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Achtzehntes Kapitel.
Die Freuden der Freiheit

»Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt!« Jeder Barde hat sie besungen, jeder Romanschreiber hat sie verherrlicht, edle Patrioten haben für sie geduldet – es wird daher nicht nötig sein, die Gefühle des näheren zu schildern, von denen Maurice Hervey, bis vor kurzem Nr. 1080, der alte Bekannte Frau Millers, durchdrungen war, als das Zuchthaus in Portland seine wohl geregelte, aber willig gebotene Gastfreundschaft gegen ihn aufgab, und er der Außenwelt wiedergeschenkt ward. Er war nun wieder ein freier Mann, und, abgesehen von dem leichten Zwang, sich alle Monate einmal auf der Polizei zu stellen, und der allgemeinen Ueberwachung durch diese Behörde, Herr seiner Handlungen und Bewegungen.

Maurice Hervey erfreute sich der »goldenen Freiheit« an demselben Tag zum erstenmal, an dem Fräulein Clauson und Herr Mordle miteinander nach Blacktown gingen.

Frau Miller, die ein so lebhaftes Interesse für die Entlassung des Sträflings gezeigt hatte, blieb in vollständiger Unwissenheit über das frohe Ereignis. Dies war aber durch keine Unterlassung oder Nachlässigkeit ihrerseits verschuldet worden. Sie hatte zweimal an den Direktor geschrieben und gebeten, er möchte ihr die nötige Mitteilung über den Tag der Entlassung machen. Sie hatte ihre Briefe nicht von Oakbury, sondern von London aus datiert. Der erste Brief wurde dahingehend beantwortet, daß der betreffende Tag noch nicht festgesetzt sei, auf den zweiten blieb jede Erwiderung aus. Der Grund hierfür lag in dem Umstand, daß dem Sträfling, als er aus der Anstalt entlassen werden sollte, mitgeteilt wurde, seine Freundin habe sich nach ihm erkundigt und sei in London. Ob er nun dorthin gebracht und die Frau benachrichtigt werden solle. Darauf entgegnete Herr Hervey, er wolle wohl nach London, möchte sich aber von der betreffenden Frau ferne halten, weil er durch ihren schlechten Einfluß in seine jetzige beschämende Lage gekommen sei. So kam es, daß Frau Millers Brief unbeantwortet blieb.

Er war ein abgefeimter Schurke, der wegen Wechselfälschung zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden war. Gleich den meisten Leuten, die zum allgemeinen Besten in der Abgeschiedenheit gehalten werden, sah Maurice Hervey sehr wohl ein, daß es thöricht sei, gegen den Stachel zu lecken. Er war dazu verurteilt, der Gesellschaft eine Strafe zu bezahlen. Schlechtes Betragen veranlaßte dieselbe, die Schuld bis zum letzten Pfennig einzutreiben, während gutes Benehmen seine Gläubiger vermochte, ihm etwas nachzulassen und sich mit einer hübschen Abfindungssumme zu begnügen. So that er sein Bestes bei der ihm zugeteilten Arbeit. Er war zu schlau, um das abgenutzte Kunststück, den Geistlichen durch eine scheinbare Bekehrung für sich zu gewinnen, noch versuchen zu wollen. Wahrscheinlich nahm er an, dem Gefängnisgeistlichen seien die Augen aufgegangen. Dagegen zeigte er stets ein zufriedenes Gesicht, sprach artig mit den Kerkermeistern, klagte über nichts und gab niemals ein Aergernis. Nur in der Einsamkeit seiner acht Fuß hohen und vier Fuß breiten Zelle tobte Nr. 1080, knirschte mit den Zähnen und ballte die Fäuste. Dort nur traten unhörbare Flüche und Racheschwüre auf seine Lippen.

Ehe er Portland verließ, hatte man ihm mitgeteilt, daß der Verein für entlassene Sträflinge sicher etwas für ihn thun werde. Er dankte für die Mitteilung, sagte aber, er hoffe, falls er seine Geschicklichkeit nicht durch Mangel an Uebung verloren habe, sich sein Brot als Künstler, der er gewesen sei, unter einem anderen Namen, ehrlich verdienen zu können.

