei einander, noch ganz außer Athem. Eugenie nahm seinen Arm, und voll Glückseligkeit blickten sich die Liebenden in's Auge.

Sie trug ihr graues Kostüm und ihren Fasanenfederhut. Die Hitze und das schnelle Laufen hatten ihr Gesicht leicht geröthet. Schweißtropfen perlten auf ihrem Nacken. Der gestärkte Halskragen hatte dort eine zarte, rosige Linie gezeichnet. Ihre Augen strahlten, der duftige Hauch ihres Athems streifte Gabriels Gesicht.

»Ach Gott,« sagte sie, »ich hab' solche Angst. Wenn uns Jemand begegnete …«

»Ich dächte,« sagte Gabriel, »wir gingen über die Brücke und setzten uns in den Dampfer. Mit diesem fahren wir bis zum Point-du-Jour, steigen dort in die Gürteleisenbahn, und kommen so bequem bis zur Porte d'Italie, ganz in die Nähe Ihrer Wohnung. – Undenkbar, daß wir Jemanden treffen … Wollen Sie?«

Sie nickte ihm zu, und als sie zum Landungsplatz heruntergegangen waren, blieben sie vor dem Stege, der zur Dampferstation führte, stehn. Der Dampfer war eben fort, und sie sahen ihn auf der Seine in vollem Laufe dahinjagen, seine lustig wirbelnden Rauchwölkchen zum Lichte emporschleudernd.

Beruhigt blickte Eugenie um sich. Niemand war auf der sich sanft hin und her wiegenden Schiffsbrücke zu sehn. Leis rauschend strömten die Wogen heran, welche die Fahrspur des Dampfers begleiteten. Auch auf dem langen, schmalen Fußwege den Fluß entlang zeigte sich keine Seele.

»Wollen wir nicht einen kleinen Spaziergang machen?« fragte Gabriel, den Wunsch seiner Freundin ahnend, »wir können ja am Pont d'Alma einsteigen.«

Sie machten sich auf den Weg. Zur Rechten ragte die hohe, massive Quaimauer mit ihren runden Ausgußthüren und ihren großen, eisernen, in gleichmäßigen Zwischenräumen in das Mauerwerk eingelassenen Ringen empor. Oben am Rande der steinernen Brustwehr waren Baumspitzen sichtbar, auch dann und wann ein über die Brüstung gelehnter Spaziergänger. Zur Linken floß in der Richtung ihres Weges die Seine. Von ihren frischen, reinen, in munterem Laufe dahinströmenden Gewässern wehte ein erquickender Lufthauch herüber. Die Hitze war nicht mehr so drückend. Ein leiser Wind hatte sich erhoben, und weiße Wölkchen bildeten sich am Himmel, der ein weniger tiefes Blau zeigte. Im August herrscht schon in den späten Nachmittagstunden eine herbstlich milde Temperatur.

Auf der andern Seite des Flusses sahen sie Männer damit beschäftigt, die langen Kähne auszuladen, die auf Kanälen aus Flandern angekommen waren, und auf dem Quai d'Orsay, hinter dem Vorhange der ihres Blätterschmucks schon halb beraubten Linden erschienen die langen Dächerreihen der Tabaks-Factorei und der kaiserlichen Ställe.

»Denken Sie auch manchmal an mich?« fragte Gabriel die junge Frau, und drückte ihr die Hände. Eugenie, die ihre Handschuhe ausgezogen hatte, erwiderte diese Frage durch einen leichten Händedruck.

Aus ihrem Wege kamen sie bei einem Angler vorüber, der, am Uferrande sitzend, seine Beine zum Wasser herunterhängen ließ. Der Mann drehte sich um und warf ihnen einen zerstreuten Blick zu. Gabriel mußte Eugeniens Hand loslassen. Sie selbst erröthete tief und schlug die Augen nieder

Als sie die zum Pont d'Alma sanft emporsteigende Böschung hinaufgingen, fiel ihr Blick zufällig auf die dort zum Schmuck der Brückenpfeiler aufgestellten steinernen Figuren des Chasseurs und des Zouaven.

»Wie groß sind sie doch, in der Nähe gesehn!« sagte Eugenie, und zeigte mit ihrem Sonnenschirm auf die beiden Kolossalstatuen.

Gabriel antwortete: »Gleich das erstemal, als ich Sie bei Frau Henry sah, hatte ich die Empfindung, daß ich Sie auf ewig lieben müßte.«

Und die junge Frau senkte das Haupt und seufzte.

Als sie wieder auf der andern Seite des Pont d'Alma, am Flusse unten standen, hielt der Dampfer gerade an der Landungsbrücke. Sie war gedrängt voll.

»Wollen wir mitfahren?« fragte Gabriel eingeschüchtert.

»Nein!« antwortete Eugenie, »gehen wir lieber.«

Sie setzten ihren Spaziergang längs des Ufers fort. Zur Rechten hatten sie jetzt den schönen, mit Bäumen besetzten Quai vor dem Garde-Meuble. Vor ihnen lag der Pont d'Jena, auf welchem vier stolz einherschreitende Rosse ihre weißen Silhouetten am Himmel abzeichneten.

Sie gingen sehr langsam. Eugenie, nach vorn gebeugt, schien die Steine zu zählen. Gabriel preßte ihren Arm sanft an den seinigen und betrachtete ihr Profil. Mit zärtlicher Rührung haftete sein Auge auf einem flatternden Löckchen, das, vom Winde bewegt, an Eugeniens Ohr erzitterte.

»Es ist also wahr, daß Sie mir ein wenig gut sind?« fragte er.

Ein so inniger Blick traf ihn aus ihren schönen großen Augen, daß jede andere Antwort überflüssig war.

»Weshalb sprechen Sie so zu mir, trotzdem Sie ganz gut wissen, daß dies nicht sein darf?«

Sie traten unter die niedrigen, finsteren Bogen des Pont d'Jena, wo das Wasser lauter rauschte und der Charakter der Landschaft sich vollständig änderte. Alles hatte schon einen mehr ländlichen Anstrich. Vor ihnen lag, mitten im Flusse hingestreckt, die lange, schmale Gestalt der Schwaneninsel, prangend im schönsten Grün; graue, nach Süden zu sich neigende Wolkensäulen entstiegen den vielen Schornsteinen der Fabriken in Grenelle, und in blauer Ferne, weit jenseits der Holzbrücke und des hellschimmernden Viaducts zeigten sich die undeutlichen Umrisse der Hügelketten von Meudon, umkränzt von heißem goldigen Nebel.

»Es war mir ein wahres Herzensbedürfniß, Sie einmal zu sprechen,« sagte Gabriel, »Wenn ich allein bin, so lege ich mir Alles, was ich Ihnen sagen möchte, in Gedanken zurecht; aber wenn ich dann bei Ihnen bin, habe ich Alles wieder vergessen, ich kann mir Nichts behalten. Und doch sind Sie das einzige Wesen, in dessen Gesellschaft ich nicht schüchtern bin. Es liegt etwas so Herzliches in Ihrem Blick. Sie können sich gar nicht denken, wie glücklich ich bin, daß Sie heute gekommen sind. Vor vier Wochen habe ich Sie zum ersten Mal gesehn, und dabei bilde ich mir ein, ich hätte Sie schon immer gekannt. Ach, jeder einzige Tag, an dem ich mit Ihnen zusammen war, bleibt mir fest im Gedächtniß, Alles ist mir noch gegenwärtig … Wissen Sie noch den Abend, wo das Singen vorüberziehender Mobilgarden Frau Henry an's Fenster lockte? Sie sahen mich an, als wir im Finstern allein waren! … Ich zitterte wie Espenlaub … Und wie Sie sich in den Finger stachen und ihn zwischen die Zähne preßten … Und dann auch das blauseidene Halstüchlein, das Sie nur einmal umhatten, und das Sie so gut kleidete … Wo ist's denn hingekommen, daß Sie es nicht mehr tragen? Ach, ahnten Sie, wie heiß ich Sie liebe!«

Eugenie antwortete: »Wie leicht könnten wir einmal Bekannten begegnen!«

Die Brücke von Grenelle lag schon hinter ihnen. Die Quais hatten aufgehört. Spärliche, sonnenverbrannte Grashalme bedeckten die von den Wogen bespülte Böschung. Zur Rechten sahen sie Bauhöfe und von Gärten umgebene Landhäuschen, am andern Ufer des Flusses die Fabrikanlagen Javels, und unmittelbar vor ihnen, jetzt schon in größerer Nähe, stiegen die mächtigen, zwei Stockwerk hohen Bogengänge des Viaducts empor.

Gabriel und Eugenie blieben vor einer Gitterthür stehen, die zu einem schmucken Schweizerhäuschen führte. Mit seinen Paar Bäumlein, seinen großen Glaskugeln und Springbrunnen sah es aus, als käme es direct aus der Spielschachtel. In seinem Gesammteindruck bildete es das zur Wirklichkeit gewordene Ideal des für Landeinsamkeit schwärmenden Spießbürgers. Aber sie sahen darin nur den Lieblingstraum aller Verliebten, ein Nest im Grünen. Mit sehnsüchtigem Verlangen schauten sie auf die hohen Pappeln, die Ebereschen, in deren Blattwerk die rothen Trauben schimmerten, die reiche Pracht der Astern und Herbstrosen.

Und leise flüsterte Gabriel der Geliebten in's Ohr: »Dies Alles besitzen … unser eigen nennen … unser Liebesglück drin bergen … hier leben … auf immer, auf ewig … welch seliges Entzücken!« Sie erwiderte nichts; aber sie lehnte sich beim Weitergehen mit hingebungsvoller Zärtlichkeit auf seinen Arm.

So gelangten sie bis zum Point-du-Jour, am Fuße des Viaducts. Von hier ab jedoch sollte der Spaziergang jeden Reiz für sie verlieren. Die Nähe der Eisenbahnstation hat am Ufer der Seine eine Unzahl Vergnügungs-Etablissements, Cafés und Kneipen in's Leben gerufen. Auch Caroussels finden sich unter den Akazien, und russische Schaukeln, kurz, das Land wird hier zur Vorstadt. Sich nicht mehr so ganz sicher fühlend, eilten sie schnell weiter. Heftig schraken sie zusammen, als plötzlich auf einem Scheibenstande ein Schuß abgegeben wurde. Sie gingen die Holztreppe hinauf, in den Bahnhof hinein, und Gabriel löste zwei Billets zweiter Klasse. Dann setzten sich Beide auf eine Bank des Wartesaals und starrten gedankenlos auf die Placate.

»Gürtelbahn, einsteigen, Grenelle, Baugirard, Montrouge, Porte d'Italie!« Sie traten auf den Perron hinaus, gingen an der laut zischenden, dampfenden Locomotive vorüber und stiegen in ein leeres Coupé. Ein Pfiff, ein plötzlicher Ruck, ein lautes Rasseln und Klirren, und heidi, fort! Da umschlang Gabriel seine Geliebte mit beiden Armen, drückte sie fest an seine Brust, und die Lippen der Liebenden fanden sich in einem langen, süßen Kusse.

»Grenelle!« rief der Schaffner mit gellender Stimme und riß die Thür heftig auf. Und ein Mann mit rothem Vollmondsgesicht, dem man den Viehhändler auf den ersten Blick ansah, stieg in den Waggon und ließ sich schwerfällig auf der Bank den Liebenden gegenüber nieder. Er trug über seinem Rocke eine ganz neue, kurze blaue Blouse, ein hoher Hut bedeckte seinen Kopf, in der Hand hielt er eine Peitsche und in dem einen Mundwinkel steckte ein schwarzer Pfeifenkopf.

»Ich hab' wahrhaftig geglaubt, ich würde den Zug verpassen,« sagte er vergnügt zu Gabriel, wobei sein Athem einen starken Weingeruch verbreitete. »So ein dummer Conducteur! will mein Hündchen mit einer Bulldogge zusammen in ein Coupé stecken! So unvorsichtig zu sein … der Kerl ist verdreht … Prachtvolles Wetter übrigens zum Reisen … nicht wahr, Herr Nachbar?«

Eugenie hatte ihren Schleier heruntergelassen und verwandte kein Auge von dem Fenster. Gabriel beobachtete die äußerste Zurückhaltung und that wie Einer, den man anborgen will.

Glücklicherweise fuhren sie gleich wieder weiter, und zwar kamen sie jetzt durch einen langen Tunnel, wo das Getöse des Zuges dem widerwärtigen Reisegefährten das Wort abschnitt. Bis auf das schwache Licht, welches seine glimmende Pfeife verbreitete, war es dunkel im Waggon, da man die Nachtlampe an der Decke anzustecken vergessen hatte; und im Finstern hörte man die schweren Athemzüge des Trunkenen. Gabriel benutzte die Gelegenheit, Eugeniens Hand zu erfassen; aber er war doch über diesen Zwischenfall im höchsten Grade erbittert, namentlich wenn er an die vielen leeren Coupés erster Klasse dachte, die er beim Einsteigen bemerkt hatte.

Als sie wieder an's Tageslicht kamen, hatte der Viehhändler seine Augen geschlossen, aber er rauchte immer noch seine abscheuliche Pfeife, und die Liebenden wagten kaum, sich in Gegenwart des fremden, im Halbschlummer ruhenden Mannes einen Blick zuzuwerfen. Als sie an der Station Porte d'Italie ankamen, empfand sie es als eine Art Erlösung.

Und doch mußten sie sich hier trennen, noch bevor sie den Bahnhof verließen, denn sie waren ganz nahe bei der Wohnung Clements, des gefürchteten Gatten. Eugenie ging daher voraus und eilte die Straße entlang, ohne sich ein einziges Mal umzusehen. Gabriel folgte ihr langsamen Schrittes von fern, beglückt durch die Geständnisse, die sie ihm gemacht, und beseligt durch die Erinnerung an die Liebkosungen, die sie gestattet und erwidert hatte. Er sah, wie sie sich in der Menge verlor und schließlich an der Ecke, wo das alte Zollhaus stand, verschwand, um nach dem äußeren Boulevard einzubiegen.

Und dann hatten sie ja auch mit einander die Verabredung getroffen, sich übermorgen um ein Uhr Nachmittags an derselben Stelle zu treffen!


IX.

Nun trug aber der Tag, an dem ihr Rendezvous stattfinden sollte, das Datum des 4. Septembers 1870!

Frau Fontaine hatte ihrem Sohne beim Frühstück die unheilvolle Katastrophe, die sie durch die Milchfrau erfahren, mitgetheilt: die Capitulation von Sedan, die Verwundung Mac-Mahons, die Gefangennahme des Kaisers mit 80 000 Mann! Wie sehr auch Gabriel durch den Gedanken an sein bevorstehendes Rendezvous in Anspruch genommen war, so hatte ihn diese schreckliche Nachricht doch in ungeheure Aufregung versetzt.

Als er die Quais entlang wanderte, sah er nichts, als bestürzte Gesichter; an den Straßenecken sammelten sich Schaaren Nationalgarden; ein Hauch der Revolution ging durch die Stadt.

