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XI

 

Und Toren, nur der Spottlust wegen hier,
Ergriff der Andacht heilige Gewalt.

Goldsmith

 

Ungeachtet Richards und Benjamins vereinter Bemühungen war der Raum immer noch ein äußerst schmuckloser Tempel. Roh gezimmerte und äußerst unbequeme Bänke standen in Reihen da, um die christliche Versammlung aufzunehmen, während in der Mitte der Seitenwand ein schlechter, unbemalter Kasten stand, der die Kanzel vorstellen sollte. Eine Art Lesepult befand sich an der vordern Seite dieser Rednerbühne, und ein kleiner, mit schneeweißer Damastleinwand bedeckter Mahagonitisch aus dem Hause des Richters stand ein wenig seitlich, um die Stelle eines Altars zu vertreten. Fichten- und Tannenzweige staken in den Ritzen ringsum, die sich allenthalben in dem zur Unzeit gefällten und hastig zusammengesetzten Holzwerk des Gebäudes und der Kirchenstühle zeigten, während Girlanden und hieroglyphische Bilder in üppiger Verschwendung die rauh beworfenen braunen Wände bedeckten. Da der Raum nur durch zehn oder fünfzehn armselige Talglichter erleuchtet war und die Fenster noch der Scheiben entbehrten, so wäre es allerdings nur ein trauriger Ort für die Feier des Christabends gewesen, hätten ihm nicht die großen Feuer, die an allen Enden flackerten, durch ihr Licht, welches sie auf das Buschwerk und die Gesichter warfen, ein behagliches Aussehen gegeben.

Beide Geschlechter waren durch einen Quergang unmittelbar vor der Kanzel getrennt, an dessen Seiten die Hauptpersonen des Dorfs und der Umgegend ihre Sitze hatten. Diese Auszeichnung war jedoch eher die Folge eines freiwilligen Zurücktretens der ärmeren und anspruchsloseren Bevölkerungsklasse als ein Recht, welches die vom Glück Begünstigteren beanspruchen konnten. Die eine Bank wurde von Richter Temples Gesellschaft, einschließlich seiner Tochter, besetzt, und mit Ausnahme des Doktor Todd schien niemand geneigt zu sein, sich dem Vorwurf des Stolzes auszusetzen, indem er nach einem der Sitze getrachtet hätte, die buchstäblich die höchsten des Gotteshauses waren.

Richard nahm in der Eigenschaft eines Küsters den Platz hinter einem anderen Tisch ein, während Benjamin, nachdem er den Feuern einige Holzblöcke zugelegt hatte, sich in seiner Nähe aufpflanzte, um jeden Augenblick bereit zu sein, falls seine Beihilfe für nötig erachtet werde.

Wir kämen zu weit von unserem Thema ab, wenn wir es versuchen wollten, eine Beschreibung der ganzen Gemeinde zu geben, da die Anzüge ebenso verschieden wie die Individuen waren. Nur einzelne Artikel von mehr als gewöhnlicher Schönheit – vielleicht Überbleibsel aus früheren Tagen – ließen sich neben dem groben Anzug der Wälder an den meisten Frauen erblicken. Die eine trug ein verschossenes seidenes Kleid, das wenigstens schon drei Generationen durchgemacht hatte, über schwarzen grobwollenen Strümpfen, die andere einen Schal, dessen Farben so zahlreich waren wie die des Regenbogens, über einem schlecht zugeschnittenen Kleid von rohem, braunem selbstgewirktem Stoff. Mit einem Wort, jede trug einen Lieblingsschmuck zur Schau, und sowohl Männer als Frauen erschienen in ihrem besten Anzug, wozu übrigens bei beiden Geschlechtern vorzugsweise die eigene Hausindustrie den Stoff geliefert hatte. Ein einziger Mann kam in der Uniform eines Artilleristenfreikorps, bei welchem er früher in den Küstengegenden gedient hatte, – wahrscheinlich aus keinem andern Grunde, als weil sie seine beste Kleidung war. Mehrere, zumal die jüngeren Männer, trugen blaue Beinkleider mit roten Seitenstreifen aus Tuch, sie gehörten zu Templetons leichter Infanterie und wollten wohl zeigen, daß sie nicht bloß Hausleinwand, sondern auch gekaufte Kleider hätten. Auch war ein Mann in einem schneeweißen und mit Falten versehenen sogenannten Überhemd zugegen, bei dessen Anblick einen schon ein Frostschauder überlief, obgleich der dicke braune Hausrock, der darunter verborgen war, den Eigentümer gegen Kälte schützte.

