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Vierter Teil

1

Wenn ich zum Beginn dieses Rückblickes noch einmal erwähne, daß Rasumoff in seiner Jugend niemand in der Welt hatte, so ganz und gar niemand, wie es nur von irgendeinem menschlichen Wesen behauptet werden kann, so ist das nur die Feststellung einer Tatsache von seiten eines Mannes, der an die psychologische Bedeutung von Tatsachen glaubt. Vielleicht sprach auch der Wunsch mit, peinlich gerecht zu sein. Da ich mich mit keiner der Personen dieser Erzählung identifiziere, deren Begriffe von Ehre und Scham von unseren westlichen so weit abweichen, da ich mich vielmehr einfach auf den allgemein menschlichen Standpunkt stelle, so fühle ich aus ebendiesem Grunde einen merkwürdigen Widerwillen davor, mit kalten Worten das eine herauszusagen, was jeder Leser zweifellos selbst schon entdeckt hat. Dieser Widerwille möchte töricht erscheinen, wäre hier nicht der Gedanke maßgebend, daß infolge der Unzulänglichkeit der Sprache die Darlegung der nackten Wahrheit immer etwas wenig Anmutendes und vielleicht sogar Peinliches hat. Doch ist der Zeitpunkt gekommen, wo der Staatsrat Mikulin nicht länger ignoriert werden darf. Seine einfache Frage »Wohin«, mit der wir Herrn Rasumoff in St. Petersburg verlassen haben, wirft ein Schlaglicht auf das allgemein Menschliche dieses Einzelfalles.

»Wohin?« war die in Form einer höflichen Frage gegebene Antwort auf das, was man Herrn Rasumoffs Unabhängigkeitserklärung nennen könnte. Die Frage war nicht im geringsten drohend und klang eigentlich viel mehr nach harmloser Neugier. Wäre sie rein örtlich gemeint gewesen, so hätte die darauf einzig mögliche Antwort allein schon Rasumoff in einige Bestürzung versetzen müssen. Wohin? Zurück in seine Wohnung, wo die Revolution ihn aufgesucht hatte, um seine schlafenden Instinkte, seine halbbewußten Gedanken und fast ganz unbewußten Ambitionen urplötzlich auf eine harte Probe zu stellen durch die unerwartete Berührung mit einer fanatischen und dogmenreichen Religion, die Selbstaufopferung in sich schloß, weiche Resignation, Träume und Hoffnungen und damit die Seele ihrer Gläubigen abwechselnd zum Himmel hob und in die tiefsten Tiefen der Verzweiflung stürzte. Rasumoff hatte den Türgriff losgelassen und war in die Mitte des Raumes zurückgekommen, mit der ärgerlichen Frage an Rat Mikulin: »Was meinen Sie damit?« Soviel ich weiß, hatte Rat Mikulin darauf nicht geantwortet. Er zog Herrn Rasumoff in ein vertrauliches Gespräch. Es ist eine Eigenheit russischer Naturen, daß sie für den Reiz abstrakter Ideen auch dann empfänglich bleiben, wenn sie noch so stark in hochdramatische Aktionen verwickelt sind. Diese Unterredung (und manche andere nachher) braucht nicht erwähnt zu werden. Es mag genügen, festzustellen, daß Herr Rasumoff in der Folge dazu gebracht wurde, einen neuen Glauben zu bekennen. Das Gespräch war durchaus inoffiziell, und Herr Rasumoff fand Gelegenheit, seine gesonderte Stellung zu verteidigen. Herr Rat Mikulin wollte aber keines seiner Argumente gelten lassen. »Für einen Mann wie Sie«, waren seine letzten gewichtigen Worte, »ist eine derartige Stellung unmöglich. Vergessen Sie nicht, daß ich jenes interessante Blatt Papier gesehen habe. Ich verstehe Ihren Liberalismus. Meine eigenen Gedanken bewegen sich in ganz ähnlichen Bahnen. Reform ist für mich nur eine Frage der Methode. Das Prinzip der Revolution aber bedeutet eine Vergiftung, eine Art von Hysterie, die man von der Masse unbedingt fernhalten muß. Dem stimmen Sie doch ohne Rückhalt bei, nicht? Denn sehen Sie, Kyrill Sidorowitsch, in gewissen Situationen kommen Rückhalt oder Reserve einem politischen Verbrechen recht nahe. Die alten Griechen haben das sehr wohl verstanden.«

Rasumoff hörte mit einem schwachen Lächeln zu und fragte Rat Mikulin geradeheraus, ob er damit sagen wolle, daß er ihn überwachen lassen würde.