Nachdem Gabriel den festen Entschluß gefaßt, sich auch ein Gewehr zu holen, seine Pflicht wie alle Anderen zu erfüllen und für die Vertheidigung des Vaterlandes und der Hauptstadt einzutreten, kehrte sein Geist zur Geliebten zurück. Er dachte an die Freude des Wiedersehns, an das bezaubernde Glück, mit ihr auf dem einsamen Trottoir des Quai d'Orsay zusammenzutreffen und wieder einen Spaziergang an den Ufern der Seine zu unternehmen. Und machte ihm die Stimme des Gewissens Vorwürfe, daß er sich zu wenig um die dem Vaterlande drohenden Gefahren bekümmere, so brachte er sie durch die bei einem Liebenden erklärliche Erwägung zum Schweigen, daß er als Einzelner doch nichts weiter zu thun vermöchte.

Gegen halb ein Uhr ging er, ganz erfüllt von dem Gedanken an die Geliebte seiner Seele, den Quai d'Orsay entlang, als er am äußersten Ende des Boulevard Saint-Germain Bajonette blitzen sah, welche das Corps Legislatif zu umringen schienen.

Angstvoll beflügelte er seine Schritte, und mit einem einzigen Blicke übersah er das für ihn so schreckliche Schauspiel. Eine dichte, tobende Menge hielt alle Zugänge zu den Räumen, in denen die Volksvertretung tagte, besetzt. Sie bestand aus Männern aller Gesellschaftsklassen, und Bürger im eleganten Rock wie Handwerker in einfacher Arbeitsblouse waren vermengt mit Schaaren zwar ungeordneter, aber bewaffneter Nationalgarden, die theils noch die alte Uniform mit den weißen Epauletten und der Patrontasche, theils als einziges militärisches Abzeichen nur das Kepi trugen. Auch Franctireurs in dunklen Anzügen mit amerikanischen Mützen und den Beinkleidern in den Gamaschen befanden sich darunter. Der Pont Royal, der Boulevard Saint-Germain und der ganze, am Corps Legislatif liegende Theil des Quais wimmelten von Leuten und starrten von blitzenden Gewehrläufen. Kecke Straßenjungen waren an den in der Nähe befindlichen Laternen hinaufgeklettert, andere hatten sich auf den Sockeln der vier großen Bildsäulen vor dem Gebäude eingenistet. Einen langgedehnten, immer wieder von Neuem ertönenden Zornesruf ließ diese Menge hören. Gabriel's Ohr hatte bald diesen aus Aller Munde dringenden Schrei unterschieden: »Abdanken! Abdanken!«

Der Aufstand hatte, um mich der unübertrefflich schönen parlamentarischen Ausdrucksweise zu bedienen, das Heiligthum des Gesetzes offenbar schon verletzt; denn die breiten Aufgangstreppen des Palais waren unter dem Strom der Eindringlinge verschwunden, und Gabriel sah, daß oben in der Colonnade eine große Aufregung herrschte. Plötzlich hörte er einen machtvollen Ruf erschallen, der sich blitzschnell verbreitend bis zu den unten dicht zusammengedrängten Schaaren gelangte, unter denen er sich einen Weg zu bahnen versuchte. Sie riefen Alle:

»Es lebe die Republik!«

Gabriel sah dem ganzen Schauspiel voll Schrecken und Bestürzung zu. An der Stelle, wo er Eugenie treffen sollte, und die er erst entdecken konnte, nachdem er auf eine Bank des Quais gestiegen war, bemerkte er ein wildes Durcheinander von Hüten, Kepis und Bajonetten. Die schreckliche Gewißheit trat vor seine Seele, daß, selbst wenn sich die junge Frau in dieses Gedränge gewagt hätte, es ihm unmöglich gewesen wäre, sie herauszufinden. Er stieg von der Bank wieder herunter und ließ sich in seiner Verzweiflung und Wuth willenlos vom Strom der Menge forttragen, ohne sich weiter um die große historische Thatsache, die sich vor seinen Augen vollzog, zu bekümmern.

»Nun haben wir doch endlich die längst ersehnte Republik!« ließ sich die durchdringende Stimme Cazabans vernehmen, der eine Secunde vorher Gabriel am Arm gepackt hatte, »und Du bist auch dabei, bei der Revolution nämlich! … So mußte es kommen! … Raus mit dem Bonapartistengeschmeiß! … Ein herrlicher Tag! Ach Freund, ich bin außer mir vor Glück. Den ganzen gestrigen Abend habe ich weiter nichts gethan, als Wappenschilder heruntergerissen und kaiserliche Adler zerbrochen … Diesmal ist's die wahre, richtige Republik wie im Jahre 93 … und man soll uns nicht um sie betrügen … Sieh mal oben in der Säulenhalle den Gambetta, wie er durch seine Rede alles begeistert … Bravo! Es lebe Gambetta! … Weißt Du, welcher es ist? Der mit dem Barte und den hohen Schultern … Meinst Du vielleicht, ich werde Dich loslassen? Denk gar nicht dran, wir gehen zusammen nach dem Hôtel de Ville.«

Gabriel sah ihn an mit schmerzerfülltem Blicke. Aufregung und Trunkenheit prägten sich in den Zügen Cazabans aus, der buchstäblich von Schweiß triefte, und dessen weicher Filzhut durch einen Faustschlag eingedrückt war.

Widerstandsunfähig überließ sich Gabriel dem Manne des Südens, der fortwährend brüllte und sich vergebens abmühte, vorwärts zu kommen und sich mit seinen Ellbogen einen Weg zum Eingangsthor der gesetzgebenden Versammlung zu bahnen. Gabriel folgte ihm ganz zu Boden geschmettert und ließ seine Blicke sehnsuchtsvoll über die Menge schweifen, da er auf die unbestimmte, wenn auch unter solchen Umständen thörichte Hoffnung nicht verzichten mochte, Eugenie herauszufinden.

Die Stunde des Rendezvous war längst vorüber. Gabriel hatte sich durch die schon gelichteten Schaaren hindurch mehr als hundert Mal davon überzeugen können, daß sich die junge Frau nicht an der verabredeten Stelle vor dem Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten befand. Trotzdem wurde es ihm unendlich schwer, von dort fortzugehen, als Cazaban ihn mit sich schleppte und über den Pont Royal führte, damit sie, wie er sich ausdrückte, Gelegenheit hätten, sich an dem erhabenen Anblick des befreiten Paris zu erfreuen.

Nur mit dem äußersten Widerstreben folgte Gabriel seinem Freunde, obgleich er wohl einsah, daß ein längeres Verweilen an jener Stelle keinen Sinn hatte. In düsteres Schweigen versunken, schritt er neben Cazaban dahin, der in seinem revolutionären Taumel gar nicht bemerkte, wie schmerzlich bewegt das Antlitz seines Freundes war.

»Was kann sie wohl abgehalten haben?« fragte sich der Liebende voll Angst. »Wahrscheinlich hat sie sich gefürchtet, das Gedränge war zu groß, sie konnte überhaupt nicht hin … Oder sollte sie vielleicht gar nicht gekommen sein? Sie kam mir gestern Abend bei ihrer Freundin so verlegen vor … Ob ich zurückgehe? Möglicherweise ist sie jetzt gekommen, wo sich die Menge verlaufen hat. Doch nein, das ist nicht denkbar, es ist ja schon zwei Uhr.«

Und es stand für ihn fest, daß nur ihm so etwas passiren könne, und daß er ein ausgemachter Pechvogel sei.

Sie gingen über die Place de la Concorde und die Rivolistraße entlang.

Cazaban hatte seinem Freunde ein großartiges Schauspiel versprochen, aber Gabriel konnte davon nichts entdecken. Er fand im Gegentheil die Freudensausbrüche des Pöbels für sein Gefühl höchst verletzend in einem Augenblicke, wo ein so entsetzliches Unglück über das Land hereinbrach und so furchtbare Gefahren es bedrohten. Das festliche Aussehen der prachtvollen Straße wurde noch erhöht durch den im schönsten Blau strahlenden Himmel und den herrlichen Sonnenschein, dessen reicher Glanz sich über die weißschimmernden Gebäude des Tuileriengartens und seine im frischen Grün prangenden Parkanlagen ergoß.

Nationalgarden, theils truppweise marschirend, theils einzeln ihren Weg verfolgend, begegneten ihnen in großer Zahl. Sie wanderten heim, getragen von dem stolzen Bewußtsein, die neueste Revolution zu Stande gebracht zu haben. Diejenigen unter ihnen, welche zu den Bataillonen der Vorstadtsviertel gehörten, und die neben der Blouse oder dem Arbeitskittel ein nagelneues Kepi und ein Percussionsgewehr Schusswaffe mit Perkussionsschloss; dies ist ein Zündsystem, bei dem zur Auslösung des Schusses ein Anzündhütchen verwendet wurde. Beim Betätigen des Abzuges schlägt der vor dem Schuss gespannte Hahn auf das Zündhütchen, worauf die Treibladung gezündet wird und der Schuss bricht. Nach Einführung des Zündhütchens stellten sich rasch höhere Trefferquoten bei Infanterieeinheiten ein. Das Verfahren wurde ab Mitte des 19. Jh. durch Hinterladerwaffen u.a. abgelöst. Perkussionsgewehre sind also 1870 bereits veraltet. trugen, zeigten in ihrer aufrichtigen Freude über die wiedergewonnene Republik doch wenigstens einen gewissen Grad von Naivetät. Denn gerade sie hatten ja von jeher bei allen Aufständen die Kohlen aus dem Feuer geholt, und berauscht durch die Legende von 92 lebten sie der frohen Zuversicht, das Vaterland noch retten zu können.

Aber ein ruhiger Beobachter hätte über die Wichtigthuerei der in Epauletten einherstolzirenden Spießbürger gelächelt. Diese Nichtsthuer, welche sich an jenem Tage als Helden aufspielten, marschirten mit würdevollem, abgemessenem Schritt in der Mitte des Fahrdammes, mit wohlgefälligem Auge von der großen Masse betrachtet, die in ihrem befriedigten Rachegefühl die tiefe Trauer des Vaterlandes vergaß. Denn schon hatte die blinde Zerstörungswuth, die unvermeidliche Begleiterin aller Volksaufstände, ihr sinnloses Werk begonnen. Viele tausend Hände waren damit beschäftigt, alle äußeren Zeichen, welche an die kaiserliche Regierung erinnerten, Adler und Wappenschilder aus Erz oder aus Stein gebildet, zu vernichten, und so verlor man drei kostbare Tage in einem Augenblicke, wo noch nicht einmal die Wälle armirt waren.

An den Mauern der Tuilerien konnte man neben obscönen, auf die kaiserliche Familie bezüglichen Randglossen und Beleidigungen mit Kohle geschrieben auch das berüchtigte Wort: »Tod den Dieben!« lesen. Es sprach diesmal wenigstens, das muß zugestanden werden, nicht allen Thatsachen derartig Hohn, wie im Jahre 1848, wo ein paar arme Kerle von Spitzbuben ohne Urtel und Recht füsilirt wurden, nachdem der Palast vom Pöbel schon vollständig ausgeplündert worden war.

Marius Cazaban, den unglücklichen Gabriel immer hinter sich her schleppend, raste wie ein Toller durch die Straßen. Sein Wahnwitz hatte den Gipfelpunkt erreicht, und sein Ruf: »Es lebe die Republik!« war schon mehr ein Gebrüll zu nennen. Alle zwanzig Schritt stieß er ihn aus und erweckte damit regelmäßig ein wunderbares Echo bei den Nationalgarden, welche in der Mitte der Straße mit ihren Tambours an der Spitze marschirten.

Als sie in die Nähe des Louvre gekommen waren, ritt General Trochu, über und über mit Orden bedeckt, mit einem glänzenden Generalstabe im Galopp vorüber, und Cazabans Hurrah trug ihm einen dankenden Blick des berühmten Bretagners ein. Den ganzen Weg entlang begegneten Marius schwarzbärtige junge Männer, die, wie er aus dem Süden stammend und in demselben Freudentaumel befangen, jubelnd seine Umarmungen erwiderten.

Gabriel sah dies Alles wie im Traum. Das alte Hôtel de Ville, der von Menschen wimmelnde Platz vor demselben, die Erscheinungen auf dem Balcon, das goldene Kepi Trochus, der halsbandförmige Bart Jules Favres, die Proklamirung der Republik, der im Triumph herumgetragene Rochefort, nichts konnte ihn von der fixen Idee abbringen: er hatte sein Rendezvous verfehlt!

Als Gabriel, immer hinter Cazaban herziehend, in das Hôtel de Ville getreten war, und ihn dieser einem Mitgliede der neuen Regierung, einem Manne mit ungeheurem Backenbart und einer Habichtsnase, vorstellte, dachte er im Augenblicke, wo er seine Verbeugung machte, an eine junge Platane des Quai d'Orsay. Eine Stange diente als Stütze für ihren zarten Stamm, und ihr Fuß war von einem runden eisernen Gitter umgeben. An der Stelle stand er neulich, als er Eugenie unter den Bäumen der Esplanade auf sich zueilen sah, und es kostete ihn ungemeine Selbstüberwindung, auf das zu hören, was ihm der Staatsmann mit dem dichten Backenbarte sagte, und ihn zu verhindern, augenblicklich seine Ernennung zum Souspräfekten zu unterzeichnen.

Endlich gelang es ihm, die lästige Gesellschaft Cazabans loszuwerden. Vorher mußte er ihn jedoch noch nach dem Quartier Latin begleiten, die frohe Nachricht dort in drei bis vier Kneipen verkünden und verschiedene Schnäpse mit ihm vertilgen. Halb todt vor Mattigkeit, gequält von Unruhe und Langeweile, kam er zu Hause an. Beim Abendbrot, das ihm zur Ewigkeit wurde, weil seine Mutter ihm alles Mögliche von dem Heranrücken der Feinde und den drohenden Gefahren vorjammerte, nahm er nur einige Bissen zu sich und eilte dann sofort nach dem Faubourg Saint-Jacques.

Frau Henry war ausgegangen. Nichts war selbstverständlicher, als die Abwesenheit der schönen Brünette, die jedenfalls durch das dramatische Interesse, welches das Straßenleben in diesem Augenblicke darbot, vom Hause fortgelockt worden war; aber die Phantasie eines Liebenden ist nur zu leicht geneigt, sich Truggebilde zu schaffen, und so sah auch Gabriel darin eine schlimme Vorbedeutung für seine Liebe.

Wohl sagte er sich, daß Eugenie Kenntniß davon haben müßte, daß Frau Henry sie heut Abend nicht erwarten würde; aber der Gedanke, er solle sich bis zum nächsten Tage gedulden, wenn er seine Geliebte wiedersehen wollte, war ihm unerträglich. So irrte er denn bis tief in die Nacht hinein auf den belebten, von aufgeregten Volksmassen durchwogten Straßen umher und glaubte in jeder vorübergehenden Frau Eugenie zu erkennen.

