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Einige Minuten nach zehn Uhr sah Mordle, der schon seit längerer Zeit, so geduldig wie ein Wegweiser am Kreuzweg gewartet hatte, Beatrice kommen.
Er bemerkte sofort, daß sie müde und angegriffen aussah. Hätte er gewußt, daß sie eine schlaflose Nacht hinter sich hatte, so würde er sich weniger gewundert haben. Sie gingen miteinander weiter, bis zu den ersten Häusern der Stadt. Dort nahm Mordle auf Beatrices Geheiß einen Wagen.
»Wohin soll er fahren?« fragte er sie.
»Dahin, bitte,« antwortete Beatrice und gab ihm ein Blatt Papier. Mordle starrte es an und konnte einen Ausruf der Verwunderung nur schwer unterdrücken.
Auf dem Papier standen die Worte: »Katze und Zirkel, Market Lane.« Er konnte nicht begreifen, was in aller Welt Fräulein Clauson in einem Wirtshaus fünften oder sechsten Ranges zu thun habe. Er gab aber den betreffenden Befehl, und nach einiger Zeit hielt der Wagen an dem Ort seiner Bestimmung.
»Katze und Zirkel« war eine Wirtschaft, die schon bessere, viel bessere Zeiten gesehen hatte und sich vermutlich nur in Erinnerung an ihre entschwundene Pracht auch jetzt noch als »Familienhotel« bezeichnete. Das Wirtshaus stand nicht weit vom Marktplatz von Blacktown und war, soviel sich aus seinem Aeußeren schließen ließ, der letzte Ort, den sich eine Familie zum Absteigequartier wählen mochte, obgleich es mit einem Billardsaal prangte, der auf einen Stall aufgebaut war und in den man auf den Sprossen einer Leiter emporklimmen konnte. Außerdem waren aber mit den heiter blinkenden Flaschen und niedlichen kleinen Tönnchen, die auf einem mit vielen Buckeln und Beulen geschmückten aber blanken zinnernen Schenktisch aufgestellt waren, alle Anziehungskräfte erschöpft. An diesem Schenktisch mußte jeder vorbei, der in das Haus selbst gelangen wollte. Was in aller Welt konnte Fräulein Clauson an einem solchen Orte zu thun haben?
Ganz einfach dies: sie wollte Frau Rawlings, die eine alte Freundin der verwitweten Wirtin war, selbst sprechen, nachdem sie von ihren Onkeln deren Adresse erfahren hatte.
Als der Wagen hielt, blickte Sylvanus, der nichts von den auf Harry erhobenen Ansprüchen wußte, seine Begleiterin fragend an. Er sah, daß Beatrice mit einem Blick das sehr zweifelhafte Aeußere von »Katze und Zirkel« erfaßt hatte, und daß sie sehr erregt war.
»Sie thaten recht, nicht allein hierher zu gehen,« sagte er.
»Wollen Sie hineingehen und fragen, ob ich eine Dame, Frau Rawlings, sprechen kann?« Mordle gehorchte.
Beatrice ließ ihren Schleier herab, lehnte sich in den Wagen zurück und schloß die Augen. »Es muß geschehen,« sagte sie leise vor sich hin.
Sie hielt die Augen noch geschlossen, als Mordle zurückkam und mit hörbarer Verwunderung sagte, die betreffende Person sei im Hause und bereit, sie zu empfangen.
»Fräulein Clauson,« sagte er dringend, »kann ich die Sache nicht für Sie besorgen? Dies ist kein passender Aufenthalt für Sie.«
»Nur ich allein kann es thun,« sagte Beatrice. »Bitte, folgen Sie mir nicht; aber es wäre mir lieb, wenn Sie auf mich warten wollten.«
Nur mit Widerstreben öffnete Sylvanus den Wagenschlag; er sah ihr nach, bis sie an dem glänzenden Schenktisch und den bunten Flaschen vorbeigegangen und von der stattlichen, auseinandergegangenen Wirtin mit forschenden Blicken in ein kleines Nebenzimmer geführt worden war. Dann stieg er wieder in den Wagen, in dessen Hintergrund er sich möglichst zu verbergen suchte, weil er mit Recht annahm, daß es einem Geistlichen, besonders einem, der erst Vikar war, nicht zum Ruhme gereichen würde, vor einem so zweifelhaften Lokal, wie »Katze und Zirkel«, gesehen zu werden. Er war in seinem Inneren fest überzeugt, daß der Beweggrund, der Beatrice hierher geführt hatte, edel und gut war, aber er war unglücklich, weil es ihm schien, als begehe er einen Vertrauensbruch an den Brüdern Talbert – er wußte nur zu gut, daß diese ihrer Nichte nie erlaubt hätten, einen Fuß hierher zu setzen.