So stand Hervey als ein freier Mann am zweiten Tage des neuen Jahres nachmittags vier Uhr auf einer Straße in London. Es war nichts an ihm, was Aufsehen erregen konnte.

Durch eine verständige und menschliche Anordnung werden die Haare der Sträflinge ein Vierteljahr vor ihrer Entlassung nicht mehr rasiert, sondern bleiben der Natur überlassen. Der braune Anzug, der an Stelle der Sträflingstracht getreten war, saß zwar schlecht und war aus grobem Stoff, aber Hunderttausende waren in London nicht besser und nicht schlechter gekleidet, als Maurice Hervey.

Endlich war er frei! Frei, gehen zu dürfen wohin er wollte, und, innerhalb der Grenzen des Gesetzes, auch thun zu können, was er wollte! In seiner Tasche trug er eine Summe von fünf Pfund und siebzehn Schilling, das Ergebnis eines fünfjährigen guten Verhaltens und harter Arbeit. Das Betasten dieses Geldes erweckte ein neues oder vielmehr ein altes Gefühl in ihm. Länger als vier Jahre war es her, daß er kein Geld mehr in Händen gehabt hatte.

Der erste Gebrauch, den er von seinem Gelde und seiner Freiheit machte, war, in einen Tabaksladen zu treten, sich eine Cigarre zu neun Pence zu kaufen, sie anzustecken und einige Minuten in seligem, befriedigtem Schweigen in dem Laden zu sitzen und zu rauchen. Der Ladendiener sah den sonderbaren Kunden, der gar nicht aussah, als ob er für gewöhnlich solche Cigarren rauchte, genau an und ließ seine Blicke auf den Händen desselben haften.

Hervey sah die Augen des Mannes auf seine Hände gerichtet, folgte dessen Blicken und stieß einen leisen Fluch aus. Die jahrelange harte Arbeit in den Kalksteinbrüchen hatte den einst schönen Händen übel mitgespielt; die Nägel waren abgebrochen, die Finger dick und hart geworden.

Auch die ferneren Handlungen des entlassenen Sträflings zeugten von feinem Geschmack. Sobald die erste Wonne über den wieder zugänglich gewordenen guten Tabak verflogen war, begab er sich in ein Herrenkleidermagazin, wo er sich ein paar elegante Stiefeln, Hemd und Kragen und einen zwar billigen aber modern aussehenden Anzug erwarb, der wohl einige Tage auszuhalten versprach.

Nachdem er sich den Anzug, den ihm eine großmütige Regierung geschenkt, hatte zusammenpacken lassen und er noch einige Einkäufe gemacht hatte, begab er sich höchst zufrieden in einen Gasthof. Dort ließ er sich ein Zimmer zum Uebernachten geben, bestellte ein Mahl, mit dem sogar die Talberts zufrieden gewesen wären, und ließ sich dann heißes Wasser bringen. Mehr als eine halbe Stunde lang bürstete und seifte er seine schwieligen Finger, schäumte vor Wut, als er einsah, daß Monate vergehen mußten, ehe die mißhandelten Glieder ihre ursprüngliche Gestalt wieder annehmen würden. Dann setzte er sich, ohne mehr einen Pfennig in der Tasche zu haben, zu seinem üppigen Essen nieder, wozu er eine Flasche Champagner trank. Nr. 1080 hatte offenbar einen hohen Begriff von dem, was seiner Person zukam.

Er verbrachte den Abend mit Rauchen und Whiskeytrinken, suchte aber trotz dieser behaglichen Beschäftigung bald sein Lager auf. Schon während er seine Hände geseift hatte, war ihm das weiße, weiche Bett in die Augen gefallen, und er hatte es im Geist mit dem schmalen, harten Strohsack verglichen, der ihm so lange zur Lagerstätte gedient hatte. Süß, wirklich süß sind die Leiden, welche das Schicksal bringt, wenn sie einen Menschen die alltäglichen Annehmlichkeiten des Lebens so zu würdigen lehren, wie Maurice Hervey in jener Nacht sein Bett, in dem er sich wohlig dehnte und reckte.