Doch mußte er, als es auf dem Thurm der Kirche Saint-Jacques du Haut-Pas zehn Uhr schlug, auch auf die letzte Hoffnung verzichten und wohl oder übel den Weg nach Hause einschlagen.

Die Nacht wurde ihm entsetzlich lang, und am nächsten Morgen, in aller Frühe, noch vor seiner Büreaustunde, eilte er zu Frau Henry, denn er fühlte das unabweisbare Bedürfniß, etwas Näheres über das Schicksal Eugeniens zu erfahren.

Als er den ihm wohlbekannten Klingelzug in Bewegung gesetzt, wurde es plötzlich im Zimmer lebendig, und ganz gegen ihre Gewohnheit ließ ihn Frau Henry einige Zeit lang warten. Als sie endlich in der halbgeöffneten Thür, mit ungekämmtem Haar und einem in aller Eile übergeworfenen Morgenkleide erschien, entfloh ein leiser Ausruf des Erstaunens ihren Lippen.

»Wie, Sie sind's, Herr Gabriel? … und zu so früher Stunde?« rief sie voller Verlegenheit … »Ich habe nämlich Besuch … Aber das thut nichts, bitte, treten Sie näher … Sie können gleich die Bekanntschaft meines Vetters Robert machen, da ist weiter nichts dabei.«

Als Gabriel in das Zimmer trat, fand er es in größter Unordnung. Auf einem Lehnstuhl hingegossen lag ein bildhübscher junger Blondin, der soeben mit seinem Frühstück fertig war und in aller Gemüthlichkeit eine Cigarette rauchte. Er war Secondelieutenant bei der Mobilgarde, denn er trug auf den Aermeln seiner aufgeknöpften Uniform die goldenen Tressen. Ein Offizierkepi, darunter ein Säbel, lag neben ihm in der Ecke zwischen dem Kamin und der Wand.

Die schlanke Brünette zog in aller Eile ihr Morgenkleid über der Brust zusammen, strich mit beiden Händen ihr zerzaustes Haar glatt und sagte mit lebhafter Stimme:

»Robert, ich stelle Dir hier Herrn Gabriel Fontaine vor.«

Dann neigte sie sich zum Ohr des Offiziers nieder, dem Gabriels Ankunft eine sehr unangenehme Ueberraschung zu bereiten schien, und fügte mit halblauter Stimme hinzu:

»Dir kann ich's ja sagen, er kommt wegen meiner Freundin.«

Der Angeredete war aufgestanden, verneigte sich leicht und setzte sich sofort wieder, nachdem er dem Ankömmling einen äußerst mißtrauischen Blick zugeworfen.

Gabriel wußte vor lauter Verlegenheit nicht aus noch ein. Er war zwar sehr naiv, aber die Verwandtschaft Frau Henrys und des Offiziers erschien ihm doch mehr als zweifelhaft. Er sah die von Speiseresten bedeckten Teller, die geleerten Weinflaschen, untrügliche Zeichen eines vor Kurzem stattgefundenen Festmahles, das ungeordnete, mit Gardinen nur schlecht verdeckte Bett in dem Alkoven, das halbnackte Weib, den jungen Mann, der hier so gemüthlich rauchte und sich so zwanglos benahm, als wäre er bei sich zu Hause, und ein unnennbares Gefühl des Ekels überkam ihn bei dem Gedanken, daß er die Bekanntschaft Eugeniens in solcher Umgebung gemacht. Der Gegensatz zwischen dem zarten, unschuldigen jungen Wesen und dieser Scene grob gemeiner Sinnlichkeit rief in seinem Geiste tief schmerzliche Gedanken wach. Er hatte Platz genommen, aber er saß auf dem äußersten Rande des Stuhles und wußte nicht, was er sagen sollte.

»Aermster Herr Gabriel,« sagte Frau Henry plötzlich, »ich habe Ihnen eine traurige Nachricht mitzutheilen. Ich habe unsere kleine Freundin gestern um vier Uhr gesprochen … Wie sie mir sagte, ist sie gestern früh mit in das Getümmel am Corps Legislatif gerathen und hat dabei eine wahre Todesangst ausgestanden … Sie können sich ja denken, Leute vom Lande … Dann noch etwas … Ihr Mann hat ihr erklärt, er könne sich nicht während der Belagerung mit einem Weibe befassen und wolle sie noch heut Abend nach der Bahn bringen, um sie zu ihren Eltern zu schicken. Aber was fehlt Ihnen denn? Sie sind ja ganz blaß geworden.«

Gabriel wäre wirklich beinahe in Ohnmacht gesunken. Der Gedanke, von Eugenie getrennt zu sein, lähmte den Pulsschlag seines Herzens. Pessimist wie alle Liebenden, nahm er das erst drohende Unglück als schon geschehen entgegen.

Er fühlte das Bedürfniß, hinauszueilen, aufzuathmen. Zum großen Erstaunen des Offiziers, dem der ganze Vorgang unverständlich blieb, stand er auf, wankte zur Thür, verabschiedete sich mit leiser, kaum vernehmbarer Stimme, drückte Frau Henry die Hand, und floh, den Tod im Herzen, die hervorbrechenden Thränen nur mühsam unterdrückend, durch die frohbelebten, im goldigen Sonnenschein blinkenden Straßen.


X.

Gabriel hatte gar nicht einmal erfahren können, ob Eugenie auch wirklich Paris verlassen hatte. Den nächsten und die folgenden Tage versuchte er verschiedene Male, aber immer vergeblich, bei Frau Henry vorzusprechen Der Portier theilte ihm mit, daß sie fast nie zu Hause wäre, seit ihr Vetter mit seinem Mobilgarden-Bataillon nach Paris gekommen, und daß daher auch Frau Clement nicht mehr anzutreffen sei.

Er war in Verzweiflung. Die ganze Natur, welche ihm die Zauberkraft der Liebe während des schönen Augustmonats mit neuer, ungeahnter Farbenpracht ausgestattet hatte, erschien ihm nun in ein Trauergewand gehüllt. Uebrigens übte der Schmerz auf ihn die Wirkung, die er nur bei vornehmen Naturen hervorzubringen pflegt: er stimmte ihn noch sanfter. Die Liebe zu seiner Mutter verlangte nach lebhafterer, äußerer Bethätigung. Nur auf dem Büreau, seinen Collegen gegenüber war er stiller, zurückhaltender geworden.

Unterdessen belagerten die Preußen Paris, und Gabriel war dem Beispiel der Uebrigen gefolgt und bei der Nationalgarde eingetreten. In einer Ecke des Speisezimmers, dessen sämmtliche verschließbare Räume Frau Fontaine mit Töpfen eingemachter Früchte und Sardinenbüchsen vollgepfropft hatte, funkelte der Lauf eines Hinterladers. Gabriel exercierte täglich im Luxemburger Park und zog mit seinem Bataillon zwei- bis dreimal wöchentlich auf Vorposten. Den Tornister auf dem Rücken, das Gewehr auf der Schulter, rückten sie von dem Pantheonplatze nach der Porte d'Italie und versahen hier ihren Dienst. Er stand bei einem gleich zu Anfang des Krieges formirten Bataillon, das sich fast nur aus Professoren und hervorragenden, decorirten Persönlichkeiten zusammensetzte. Es kannte nur einen Schlachtruf: »Es lebe Frankreich!« und stand daher im Rufe reactionärer Gesinnung.

Sein Nebenmann im Gliede war sein früherer Philosophielehrer am Lyceum Louis-le-Grand, ein harmloses Männchen, das in den dienstfreien Stunden, auf dem Festungswalle sitzend, seinen Seneca studirte. Gabriel war am liebsten in Gesellschaft dieses Wackeren, denn er zog sie bei weitem dem kindischen Zeitvertreib der Pariser Spießbürger vor und hatte auch nicht immer Lust, den fabelhaften Kriegsabenteuern seines rothbärtigen Instructions-Unteroffiziers zuzuhören, der mit seinem Gewehr alle möglichen Akrobatenkunststücke ausführte und gern auf Unkosten Anderer einen Schnaps trank.

Der Weg, welchen die Nationalgarde einschlug, um zur Bastion zu gelangen, war für Gabriel voll schmerzlicher Erinnerungen. Wenn sie die Rue Monge entlang gegangen waren, kamen sie über den Boulevard d'Italie, und von hier aus konnte Gabriel, in Reih' und Glied marschirend, hinter einer halbverfallenen Mauer das Dach jenes Hauses sehen, wo seiner Ansicht nach Eugenie nicht mehr sein konnte, und er las von Weitem auf dem Schilde über der Thür jene Worte, die ihm so sehr wehthaten: Clement, Zimmermeister. Etwas weiter oben, im Faubourg, defilirte dann das Bataillon an der Ringbahnstation vorüber, wo sich Gabriel einst von seiner Freundin getrennt, nachdem sie den denkwürdigen Spaziergang in der Umgegend von Paris unternommen! Ach, wie laut schlug jedesmal sein Herz, wenn er dort vorbeikam!

Und doch hatte dieses ungebundene Leben unter freiem Himmel auf den Wällen einen eigenen Reiz für Gabriel, denn er konnte sich so ganz seinen Träumereien hingeben. Wie viele Stunden lang stand er nicht hier auf seine Büchse gelehnt und betrachtete die stille Herbstlandschaft ringsumher, in der auf allen Seiten Tod und Verderben lauerte, während der unglücklich Liebende in den dunklen Umrissen der fernen Hügelreihen und der blassen Färbung des Himmels nur einen Wiederschein der eigenen traurigen Stimmung sah! Wie oft vertiefte sich Gabriel, wenn schwere, von Feuersbrünsten herrührende Rauchmassen über den Wäldern lagerten, wenn das Grollen des Kanonendonners von Echo zu Echo getragen wurde, und rings um ihn das wilde Lagerleben tobte, in eine köstliche und doch dabei schmerzvolle Erinnerung, versunken im Anschauen der Feuergrotten der untergehenden Sonne!

Auch des Nachts stand er gern auf Posten, wenn er mutterseelenallein bei einem ungeheuren Belagerungsgeschütz, welches der Wind mit schauerlichen Klagetönen erfüllte, zurückblieb, und seine Augen sich an der Pracht des gestirnten Himmels weideten. Bisweilen schwieg die Stimme der Forts, und es herrschte dann eine so tiefe Stille, daß Gabriel ganz deutlich den schweren, gleichmäßigen Schritt der die Ronde machenden Patrouille und den Anruf der Schildwache: Halt, wer da? vernehmen konnte. Geradezu entzückend war es bei Mondschein. Auf der einen Seite verlor die sich in bläulichen, durchsichtigen Dunst getauchte Landschaft in unermeßlichen Fernen, auf der andern sah er die Dächer des Faubourg Saint-Marceau und des Berges Sainte-Geneviève gleich unzähligen Silberstufen zum Dom des Pantheon emporsteigen.

Angesichts dieses zauberhaften Bildes, in diesen Stunden nächtlicher Einsamkeit, wo die frische, gewissermaßen gereinigte Luft Phantasie und Sinne schärft und ihnen eine höhere Macht verleiht, drängten sich die in der Trunkenheit der ersten Liebe empfangenen Eindrücke massenweise im Geiste Gabriels zusammen. Noch einmal durchlebte er all die wonnigen Stunden, die er in Eugeniens Nähe zugebracht. Er brauchte nur die Augen zu schließen, um sie bei Frau Henry wiederzusehn, im Lichtkreis der Lampe mit Stickerei beschäftigt. Das Köpfchen war vornüber geneigt, der Körper im Lehnstuhl etwas eingesunken, so daß das Kinn fast den Busen berührte. Er hörte ihre Stimme wieder, ihren frischen hellen Klang verstärkt durch die Bogengewölbe der Brücken, unter denen sie durchgegangen waren, als sie den Spaziergang die Seine entlang machten. Er fühlte den sanften Druck von Eugeniens Arm auf dem seinen, und auf den Lippen die Wonne der beiden einzigen Küsse, die sie ihm hatte geben können.

Von Kummer verzehrt, glühende Sehnsucht im Herzen, richtete er dann wohl zum Firmament empor den erhabenen Blick der Verzweifelten, als ob er den Himmel zum Zeugen seines Schmerzes anrufen wollte, lehnte sich an die Erdsäcke des Walles, barg sein Haupt in den Händen, und weinte heiße Thränen.

Mochte auch die Allgewalt der Liebe den Sinn des jungen Mannes immer mehr ablenken von den um ihn herum sich abspielenden Ereignissen, so ging das doch nicht so weit, daß er nicht offenes Aug' und Ohr für sie bewahrt hätte. Bisweilen erschien ihm seine Gleichgültigkeit gegen die Gefahren des Vaterlandes sogar äußerst verwerflich und er machte sich die bittersten Vorwürfe. Einmal ganz besonders trat ihm das allen drohende Verderben in ergreifender, ja entsetzenerregender Gestalt entgegen, und da er eine edel beanlagte Natur war, so empfand er fast vor sich selbst Abscheu, wenn er bedachte, wie wenig er sich bisher darum bekümmert hatte.

An jenem Tage stand er an der Zugbrücke der Porte d'Italie auf Vorposten, als die Trümmer unseres unglücklichen, wieder einmal bei Villejuif, Chevilly oder sonst wo geschlagenen Heeres aus dem Kampfe zurückkehrten.

Mit Koth bedeckt, abgehetzt, bestaubt, durcheinanderlaufend wie eine Hammelheerde, zusammenbrechend unter der Last ihrer Chassepots und Tornister, so kamen sie an, und boten mit ihren, in Folge der Anstrengungen fieberhaft gerötheten Wangen, ihren beschmutzten Gamaschen, und ihren alten auf den mageren Rücken klebenden Mänteln einen erschreckenden Anblick.

Liniensoldaten, Chasseurs zu Fuß, Turkos, Cavalleristen ohne Pferde, das Alles hielt hier im bunten Gewirr mit Munitionswagen und Gespannen jeder Art seinen Einzug. Die Artilleristen, finster dreinschauend, saßen mit verschränkten Armen auf ihrem Kasten, die Fahrer, halb eingeschlafen auf ihren zottigen abgetriebenen Pferden. Offiziere hinkten, auf Stöcke gestützt, vorbei.

Ein General ritt langsam auf seinem Braunen vorüber, den Menschenstrom beherrschend und doch von ihm fortgerissen. Er trug einen grauen Schnurrbart und hatte ein ächtes Soldatengesicht, streng aber ehrlich und im harten Kriegsdienst alt geworden. Das Kepi war ihm über die Augen gerückt, seine Haltung gebeugt, gedrückt durch das Bewußtsein der Niederlage. Nur wenige Stabsoffiziere in schmutzigen Uniformen folgten ihm, sowie einige rothe Spahis Sipahi oder Spahi hießen ursprünglich im Osmanischen Reich die von den Inhabern der türkischen Kriegerlehen, den Timars und Zaims, zu stellenden Reiter. Nach der Eroberung Algeriens gründete man in der französischen Armee Sipahi-Regimenter, dort als Spahis bezeichnet, die auch noch im 20. Jh. in Algerien und Tunis Dienst in orientalischer Tracht taten., deren schöne, von der Heimat träumende Augen sehnsuchtsvoll zum herbstlich bewölkten Himmel emporblickten.