Der Gegenstand seiner Sorge saß indessen in dem kleinen warmen Empfangszimmer der Wirtin, für dessen Ausstattung Beatrice übrigens keinen Blick hatte, so sehenswürdig dieselbe auch teilweise war; sie wartete auf Frau Rawlings, die erst, wie es sich für eine Frau, die etwas auf sich hält, gebührt, noch ein wenig herausputzte.
Endlich öffnete sich die Thüre und mit einem unterdrückten Seufzer erhob sich Beatrice und stand Frau Rawlings gegenüber, deren gutmütiges, rundes Gesicht einen erstaunten Ausdruck annahm, als sie sah, daß ihr Besuch einer anderen Klasse von Menschen angehörte, als der, mit welcher sie gewöhnlich verkehrte; infolgedessen verwandelte sich ihr anfängliches Kopfnicken in eine höfliche Verbeugung.
»Bitte, behalten Sie Platz, Fräulein. Ich höre, Sie wollen mich sprechen.«
»Ja,« sagte Beatrice in leiser, aber klarer Stimme, »ich wünsche mit Ihnen über das Kind zu sprechen, das Sie für das Ihre erklären. Ich wünsche zu hören, was Sie zu sagen haben.«
Das Gesicht der Frau wurde ernst. »Ach«, sagte sie, »da muß ich nach meinem Mann schicken; er besorgt die Sache.«
Beatrice hielt sie mit einer gebieterischen Bewegung zurück. »Was ich zu sagen habe, muß ich Ihnen sagen. Sorgen Sie, bitte, daß wir nicht gestört werden.« Frau Rawlings nahm etwas mißmutig wieder Platz und betrachtete ihre verschleierte Besucherin mit wachsender Ungeduld.
Plötzlich begann Beatrice zu sprechen, und zwar in sehr vorwurfsvollem, vielleicht auch etwas verächtlichem Tone: »Sagen Sie mir, warum Sie es wagen, ein Kind für das Ihre zu erklären, das Sie vor wenigen Tagen zum erstenmal gesehen haben?«
Frau Rawlings schien verlegen. Sie konnte die Augen ihres Gegenüber nicht sehen, hatte aber die peinliche Empfindung, als ob dieselben fest auf sie gerichtet wären und die Wahrheit aus ihren Zügen lesen wollten.
»Wir verloren einen kleinen Knaben,« stammelte sie endlich, »einen lieben kleinen Knaben, gerade in dem Alter. Mein Mann ist überzeugt, daß es unserer ist.«
»Aber Sie – Sie sind nicht überzeugt. Ein Mann kann sich täuschen über sein Kind, niemals aber ein Weib. Eine Mutter kann ihr Kind nicht vergessen und das einer Fremden für ihr eigenes halten.«
»Mein Mann ist so fest überzeugt; er kann sich nicht täuschen. Seit unser Knabe verloren gegangen ist, hat er ihn allüberall gesucht und manchmal ist er fast verrückt geworden. Jetzt, wo er das Kind gefunden hat, will er es auch behalten.«
Der letzte Satz klang etwas herausfordernd.
»Er wird ihn niemals bekommen,« sagte Beatrice bedächtig. »Hören Sie, was ich Ihnen sage. Sie haben keine Aussicht, das Kind zu erlangen. Seine Mutter weiß, wo es ist. Bestehen Sie auf Ihrer Forderung, so wird der Beweis gebracht, wem das Kind wirklich gehört; dies wird Kummer und Schmerz verursachen, aber es wird geschehen, wenn es not thut. Sehen Sie hier,« sie zog die Karte, die an dem Kleide des Kindes festgenäht gewesen, hervor, »die Person, die ein Recht auf das Kind hat, muß den anderen Teil der Karte beibringen, er kann nötigenfalls vorgelegt werden.«
»Ich weiß nichts von Karten und Beweisen, Fräulein, ich weiß nur, daß mein Mann schwört, es sei unser Junge, und daß ich ihm glaube. Er hat diese zwei Jahre schwer genug daran getragen – er war seither nicht mehr der alte.«
»Sie glauben es ihm nicht, aber um ihn zu beruhigen, bestärken Sie ihn in seiner Täuschung und wollen ein anderes Weib berauben. Sie scheinen gut zu sein, und doch wollen Sie einer anderen Mutter unersetzbaren Schaden zufügen.«
»Ich will niemand Schaden thun, Fräulein. Wenn es auch nicht mein Kind wäre, so kann doch eine Mutter, die es ausgesetzt hat, nicht in Betracht kommen. Aber ich habe Sie lange genug angehört und mehr gesagt, als ich hätte sagen dürfen. Wenn Sie mit meinem Manne reden wollen, kann ich ihn rufen.«
Frau Rawlings stand auf, um der Unterredung ein Ende zu machen; auch Beatrice erhob sich und trat ihr gegenüber. Sie schlug den Schleier zurück und zeigte zum erstenmal ihr Gesicht.