Der hohe Beamte nahm an der zynischen Frage keinen Anstoß.

»Nein, Kyrill Sidorowitsch«, antwortete er ernst, »ich denke nicht daran, Sie überwachen zu lassen.«

Rasumoff witterte eine Lüge, bemühte sich aber doch, während des kurzen Restes der Unterhaltung eine möglichst große Unbefangenheit zu zeigen. Der ältere Mann drückte sich durchwegs in vertraulicher Weise mit einer Art gesuchter Einfachheit aus. Rasumoff kam zu dem Schluß, daß es ein unmögliches Beginnen wäre, diesem Menschen auf den Grund kommen zu wollen. Eine große Unruhe ließ sein Herz schneller schlagen. Der hohe Beamte trat hinter seinem Tisch hervor und schickte sich an, ihm zum Abschied die Hand zu schütteln.

»Leben Sie wohl, Herr Rasumoff. Es gewährt immer eine gewisse Befriedigung, wenn sich zwei intelligente Leute verstehen, nicht wahr? Und natürlich haben doch die Herren von der Revolution die Intelligenz nicht gepachtet.«

»Ich nehme an, daß ich nicht weiter gebraucht werde?« Rasumoff brachte diese Frage heraus, während der andere noch seine Hand umschlossen hielt. Nun ließ sie Rat Mikulin langsam los.

»Das, Herr Rasumoff«, sagte er mit tiefem Ernst, »ist heute schwer zu sagen. Gott allein kennt die Zukunft. Doch Sie können versichert sein, daß ich nie daran gedacht habe, Sie überwachen zu lassen. Sie sind ein junger Mann von großer Unabhängigkeit, jawohl. Sie gehen von hier weg, frei wie der Vogel in der Luft. Schließlich werden Sie aber doch zu uns zurückfinden.«

»Ich! Ich!« rief Rasumoff halblaut in verwunderter Abwehr. »Warum denn?« fügte er schwach hinzu.

»Jawohl, Sie selbst, Kyrill Sidorowitsch«, wiederholte der hohe Polizeibeamte leise und im Ton ernster Überzeugung. »Sie werden zu uns zurückkommen. Einige unserer größten Geister waren schließlich zu dem gleichen Schritt gezwungen.«

»Unsere größten Geister«, wiederholte Rasumoff mit tonloser Stimme,

»Ja, tatsächlich unsere größten Geister … Leben Sie wohl!«

Rasumoff verließ den Raum. Bevor er aber noch am Ende des Korridors angekommen war, hörte er schwere Schritte hinter sich und eine Stimme, die ihm zurief, stehenzubleiben. Er wendete den Kopf und sah zu seiner größten Überraschung, daß Rat Mikulin in Person ihm nachkam. Der hohe Beamte kam eilig an, ganz und gar nicht förmlich und leicht außer Atem.

»Einen Augenblick. Was das betrifft, worüber wir eben gesprochen haben, so mag es werden, wie Gott will. Ich könnte aber in die Lage kommen, Sie noch einmal zu brauchen. Sie scheinen überrascht, Kyrill Sidorowitsch. Ja, noch einmal … um irgendwelche weiteren Aufklärungen zu erlangen, die sich nötig erweisen könnten.«

»Ich weiß aber doch gar nichts«, stammelte Rasumoff. »Ich könnte wirklich nichts wissen.«