In den Gesichtern, zumal jener Hälfte der Versammlung, die nicht zu den eigentlichen Dorfbewohnern gehörte, sprach sich ein ziemlich gleichförmiger Ausdruck aus: allenthalben die gelbe Hautfarbe, die auf Anstrengung in Wind und Wetter deutete, Anstand und Aufmerksamkeit, in die sich fast durchgängig ein Zug von Verschmitztheit mischte, und im gegenwärtigen Falle die gespannteste Neugierde. Hin und wieder zeigten sich auch ein Gesicht und ein Anzug, die hiervon eine Ausnahme machten. Jener pockennarbige Mann mit der blühenden Gesichtsfarbe und den Gamaschen an den Beinen, nebst einem Rocke, der genau dem Besitzer auf den Leib paßte, war sicherlich ein englischer Emigrant, der sich nach diesem abgelegenen Erdwinkel verloren hatte. Dort die harten, farblosen Züge mit den hohen Backenknochen ließen auf einen schottischen Auswanderer schließen. Der kleine schwarzäugige Mann mit einem Anflug der dunklen Gesichtsfarbe des Spaniers, der alle Augenblicke aufstand, um den Schönen des Dorfes Platz zu machen, war ein Sohn Erins, der erst kürzlich sein Bündel abgeworfen und sich als Handelsmann in Templeton niedergelassen hatte. Kurz, die Hälfte der in Europas Norden wohnenden Nationen war in dieser Versammlung vertreten, obgleich sich alle zu der amerikanischen Ansiedlertracht bequemt hatten, mit Ausnahme des Engländers. Doch hing dieser nicht nur hinsichtlich seiner Lebensweise und seines Anzugs an den Bräuchen seines Mutterlandes, sondern er handhabte auch zwischen den Baumstümpfen seinen Pflug in derselben Weise, wie er es im Flachland von Norfolk getan hatte, bis ihm eine teuer erkaufte Erfahrung die Lehre gewonnen hatte, daß ein verständiges Volk besser weiß, was zu seiner Umwelt paßt, als ein zufälliger Beobachter oder ein Fremder, der vielleicht zu vorurteilsvoll ist, um zu vergleichen, oder sich zu hoch dünkt, um etwas zu lernen.

Elisabeth entdeckte bald, daß die Augen der Versammlung ebenso aufmerksam auf ihr wie auf Herrn Grant ruhten. Eine mädchenhafte Schüchternheit gestattete ihr daher nur, verstohlene Blicke auf das von uns eben vorgeführte Gemälde zu werfen. Als jedoch das Stampfen mit den Füßen weniger häufig wurde und auch das Husten und andere kleine Einleitungen, die bei derartigen Versammlungen der Andacht vorausgehen, nachgelassen hatten, da faßte sie sich ein Herz umherzusehen. Das Geräusch verminderte sich mehr und mehr, bis endlich das unterdrückte Hüsteln bekundete, daß es nötig sei, sich jetzt ein wenig zusammenzunehmen, und die tiefste Stille herrschte nun in dem Raum. Man hörte nur noch das Knistern der Feuer, die eine mächtige Hitze verbreiteten, und jedes Gesicht, jedes Auge war jetzt dem Geistlichen zugekehrt. In diesem Augenblick ließ sich ein schweres Stampfen der Füße am Eingang vernehmen, als ob ein neuer Ankömmling seine Bewegungsorgane vom Schnee befreie, der notwendig den Beinen eines Fußgängers anhaften mußte. Dann folgten lautlose Tritte, und man gewahrte Mohegan, der – von Lederstrumpf und dem jungen Jäger begleitet – in das Gotteshaus kam. Die Schritte, mit denen sie den Raum in ihren Mokassins betraten, wurden überhaupt nur gehört, weil bereits Stille eingetreten war.