Der Nordwestwind trieb die großen grauen Wolken vor sich her. Von Zeit zu Zeit feuerte das ganz in der Nähe liegende Fort Bicêtre einen Schuß ab, um den Rückzug zu decken.

Endlich kamen die Krankenwagen. Hingestreckt auf die Leinwand der Tragbahre oder auf das Stroh der Karren, zusammengesunken auf den Sesseln der Tragkörbe, zogen die Verwundeten, von der Menge begrüßt, vorüber. Manche stießen Schmerzenslaute aus; die ganz jungen weinten.

Manche waren auch auf Omnibusse gepackt worden, auf denen neben dem Kutscher die weiße Fahne mit dem rothen Kreuz wehte. Wie zum Hohn trugen diese Gefährte an den Seitenwänden die Namen der Vergnügungsorte im Umkreise der Stadt, welche damals für die Pariser zu ihrem großen Schmerz die Grenzen Frankreichs geworden waren … Gewehrläufe ragten zu den Thüren heraus, und alle Köpfe wackelten beim geringsten Stoße.

Einer dieser unheimlichen Wagen hielt gerade vor Gabriel. Ein Verwundeter, ein armer, kleiner Liniensoldat, dem ein Granatsplitter den Leib aufgerissen hatte, war ohnmächtig geworden, und man schaffte ihn heraus, um ihn dort auf der Straße, bei strömendem Regen, verscheiden zu lassen. Ein geradezu entsetzenerregender Umstand ist hierbei zu erwähnen. Als die Krankenwärter diese leblose Masse aufheben, ging der in der Eile angelegte Verband los, und ein großer, über und über blutiger Knäuel Charpie fiel auf das Pflaster.

Kaum lag er ausgestreckt auf einer Matratze in einer Mauerecke, wo die Nationalgarden in der Nacht geschlafen hatten, so zuckte er zum letzten Mal zusammen und verschied. Es war das der gemeine Mann, am Abend vorher Rekrut, gestern noch Bauer. Er hatte das biedere Gesicht des Landmanns, in's Röthliche hinüberspielende Haare, Sommersprossen auf der Stirn und Schwielen auf den Händen in Folge der schweren Feldarbeit.

Lange ruhte Gabriels Blick auf dem Leichnam des bescheidenen Soldaten, der in einem unbedeutenden Treffen gefallen war und nach einem freudlosen Leben einen ruhmlosen Tod gefunden hatte. Er überlegte bei sich, daß Hunderttausende wie dieser hingeopfert worden seien; und wenn er sein eigenes, inhaltloses, in sehnsuchtsvollem Verlangen sich verzehrendes Sein mit dem Geschick dieses armen Märtyrers des Gehorsams und der Aufopferung verglich, stieg ihm die Röthe der Scham in die Wangen, und er fragte sich allen Ernstes, ob er nicht ein Ungeheuer sei.

Der arme Junge war ganz einfach verliebt und trotz aller Vorwürfe, die er sich im Stillen machte, außer Stande, sich der Tyrannei dieser, sein ganzes Wesen erfüllenden Empfindung zu entziehen, die man so richtig die Selbstsucht zu Zweien genannt hat. Die Erinnerung an Eugenie ließ ihm keine Ruh'. Manchmal verstieg er sich sogar zur thörichten Hoffnung, daß er sie wiederfinden werde, und daß sie vielleicht in Paris geblieben sei. Aber er wagte es nicht, zu Frau Henry zurückzukehren, um nähere Auskunft darüber zu erlangen. Ein eigenthümliches Gefühl des Unbehagens überschlich ihn, wenn er sich vorstellte, wie der junge Offizier, an der gedeckten Tafel sitzend, der schönen Brünette den Rauch in's Gesicht blies, an derselben Stelle, wo seine junge schüchterne Liebe entstanden war.

Sein Leben floß daher ziemlich einförmig dahin, getheilt zwischen der Erfüllung seiner militärischen und amtlichen Obliegenheiten. Oft mußte er auch die Klagen seiner Mutter anhören, die mit Schrecken bemerkte, wie ihre Vorräthe abnahmen. Seine Abende verbrachte er meist in Gesellschaft Cazabans.

Die Begeisterung, mit welcher der Mann des Südens den vierten September begrüßt, hatte nicht lange vorgehalten und schien mit dem Luftballon, welcher Gambetta entführte, verflogen zu sein. Nachdem er vergeblich die strengsten Maßregeln gefordert, wie zum Beispiel die Massenhinrichtung der Flüchtlinge von Châtillon, fing er an, die Regierung der Schlaffheit zu bezichtigen, ganz besonders aber Trochu, den er Lump und Feigling titulirte. Er wurde von Tag zu Tag energischer in seiner Ausdrucksweise und konnte keine zehn Worte mehr hervorbringen, ohne sie mit den gröbsten Flüchen und jenen berüchtigten Kraftworten zu würzen, welche bald darauf im Père Duchesne Die Zeitschrift » Le père Duchesne« war ursprünglich eine von Hébert zwischen 1790 und 1794 herausgegebene politische Zeitschrift während der Französischen Revolution. Sie agitierte im Sinne des radikalisierten Flügels der Cordeliers und hatte bedeutenden Einfluss auf das politische Geschehen. Im 19. Jh. lebte der Titel wieder auf, insbesondere während der Februarrevolution von 1848 und der Pariser Kommune von 1871, während letzterer sprachlich leicht verändert unter dem Titel » Le père Duchêne«. verewigt werden sollten. Seine demagogische Richtung trat immer schärfer hervor. Er las die von Blanqui Louis-Auguste Blanqui (1805-1881), französischer Revolutionär, Theoretiker und 1871 Mitglied der Pariser Kommune. 1870 wird Blanqui Herausgeber der Zeitschrift » La Patrie en Danger« redigirte Zeitung und verlangte den Krieg bis auf's Messer. Jeder waffenfähige Mann sollte zum Kriegsdienst herangezogen, Massenausfälle unternommen, und Torpedos in den Abzugskanälen gelegt werden.

Dabei ging er selbst immer nur in Civil. Als einziges Abzeichen trug er das Kepi der Militärärzte, da er jeder Möglichkeit einer Gefahr entrückt, in irgend einem Lazareth mitten in der Stadt beschäftigt war, wo es nach seinem eigenen Zugeständniß noch manchen fetten Bissen gab.


XI.

Seit Wochen belagerten nun schon die Preußen Paris, und der Monat October nahte seinem Ende. Diejenigen, welche sich inmitten der allgemeinen Aufregung so viel Ueberlegung bewahrt hatten, um die Verhältnisse sachgemäß zu beurtheilen, ließen die Hoffnung sinken, und trotz aller begeisterten Ansprachen, trotz aller Prahlereien am Biertisch sah gar mancher ruhig Denkende mit Schrecken in die Zukunft.

Die Physiognomie der Hauptstadt nahm allmählich einen immer düstereren Charakter an, der mehr im Einklang stand mit der so zu sagen in der Luft schwebenden Unruhe, mit dem plötzlich finster gewordenen Himmel der letzten Herbsttage. Im Gegensatz zu den polizeilichen Verfügungen sahen die Straßen unordentlich und schmutzig aus, und die allgemeine Noth gab sich in tausend beunruhigenden Anzeichen kund. Buntfarbige Zettel aller Art entstellten die Façaden der Häuser, nur selten begegnete man einem Wagen; ein Hauch der Trauer und des Elends schien durch jene schlecht gekleidete Menge zu gehen; fast alle Männer trugen die Uniform der Nationalgarde, aber sie war immer sehr nachlässig gehalten und in den meisten Fällen beschmutzt.

Noch ganz neue, schöne Häuser wurden den vor den Feinden geflohenen Landleuten eingeräumt, und diese ließen in den kostbar ausgestatteten Zimmern ganz gemüthlich Kaninchen und Hühner herumlaufen. An gar vielen Punkten der Stadt standen in endlosen Reihen Dienstmädchen und Frauen aus dem Volke auf den Trottoirs und warteten an den Thüren der städtischen Schlachthäuser auf die für sie bestimmte Ration Pferdefleisch. Nachts wurde der Aufenthalt in Paris geradezu unheimlich. Ausgenommen die Cafés und die Apotheken wurden sämmtliche Läden sehr zeitig geschlossen. Die Hälfte der Gasflammen blieb unangezündet, und nichts war schauerlicher, als in dieser halb erleuchteten Finsterniß einzelne Schatten verspäteter Passanten herumirren zu sehen.

Die Sonntage aber waren während dieser Zeit der Belagerung ausnahmsweise schön, und die Pariser suchten massenweise ihre Lieblingsspaziergänge auf. Auch Gabriel hatte einen dieser hellen, von mildem Sonnenlicht verklärten Nachmittage benützt, um mit seinem Freunde Cazaban aus den großen Boulevards herumzuschlendern, als er ein ganz unerwartetes, ja schier unglaubliches Erlebniß hatte.

Seit einiger Zeit war Eugeniens Bild der Erinnerung des Jünglings schon etwas entschwunden, und gerade an jenem Tage hatte er noch keinen Augenblick an sie gedacht. Cazaban hatte ihn nach dem Frühstück von Hause abgeholt, und Gabriel war mit seinem Freunde fortgegangen. Mit wahrer Wonne überließ er sich dem Gefühl der Freiheit. Er durfte gemüthlich plaudern, die Hände in den Blousentaschen behalten, und zwanglos umherspazieren; er konnte sich die Sonnenseite der Straßen und Quais aufsuchen, es war ihm gestattet, aufzuathmen, Menschen zu sehen. So kamen die beiden Freunde bis zum Boulevard Montmartre und schritten langsam durch die Menge, die immer dicht gedrängt die Zugänge der Passage Jouffroy belagerte.

Cazaban war eben im Begriff, seinem Freunde die wunderbare Erfindung eines Arztes des Quartier Latin zu erklären, dem es gelungen war, eine Typhus- und Cholera-Essenz herzustellen. Ein kleines Fläschchen davon genügte, diese Epidemien unter den Preußen zu verbreiten, und er erging sich gerade in den leidenschaftlichsten Ausfällen gegen die unpatriotische Weigerung der Regierung dieses energische Vertheidigungsmittel zur Anwendung zu bringen, als Gabriel plötzlich in einer Entfernung von fünfzehn Schritt Eugenie am Eingange der Passage erblickte. Sie ging am Arme eines hochgewachsenen Mannes, der gleichfalls der Nationalgarde angehörte. Er trug auf den Aermeln seines Mantels die Fourrier-Unteroffiziertressen und war allem Anschein nach ihr Gatte.

Gabriel blieb plötzlich stehn. Er hatte die Empfindung, als wäre ihm von Jemandem ein heftiger Schlag auf den Magen versetzt worden, eine Erscheinung, die durch starke nervöse Aufregungen hervorgerufen zu werden pflegt. Sofort, wie in Folge höherer Eingebung, war ihm klar, daß die junge Frau Paris vom Moment der Einschließung an nicht verlassen, und daß sie während der sechs Wochen, wo sich seine Gedanken unablässig mit ihr beschäftigt, in derselben Stadt wie er, ja, in seiner nächsten Nähe gelebt hatte. Im Augenblicke, wo ihm das unverhoffte Glück zu Theil wurde, sie wiederzufinden, durfte er nicht auf sie zueilen; es war ihm versagt, ihre Hand zu fassen, sie in der Nähe zu betrachten, sie zu berühren, ihr Alles, Alles zu sagen; und zum ersten Mal traf er sie am Arme desjenigen, der sich ihres Besitzes im Namen des Gesetzes und der Gesellschaft rühmen durfte, jenes von ihr so sehr gefürchteten, von ihm so sehr verabscheuten Gatten!

Gabriel hatte in dem großen, kräftigen Manne, dessen kalte, herzlose Augen unter dem Schilde seines Kepi hervorblitzten, und der sich in seinem schweren Mantel von grobem, blauem Tuch so breit machte, augenblicklich den Zimmermeister Clement erkannt, und in den Augen des Liebenden bildete die liebliche, zarte, durch die Entbehrungen der Belagerung schon etwas abgemagerte Gestalt Eugeniens in ihrer dunklen, enganliegenden Kleidung neben diesem Koloß einen schmerzlichen Gegensatz.

Auch Eugenie erkannte Gabriel, als sie, von ihrem Gatten geleitet, an ihm vorüberkam. Wie festgebannt blieb sie stehn, ihr Gesicht wurde todtenblaß, und ihre Augen öffneten sich weit vor Erstaunen und Aufregung. Die ganze Scene dauerte kaum eine Secunde. Dann wandte sie mit einer plötzlichen Bewegung ihr Haupt zur Seite und verschwand, von ihrem ahnungslosen Manne fortgezogen, in der Menge.

»Was ist Dir denn?« wandte sich der Mann des Südens an Gabriel, der noch wie versteinert dastand, »Du siehst ja ganz merkwürdig aus.«

»Nichts,« brachte Gabriel, der nicht von der Stelle konnte, hervor, »ich bin müde, komm mit in's Café.«

»Sehr gern,« sagte Cazaban, der eine solche Einladung niemals ablehnte.

Aber der Spaziergang fand so einen für unseren Helden äußerst widerwärtigen Abschluß. Kaum athmete er die heiße Luft des Wirthshauses, so fühlte er, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg, und er wollte wieder fort. Cazabans Geschwätz betäubte ihn; er hörte wohl Worte, aber er verstand ihren Sinn nicht. Denn sein Geist ging ganz und gar in dem einen Gedanken auf, daß Eugenie in Paris war, und er sann schon auf Mittel und Wege, sie wiederzusehen. Todtmüde kam er bei seiner Mutter an.

Die Mahlzeit war nur kurz, sie waren es alle zu jener Zeit, und sobald Frau Fontaine das Tischgebet gesprochen, verließ Gabriel sie und eilte instinktiv nach dem Faubourg Saint-Jacques. Fast hätte er laut aufgeschrieen vor Freude, als er Licht an Frau Henrys Fenster bemerkte. Er kam erst gar nicht auf den Gedanken, daß sein Besuch ihr unbequem sein und er möglicherweise wie neulich ein trauliches Zusammensein mit dem Mobilgarden-Offizier stören könne; ohne lange über eine Entschuldigung wegen seines Ausbleibens nachzudenken, flog er in langen Sätzen die Treppe hinauf.

»Wie? Sie sind's, abscheulicher Mensch?« rief Frau Henry, die glücklicherweise allein war, beim Empfange aus. »Ich dachte schon, es wäre Ihr Geist. In meiner Herzenseinfalt bildete ich mir ein, Sie wären vielleicht gar zu den Franctireurs gegangen, und hätten bei denen was abgekriegt. 'S ist recht nett von Ihnen, daß Sie Ihre Freunde so im Stich lassen! Was haben Sie wohl zu Ihrer Entschuldigung anzuführen, Herr Undankbarer? Wo haben Sie so lange gesteckt?«

Aber Gabriel war viel zu glücklich beim Anblick dieser Frau und dieses Zimmers, die so viele köstliche Erinnerungen in seinem Geiste wachriefen, die frohe Hoffnung, Eugeniens Spur gefunden zu haben, ja, sie vielleicht in Bälde wiederzusehen, lebte zu mächtig in seiner Seele, als daß ihm eine passende Antwort auf die Vorwürfe eingefallen wäre, die ihm Frau Henry mit erheucheltem Zorne machte.