»Wer kann das sagen? Die Ordnung der Dinge ist ganz wunderbar. Wer kann sagen, was sich Ihnen erschließen kann, bevor dieser Tag zu Ende ist? Einmal schon waren Sie das Werkzeug der Vorsehung. Sie lächeln, Kyrill Sidorowitsch; Sie sind ein esprit-fort.« (Rasumoff war sich nicht bewußt, gelächelt zu haben.) »Aber ich glaube fest an die Vorsehung. Ein solches Bekenntnis von seiten eines alten hartgesottenen Beamten mag Ihnen vielleicht komisch vorkommen, und doch werden auch Sie selbst eines Tages noch darauf kommen … oder aber alles, was Ihnen geschehen ist, hat weiter gar keine Bedeutung mehr. Ja, ganz sicher werde ich Sie noch einmal sehen, aber nicht hier. Das wäre nicht ganz – hm … Man wird Ihnen irgendeinen passenden Ort bekanntgeben, und sogar schriftliche Mitteilungen zwischen uns, die sich darum drehen, gingen vielleicht besser durch die Vermittlung unseres – wenn ich so sagen darf – gemeinsamen Freundes, des Fürsten K. Nun bitte ich Sie, Kyrill Sidorowitsch, lassen Sie das. Ich weiß gewiß, daß er zustimmen wird. Sie müssen so viel Vertrauen zu mir haben, daß ich weiß, was ich sage. Sie haben keinen besseren Freund als den Fürsten K., und was mich selbst betrifft, so ist es nun schon eine lange Zeit her, daß er geruht hat …« Er sah auf seinen Bart hinunter.

»Ich will Sie nicht länger zurückhalten. Wir leben in schweren Zeiten. In Zeiten, wo ungeheuerliche Hirngespinste, böse Träume und verbrecherische Narrheiten an der Tagesordnung sind. Wir werden uns sicher noch einmal treffen. Allerdings mag einige Zeit bis dahin vergehen. Mag der Himmel Ihnen fruchtbringende Erwägungen senden!«

Auf der Straße angekommen, stürzte Rasumoff hastig davon, ohne sich um die Richtung zu kümmern. Zunächst dachte er an gar nichts; nach einer kurzen Weile aber wurde ihm das Widerwärtige, Gefährliche und Absurde seiner Situation quälend bewußt, zugleich mit der Schwierigkeit, sich je von diesen scheinbar unlöslichen Komplikationen freizumachen, so daß ihm der Gedanke kam, zurückzugehen und, wie er sich ausdrückte, dem Rat Mikulin zu beichten.

Zurückgehen! Wozu? Beichten! Warum? »Ich habe mit der größten Offenheit zu ihm gesprochen«, sagte er sich selbst, durchaus der Wahrheit gemäß. »Was könnte ich ihm sonst noch sagen? Daß ich es unternommen habe, eine Botschaft zu diesem Vieh von Siemianitsch zu tragen? Den falschen Anschein einer Mitwisserschaft erwecken und für nichts und wieder nichts jeden letzten Rest von Sicherheit vernichten, die ich gewonnen haben könnte – welcher Irrsinn!« Und doch konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, daß Rat Mikulin vielleicht der einzige Mann in der Welt war, der sein Benehmen richtig verstehen konnte. Es hatte einen unglaublichen Reiz für ihn, verstanden zu werden.

Auf dem Nachhauseweg mußte er verschiedene Male stehenbleiben; aus seinen Gliedern schien alle Kraft gewichen; mitten in dem geschäftigen Getriebe der Straßen fühlte er sich verlassen wie in einer Wüste und blieb wiederholt für eine Minute oder so stehen, bevor er seinen Weg fortsetzen konnte. Endlich kam er in seiner Wohnung an.

Dann kam eine Krankheit, ein leichtes Fieber, das ihm mit einem Schlage eine große Distanz gab zu der letzten verblüffenden Gegenwart und sogar zu seiner eigenen Wohnung. Er verlor nie das Bewußtsein; es schien ihm nur, daß er in süßer Mattigkeit irgendwo weit über allem stehe, was ihm je widerfahren war. Er überwand diesen Zustand langsam, oder besser mit großer Trägheit, denn die Zahl der Tage war nicht allzu groß. Und als er wieder mitten in die Dinge zurückgekehrt war, da war alles verändert, unmerklich und aufreizend verändert: die leblosen Dinge, die Gesichter der Menschen, seine Wirtin, das ländliche Dienstmädchen, das Stiegenhaus, die Straßen und sogar die Luft. Er trat diesen neuen Verhältnissen mit düsterem Ernst entgegen. Er ging an der Universität ein und aus, stieg Treppen, ging durch die Korridore, hörte Vorlesungen, machte Notizen, durchquerte die Höfe, alles in einer ärgerlichen Distanzierung und die Zähne so fest zusammengebissen, daß seine Backen schmerzten.