Des Morgens nach dem Frühstück wurde ihm klar, daß ein Mann ohne einen Pfennig Geld in der Tasche in einem Gasthof keine gute Figur spielt. So gerne er sich der wiedererlangten Freiheit ganz hingegeben hätte, so gab es doch noch allerlei für ihn zu thun. Er machte sich also auf und erreichte, nachdem er sich durch viele Straßen und Gassen gewunden hatte, eine ruhige Straße mit lauter kleinen Häusern. In einem derselben fragte er nach einem Fräulein Martin, die vor etwa fünf Jahren hier gewohnt hatte. Sie war – wie man ihm mitteilte – schon weiß nicht wie lange ausgezogen, ohne ihre neue Adresse zu hinterlassen. Hervey wurde es übel zu Mute; wenn er diese Person nicht fand, so wäre es besser für ihn gewesen, das Geld, das er aus der Strafanstalt mitgebracht hatte, noch in der Tasche zu fühlen. Die Frau wies ihn in den Laden an der Ecke, und dort erfuhr er denn auch, wo die Gesuchte wohnte und zugleich, daß sie nicht mehr Fräulein Martin, sondern Frau Humphrey heiße. Er suchte die neue Wohnung der Frau, ebenfalls ein kleines Haus in der stillen Straße.

Auf sein Klingeln öffnete ihm eine anständig aussehende junge Frau, die ein Kind auf dem Arm trug, während ein anderes sich an ihrem Rock festhielt. Sie stieß einen leisen Schrei aus und lehnte sich an die Wand. Hervey nahm mit höhnischer Höflichkeit den Hut ab und trat, ohne eine Aufforderung abzuwarten, in das Haus. Die Frau rief eine Magd herbei, die ihr die Kinder abnahm, und führte Maurice in ein kleines Besuchzimmer. Hervey warf sich in einen Stuhl und betrachtete die Frau mit spöttischem Lächeln. Noch hatten sie kein Wort miteinander gewechselt. Der Mann brach zuerst das Schweigen.

»Nun, Fanny,« sagte er höhnisch, »du hast dich also verheiratet und mich vergessen?«

»Nein, aber ich bemühe mich, Sie zu vergessen.« Sie sprach in bitterem Ton.

»Und es gelingt dir nicht! Das ist sehr schmeichelhaft für mich, wenn man die Jahre der Trennung in Betracht zieht.«

Die Frau sah ihm fest ins Gesicht. »Maurice,« sagte sie, »ich bin verheiratet. Ich habe einen gütigen, treuen Mann bekommen, der mich liebt und für mich und unsere Kinder arbeitet. Er wußte viel, wenn er auch nicht meine ganze Vergangenheit kannte, er hat mir dennoch vertraut und mich an sein Herz genommen. Sie werden spotten, wenn ich Ihnen sage, daß ich mich bemühe, ihm eine gute, treue Frau zu sein. Sie haben von jeher über alles Gute gespottet. Aber, Maurice, um dessen willen, was wir einst einander waren, schonen Sie mich jetzt! Lassen Sie mich in Frieden leben und Sie nie wieder sehen!«

Sie sprach ernst, sehr ernst, so daß des Mannes leichtfertiges Lachen doppelt mißtönig klang. »Mein gutes Kind,« sagte er, »ich habe durchaus kein Verlangen, dich vom Pfad der häuslichen Tugend abzuleiten, und auch nicht den Wunsch, dir zu schaden. Ich habe einen schöneren Fisch an der Angel. Aber vielleicht erinnerst du dich, daß ich – ich kann ja offen mit dir davon reden – als ich erfuhr, daß der Haftbefehl gegen mich erlassen sei, deinen lieben Händen ein kleines Paketchen übergab, damit du es mir für bessere Zeiten bewahrest. Wo ist es?«

Die Frau errötete heftig und zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Ihre Bitte um Schonung, ihr Wunsch, ihn nicht mehr zu sehen, war ehrlich gemeint und von Herzen gekommen; aber vor Jahren hatte sie, ohne an sich selbst zu denken, ohne mit ihm zu rechten, diesem Manne alles gegeben, was ein Weib zu geben hat. Und nun war, wenigstens für ihn, das einzige Glied, das ihn noch an die Vergangenheit kettete, jenes Päckchen, das er ihr übergeben hatte.