»Aber Frau Henry,« gab er endlich etwas unbesonnen zur Antwort, »ich habe Sie schon verschiedene Mal vergeblich aufgesucht, und dann habe ich auch, offen gestanden, gefürchtet, Sie zu stören, da ich Sie neulich so … in Familie traf.«

Die schöne Brünette lachte laut auf.

»Na, na,« sagte sie, »ich sehe schon, Sie sind ebenso boshaft wie alle Anderen. Man darf also keinen Cousin mehr haben? Armer Robert! was hab' ich um den ausstehen müssen … Und dabei kommen wir gar nicht mehr zusammen, denn sein Bataillon steht im Moulin-Saquet Redoute beim Fort Villejuif, südlich von Paris. ( Anm.d.Übers.) Sie sind gerade wie diese häßliche Eugenie, die nicht mehr wiederkommen wollte, weil sie ihn zwei- bis dreimal bei mir getroffen hatte. Es ist Ihnen schon ganz Recht, warum haben Sie sich so lange nicht sehen lassen! Eugenie ist nämlich in Paris geblieben, und fast acht Wochen sind Sie mit ihr nicht zusammengekommen. Eigentlich verdienen Sie gar nicht, daß ich Ihnen sage, wie oft sie Ihrer gedacht, und wie traurig sie war, wenn wir nach dem Grunde Ihres Fortbleibens forschten. Oh, diese Männer! Wie wollen Sie sich denn entschuldigen, sie muß jeden Augenblick kommen!«

Ein unendliches Wonnegefühl durchbebte Gabriels Herz. Der eine Gedanke beherrschte ihn: Eugenie hatte ihn nicht vergessen, die Trennung war auch für sie schmerzlich gewesen! Einem unwiderstehlichen Drange folgend, seinen Gefühlen in irgend einer Weise Luft zu machen, faßte er Frau Henrys Hand und sah ihr in's Gesicht mit Augen, in denen Thränen tiefinnerster Glückseligkeit glänzten. So sehr rührte die Wahrheit und Aufrichtigkeit seiner Empfindung die schöne Brünette, daß sie sich veranlaßt fühlte, ihm Muth zuzusprechen mit den Worten:

»Seien Sie doch kein Kind, sie liebt Sie, sie wird Ihnen verzeihen.«

Und in diesem Augenblicke trat Eugenie zur Thür herein.

Die beiden Liebenden standen, nur durch wenige Schritte getrennt, unbeweglich einander gegenüber, zitternd, blaß, keines Wortes vor Aufregung mächtig. Sie waren Beide zu vornehm angelegt, als daß sie ihrer Zärtlichkeit vor Zeugen freien Lauf gelassen hätten, und es trat daher ein Augenblick peinlichen Schweigens ein. Frau Henry hatte die ganze Sachlage sofort überschaut und trat, geleitet von jenem Tactgefühl, der nicht selten den Frauen selbst der niedrigsten Volksklassen eigen ist, auf Eugenie zu, nahm ihr Hut und Mantel ab und lud sie ein, am Tische Platz zu nehmen. Dann machte sie sich's selbst bequem, bot Gabriel einen Stuhl an und sagte lächelnd:

»Nun, Herr Gabriel, bitte, lesen Sie uns wie sonst etwas aus dem Petit-Journal vor.«


XII.

Von jenem Tage an gaben sich Eugenie und Gabriel wieder ganz ihrer Liebe hin, welche die Trennung nur gesteigert hatte. Wie früher, fanden sie sich allabendlich gemüthlich zusammen. Gabriel las vor, oder sie plauderten miteinander; und stockte das Gespräch, oder trat vorübergehend vollständige Stille ein, nur unterbrochen von der rhythmischen Bewegung der auf- und niedergehenden Nadeln, so tauschten sie zärtliche Blicke.

Wenn ihr Mann, der seinen Dienst als Nationalgardist mit wahrem Feuereifer versah, auf Vorposten stand, so gestattete Eugenie, daß Gabriel sie nach Haus begleitete. Sie liefen keine Gefahr, auf diesen abgelegenen, düsteren Boulevards erkannt zu werden, wo sparsam vertheilte Oellampen die lichtfunkelnden, in endlosen Reihen sich hinziehenden Gaskandelaber ersetzt hatten.

In dieser einsamen, finsteren Gegend erzählte die junge Frau ihrem Freunde, während sie, auf seinen Arm gelehnt, langsam an seiner Seite wandelte, was sie in letzter Zeit alles erduldet habe, und wie sie verlassener und einsamer denn je sei, seit Clement, der keine Arbeit mehr hatte, ganz und gar in Krieg und Politik aufgegangen war. Sie klagte Gabriel, er schlafe in ihrer Wohnung nur noch in den Nächten, wo sein Bataillon keinen Dienst hätte; ein Trunkenbold sei er geworden, roh und zu Gewaltthätigkeiten geneigt, und sie stünde jedesmal eine wahre Todesangst aus, wenn er aus einer Klubsitzung oder von einer Offizierswahl berauscht nach Hause käme, fluchend auf die Verräther und Bourgeois losdonnere und in einem Athem den Durchbruch durch die feindlichen Linien und die Abschaffung des Capitals, die Vernichtung der Preußen und die Herrschaft der Sozialisten fordere.

Auf Gabriels Drängen und Fragen räumte sie auch ein, daß sie sich tief unglücklich gefühlt habe, als er sich so lange nicht hatte sehen lassen, und daß ihr Herz der Verzweiflung nahe gewesen sei bei dem Gedanken, er sei unbeständig und flatterhaft. Und überwältigt von dem Uebermaß ihrer Gefühle, schwuren sie sich Treue bis zum Tode. Ihr herbes Geschick beklagend, suchten und fanden sie Trost in den leidenschaftlichsten Liebkosungen. Süß war ihr Kuß, von Thränen benetzt, und so stürmisch ihre Umarmung, daß sie ihnen den Athem raubte, während der Nachtwind den dumpfen Kanonendonner der Forts und manchmal auch das Knattern des Gewehrfeuers der Vorposten über ihre Häupter dahintrug.

In ihrer Schüchternheit und Naivetät fiel es den Liebenden gar nicht ein, eine vollständigere Befriedigung ihrer Liebe zu suchen, ja, nicht einmal der bloße Wunsch regte sich in ihnen; Küsse und Worte genügten zu ihrer Seligkeit. Und doch wäre Eugenie Gabriel gegenüber widerstandslos gewesen, hätten die Umstände diesem gestattet, seinem Verlangen Ausdruck zu geben. Aber Frau Henry ließ sie nie allein, und sie selbst wären unfähig gewesen, in bewußter Weise vorzugehen und ein Plätzchen ausfindig zu machen, wo sie ihre heimatslose Idylle hätten bergen können. Sie beschränkten sich jetzt auf einen fast allabendlich stattfindenden Spaziergang bei düsterer Beleuchtung und unter den grausenerregenden Umständen, wie sie in den Nächten zur Zeit der Belagerung natürlich waren.

So gingen für sie jene entsetzlichen Monate November und December vorüber, während deren die unglückliche Stadt alles Unheil des Krieges über sich hereinbrechen sah. Aber was kümmerte sie Hunger und Durst, was fragten sie darnach, ob Elend, Entbehrung und Angst um sie herrschten? Sie liebten sich, und dies Eine genügte, sie über alles Menschenleid zu erheben. Was kümmerten sie Schlachten, Aufstände und Empörungen? Die Liebe schließt sich ab und steht auf einsamer Höh', erhaben über den Thorheiten der Menschen. Kaum daß sie einen Blick hatten für die unheilvollen Ereignisse, die sich in ihrer Umgebung abspielten.

Gabriel fragte viel darnach, ob am 31. October Trochu oder Blanqui zur Regierung kam, denn am Abend vorher hatte er seine Geliebte wiedergefunden; und als später die Schlachten in schneller Aufeinanderfolge geschlagen wurden, so trieb sein Gedächtniß mit ihnen ein geradezu verbrecherisches Spiel, denn alle diese blutigen Daten erinnerten ihn nur an ein zärtliches, bezauberndes Wort, das sie ihm an jenem Tage gesagt, an einen süßen, leidenschaftlichen Kuß, den er ihr geraubt hatte.

Eines Abends, in der letzten Hälfte des December, waren sie auch bei Frau Henry, als sie diese für den nächsten Tag zu einem Diner einlud und ihnen mittheilte, ihr im Vorpostendienst thätiger Vetter Robert habe einen vierundzwanzigstündigen Urlaub erhalten und werde eine von den letzten Gänseleberpasteten mitbringen, die in Paris noch aufzutreiben gewesen wären

Ein flehender Blick Gabriels, der in dieser Einladung nur eine Gelegenheit sah, einige Augenblicke länger bei seiner Angebeteten zu verweilen, bestimmte Eugenie anzunehmen, und am nächsten Abend kamen beide Liebenden zur bestimmten Stunde an.

Es war dies einer der glücklichsten Abende ihres Lebens.

Das kleine Zimmer hatte ein festliches Aussehen. Ein mächtiges Holzfeuer, in jenen Tagen ein seltener Luxus, flammte im Kamin. Lampe und Kerzen brannten hell und warfen ihren Glanz auf das blüthenreine Tischtuch. Die schlanke Brünette, welche über ihrem schönsten seidenen Kleide eine mit Stecknadeln befestigte Küchenschürze trug, bearbeitete Teller und Gläser mit wahrem Feuereifer, und Eugenie, angesteckt durch die heitere Laune ihrer Freundin, war ihr beim Tischdecken behülflich.

Der Mobilgarden-Lieutenant ließ auch nicht lange auf sich warten. Er erschien in kriegsmäßiger Ausrüstung und trug hohe, rohlederne Stiefeln; an der Seite des Mantels war der Griff eines Offiziersäbels sichtbar, und unter dem Arm barg er die köstliche Pastete in einer dreifachen Einwickelung von grauem Papier.

Sofort setzte sich Alles in schönster Stimmung zu Tisch. Der vertraute Verkehr der Liebenden, die bei alledem die größte Zurückhaltung bewahrten, hatten den anfänglichen Verdacht des sogenannten Cousins beseitigt, und Herzlichkeit und Frohsinn würzten das Mahl während seiner ganzen Dauer. Wohl empfand Gabriel ein Gefühl des Neides, wenn er seinen gemeinen Soldatenrock und seine bescheidene Stellung als städtischer Nationalgardist mit der eleganten Uniform und den kriegerischen Phrasen des Offiziers verglich. Einmal sogar, als der schöne Robert Eugenien einige fade Complimente machte, marterten alle Qualen der Eifersucht sein unruhiges Herz und er sann auf Mord und Todschlag, aber alles in allem genommen waren sie urvergnügt, und nachdem sie die gewissenhaftesten Ausgrabungen im Innern der Pastete vorgenommen und eine Unzahl patriotischer Toaste ausgebracht hatten, trennten sie sich als die besten Freunde von der Welt.

Die Nacht war kalt aber sternenhell, und Gabriel begleitete Eugenie nach Haus. Ihre Unterhaltung unter den alten Bäumen des Boulevard d'Italie mußte wohl an jenem Abend sehr zärtlich gewesen sein, und himmlisch süß der Abschiedskuß; denn Gabriel wollte nicht gleich nach Hause gehen. Aufgeregt durch den so froh verlebten Abend und, wir müssen es leider zugestehen – schwach sind und bleiben nun einmal die armen Menschenkinder – wohl auch aufgeheitert durch das reiche Mahl und die genossenen Getränke, begab er sich in das Café des Quartier Latin, wo Cazaban, umgeben von einem Kreise lärmender, überspannter Südfranzosen allabendlich die Regierung des gemeinsten Verraths anklagte und die durchgreifendsten Maßregeln gegen den Feind forderte.

Zum allgemeinen Erstaunen machte sich Gabriel, der als schüchtern und gemäßigt galt, an jenem Abend durch seine Leidenschaftlichkeit und seine Begeisterung bemerkbar. Er gab einen Punsch zum Besten, hielt eine reine Brandrede und trank auf die Ausrottung der Feinde des Vaterlandes; und Morgens, lange nachdem das Local geschlossen war, ging er noch am Quai Saint-Michel, am Arme Cazabans spazieren, welcher ihm mit Aufbietung seiner ganzen Beredsamkeit die vorzüglichen Eigenschaften des Dynamits und des pikrinsauren Kaki anpries.


XIII.

Am 4. Januar gegen zwei Uhr Nachmittags begann das Bombardement, mit dem die Preußen der Stadt Paris schon längst gedroht hatten, und eine ihrer ersten Granaten schlug an der Ecke der Rue Saint-Jacques und der Rue des Feuillantines ein.

Die Nachricht war bald im ganzen Viertel bekannt, wo sie – zur Ehre der Bewohner sei es gesagt – viel mehr Unwillen als Schrecken erregte, und so gelangte sie auch zu Frau Fontaines Kenntniß, welche sie Gabriel mittheilte, als er zum Essen nach Hause kam.

Der junge Mann war, wie wohl fast alle Pariser, gegen die Schrecken der Belagerung gefeit und an Gefahr gewöhnt, und so aß er denn in Gesellschaft seiner Mutter, ohne sich weiter um diesen neuen Kriegsgreuel zu bekümmern, seine magere Portion Pferdefleisch nebst einigen eingemachten Früchten. Dann ging er fort und richtete, wie ihm das wieder zur lieben täglichen Gewohnheit geworden war, seine Schritte nach Frau Henrys Hause.

Aber als er an jenem Abend in das einsame Viertel kam, machten die verödeten Straßen und die undurchdringliche Finsterniß einen geradezu schauerlichen Eindruck auf ihn. Bisweilen vernahm er über seinem Kopfe ein seltsames allmählich immer stärker werdendes Geräusch, dem Schwirren eines riesengroßen Insekts vergleichbar. Mit rasender Geschicklichkeit sauste das Ungeheuer durch die Luft, um eine Secunde später mit lautem Krach in der Ferne zu zerspringen. Es waren dies die niederfallenden Granaten.

Er drückte sich dicht an den Hauswänden entlang, wobei sein Fuß oft im Schmutze ausglitt. Denn die schmale, finstere Straße Saint-Jacques war nur durch die rauchenden Lampen einiger noch offener Läden erleuchtet. Alle Augenblicke richtete sich sein Auge zum pechschwarzen Himmelsraume empor, durch den die unsichtbaren Geschosse brausten. Allmählich wurden düstere Gedanken in seiner Seele wach. Tod und Verderben umringten ihn, und zu dem Allem kam noch seine unglückliche, schuldvolle Liebe. Tiefe Verzweiflung erfaßte sein Herz, und zum erstenmal schlug es nicht höher, als sein Auge Licht an dem trauten Fenster erblickte.