Er bemerkte es sehr wohl, daß der tolle Kostja ihn wie ein junger Jagdhund aus der Ferne anstierte. Daß der ausgehungerte Student mit der roten tropfenden Nase sich sorgfältig fernhielt, wie er es gewünscht hatte. Ebenso wie vielleicht zwanzig andere, die er flüchtig kannte. Alle schienen neugierig und gespannt, als erwarteten sie irgendein Vorkommnis. »Das kann nicht länger so fortgehen«, dachte Rasumoff öfter als einmal. An manchen Tagen fürchtete er, daß irgend jemand ihn plötzlich anreden und dazu bringen könnte, eine Flut schmutziger Schimpfworte hinauszubrüllen. Oft ließ er sich, nach Hause zurückgekehrt, in Mantel und Mütze in einen Stuhl fallen und verhielt sich Stunde um Stunde regungslos, irgendein Buch in der Hand, das er aus der Bibliothek mitgenommen hatte; oder er nahm sein kleines Federmesser, setzte sich hin, putzte sich endlos die Nägel und fühlte dabei eine Wut in sich, einfach Wut. »Das ist unmöglich«, murmelte er dann plötzlich in das leere Zimmer hinein.

Eine Tatsache, die Erwähnung verdient: Es wäre begreiflich, wenn dies Zimmer ihm physisch widerwärtig, unerträglich und unbewohnbar erschienen wäre. Aber nein. Nichts der Art (und er selbst hatte es anfangs gefürchtet), nichts der Art geschah. Im Gegenteil, er liebte seine Wohnung mehr als irgendeine andere Unterkunft, die er je zuvor gemietet hatte. Er liebte seine Wohnung so sehr, daß er oft ebendeswegen Mühe hatte, sich zum Ausgehen zu entschließen. Sie hatte einen körperlichen Reiz für ihn, ähnlich dem, der einen Menschen an einem kalten Tage nur widerwillig die Nähe eines Feuers verlassen läßt.

Denn da er sich zu jener Zeit fast nur hinausrührte, um zur Universität zu gehen (was sonst gab es für ihn zu tun?), so ergab es sich, daß er sich bei jedem Ausgang aufs neue den Folgen seiner Tat gegenübersah. Dann fiel der dunkle Schatten von Haldins Geheimnis auf ihn, klebte an ihm wie ein vergiftetes Gewand, das er nicht abreißen konnte. Er litt unsagbar darunter, ebensosehr wie unter den banalen unvermeidlichen Gesprächen mit der anderen Art von Studenten. »Sie müssen sich über die Veränderung wundern, die mit mir vorgegangen ist«, überlegte er ernstlich. Er erinnerte sich, peinlich berührt, daran, daß er ein oder zwei harmlosen und recht netten Kameraden in der rüdesten Weise gesagt hatte, sie möchten sich zum Teufel scheren. Einmal sprach ihn ein verheirateter Professor, den er früher mitunter aufgesucht hatte, im Vorübergehen an. »Wie kommt es nur, daß wir Sie nie mehr an unseren Mittwochen sehen, Kyrill Sidorowitsch?« Rasumoff war sich bewußt, daß er dieses freundliche Entgegenkommen mit einem abstoßenden, verstockten Murmeln erwidert hatte. Der Professor war augenscheinlich zu verblüfft gewesen, sich beleidigt zu fühlen. Das alles war schlimm. Und das alles war Haldin, immer Haldin – nichts als Haldin, überall Haldin: ein moralisches Gespenst, das unendlich viel schrecklicher wirkte als irgendeine sichtbare Erscheinung des Toten. Nur das Zimmer, durch das jener Unglückliche auf seinem Weg vom Verbrechen zum Tode gegangen war, schien nun das Gespenst nicht heimsuchen zu können. Nicht, daß es jemals ganz gefehlt hätte; es hatte nur keinerlei Gewalt darin. Hier hatte Rasumoff die Oberhand, im vollen Bewußtsein seiner eigenen Überlegenheit. Ein körperloses Phantom – nichts weiter.