Der Indianer bewegte sich mit feierlichem Ernst durch den Raum, und da er neben dem Richter einen leeren Sitz bemerkte, nahm er denselben mit einer Miene ein, die das Bewußtsein seiner eigenen Würde bekundete. Hier blieb er, die Wolldecke so dicht um sich schlagend, daß sie einen Teil seines Gesichtes verbarg, den ganzen Gottesdienst über unbeweglich und in tiefer Aufmerksamkeit sitzen. Natty ging an dem Stuhl vorbei, dessen sich sein roter Gefährte so unumwunden bemächtigt hatte, und setzte sich auf das Ende eines Holzblocks, der in der Nähe des Feuers lag, wo er, die Büchse zwischen seinen Beinen, anscheinend nicht sehr erfreulichen Betrachtungen nachhing. Der Jüngling fand einen Sitz unter der Versammlung, und das frühere Schweigen trat wieder ein.

Herr Grant stand nun auf und begann den Gottesdienst mit dem erhabenen Ausspruch des Propheten:

»Der Herr ist in Seinem heiligen Tempel, laßt die ganze Erde vor Ihm schweigen.« Richards Beispiel war unnötig, um die Gemeinde zu lehren, daß sie aufstehen solle, da schon der feierliche Ernst des Geistlichen wie eine Zaubergewalt diese Wirkung hervorbrachte. Nach einer kurzen Pause fuhr Herr Grant in seiner ernsten und ergebenden Mahnung fort. Man hörte nichts als die tiefen und eindringlichen Worte des Redners, wie er langsam seinen Text erklärte, bis unglücklicherweise Richard etwas Vergessenes einfiel und er auf den Zehen seinen Platz und das Schiff der Kirche verließ.

Als der Geistliche im Gebet seine Knie beugte, ahmte die Gemeinde insoweit das Beispiel nach, daß sie ihre Sitze wieder einnahm; aber keine seiner Bewegungen konnte sie vermögen, im Laufe dieses Abends zum zweiten Male in Masse aufzustehen. Einige taten es wohl hin und wieder, aber bei weitem die Mehrzahl rührte sich nicht. Sie ließ es zwar nicht an Aufmerksamkeit fehlen, aber es war eine Art von Aufmerksamkeit, welche die Handlung eher für ein Schauspiel ansah als für eine Gottesverehrung, an der man teilnehmen müsse. Von seinem Küster verlassen, fuhr Herr Grant fort zu lesen, ohne daß sich übrigens eine Antwort vernehmen ließ. Er hielt die kurzen und feierlichen Pausen, die jeder Bitte folgten, ein, aber keine Stimme respondierte dem beredten Gebet des Geistlichen.

Elisabeths Lippen bewegten sich, aber sie brachten keine Worte hervor. An den Gottesdienst der Kirchen in Neuyork gewöhnt, wurde ihr das Störende dieses Umstands ungemein peinlich, als auf einmal eine leise, sanfte Frauenstimme die Worte des Priesters wiederholte: »Wir haben unterlassen diejenigen Dinge, welche wir hätten tun sollen.« Verwundert, eine Person ihres eigenen Geschlechts an diesem Ort zu finden, die sich über die angeborene Schüchternheit erheben konnte, wandte Miss Temple ihre Augen nach der Betenden und bemerkte in kleiner Entfernung von sich selbst ein junges Frauenzimmer auf den Knien, das sein Gesicht demütig auf sein Gebetbuch senkte. Das Äußere dieser Fremden – denn für Elisabeth war sie dies im buchstäblichen Sinne des Wortes – war leicht und zart, ihr Anzug nett und anständig, und ihr Gesicht weckte trotz seiner Blässe und Ergriffenheit durch seinen angenehmen und wehmütigen Ausdruck eine tiefe Teilnahme. Bei einer zweiten und dritten Bitte vertrat sie gleichfalls die Stelle des Chors, als auf einmal die kräftigen Töne einer Männerstimme von der anderen Seite des Betsaales miteinstimmten. Miss Temple erkannte im Augenblick die Stimme des jungen Jägers, und ihre Mutlosigkeit bekämpfend, vereinigte sie ihre schwachen Laute mit denen der beiden anderen Beter.