Bedächtigen Schritts stieg er die alte Treppe hinauf und klingelte. Da jedoch der Schlüssel steckte, so wartete er nicht, bis geöffnet wurde, sondern trat ohne Weiteres ein.

Das Zimmer war ungeheizt, die Lampe nicht angezündet, nur ein Lichtstumpf brannte auf dem Kamin, an dem Eugenie einsam saß. Sie hatte ihren Mantel und ihre Winterkapotte nicht erst angelegt, und hielt ihr Arbeitstäschchen in der Hand, als ob sie gerade fortgehen wollte.

»Ich habe auf Sie gewartet,« sagte sie mit unsicherer Stimme zu Gabriel, der ganz erstaunt dastand, »denn ich wollte nicht, daß Sie heut Abend umsonst kämen. Frau Henry ist eben fort, sie hat zu große Angst vor dem Bombardement und sucht ein Unterkommen bei ihren Verwandten in La Chapelle. Da ich Niemand in Paris kenne, bei dem ich eine Zuflucht finden könnte, und daher in unserem Viertel wohnen bleibe, so hat sie mir ihren Schlüssel dagelassen, damit ich zwei Wohnungen hätte im Fall eines Unglücks. Sie wußten doch aber von nichts, und da bin ich auf einen Augenblick hierhergekommen – denn ich dachte mir, es könnte Sie betrüben, wenn Sie Niemand hier anträfen.«

»Wie gut Sie sind!« antwortete Gabriel gerührt.

Und er nahm einen niedrigen Stuhl und setzte sich zu Eugeniens Füßen.

»Aber ich muß bald wieder fort ,« sagte die junge Frau zögernd.

»Mein Mann hat keinen Dienst; er ist zu Hause geblieben, und ich habe ihm gesagt, ich ginge nur auf einen Augenblick aus.«

»Wie … auf der Stelle?« sagte Gabriel, ihre Hände erfassend und sie mit sanftem Drucke festhaltend.

Zum ersten Mal waren sie in diesem Zimmer allein. Ein eigenthümliches Gefühl der Aufregung, halb Liebessehnen, halb Angst, hatte sich ihrer bemächtigt.

»Bleiben Sie nur eine einzige Secunde!« flehte Gabriel. »Ich hab' ja kaum Zeit gehabt, Sie einmal ordentlich anzusehen … und ich hätte Ihnen doch so Vieles zu sagen … Was werden Sie denn während dieses schrecklichen Bombardements anfangen?«

»Ich weiß nicht, Clement hat seine Matrazen in den Keller geschafft. Er sagt, Tod sei besser als Capitulation … Aber mag's kommen, wie's will … mir geht's zu schlecht! … Ich kann Ihnen sagen: augenblicklich wäre mir der Tod ganz gleichgültig.«

»Es ist doch gar nicht hübsch von Ihnen, daß Sie so reden … Lieben Sie mich denn gar nicht? Was sollte wohl aus mir werden, wenn ich Sie nicht mehr hätte?«

Eugenie senkte traurig das Köpfchen und erwiderte nichts. Gabriel hielt sie fest mit seinen Armen umschlungen, sein Blick ruhte liebend auf ihr, in seinen Augen standen Thränen.

»Lassen Sie mich!« sagte sie und suchte sich loszumachen… »lassen … ich habe Angst… Noch nie sind wir so allein gewesen wie heut. Was wir hier thun, ist nicht recht.«

Der junge Mann gehorchte zwar, aber schluchzend behielt er die Hände der Geliebten in den seinen und bedeckte sie unaufhörlich mit Liebkosungen.

Sie konnte nicht anders, sie gab ihm ihre fieberheißen Händchen hin. Sie besaß die Kraft nicht mehr, aufzustehen und fortzugehen. Eine süße Betäubung behielt sie gefangen; vergebens suchte sie sich aufzuraffen, immer wieder drang der elektrische Strom der Liebe von den Fingerspitzen zum Herzen empor und lähmte ihren Willen. Auch Gabriel war seiner Sinne nicht mehr mächtig; an Eugeniens Knie geschmiegt, küßte er fortwährend ihre Hände.

Das Zimmer war eiskalt – und doch, wie heiß wallte das Blut in ihren Adern! Stille herrschte ringsum. Draußen hörte man in der Ferne das dumpfe Krachen der platzenden Granaten, welche unaufhörlich auf die Stadt niederhagelten. Das Licht war ganz niedergebrannt, ohne daß sie darauf geachtet hatten; der Docht lag am Rande des Leuchters und flackerte vor dem Erlöschen noch einmal hoch auf.

»Nein, wahrhaftig, unser Leid ist nicht mehr zu ertragen!« rief Gabriel aus, »und wenn das Schicksal Erbarmen mit uns hätte, so würde seine Hand eine jener Granaten auf unser Haus schleudern, um uns zu zerschmettern. «

In demselben Augenblicke hörten sie ein entsetzliches Krachen, die Fensterscheiben zersprangen und fielen klirrend zur Erde, das Gebäude wankte in seinen Festen. Ein ungeheures Geschoß war auf dem Straßenpflaster geplatzt. Das Licht verlosch gänzlich.

Angst und Entsetzen trieben diesmal Eugenie in Gabriels Arme.

Sie waren allein, von dichter Dunkelheit umgeben; sich fest umschlungen haltend, Mund auf Mund gepreßt, ihren Athem vermählend, tauschten sie leidenschaftliche Küsse, und unterdessen ergoß sich ein dichter Eisen- und Feuerregen, der vom Schicksal wie zum Hohn dazu ausersehen war, zwei Liebende zu vereinen, wolkenbruchartig über die niedergeschmetterte Stadt.

Mit furchtbarer Gewalt zermalmte er Dächer und Mauern, gab armen Verwundeten in ihren Betten im Val-de-Grâce den letzten Rest und tödtete kleine Kinder in der Wiege …

Als Gabriel zwei Stunden nachher in gehobener Stimmung und noch ganz außer sich vor Wonne und Entzücken auf den Quai Saint-Michel zurückkehrte, fand er seine Mutter am einsamen Kamin vor einem Stuhle knieend. Langsam und andachtsvoll ließ sie die Kügelchen des Rosenkranzes durch ihre Finger gleiten und murmelte dazu leise Gebete.

»Aber liebe Mama!« rief ihr Gabriel ganz erstaunt zu, »noch nicht zu Bett … um 11 Uhr? Warum betest Du noch zu so später Stunde?«

»Und Du kannst noch fragen?« antwortete ihm Frau Fontaine aufstehend, und ihre Stimme nahm dabei einen fast strengen Klang an.

»Hörst Du nicht das Krachen der Granaten? Ich bete für alle Diejenigen, welche in dieser grauenvollen Nacht sterben werden; ich bete für die armen alten Mütter wie ich, welche morgen den Tod eines Kindes beweinen werden!«

Gabriel sagte nichts; er küßte seine Mutter und eilte schnell auf sein Zimmer, voll Entsetzen über ein Glück, das jedes Mitgefühl für das Leid Anderer so ganz aus seiner Brust hatte verbannen können.


XIV.

Und sie liebten sich weiter im Schatten der Granaten.

Zu einem Paradiese wurde ihnen der Aufenthalt in Paris während dieses schreckensreichen Monats Januar, wo die Pariser von Tag- und Nachtdienst erschöpft, ausgehungert, unaufhörlich beschossen, ein Schwarzbrot aßen, das ein Zuchthaussträfling mit Verachtung von sich gewiesen hätte, und wo sie noch obendrein zu Hause vor Kälte klapperten, weil das nur durch nasse Baumzweige genährte Kaminfeuer nicht genügend Wärme verbreitete.

Seitdem Eugenie den ersten Fehltritt begangen, war sie kühner geworden. Sie ließ ihren Mann in dem Glauben, sie bringe ihre Abende bei Frau Henry zu, und suchte Gabriel auf. Von Sehnsucht getrieben, eilten sie durch die gefahrvolle Finsterniß hin nach dem Häuschen in dem alten Faubourg, der von Wurfgeschossen überschüttet wurde.

Sie dachten an keine Gefahr; sie hörten erst gar nicht mehr den Donner der Krupp'schen Kanonen und das Krachen der platzenden Granaten. Sie lebten nur noch ihrer Liebe. Kaum fand das Echo der allerletzten Katastrophen der Belagerung den Weg zu ihrem Ohr. Sie waren glückselig an jenem Abende, wo das blutige Gemetzel bei Buzenval stattfand, glückselig am 22. Januar, glückselig – oh Schmach! – am Tage der Capitulation!

Aber durch eine seltsame Fügung des Zufalls waren sie es an jenem Abende zum letztenmal.

Eugenie hatte keine sehr kräftige Gesundheit, und es wirkten daher die Entbehrungen und Schrecken der Belagerung nachtheiliger auf sie als auf jeden Anderen. Sie wurde ernstlich krank und mußte sechs Wochen lang das Bett hüten.

Frau Henry hatte ihre frühere Wohnung wieder bezogen und war für Gabriel die ganze Zeit eine treue Freundin, der er all sein Herzeleid und seine Befürchtungen anvertraute. Er besuchte sie jeden Tag, um von seiner angebeteten Geliebten sprechen zu können und zu erfahren, wie es ihr ginge, und mit fieberhafter Ungeduld erwartete er den Augenblick, wo Eugenie wieder ausgehen durfte.

Die ersten Sitzungen der Nationalversammlung in Bordeaux, der schüchtern triumphirende Einzug des deutschen Heeres in Paris, die Kundgebungen der Nationalgarde an der Julisäule, die Kanonen des Montmartre und all die furchtbaren Anzeichen der nahenden Revolution machten dagegen nicht den geringsten Eindruck auf ihn.

Als er am 17. März früh bei Frau Henry erschien, wurde ihm die freudige Ueberraschung zu Theil, Eugenie anzutreffen. Obgleich kaum aus dem Bette aufgestanden, hatte sie doch ihren Besuch nicht länger hinausschieben wollen, sondern war trotz des Schnees ausgegangen. Seine Thränen, Thränen des Glückes und der Freude, benetzten Eugeniens abgemagerte Hände. Tausend schöne Pläne entwarf er für die Zukunft. Weit fort von hier wollte er sie führen, um ganz ihrer Liebe leben, die herrlichsten Partieen in die freie Gottesnatur machen zu können. Aber als er sie beim Abschied so sorglich in ihre Shawls und Krankentücher eingehüllt an der Thürschwelle stehen sah, ein trauriges, mattes Lächeln auf den Lippen, da machte ein furchtbarer Gedanke das Herz des Liebenden erbeben, und er hatte die unbestimmte Ahnung, als würde er Eugenie auf ewig verlieren!

Am folgenden Tage suchten sich die Regierungstruppen mittelst eines Handstreichs der Kanonen des Montmartre zu bemächtigen; aber sie mußten mit Schimpf und Schande abziehen. Ein Aufstand, dem gleich bei Beginn zwei Menschen zum Opfer fielen, brachte binnen wenigen Stunden die Hauptstadt in seine Gewalt; die Bewohner der ersten Stadt Europas zeigten sich unschlüssig, ob sie ihrer Pflicht, die gesetzmäßige Regierung zu unterstützen, oder den Befehlen nachkommen sollten, welche ihnen eine Handvoll gemeiner Schurken vorschrieb. So sah sich Gabriel in die Nothwendigkeit versetzt, mit der Regierung nach Versailles zu fliehen.


XV.

Alle diejenigen, welche durch Beziehungen zur Regierung oder durch Sorge für ihre persönliche Sicherheit genöthigt waren, Versailles während der Commune zu bewohnen, werden niemals den merkwürdigen Anblick vergessen, welchen diese aus dem Stegreif geschaffene Hauptstadt darbot.

Die meisten Pariser waren bisher nach Versailles aus keinem andern Grunde gekommen, als um seine großartig angelegten Springbrunnen zu bewundern. Nur Wenige hatten daher an sich selbst die Wirkung erfahren, welche diese dicht an den Thoren von Paris liegende Provinzialstadt in ihrer Einsamkeit und Todtenstille auf den Beobachter hervorbringt. Theophil Gautier Théophile Gautier (1811-1872), französischer Schriftsteller, bekannt vor allem durch seinen Briefroman »Mademoiselle Maupin« (1835). nennt sie »die Todtenstadt der Könige«, und diejenigen, welche Gelegenheit hatten, die tiefe Wahrheit dieses Dichterwortes kennen zu lernen, mochten in jenen Tagen nicht wenig erstaunt sein.

Nachdem das alte Schiff, dessen Bildniß Paris in seinem Wappen trägt, elendiglich zu Grunde gegangen, war Versailles das aus seinen Trümmern zusammengezimmerte Kolossalfloß geworden. Von Ende März bis Anfang Mai befanden sich in dieser Stadt, die für gewöhnlich kaum dreißigtausend Einwohner hat, über zweimalhunderttausend. Dichte Schaaren wogten in seinen wunderschönen Parkanlagen, in seinen prachtvollen Straßen, in seinen herrlichen Alleen auf und nieder, so stürmisch bewegt, so leidenschaftlich aufgeregt, wie es nur eine ganze, um ihr Dasein ringende Nation sein kann. Auf dem ausgedehnten Exercierplatze zeigten sich ungeheure Artilleriemassen und manövrirten ganze Regimenter, als ob sie der hoch auf bronzenem Rosse thronenden, gebieterischen Gestalt des » Grand Roi« gehorchten.

In jenem sagenhaften Palaste, dessen Räumlichkeiten vom Geschick dazu auserlesen zu sein scheinen, allen tragischen Ereignissen unserer Geschichte als Decoration zu dienen, tagte inmitten des allgemeinen Tumults eine mit souveräner Macht ausgestattete Versammlung, umgeben von ihren Ministerien und einem unzähligen Verwaltungspersonal, und ließ alle Kräfte des Landes hier zusammenströmen. In den Häusern der Stadt, in Kellern und auf Böden drängten sich Flüchtlinge aus allen Gesellschaftsklassen zusammen und schliefen auf Stühlen, Tischen und Billards. Offiziere und Beamte aller möglichen Rangstellungen befanden sich darunter, kurz Alles, was von den Elementen der Pariser Gesellschaft noch vorhanden war: der geniale Künstler, welcher seinem Atelier den Rücken gekehrt, wie der Schutzmann, den man aus seiner elenden Wohnung gejagt hatte; der berühmte Staatsmann, der vor dem Aufstande geflohen war, wie das gemeine Freudenmädchen, welches der Hunger hierher getrieben hatte.

Die in so ungeheuren Massen ausgewanderten Pariser waren den Traditionen französischer Leichtfertigkeit treu geblieben. Ohne sich dessen bewußt zu werden, gehorchten sie sklavisch der Macht der Gewohnheit und zeigten alle Licht- und Schattenseiten vergangener Zeiten. Es kam ihnen dabei das herrliche Wetter zu Statten. Von so wunderbarer Schönheit waren jene Frühlingstage, daß es schien, als wolle die Natur den armen Menschenkindern zu erkennen geben, wie sehr sie aus ihrer unnahbaren Höhe ihre Thorheiten und Verbrechen verachte.