Wenn abends seine reparierte Uhr am Tisch neben der brennenden Lampe tickte, sah Rasumoff von seiner Arbeit auf und starrte mit erwartungsvoller, doch kühler Aufmerksamkeit nach dem Bette. Nichts war dort zu sehen. Er dachte auch nie im Ernst daran, daß dort je etwas zu sehen sein könnte. Nach einer Weile zuckte er dann immer die Schultern und machte sich wieder an die Arbeit. Denn er hatte zu arbeiten angefangen, und zunächst mit einigem Erfolg. Sein Widerwille, diesen einen Platz zu verlassen, wo er vor Haldin sicher war, wurde nach und nach so stark, daß er schließlich überhaupt nicht mehr ausging. Vom frühen Morgen bis spät in die Nacht schrieb er, schrieb fast eine Woche lang; er sah nie nach der Zeit und warf sich einfach auf das Bett, wenn er die Augen nicht länger offenhalten konnte. Dann warf er eines Nachmittags ganz zufällig einen Blick auf die Uhr und legte langsam die Feder nieder.

»Genau um diese Stunde«, dachte er, »hat sich der Kerl ungesehen in meine Wohnung gestohlen, während ich weg war; und ist dann still wie eine Maus dagesessen – vielleicht in ebendiesem Stuhl.«

Rasumoff stand auf und begann mit ruhigen Schritten das Zimmer zu durchmessen; dabei sah er von Zeit zu Zeit nach der Uhr. »Um diese Zeit kam ich zurück und fand ihn vor dem Ofen stehen«, sagte er sich. Als es dunkel wurde, zündete er die Lampe an. Später unterbrach er sein Herumwandern noch einmal, um ärgerlich dem Dienstmädchen abzuwinken, das das Zimmer betreten und Tee und etwas zu essen bringen wollte. Bald darauf stellte er an der Uhr die Stunde fest, wo er selbst sich aufgemacht hatte zu seiner schrecklichen Irrfahrt in das Schneetreiben hinaus.

»Mitwisserschaft!« flüsterte er, nahm seine Wanderung wieder auf und behielt die beiden Zeiger scharf im Auge, die langsam der Stunde seiner Rückkehr zukrochen.

»Und schließlich«, dachte er plötzlich, »kann ich doch das erwählte Werkzeug der Vorsehung gewesen sein. Das ist vielleicht nur eine Redensart, doch warum soll nicht in jeder Redensart ein Funke Wahrheit sein? Wie, wenn ebendiese hier im Grunde wahr wäre?«

Er dachte eine Weile nach, setzte sich dann nieder, mit starrem Auge, die Beine ausgestreckt, und ließ die Arme zu beiden Seiten des Stuhles hinunterhängen, wie ein Mann, der völlig von der Vorsehung verlassen und verzweifelt ist.

Er konstatierte die Zeit von Haldins Weggang und saß noch eine weitere halbe Stunde reglos. Dann murmelte er: »Und jetzt an die Arbeit«, zog den Tisch näher, faßte die Feder, legte sie aber sofort wieder hin unter dem Druck eines lebhaften beunruhigenden Gedankens: »Da sind nun drei Wochen vergangen, und kein Wort von Mikulin!«

Was bedeutete das? War er vergessen? Möglich. Wenn ja, warum sollte er dann nicht vergessen bleiben – irgendwo unterkriechen, sich verstecken. Aber wo? Wie? Bei wem? In welchem Loch? Und sollte das für immer sein, oder wie?

Aber ein Rückzug war von schattenhaften Gefahren umdroht. Das Auge der sozialen Revolution war auf ihm, und Rasumoff fühlte einen Augenblick lang eine namenlose und verzweifelte Furcht, mit einem entsetzlichen Gefühl von Erniedrigung gemischt. War es möglich, daß er nicht länger sich selbst gehörte? Das war unerträglich. Doch warum sollte er nicht ganz wie früher weitermachen? Lernen. Es vorwärtsbringen. Hart arbeiten, als ob nichts geschehen wäre (und vor allem die Silberne Medaille gewinnen), sich auszeichnen, ein großer reformbegeisterter Diener des größten aller Staaten werden. Ein Diener auch der mächtigsten gleichartigen Masse von Menschen mit einer Fähigkeit für logische, geschickt geleitete Entwicklung in der brüderlichen Solidarität von Stärke und Wunsch, wie sich es die Welt nie hatte träumen lassen … die russische Nation!