Diese ganze Zeit über hatte Benjamin emsig in seinem Gebetbuche geblättert, aber unglücklicherweise die rechte Stelle nicht finden können. Ehe jedoch der Geistliche zu dem Schluß der Beichtformel kam, erschien Richard wieder in der Tür und nahm, während er sich leichten Trittes durch den Raum bewegte, die Antwort mit einer Kraft auf, die keine andere Besorgnis verriet, als daß sie nicht gehört werden könnte. In seiner Hand trug er ein kleines offenes Kästchen mit den schwarzgemalten Zahlen ›8 zu 10‹ auf der einen Seite, welches er, augenscheinlich als einen Fußschemel für den Geistlichen, in die Kanzel stellte, worauf er zu seinem Platz zurückkehrte und gerade noch zeitig genug dort anlangte, um mit einem volltönigen ›Amen‹ einfallen zu können. Als Herr Jones mit seiner seltsamen Last eintrat, waren die Augen aus einem leicht erklärlichen Grunde nach den Fenstern gerichtet; sie kehrten sich jedoch bald wieder in gespannter Aufmerksamkeit dem Prediger zu, da man bereits an die Tätigkeit des ›Aushelfers in allen Dingen‹ gewöhnt war.

Langjährige Erfahrung hatte Herrn Grant instand gesetzt, sein Amt auf eine bewundernswürdige Weise durchzuführen. Er kannte den Charakter seiner Zuhörer, die als ein noch ungebildetes Volk, welches eifrig an den Spitzfindigkeiten seiner verschiedenen religiösen Ansichten hielt, die Einführung eines so zeitlichen Beiwerks, wie Formeln, in ihre geistige Gottesverehrung nicht nur mit Eifersucht, sondern oft sogar mit Widerwillen betrachteten. Einen großen Teil seiner Kenntnisse hatte er im Studium des großen Buches der Natur, das in der Welt offen vor uns da liegt, gefunden, und da er wußte, wie gefährlich es sei, mit der Unwissenheit zu streiten, so bemühte er sich durchweg, alles einem Befehl Ähnliche zu vermeiden, wo seine Vernunft es für ratsam erachtete zu überzeugen. Seine Rechtgläubigkeit hing nicht mit seinem Priesterrock zusammen. Er konnte, wenn es die Umstände erforderten, auch ohne den Beistand seines Küsters mit Glut und Andacht beten, wie man ihn auch oft einen sehr evangelischen Vortrag mit der vollen Kraft seiner Beredsamkeit halten hörte, ohne daß ihm dabei die Mithilfe eines weißen batistenen Tuches zu Gebote gestanden hätte.

Im gegenwärtigen Falle sah er der Menge seiner Zuhörerschaft manches nach, und als er mit seiner Rede zu Ende kam, war auch nicht einer in der ganzen Versammlung, dem die Feierlichkeit nicht weniger papistisch und anstößig und weit mehr im Einklang mit seinen eigenen Begriffen von wahrer Andacht erschienen wäre, als man ihn das von einem Formengottesdienst glauben gemacht hatte.

Richard erblickte in dem Geistlichen während des ganzen Abends einen äußerst mächtigen Verbündeten für die Ausführung seiner religiösen Entwürfe. Herr Grant hatte sich in seiner Predigt bemüht, den Mittelweg zwischen den mystischen Doktrinen jener sublimen Glaubensbekenntnisse, welche ihre Bekenner ohne Unterlaß in die absurdesten Widersprüche verwickeln, und den üblichen Vorschriften einer sittlichen Lebensnorm zu halten, welche unseren Erlöser in eine Reihe mit den Moralpredigern früherer und späterer Jahrhunderte stellen. Er mußte allerdings über Dogmen predigen, da sonst der Kontroversensucht seiner Zuhörer nicht gedient gewesen und ein Schweigen in dieser Hinsicht für eine stillschweigende Anerkennung der Oberflächlichkeit seines Glaubensbekenntnisses genommen worden wäre. Wir haben bereits gesagt, daß die Ansiedler bei der Unzahl ihrer verschiedenen Religionslehrer gewöhnt waren, von jedem Glaubensbekenntnis bestimmte, unterscheidende Lehrsätze zu verlangen, und eine Gleichgültigkeit in dieser Hinsicht hätte auf einmal den ganzen Einfluß des Geistlichen vernichtet. Aber Herr Grant verband die allgemein anerkannten Lehrbegriffe der Christusreligion so glücklich mit den Dogmen seiner eigenen Kirche, daß wohl keiner von seinen Gründen unbewegt blieb und nur wenige an der Neuerung Anstoß nahmen.