Er sah ihr Erröten, bemerkte ihr Zögern, und schrieb natürlich beides einer falschen Ursache zu. Sein Gesicht wurde blaß vor Wut. »Beim Henker!« schrie er, »wenn es nicht zum Vorschein kommt …«

»Warten Sie,« sagte sie, in Thränen ausbrechend. Sie verließ rasch das Zimmer und ließ ihren Gast in atemloser Erwartung zurück. Nach einigen Minuten kehrte sie zurück und übergab ihm ein kleines versiegeltes Päckchen. »Hier ist es, gerade wie Sie es mir übergeben haben,« sagte sie. »Gar manches Mal, wenn mir das Wasser bis zum Hals ging und ich nicht wußte, wo aus und wo ein, versuchte ich mir einzureden, Sie wünschten, ich solle es im Fall der Not gebrauchen – aber ich kannte Sie zu gut, Maurice – ich kannte Sie viel zu gut.«

Hervey achtete nicht auf ihre Worte, obgleich die tiefe Verachtung, mit der sie gesprochen worden, jedem anderen Mann das Blut in die Wangen getrieben hätte. Er riß das Paket auf; es enthielt eine goldene Uhr und Kette, zwei wertvolle Diamantringe und etwa hundertundfünfzig Sovereigns; er steckte die erstere in die Uhrtasche und versuchte, die Ringe über seine Finger zu streifen, da ihm dies nicht gelang, schob er sie nebst den Goldstücken mit einem Fluch in die Tasche. Die Frau beobachtete ihn traurig.

»Danke schön, meine Liebe,« sagte er flüchtig, »ich wußte, daß ich dir trauen konnte. Vielleicht seid ihr arm; nimm etwas davon – ich kann mehr von der Sorte bekommen.« Er zog einige Goldstücke aus der Tasche.

»Nicht einen Pfennig. Ihr Gold würde mich in den Fingern brennen.«

»Willst du mir einen Kuß geben, um der alten Zeiten willen? Denk 'mal nach, es ist länger als fünf Jahre her, daß meine Lippen keine Frau mehr berührt haben.«

Sie machte eine widerwillige Bewegung. »Es wäre für manche Frau besser gewesen,« sagte sie, »Ihre Lippen hätten sie nie berührt.«

Er lachte häßlich. »Nun also, lebe wohl, wenn wir die alte Asche nicht wieder anblasen sollen. Empfiehl mich, bitte, deinem ehrenwerten Herrn Gemahl. Laß dich nicht beflecken von der Welt, und ziehe deine Kinder auf, wie es Gott wohlgefällig ist. Adieu!«

Er trat aus dem Haus und pfiff eine lustige Melodie vor sich hin. »Nun, da ich Geld genug habe,« sagte er zu sich selbst, »kann ich meine eigenen Bedingungen stellen. Mangel drückt mich nicht an die Wand. Nun will ich deine stolzen Kniee beugen, du Hexe, du!«

Er knirschte mit den Zähnen und stampfte so heftig auf die Erde, daß ein alter Herr, der neben ihm ging, ganz erschrocken mit beschleunigten Schritten auf einen Polizisten zueilte, der in der Ferne auftauchte.

Hervey trieb sich noch einige Tage in London herum. Er ergänzte seinen Kleidervorrat noch wesentlich, war ein guter Kunde im Gasthof, beehrte mehrere Theater mit seinem Besuch und freute sich seines Daseins. Im übrigen ging er nicht ganz müßig, sondern verwandte einen Teil seiner Zeit dazu, Erkundigungen einzuziehen, die nur schwer zu erlangen waren. Endlich erfuhr er, was er wissen wollte. »So nah!« sagte er. »Ich fürchtete schon, ich müsse außerhalb England suchen.« Sofort bezahlte er seine Rechnung im Gasthof, den er, von der Hochachtung des Besitzers begleitet, verließ. Der Abend fand ihn schon in einer behaglichen Wohnung der alten rauchigen Stadt Blacktown.

 

Ende des ersten Bandes.

 


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