Im Bewußtsein dieser großen Frage fühlte er sich ruhig, entschlossen und ausgeglichen und streckte eben die Hand nach der Feder aus, als er sich zufällig nochmals nach dem Bett umsah. Er stürzte darauf zu, wütend, mit dem innerlichen Aufschrei: »Du bist es, verdammter Kerl, der mir im Weg steht!« Er warf die Kissen heftig auf den Boden, riß die Decken weg … nichts da. Und während er sich abwandte, erblickte er einen Augenblick lang in der Luft, wie ein lebhaftes Detail in dem verschwebenden Bilde zweier Köpfe, die Augen von General T. und des Staatsrates Mikulin, nahe nebeneinander und auf ihn gerichtet, ganz verschieden im Charakter und doch mit dem gleichen unbeirrbaren, müden und dabei zweckbewußten Ausdruck … Diener der Nation!

Rasumoff schwankte, lebhaft über sich erschrocken, zum Waschtisch, trank etwas Wasser und benetzte die Stirn. »Dies alles wird vorübergehen und keine Spur hinterlassen«, dachte er vertrauensvoll. »Ich bin ganz in Ordnung.« Die Annahme allerdings, daß man ihn vergessen haben könnte, war barer Unsinn. Von diesem Standpunkt aus war er ein Gezeichneter. Das hatte aber nichts zu sagen. Das andere vielmehr, wofür jenes elende Phantom eingestanden war, das mußte aus dem Weg geschafft werden … »Wenn man nur hingehen und es einem von ihnen ins Gesicht speien und dann die Folgen auf sich nehmen könnte!«

Er stellte sich vor, wie er plötzlich den rotnasigen Studenten anging und ihm die Faust ins Gesicht schüttelte. »Von dem einen allerdings«, überlegte er, »ist nichts zu erreichen, weil er keine eigene Überzeugung hat. Er lebt in einem roten, demokratischen Trance. Oh, du willst dir deinen Weg zu allgemeiner Glückseligkeit erkämpfen, mein Junge; ich will dir die allgemeine Glückseligkeit anstreichen, du dummer Teufel, du verhexter! Und was ist's mit meinem eigenen Glück, ha? Habe ich kein Recht darauf, nur weil ich zufällig selbst denken kann? …«

Und wieder, wie aus einer neuen Stimmung heraus, sagte sich Rasumoff: »Ich bin jung. Alles im Leben ist zu überwinden.« In diesem Augenblick wollte er eben langsam das Zimmer durchschreiten, um sich auf das Sofa zu setzen und seine Gedanken zu sammeln. Bevor er aber noch so weit gekommen war, fiel alles von ihm ab – Hoffnung, Mut, Selbstvertrauen, Glaube an die Menschheit. Sein Herz war sozusagen mit einem Schlage leer geworden. Es war nutzlos, weiterzukämpfen. Ruhe, Arbeit, Einsamkeit und freimütige Aussprache mit seinesgleichen, dies alles war für ihn unmöglich. Alles war dahin. Sein Leben war weit, kalt und weiß wie die ungeheure Ebene des großen Rußlands unter seiner ausgleichenden Schneedecke, die sich allmählich nach allen Seiten in Schatten und Nebel verlor.

Er setzte sich mit warmem Kopf hin, schloß die Augen und blieb so kerzengerade und ganz wach den Rest der Nacht hindurch sitzen, bis das Mädchen im Vorzimmer mit dem Samowar zu lärmen begann, mit der Faust an die Tür pochte und rief: »Kyrill Sidorowitsch, bitte, es ist Zeit, aufzustehen.«

Da schlug Rasumoff die Augen auf, bleich wie ein Leichnam, der der Posaune des Jüngsten Gerichts folgt, und erhob sich.

Ich vermute, daß niemand überrascht sein wird, wenn ich sage, daß Rasumoff, als er die Aufforderung dazu erhielt, Rat Mikulin wieder besuchte. Diese Aufforderung kam an eben jenem Morgen, während er bleich und zitterig, als sei er gerade erst von einem schweren Krankenlager aufgestanden, sich zu rasieren versuchte. Der Umschlag zeigte die Handschrift des kleinen Sachwalters. Der erste Umschlag enthielt einen zweiten, der von des Fürsten K. Hand an Rasumoff adressiert war, mit der Anmerkung: »Bitte unverzüglich unter Kuvert weitersenden.« Der inliegende Brief war von Rat Mikulin geschrieben. Dieser stellte harmlos fest, daß zwar nichts geschehen sei, was einer Aufklärung bedürfe, daß er aber trotzdem ein Zusammentreffen mit Herrn Rasumoff vorschlagen möchte, und zwar an einer bestimmten Stadtadresse, die die eines Augenarztes schien.