»Wenn wir betrachten, wie verschieden sich der Charakter des Menschen unter dem Einfluß der Erziehung, der Verhältnisse und der natürlichen und sittlichen Anlagen entwickelt, meine lieben Zuhörer«, schloß er seinen feierlichen Vortrag, »so kann es nicht überraschen, daß Glaubensbekenntnisse von so verschiedenen Richtungen aus einer Religion entstehen konnten, die allerdings eine geoffenbarte ist, deren Offenbarungen aber im Laufe der Zeit verdunkelt wurden, um so mehr, da ihre Lehrsätze nach der Sitte der Länder, in denen man sie zuerst vortrug, häufig in Parabeln und in eine von Bildern wimmelnde Sprache gekleidet waren. In Punkten, wo die Forscher bei aller Reinheit ihres Herzens zu verschiedenen Ansichten gelangten, muß sich notwendig auch unter den Ungelehrten eine Spaltung herausstellen. Aber zum Glück für uns, liebe Brüder, entspringt der Brunnen der göttlichen Liebe aus einer zu reinen Quelle, als daß er in seinem Lauf getrübt werden könnte. Er gibt denen, die von seinem Lebenswasser trinken, den Frieden des Gerechten und das ewige Leben; er fließt fort durch alle Zeiten und durchdringt die ganze Schöpfung. Wenn etwas Geheimnisvolles in einem solchen Walten liegt, so ist es das Geheimnis der Gottheit. Eine umfassende Kenntnis der Natur, der Macht und der Majestät Gottes kann allerdings Überzeugung gewähren, aber dann ist noch von keinem Glauben die Rede. Wenn man also von uns verlangt, an Lehrsätze zu glauben, welche mit den Folgerungen menschlicher Weisheit nicht im Einklange zu sein scheinen, so laßt uns nie vergessen, daß wir dabei nur ein Gebot befolgen, das von der unendlichen Weisheit ergangen ist. Es muß uns genügen, daß uns ein Fingerzeig gegeben ist, der uns den rechten Weg kennenlehrt und den Erdenpilger nach der Pforte weist, hinter der sich uns das Licht des ewigen Lebens auf tut. Wenn wir nun diesen Weisungen folgen, so dürfen wir demütig hoffen, daß die Nebel, welche die Spitzfindigkeiten der menschlichen Vernunft geschaffen haben, vor dem geistigen Licht des Himmels verfliegen, und daß wir, wenn wir einmal unsere Prüfungszeit, unter Beihilfe der göttlichen Gnade, siegreich überstanden haben, die Größe Gottes schauen und die Seligkeit der Heiligen genießen dürfen. Alles, was jetzt dunkel ist, wird vor unserem erweiterten Gesichtskreis klar werden, und alles, was sich mit unseren hiesigen beschränkten Begriffen von Gnade, Gerechtigkeit und Liebe nicht vereinigen läßt, sehen wir dort in dem hellen Licht der Wahrheit, wo es sich als das Ergebnis der ewigen Weisheit und als das Wirken einer allmächtigen Liebe herausstellen wird.

Welch eine ernste Aufforderung zur Demut, meine Brüder, kann nicht ein jeder schon erfahren, wenn er auf die Tage seiner Kindheit zurückblickt und sich seiner jugendlichen Leidenschaften erinnert! Wie verschieden erscheint nicht dieselbe Handlung elterlicher Strenge in den Augen des leidenden Kindes und in denen des gereiften Mannes! Wenn der Mensch, der sich weise dünkt, die wirren Sätze seiner weltlichen Weisheit an die Stelle einer unmittelbaren höheren Eingebung pflanzen will, so möge er bedenken, wie beschränkt sein eigener schwacher Verstand ist, und er wird sich nicht weiter überheben; ja, er muß die Weisheit Gottes in dem, was teilweise verhüllt ist, ebensogut erkennen wie in dem, was offen vor ihm daliegt. An die Stelle seines Vernunftstolzes lasse er unterwürfige Demut, Glauben und wahres, inneres Leben treten!