Die dunklen Trauergewänder der vornehmen Frauenwelt suchten trotz ihres einfach gehaltenen Grundtons an Eleganz ihres Gleichen, und in den schattigen Alleen und auf den grünen Rasenplätzen des alten Versailler Parks traf man Toiletten von so feinen, zarten Nuancirungen, wie sie nur ein hochentwickelter, bis zum Raffinement sich steigernder Geschmack erfinden kann. Worte der Liebe, leichtfertige Bemerkungen, heiteres Lachen vernahm man unter jenen hohen Bäumen; dazwischen das fröhliche Gezwitscher der Vögel, deren helle Stimmen den Kanonendonner in der Ferne nicht zu übertönen vermochten.

Junge Elegants, nach der neusten Mode gekleidet, tranken nach dem Dejeuner ihren Kaffee auf der Terrasse des Hôtel des Reservoirs, bliesen behaglich den Rauch ihrer Cigaretten vor sich hin und sahen zu, wie neben der offnen Equipage einer bekannten Dame der Demimonde die schweren, mit Granaten beladenen Artilleriewagen vorüberfuhren. Abends spielten die Schauspieler des Stadttheaters lustige Possen, und in den Zwischenpausen eilten die Zuschauer hinaus, um sich das Brüllen der Festungsgeschütze anzuhören.

Gabriel hatte mit seiner Mutter Unterkommen in einer Kammer der Rue de la Paroisse gefunden, welche statt aller Meubel nur zwei kleine, durch eine dünne spanische Wand getrennte Betten enthielt Da Gabriel im Unterrichtsministerium angestellt war, so hatte er mit demselben nach Versailles auswandern müssen, wo seine Bureaux in den Schulräumen des dortigen Gymnasiums untergebracht waren. Sehnsüchtig wie alle Uebrigen harrte er des Momentes, wo es ihm vergönnt sein würde, zurückzukehren; aber Niemand durfte daran denken, solange nicht die in aller Eile organisirte Armee die Stadt in Besitz genommen und den unnatürlichsten, verbrecherischsten Aufstand, den Frankreich je gesehen, niedergeschlagen hatte.

Die guten Elemente der Pariser Gesellschaft theilten diese Hoffnung wohl sämmtlich; aber wir können nicht verschweigen, daß, wenn sie sich gerade in Gabriels Brust so lebhaft regte, und er ein so glühendes Verlangen nach dem Fall der von den Communisten vertheidigten Feste trug, dies zumeist deshalb geschah, weil sie ihn von der Angebeteten seines Herzens trennte.

Er hatte Paris verlassen müssen, ohne von ihr Abschied nehmen zu können, und hatte nichts mehr von ihr gehört. Da sie ihm mit allen Zeichen des größten Schreckens verboten hatte, je ein Schreiben nach ihrer Wohnung zu richten, so hatte er einen Brief nach dem anderen der jederzeit so gefälligen Frau Henry übersandt. Sie waren sämmtlich unbeantwortet geblieben. Von Unruhe verzehrt, hatte er sich eines Tages mit Benutzung der Nordbahn über Saint-Denis nach Paris begeben.

Die Stadt machte auf ihn einen unheimlichen Eindruck, denn die Häuser waren über und über mit lügnerischen, wahnwitzigen Placaten, den Bürgerkrieg betreffend, bedeckt. Darum hielt er sich nicht lange auf, sondern eilte gradenwegs nach dem Faubourg Saint-Jacques. Frau Henry hatte sich schon seit längerer Zeit nicht mehr in ihrer Wohnung blicken lassen, und Gabriel, dem das unruhige Wesen des Portiers auffiel, und der noch vor dem achtzehnten März Gelegenheit gehabt hatte, die radicalen Ansichten der schlanken Brünette kennen zu lernen, erinnerte sich, daß er sie seit ihrem letzten Zusammensein mit dem angeblichen Cousin nicht mehr zu Hause angetroffen, und er fragte sich unwillkürlich, ob sie nicht vielleicht gar den glänzenden Mobilgarden-Lieutenant durch einen noch verführerischeren Föderirten-Oberst mit unwiderstehlichen Goldtressen ersetzt hätte.

Er irrte auf dem Boulevard d'Italie umher, welcher, seitdem die Bäume während der Belagerung umgehauen worden waren, einen abscheulichen Anblick darbot und sich in eine glühende Sandwüste verwandelt hatte. Wohl eine Stunde lang ging Gabriel in respectvoller Entfernung vor der Mauer auf und nieder, hinter welcher das Haus seiner Angebeteten versteckt lag. In demselben Augenblicke, wo er, seine Zaghaftigkeit überwindend, sich der Thür des Holzhofes nähern wollte, um vielleicht Eugeniens Gestalt vor dem Hause oder am Fenster zu erblicken, sah er, wie ein hochgewachsener Mann in der Uniform eines Nationalgarden-Capitäns mit rother Schärpe und einem schweren Cavalleriesäbel an der Seite quer über den Boulevard herüberkam und gerade auf diese Thür zuging. Seine Ahnung betrog Gabriel nicht; auf den ersten Blick hatte er ihren Gatten erkannt und floh voller Verzweiflung, ohne sich über das Schicksal seiner Geliebten Aufklärung verschafft zu haben.

Nach Versailles zurückgekehrt, mußte er auf jeden weiteren derartigen Versuch verzichten, denn die Commune hatte soeben jene widerrechtliche, höchst unbillige Verfügung erlassen, welche die gesammte Mannschaft von zwanzig bis vierzig Jahren ihren Bataillonen einreihte, und jeder Reisende wurde deshalb am Nordbahnhofe und an den Thoren der Stadt einer genauen Ueberwachung unterworfen. Hätte es Gabriel daher noch einmal gewagt, Paris zu besuchen, so konnte er dabei sehr leicht verhaftet werden. Und dann durfte er auch in einer Zeit, wo ein so allgemeines Mißtrauen herrschte, nicht wiederholte Reisen nach der aufständischen Hauptstadt unternehmen, ohne dafür einen bestimmten Grund angeben zu können; sonst hätte er sich der Gefahr ausgesetzt, den bescheidenen Posten, der ihn und seine Mutter nährte, zu verlieren.

Er führte in Folge dessen ein höchst trauriges Dasein. Seine amtliche Thätigkeit ließ ihm wenig freie Zeit, und diese benützte er dazu, die einsamsten und entlegensten Punkte des Versailler Parks aufzusuchen. Absichtlich mied er die volkbelebten Straßen, denn er konnte keine fünf Schritt thun, ohne einigen Collegen oder sonstigen gleichgültigen Bekannten zu begegnen, die alle das Bedürfniß fühlten, sich mit ihm vom Tode Flourens' Gustave Flourens (1838-1871), französischer Politiker, Journalist und Ethnograf. 1871 Mitglied der Pariser Kommune. Flourens gehörte zu den Verantwortlichen für den desaströsen Spaziergang nach Versailles zur Sprengung der Nationalversammlung und Verhaftung der Regierung Thiers-Favre am 3. April 1871. Er wurde an diesem Tag in Rueil Malmaison von einem Gendarmen »ermordet« und auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris beerdigt., von der Erstürmung des Schlosses Becon oder irgend einer anderen Schauergeschichte zu unterhalten; und doch hätte er sich um Alles in der Welt für diesen entsetzlichen Krieg nicht interessiren können, und er verwünschte ihn nur deshalb, weil er ein Hinderniß bildete zwischen ihm und seiner Liebe.

Täglich erkundigte er sich auf der Post, ob ein Schreiben für ihn angekommen wäre. Mit Bestimmtheit rechnete er allerdings nicht darauf, ein solches von Eugeniens Hand vorzufinden, denn die ängstliche junge Frau hatte nie an ihn geschrieben; aber dieser Gang war trotzdem eine Art Wallfahrt für ihn geworden, die er regelmäßig antrat, und deren Ergebniß er mit Zittern und Beben erwartete. Es war dies die stets gleichlautende Antwort des Beamten: »Nichts da!«

Eines Tages jedoch – es war gegen Ende April – hatte Gabriel wie gewöhnlich seine am Schalter leider nur allzu gut bekannte Visitenkarte vorgezeigt, als der Beamte beim Durchblättern der Briefe innehielt, einen aus dem Packet herausnahm und ihn Gabriel überreichte.

O Wonne, o Entzücken! Gabriel ergriff ihn mit zitternder Hand, legte ihn an sein Herz, in die innere Tasche seines fest zugeknöpften Rockes und eilte nach dem Bosquet de la Reine, um ihn dort so recht behaglich und in aller Muße lesen zu können. Er ließ sich auf einer Bank, neben einer Hagebuchenhecke nieder, und hier, unter den prachtvollen vom Frühlingshauch bewegten Bäumen, erbrach er in fieberhafter Hast das Couvert, entfaltet das Schreiben und las Folgendes:

Valence d'Agen, den 27. April.

»Bester Freund, ich schreibe Dir vom Café de la Comédie aus, wo ich mit einigen Freunden vortrefflich gespeist habe. Wir haben auf das Wohl der Commune und die Niederlage der Versailler getrunken. Doch das gehört nicht hierher. Denke Dir nur, diese Federfuchser im Kriegsministerium haben mir nicht die Equipirungsgelder auszahlen lassen, auf die ich doch als Lazareth-Unterarzt während der Belagerng Anspruch habe. Es ist ja richtig, ich habe mir keine Uniform angeschafft, nur ein Kepi, für das ich zehn Francs bezahlt habe; aber Equipirungsgelder muß ich doch erhalten. Du bist ja als Büreaubeamter mit all Kniffen ganz genau vertraut, Dir wird es ein Leichtes sein, durchzusetzen, daß diese offenbare Ungerechtigkeit wieder gut gemacht werde. Sei so freundlich, Dich damit zu befassen, und schicke mir das Geld so bald als möglich zu.

Mit brüderlichem Gruß

Marius Cazaban.«

Nachdem Gabriel diesen Brief gelesen, bemächtigte sich seiner eine tiefe Niedergeschlagenheit und er ging betrübt nach Haus, um mit seiner Mutter zu Mittag zu speisen. Aber dieser Tag brachte ihm noch eine sehr unangenehme Ueberraschung. Als er über die Rue des Reservoirs ging klopfte ihm Jemand vertraulich aus die Schulter. Er wandte sich um und erkannte Frau Henrys angeblichen Cousin, der noch die Mobilgarden-Uniform trug.

»Wie kommen Sie denn hierher?« sagte der schöne Robert … »Ach, 's ist ja wahr, Sie sind mit bei der Verwaltung. Ich war nach dem Kriege zu meinen Eltern zurückgekehrt; aber als der Commune-Aufstand ausbrach, stellte ich mich selbstverständlich dem Marschall wieder zur zur Verfügung.«

»Stehen Sie bei dem Heere, welches Paris belagert?« fragte Gabriel, um doch etwas zu sagen.

»Nein, es sollen, wie es scheint, nur die regulären Truppen Verwendung finden, Sie wissen schon, die Gefangenen, die aus Deutschland zurückkommen … Aber ich bleibe trotzdem hier, ich will sehen, wie's enden wird. Und dann ist es ja in Versailles auch ganz hübsch, es sind viele reizende Weiber hier.«

Trotz des inneren Widerwillens, den ihm der junge Mann einflößte, setzte Gabriel die Unterhaltung fort. In der Hoffnung, etwas von Eugenie zu hören, fragte er den Offizier, wie es seiner Cousine ginge.

»Meiner Cousine? – Wie so, meiner Cousine? … Ach ja, der Josephine … Frau Henry … Ja, ja, ich erinnere mich jetzt, sie hat mich für ihren Verwandten ausgegeben … Und Sie sind darauf reingefallen? … Ich hab' wahrhaftig keine Ahnung, wo sie stecken mag. Sie war sehr überspannt, jedenfalls hat sie sich der Commune angeschlossen … Uebrigens toll verliebt in mich … etwas gewöhnlich, aber einen Körper! … Ich kann's Ihnen ja gestehen, einen Augenblick war ich fast eifersüchtig auf Sie. Das hat aber nicht lange gedauert. Ich hab' doch gleich gesehen, daß Sie wegen der Anderen kamen … Was haben Sie denn übrigens mit der kleinen Clement angefangen, alter Junge?«

Gabriel stand wie auf Nadeln. Empört über die Rohheit, mit welcher der Offizier das Geheimniß seiner Seele entweihte, gab er eine ausweichende Antwort und kehrte ihm unwillig den Rücken.

Das Ende des unseligen Krieges stand nahe bevor, und während die Commune in Paris Schreckensthat auf Schreckensthat häufte, und eine wahnwitzige Ausschreitung nach der anderen beging, näherte sich das Racheheer langsam aber sicher jenem Walle, von dem es gar bald die rothe Fahne herunterreißen sollte. Schon hatte das 38. Linienregiment das Fort d'Issy genommen, die täglich stattfindenden Kämpfe fielen sämmtlich zu Gunsten der Soldaten der Nationalversammlung aus, und fortwährend wurden eroberte Kanonen und Schaaren Gefangener im Triumph eingebracht.

Gerade an dem Tage, an welchem der Sturz der Vendômessäule in Versailles bekannt wurde – jenes entsetzliche Verbrechen an der Majestät des Vaterlandes, begangen angesichts der jubelnden Preußen! – ging Gabriel auf dem Exercierplatz spazieren, als er plötzlich den hellen, durchdringenden Klang von Cavallerietrompeten vernahm und von der Avenue de Saint-Cloud her einen Trupp gefangener Communisten kommen sah, die zwischen zwei Reihen berittener Chasseurs marschirten Ohne Kopfbedeckung, in schmutzigen Uniformen, mit Staub bedeckt, halb todt vor Ermüdung, zogen ungefähr fünfzig dieser Elenden zwischen den gezogenen Säbeln der Reiter an Gabriel vorüber. Leider muß gesagt werden, daß sie mit zornigem Zuruf empfangen und mit Schmähungen überhäuft wurden, die sich kaum durch die Erbitterung der Menge entschuldigen ließen, von denen sich aber das Menschlichkeitsgefühl mit Abscheu abwenden mußte.

»Die Tressen 'runter!« schrie ein Bürger mit wüthender Stimme, die geballte Faust den Gefangenen entgegenstreckend.

In diesem Augenblicke bemerkte Gabriel unter den eingebrachten Communisten einen hochgewachsenen Mann mit wettergebräuntem Gesicht und wildem Bart, der von seinen Uniformsärmeln die Hauptmannstressen herunterriß; und es schien ihm, als sähe er jenem Manne ähnlich, den er zweimal in seinem Leben gesehen, den Gatten der Frau, welche er liebte!