»Nein,« sprach sie leidenschaftlich. »Ich habe Ihnen noch mehr, noch viel mehr zu sagen. Blicken Sie mir ins Auge und seien Sie überzeugt, daß ich die Wahrheit rede. Wie, wenn ich die Mutter des Knaben kennte, wüßte, warum diese es nach Hazlewood House geschickt hat – wüßte, daß sie, falls sie dazu gezwungen wird – es öffentlich anerkennen wird – aller Schande zum Trotz – viel lieber, als es einer anderen überlassen. Wird dies Sie nicht überzeugen, wird dies ohne Einfluß auf die Handlungweise Ihres Gatten bleiben?«
Ihre Leidenschaftlichkeit machte Eindruck auf Frau Rawlings, die unruhig wurde und die Augen niederschlug.
»Es ist nutzlos,« sagte sie kopfschüttelnd, »ganz nutzlos! Er hat sein Herz an den Knaben gehängt. Er wird sagen, es sei nur eine List.«
»Dann habe ich Ihnen noch mehr zu sagen! Blicken Sie mir nochmals ins Auge und hören Sie! Denken Sie sich selbst in meine Lage, dann können Sie ermessen, was Sie mich zu thun zwingen. Ich sage Ihnen, das Kind gehört mir – ist mein eigenes Kind! Ich bin seine Mutter. Spreche ich deutlich genug? Dieser Knabe ist mein Sohn! Ich habe ihn in Kummer und Not, in der Verborgenheit geboren. Wird ihn Ihr Mann noch immer zu erlangen suchen – wird er es wagen, zu schwören, es sei Ihr Kind? Antworten Sie mir!«
»Ach Gott, ach Gott!« stöhnte Frau Rawlings. Beatrice war blaß wie der Tod; ihr Atem ging rasch. Nun, da das Geheimnis ihres Lebens ihr entrissen war, sprach sie weiter wie jemand, für den nichts Schlimmeres mehr kommen kann.
»Außer mir und einer anderen weiß niemand um seine Geburt; ich liebte das Kind und sehnte mich danach, es bei mir zu haben, und doch durfte ich es jahrelang nur selten und verstohlen sehen. Endlich bot sich eine günstige Gelegenheit, und ich konnte es so einrichten, daß ich meinen Jungen bei mir hatte, ohne daß jemand ahnte, es sei mein Kind. Ich schädigte niemand dadurch und hatte mein Kind bei mir, durfte es lieben und pflegen. Ich war nahezu glücklich. Und nun kommen Sie und wollen mich zwingen, der Welt meine Geschichte zu erzählen oder mich von meinem Kinde zu trennen. Und doch sind Sie ein Weib und sollten eines Weibes Herz im Busen tragen!«
Sie sah Thränen in Frau Rawlings' Augen und fuhr sanfter fort: »Ich glaube, daß Sie gut sind. Sie haben mich gezwungen, Ihnen alles zu sagen, aber ich glaube, daß Sie mein Geheimnis wahren und mir helfen werden.«
Sie wollte nicht bitten, aber ihre Stimme hatte unwillkürlich einen flehenden Ton angenommen. Frau Rawlings faltete ihre dicken Hände, Thränen strömten über ihre Wangen herab.
»Ach, Sie arme junge Dame! Sie arme junge Dame!« rief sie aus. »Sie, so jung, so stolz, so schön! Und Sie haben sich so vom rechten Wege verirren können! Ach Gott, ach Gott! Wie schlecht sind doch die Mannsleute! Ob vornehm, ob gering, sie sind alle gleich schlecht!«
Fräulein Clauson errötete bis zu den Haarwurzeln. Sie wollte reden, drängte aber die Worte wieder zurück.
»Sind Sie nun zufrieden?« fragte sie nach einer Weile.