Rasumoff las es, rasierte sich zu Ende, zog sich an, sah wieder auf den Brief und murmelte finster: »Augenarzt.« Er brütete eine Weile darüber, rieb ein Streichholz an und verbrannte die beiden Umschläge und die Einlage sorgfältig. Dann blieb er müßig und sogar ohne auf irgend etwas Besonderes zu sehen, sitzen, wartete, bis die bestimmte Stunde gekommen war, und ging weg.

Es ist schwer zu sagen, ob er es im Hinblick auf den inoffiziellen Charakter der Aufforderung hätte unterlassen können, ihr Folge zu leisten. Wahrscheinlich nicht. Jedenfalls ging er hin. Und was mehr ist, er ging mit einer gewissen Freudigkeit, die vielleicht unglaublich erscheinen mag, bis man sich daran erinnert, daß Rat Mikulin der einzige Mensch auf Erden war, mit dem Rasumoff sprechen und das Haldinsche Abenteuer als abgeschlossen betrachten konnte; und betrachtete man Haldin als abgetan, so war er nicht länger mehr ein spukendes, unheilbrütendes Gespenst. Mochte er an allen anderen Orten eine noch so beängstigende Gewalt ausüben, Rasumoff wußte sehr gut, daß er an der Adresse dieses Augenarztes einfach der gehenkte Mörder von Herrn von P. sein würde und nichts weiter. Denn die Toten können nicht mehr aufbringen als die Intensität und den Anschein von Leben, der ihnen von den Lebenden zugestanden wird. So ging also Rasumoff in der Gewißheit, Erleichterung zu finden, zu dem Zusammentreffen mit Rat Mikulin mit aller Freudigkeit, mit der ein Verfolgter jeden angebotenen Unterschlupf aufsucht.

Nach diesen Feststellungen ist es nicht nötig, noch irgend etwas über jene Aussprache und die verschiedenen Reden zu erzählen. Für die Moral der westeuropäischen Leser könnte eine Schilderung dieser Zusammenkünfte vielleicht die düstere Färbung alter Legenden tragen, in denen der böse Feind dargestellt wird, wie er mit irgendeiner versuchten Seele knifflige und verzwickte Gespräche führt. Mir steht es nicht zu, zu protestieren. Man erlaube mir nur die Feststellung, daß der Böse, dessen Leidenschaft für satanische Selbstbestätigung sein einziges Motiv ist, dennoch nach der etwas weitsichtigeren modernen Auffassung nicht ganz so schwarz ist, wie man ihn gerne malte. Mit um so größerer Nachsicht sollten wir also an die Einwertung eines bloßen Sterblichen herangehen, der zwischen vielen Leidenschaften, der steten Neigung zum Irrtum und ständig wechselnden Trieben herumgezerrt und ewig und immer von seiner kurzsichtigen Weisheit betrogen wird.