Aber bevor er noch diesen Gefangenen näher in's Auge fassen konnte, war der unheimliche Zug schon vorüber und in dem als Gefängniß benutzten Hofe der Reitbahn verschwunden. Von tödtlicher Unruhe gequält, ging Gabriel von dannen. Er stellte sich die Angst der armen Eugenie vor, die in dem aufständischen Paris allein, hilflos, ohne Freunde und Verwandten zurückgeblieben war; und obgleich sich in seinem Herzen ein tiefer Haß gegen ihren Gatten angesammelt hatte, so hätte er doch in diesem Augenblick gewünscht, der Mann, der soeben im Zuge vorübergekommen war, wäre nicht jener Clement gewesen.

Endlich zog das Versailler Heer in Paris ein, und die rasenden Narren der Commune, deren Niederlage jetzt entschieden war, überschwemmten die Stadt mit Petroleum und steckten sie in Brand. Aber als Gabriel in der Nacht vom 24. Mai auf den Höhen von Montretout saß und zu seinen Füßen den glühenden Feuerheerd betrachtete, dessen geröthete Rauchwolken zum dunklen, von Granaten durchzogenen Himmelsraume emporstiegen, da dachte er nicht an die Meisterwerke des Louvre, nicht an die Schätze der Nationalbibliothek, nicht an die Reichthümer der Bank, an keines jener Wunderwerke der Civilisation, die bei dem unermeßlichen, allgemeinen Unglück mit zu Grunde gingen oder in ihrer Existenz bedroht waren, sondern einzig und allein an das Häuschen auf dem Boulevard d'Italie, wo seine Geliebte wohnte; und da die weite Entfernung und das Dunkel der Nacht ein genaues Erkennen unmöglich machten, so suchten seine vor Angst und Schrecken weit geöffneten Augen nur zu unterscheiden, ob sich die ungeheure Feuersbrunst nach dieser Seite hin ausdehnte.

Nachdem Gabriel die nöthigen Schritte gethan und verschiedene Gesuche an die Militärbehörden gerichtet, gelang es ihm als einem der Ersten, einen Erlaubnißschein zur Rückkehr nach der noch brennenden Hauptstadt zu erhalten. Es war nur eine kleine Reise, aber sie hätte ihn dreißig bis vierzig Francs gekostet, wenn er selbst die bescheidenste Droschke benutzt hätte. Da er über eine solche Summe nicht verfügte, so mußte er sie schon auf der staubigen Landstraße zu Fuß unternehmen, mitten unter den siegreich in Paris eindringenden Regimentern.

Er stieg über die eingestürzte Ringmauer, er kam durch Auteuil, welches in Trümmern lag nach der Stadt selbst, die gleichfalls einen bejammernswerthen Anblick darbot. Die Häuser waren von Rauch geschwärzt, die Mauern von Kugeln und Granatsplittern durchlöchert, auf allen Straßen wimmelte es von Soldaten mit umgehängten Chassepots; aber Gabriel blieb nirgends stehen, ja, er warf nicht einmal einen Blick um sich, sondern taumelte, getheilt zwischen Furcht und Hoffnung, halb bewußtlos weiter. Er kletterte über die noch blutigen Barrikaden, sein Fuß strauchelte über die in aller Eile wieder in's Straßenpflaster eingefügten Steine, die an den Stellen, wo man die Gefallenen vorläufig bestattet hatte, von Carbolsäure geröthet waren, er lief immerfort geradeaus, mechanisch wie ein von einer fixen Idee Besessenen an all' diesen Scenen des Grauens und Entsetzens vorüber, und kam endlich so nach dem Faubourg Saint-Jacques.

Einige Tage vor dem Einzuge der Truppen war Frau Henry ausgezogen, ohne ihre neue Adresse zu hinterlassen.

Um jeden Preis aber wollte er erfahren, was aus Eugenie geworden wäre. Er kannte keine Schüchternheit, keine Vorsicht mehr. Er eilte nach dem Boulevard d'Italie zu jener Thür, über welcher noch immer das Schild mit dem Namen Clements befestigt war. Er sah Niemand im Hofe; Thür und Fenster des Hauses waren geschlossen. Er klingelte. Es heulte kein Hund. Er wartete. Er klingelte wieder. Kein Mensch gab Antwort, das Haus war leer.

Niedergeschmettert durch diesen unerwarteten Schicksalsschlag, zog Gabriel in allen Läden der Nachbarschaft Erkundigungen ein; aber sein hohläugiges Aussehen, sein bestürztes Gesicht machten die Leute mißtrauisch. Sie wollten nicht mit der Sprache herausrücken und thaten zum Theil so, als ob sie gar nicht wüßten, was er meinte. Eine alte Grünzeughändlerin theilte ihm endlich mit, daß Clement zum Hauptmann bei den Communetruppen ernannt, in einem Gefecht vor Paris gefangen genommen worden, und seine Frau vor einigen Tagen zu ihren Verwandten in der Provinz zurückgekehrt sei.

»In welcher Gegend kann das wohl sein?«

»In der Normandie, um Saint-Lô herum.«

Mehr wußte die gute Frau nicht. Gabriel leider auch nicht. Niemals hatte Eugenie im Laufe der Unterhaltung den Namen ihres Heimatsdorfes erwähnt. »Ich bin in der Umgegend von Saint-Lô zu Haus,« hatte sie einmal zufällig zu ihm gesagt. Das war das Einzige, woran er sich noch erinnerte. »Sie wird wiederkommen,« dachte er, »oder mir schreiben, ich kann sie nicht so verlieren.«

Aber der letzte Hoffnungsschimmer erlosch in seiner Brust, und er hatte die unklare Empfindung, als ob Alles vorüber sei.


XVI.

Er kehrte mit seiner Mutter in die alte Wohnung zurück. Die Wittwe, deren ruhige, geordnete Lebensweise durch die Ereignisse der letzten Tage eine tiefgehende Störung erfahren hatte, fühlte sich ganz glücklich, daß sie ihre alten, liebgewordenen Gewohnheiten wieder aufnehmen durfte, und wunderte sich nur über die fortwährende Traurigkeit ihres Sohnes.

»Kann es wohl anders sein,« lautete seine Antwort, »nach all dem Entsetzlichen, was wir erlebt?«

Aber er sagte ihr nicht die Wahrheit. Ihn quälte einzig und allein eine unbezwingliche Sehnsucht nach seiner verlorenen Liebe. Oft suchte er den Boulevard d'Italie und alle jene Orte auf, wo er einst mit seiner Geliebten gelustwandelt. Der arme Junge war ein Pariser Kind, und soweit er auch zurückdenken mochte, seine Erinnerungen zeigten ihm nichts, als winklige, krumme Straßen und das von hohen Mauern eingeschlossene Gymnasium. Nie hatte er das himmlische Gefühl gekannt, sich auf freiem Lande herumzutummeln, Raum und Horizont vor sich zu sehen. Wenn er an einem sonnigen Frühlingsmorgen einen Spaziergang durch den Luxemburger Park gemacht und sich am Duft des Flieders berauscht hatte, so war für ihn der ganze Zauber der wonnigen Frühlingszeit erschöpft, und die tief düstere Stimmung der herbstlichen Jahreszeit fand er einzig und allein in den röthlich grünen Tinten eines Sonnenuntergangs, den er in der Vorstadt zu bewundern Gelegenheit gehabt. Und so gewährte es ihm auch damals kein reines Glück und keinen ungetrübten Genuß, im Labyrinth der Großstadt umherzuirren und all die Orte aufzusuchen, an die sich die Erinnerungen an seine erste Liebe knüpften.

Glückselig derjenige, dem es in diesen schönsten Augenblicken des Lebens vergönnt ist, auf dem Lande zu wohnen! Ein Mooslager unter Eichen, der Rand eines leis rauschenden Mühlbachs, eine Mulde im Thal, eine Wiese mit Blumen und Schmetterlingen, heitere, liebliche Landschaftsbilder werden die tiefen Eindrücke seiner jungen Liebe bewahren und seiner trauernden Seele zur Erquickung und Beruhigung dienen, wenn ihr Glück einst geflohen ist. Wollte Gabriel dagegen das Bild der Heißgeliebten heraufbeschwören und sein Herzeleid vergessen in der Erinnerung an die köstlichen und doch so schmerzensreichen Stunden, die er an ihrer Seite verlebt, so blieb ihm nichts übrig, als die endlosen Räume der Riesenstadt zu durchwandern, in der er geboren, und über deren Weichbild er nie hinausgekommen war.

Wenn seine Bureaustunden vorüber waren, so ging er die ihres Baumschmuckes beraubten, der glühenden Julisonne preisgegebenen Boulevards entlang, warf einen verzweiflungsvollen Blick auf das noch immer unbewohnte Haus des Boulevard d'Italie und kehrte über den Faubourg Saint-Jacques nach Haus zurück. Sein langsamer Gang, seine gebeugte Haltung legten ein beredtes Zeugniß ab von seiner tiefen, mit jedem Tage zunehmenden Entmuthigung und Niedergeschlagenheit.

Endlich sah er eines Tages an der Thür des Hauses, welches einst die Geliebte bewohnt hatte, einen Zettel hängen und las folgende Worte darauf: Wohnung, Holzhof und Werkstatt zu vermiethen. Die so lang gehegte Hoffnung, er werde Eugenie noch einmal wieder-sehen, schwand allmählich aus seiner Brust.

Als er einige Tage nachher mit zerstreutem Blick die Zeitung durchflog, fand er ganz zufällig die Nachricht darin, daß der Föderirten-Capitain Clement zur Deportation nach einer überseeischen Festung verurtheilt worden sei, und nun ahnte er die ganze traurige Wahrheit, daß sich nämlich die junge Frau zu ihren Eltern auf's Land begeben habe, da sie nichts mehr in Paris zurückhielt.

Ein Gerber miethete das Haus auf dem Boulevard, und Gabriels Herz zuckte schmerzlich zusammen, als er über der Thür nicht mehr jenen Namen »Clement«, den er doch seiner Zeit so sehr verabscheut hatte, las.

Von jenem Tage an kam keine Thatsache mehr zu seiner Kenntniß, die ihm über das Schicksal seiner Geliebten hätte Aufklärung verschaffen können. Die Zeit übte ihre mildernde Wirkung, und er lernte allmählich entsagen. Aber es dauerte sehr lange, bevor es ihm gelang, selbst bloß der Außenwelt gegenüber seines Schmerzes Herr zu werden, und derselbe blieb darum nicht weniger tief.

Cazaban war auch nach Paris zurückgekehrt, um seine medicinischen Studien fortzusetzen, und Gabriel suchte jetzt seine Gesellschaft. Erinnerte sie ihn doch an jene schöne Zeit, wo Eugenie noch in Paris war und er sie jeden Abend sehen durfte!

Der Mann des Südens war radicaler denn je; aber sein Jugendübermuth sollte gar bald ausgetobt haben. Denn sein Vater, ein beliebter Arzt in Valence d'Agen, dessen umfangreiche Praxis er später übernehmen sollte, hatte schon eine äußerst vortheilhafte Partie für ihn in Aussicht, und es ließ sich voraussehen, daß bei zunehmendem Alter das Wohlleben in der Provinz ihn in einen getreuen Anhänger der conservativen Richtung umwandeln würde.

Der schöne Robert, Ex-Lieutenant bei der Mobilgarde, dem Gabriel einige Mal begegnete, gehörte zu den Ersten, für welche das Pariser Argot die sprachliche Neubildung Gommeux »Gummibärchen«; der typische Charakter des eleganten jungen Mannes des 19. Jh., faul und eitel. erfand. Er wohnte regelmäßig den Dienstag-Vorstellungen im Theâtre-Français bei und trat stets in tadelloser Toilette auf, weiße Handschuhe, weiße Cravatte, ein gelbes Bändchen im Knopfloch des Frackes. Er hatte nämlich die Kriegsmedaille erhalten.

An einem herrlichen Sonntagmorgen, der viele Spaziergänger in's Freie gelockt hatte, ging Gabriel zufällig durch den Garten des Palais Royal, als er plötzlich Frau Henry gegenüber stand. Er stieß einen Freudenschrei aus, denn er hoffte bestimmt, von ihr etwas über Eugenie zu erfahren.

Die schlanke Brünette reichte ihm lächelnd die Hand. Sie sah ganz verändert aus, ja, es schien ihm fast, als sei sie schöner geworden. Ihrer eleganten, von Gold und Juwelen strotzenden Toilette entströmte ein starker Parfümgeruch.

»Sie sind ja aus dem Viertel, das Sie früher bewohnt, ganz fortgezogen,« sagte Gabriel, das Gespräch anknüpfend. »Das ist doch recht schade! Es war zu gemüthlich in Ihrem ruhigen, stillen Zimmerchen mit der schönen Aussicht auf die Gärten.«

Er konnte nicht weiter. Ein wahrer Strom berauschender Erinnerungen drang ihm zu Herzen.

»Ach was!« antwortete Frau Henry, »es wurde mir dort zu langweilig. Eine ganz todte Gegend. Ich bin recht froh, daß ich in Bangnolles gemiethet habe. Dort wohnen viel feinere Leute … Ach, 's ist ja wahr, Sie kennen meine neue Adresse noch nicht … Doch nein«, unterbrach sie sich in bedauerndem Tone, »ich dürfte Sie doch nicht bei mir sehen.« Und ein schlaues Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie vertraulich hinzufügte:

»Einem alten Freunde darf man so etwas schon sagen. Der, den ich jetzt habe, ist sehr eifersüchtig.«

Diese sonderbare Mittheilung bereitete Gabriel eine sehr schmerzliche Ueberraschung. Es that ihm in der Seele weh, daß Frau Henry so gar nicht den geringsten Anstand nahm, vor aller Welt zuzugeben, daß sie von der Gunst eines Verehrers lebte. Zu leidenschaftlich noch hing sein Herz an der Vergangenheit, deren Bild sich ihm in der Person dieser Frau darstellte.

»Wie vergänglich ist doch Alles!« fuhr Frau Henry mit einem Anfluge von Träumerei fort. »Wie weit liegen nicht schon die Belagerung und die Commune mit ihren Schrecken hinter uns! Um auf etwas Anderes zu kommen, ich habe von Eugenie nie mehr etwas gehört, seit ihr Mann auf die Pontons geschickt wurde, und sie in ihr Heimatsdorf zurückkehrte. Armes Ding, ihr Lebenspfad war gerade nicht mit Rosen bestreut … Ihr habt einander doch sehr lieb gehabt!«

»Wie hieß doch gleich das Dorf bei Saint-Lô, wo Eugeniens Verwandten ansässig waren?« fragte Gabriel vor Erwartung zitternd.

»Ich wüßte wirklich nicht, ob sie mir das je gesagt hat, oder ich muß es vergessen haben. Aber Sie, Herr Gabriel, müssen doch wissen, wo sie hingekommen ist?« «

Gabriel erbleichte. Die letzte, einzige Möglichkeit, seine Geliebte wiederzufinden, war ihm genommen. Er blieb einen Augenblick still, dann erinnerte er sich der Frage, die Frau Henry an ihn gerichtet, und beantwortete sie mit jenem traurigen Worte, welcher den Abschluß fast aller Liebesgeschichten bildet:

»Ich weiß nicht!«



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