Die Betrachtung dieser Frage, meine Zuhörer, enthält viel Tröstliches und hat ernste Aufforderungen zur Demut in ihrem Gefolge, die, in reinem Sinne geübt, das Herz bessert und den Kleinmut des Erdenpilgers auf seiner Wanderschaft verscheucht. Es ist ein köstlicher Trost, die Zweifel unserer anmaßenden Natur an der Schwelle unserer ewigen Heimat niederlegen zu dürfen, von wo sie, sobald die Tür sich öffnet, wie Morgennebel vor der aufsteigenden Sonne verschwinden. Oh, es liegt eine heilige Lehre in der Unzulänglichkeit unserer Kräfte; denn sie macht uns auf viele schwache Seiten aufmerksam, an denen wir von dem großen Feinde unseres Geschlechtes angegriffen werden können; sie zeigt uns, daß wir am ehesten der Gefahr ausgesetzt sind zu fallen, wenn unsere Eitelkeit uns eben mit dem Gefühl der Stärke einschläfern will; sie macht uns gebieterisch aufmerksam auf den eitlen Ruhm unseres Verstandes und läßt uns den großen Unterschied zwischen einem beseligenden Glauben und den Auswüchsen einer sogenannten philosophischen Gotteslehre erkennen; sie lehrt uns unser Inneres in dem Schmelztiegel der guten Werke erkennen. Unter den guten Werken sind aber die Früchte der Buße zu verstehen, die sich hauptsächlich in der Liebe äußern, – nicht in jener Liebe allein, die uns veranlaßt, dem Bedürftigen zu helfen und den Leidenden zu trösten, sondern in der Liebe, welche alle Menschen umfängt und uns lehrt, den Nächsten mit Milde zu beurteilen; die den Baum der Selbstgerechtigkeit mit der Wurzel ausrottet und uns warnt, andere zu verdammen, solange wir des eigenen Heils nicht versichert sind.

Die Nutzanwendung, welche ich aus der Beleuchtung dieses Gegenstandes ziehen will, meine Brüder, ist nichts anderes als eine ernste Einschärfung der Demut. In den Hauptpunkten unseres Glaubens ist ein geringer Unterschied, sobald man nur die Haupteigenschaften des Erlösers anerkennt und alle Hoffnungen auf sein göttliches Mittleramt baut. Aber Ketzereien haben von jeher den Schoß der Kirche befleckt und Spaltungen herbeigeführt. Um den daraus entspringenden Gefahren vorzubeugen und die Einheit seiner Jünger zu sichern, hat Christus seine sichtbare Kirche gegründet und das Predigtamt eingesetzt. Weise und heilige Männer, die Väter unserer Religion, haben alle ihre Mühe aufgeboten, das, was das Dunkel der Sprache verbirgt, ans Licht zu ziehen, und die Ergebnisse ihrer Forschungen und Erfahrungen wurden in der Form evangelischer Kirchenordnungen auf uns fortgepflanzt. Wie heilsam diese sein müssen, erhellt aus dem Blick, den wir eben in die Schwäche der menschlichen Natur getan haben, und daß sie förderlich für uns und alle werden mögen, die auf ihre Vorschriften und ihre Ausübung achten, das gebe Gott in seiner unendlichen Weisheit – Und nun noch usw.«

Mit dieser verständigen Hindeutung auf seine eigene Weise des Gottesdienstes schloß Herr Grant seine Rede. Die Gemeinde hatte in tiefer Aufmerksamkeit zugehört, obgleich die Gebete nicht mit dem gleichen Beweis von Achtung aufgenommen worden waren. Das letztere entsprang jedoch keineswegs aus absichtlicher Geringschätzung der Liturgie, auf welche der Geistliche anspielte, sondern vielmehr aus der Gewohnheit eines Volkes, welches seine gegenwärtige Existenz als Nation dem doktrinären Charakter seiner Vorfahren verdankte. Zwar wurden einige mißvergnügte Blicke zwischen Hiram und einem oder dem andern Sektenführer gewechselt, doch teilten nur wenige diese Stimmung, und die Gemeinde zerstreute sich, nachdem Herr Grant den Segen gesprochen, schweigend und mit vielem Anstand.


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