»Ja, Fräulein. Ach, es thut mir so leid um Sie! Sie hatten recht, mir zu vertrauen. Kein Wort wird über meine Lippen kommen.«
»Aber Ihr Gatte?«
»Ach Gott, ach Gott! Ich muß thun, was ich kann. Ich muß ihm sagen, es sei nicht unseres. Er ist ein herzensguter Mann, kann ich Ihnen sagen, nur etwas aufgeregt. Ich versichere Sie, er war fest überzeugt, der süße kleine Junge sei unserer, und ich hätte ihn jedenfalls auch lieb gehabt und gehalten wie mein eigen Kind. Nun verspreche ich Ihnen, Sie sollen nicht mehr belästigt werden, aber mein armer Mann wird sehr enttäuscht sein!«
»Kann irgend eine Summe – –« begann Beatrice schüchtern.
»O nein, Fräulein. Obgleich mein Mann die letzten Jahre das Geschäft sehr vernachlässigt hat und mein Schwager darüber schimpft, sind wir doch ganz wohlauf und haben auch ein gut Stück Geld zurückgelegt. Mein Mann ist nicht geldgierig, er wollte nur sein Kind haben.«
»Wie haben Sie denn Ihr Kind verloren?«
Frau Rawlings sah etwas verlegen aus.
»Ich glaube immer noch, daß der arme kleine Kerl ertrunken ist und nur nicht aufgefunden wurde, aber Rawlings besteht darauf, er sei gestohlen worden und müsse sich einmal wiederfinden.«
Fräulein Clauson verabschiedete sich von Frau Rawlings mit ernster Würde, dann ließ sie den Schleier herab und kehrte, von ihr begleitet, zu Sylvanus in den Wagen zurück. Sie hatte ihren Zweck erreicht, aber was es sie gekostet hatte, das Geheimnis ihres Lebens dieser fremden Frau zu enthüllen, kann man gar nicht hoch genug anschlagen. Das Gefühl der Erniedrigung, das sie empfand, war so mächtig, daß sie beinahe wünschte, ihre Onkel möchten gestern in dem Zimmer gewesen sein, als sie mit ihrem Jungen eintrat, so daß sie ihnen hätte sagen können, was sie heute Frau Rawlings mitgeteilt hatte.
»Und dies alles schiebt die Katastrophe ja doch nur hinaus,« murmelte sie vor sich hin. Dabei seufzte sie unwillkürlich, was Mordles scharfem Ohre nicht entging.
»Nichts Unangenehmes geschehen, hoffe ich?« fragte er.
»Meine Angelegenheit war nicht gerade angenehm, sie ist aber befriedigend erledigt,« antwortete sie. Dann ließ sie sich an einem großen Weißwarengeschäft absetzen, in das Mordle sie nicht begleiten konnte. Sie dankte ihm herzlich für seine Dienste und er wußte, daß er damit verabschiedet war. Er schlenderte nachdenklich nach Oakbury zurück.
»Es muß ein gutes Werk gewesen sein,« sagte er zu sich selbst, »aber warum dann das Geheimnis? Warum ›Katze und Zirkel‹?«
Der Sonnabend kam; den ganzen Morgen waren Horace und Herbert unruhig und aufgeregt, lange vor der bestimmten Zeit sahen sie nach Rawlings Wagen aus, der das Kind abholen sollte. Fräulein Clauson dagegen war so ruhig wie möglich, sie fühlte, daß die Gefahr beseitigt sei. Gegen zwei Uhr fragte Horace: »Meine Liebe, hat Frau Miller die Vorbereitungen zur Abreise des Kindes getroffen?«
»Nein, gar keine. Es wird nicht nach ihm geschickt werden; es war nur eine eitle Drohung!«
Horace und Herbert wechselten Blicke. Sie wußten ganz gut, daß es keine leere Drohung gewesen war, aber sie ahnten nicht, wie die Ausführung derselben verhindert worden war.
Es wurde drei Uhr – vier – fünf Uhr; kein Wagen, kein Rawlings – niemand kam. Auch der Sonntag, Montag und Dienstag vergingen, ohne ein Lebenszeichen, ohne eine Eröffnung der Feindseligkeiten zu bringen.
»Beatrice scheint ungemein scharfsinnig zu sein,« sagte Horace.
»Ganz ungemein,« bestätigte Herbert.
Hätte sich Sylvanus Mordle, der diesen Abend bei den Brüdern verbrachte, einen Vertrauensbruch zu schulden kommen lassen, so hätten die Brüder entdeckt, daß sie ihrer Nichte eine Eigenschaft zuschrieben, auf die sie keinen Anspruch hatte.