Rat Mikulin war einer jener einflußreichen Beamten, deren Stellung weder obskur noch geheimnisvoll, sondern einfach unauffällig ist und deren Wirkungskreis sich mehr auf die Methode als die Führung der Geschäfte erstreckt. Die Ergebenheit für Thron und Altar an sich ist kein verbrecherisches Gefühl. Es wäre verkehrt, daraus, daß jemand den Willen eines Einzelnen dem einer Vielheit vorzieht, auf ein schwarzes Herz oder angebornen Blödsinn schließen zu wollen. Rat Mikulin war nicht nur ein geschickter, sondern auch ein treuer Beamter. Im Privatleben war er Junggeselle mit Neigung zum Komfort; er lebte allein in einer Wohnung von fünf Zimmern, die luxuriös eingerichtet waren, und seine Vertrauten kannten ihn als begeisterten Förderer weiblicher Tanzkunst. Die breitere Öffentlichkeit hörte erst später von ihm, und zwar in der Stunde seines Sturzes, während eines jener Staatsstreiche, die den bürgerlichen Durchschnittsmenschen und Zeitungsleser verblüffen und aufstören, weil sie einen verstohlenen Einblick in ungeahnte Intrigen gewähren. Und im Wirbeltanz halbgeahnter Ungeheuerlichkeiten, diesem augenblicklichen, geheimnisvollen Aufruhr schmutziger Wasser, ging Rat Mikulin unter, während er mit würdiger Ruhe seine Unschuld beteuerte – nichts weiter. Er machte keinerlei Eröffnungen, die einer bedrängten Autokratie schaden konnten, ließ mit unwandelbarer Treue die kläglichen Arcana imperii in seiner Brust begraben sein und entfaltete so einen bürokratischen Stoizismus, der in der unauslöschlichen und fast erhabenen Verachtung eines russischen Beamten für die Wahrheit seinen Grund haben mochte; ein schweigender Stoizismus, der nur von ganz wenig Eingeweihten verstanden wurde und bei einem Sybariten einer gewissen zynischen Größe der Selbstaufopferung nicht entbehrte, denn das furchtbar harte Urteil bedeutete für Rat Mikulin einfach den bürgerlichen Tod, indem es ihn so ziemlich zum gemeinen Zwangssträfling machte.

Es scheint, als ob die blutdürstige Autokratie ebenso wie die göttliche Demokratie sich nicht nur von den Leibern ihrer Feinde nährte. Sie verschlingt ganz ebensogut ihre Freunde und Diener. Der Sturz Sr. Exzellenz Gregorjewitsch Mikulin (der erst einige Jahre später erfolgte) ist so ziemlich alles, was von dem Mann bekannt ist. Zur Zeit der Ermordung (oder Hinrichtung) des Herrn von P. jedoch erfreute sich Rat Mikulin unter dem bescheidenen Titel eines Abteilungschefs im Generalsekretariat des weitestgehenden Einflusses als Vertrauter und rechte Hand seines früheren Schulkameraden und lebenslangen Freundes, des Generals T. Man kann sich leicht vorstellen, wie die beiden den Fall des Herrn Rasumoff miteinander besprochen haben mögen, im vollen Bewußtsein ihrer unbeschränkten Macht über alles Leben in Rußland, mit tiefer Geringschätzung, wie zwei Olympier, die einem Wurm zusehen. Die Verbindung mit Fürst K. genügte, Rasumoff vor irgendeinem achtlos summarischen Verfahren zu schützen, und es ist auch ziemlich wahrscheinlich, daß man ihn nach der Unterredung im Sekretariat unbelästigt gelassen hätte. Rat Mikulin hätte ihn wohl nicht vergessen (er vergaß nie jemand, der ihm unter die Augen gekommen war), doch hätte er ihn einfach und für immer fallen lassen. Rat Mikulin war ein gutmütiger Mann und wünschte niemand zu quälen. Überdies hatte ihm, wohl auf Grund seiner eigenen Reformideen, der junge Student einen guten Eindruck gemacht, der der Sohn von Fürst K. und ganz offensichtlich durchaus kein Dummkopf war.

Wie aber das Schicksal spielt: Während Rasumoff zu dem Schluß kam, daß ihm kein Lebensweg offen blieb, wurden Rat Mikulins geheime Fähigkeiten mit der Berufung auf einen äußerst verantwortungsvollen Posten belohnt, – und zwar auf den des Leiters des allgemeinen polizeilichen Überwachungsdienstes über Europa. Und als er die Vervollkommnung des Dienstes in die Hand nahm, der die revolutionäre Tätigkeit im Ausland zu überwachen hat, da erst erinnerte er sich wieder an Herrn Rasumoff. Er sah in diesem ungewöhnlichen jungen Mann mit seinem eigenartigen Temperament, seinem unfertigen Geist und dem erschütterten Gewissen, der in den Schlingen einer schiefen Situation zappelte und den er damit in gewisser Hinsicht in der Hand hatte, weitgehende Möglichkeiten für eine ganz besonders nützliche Verwendung … Es schien, als hätten die Revolutionäre selbst dieses Werkzeug in seine Hand gegeben, das so unendlich viel feiner war als die gewöhnlichen rohen Instrumente, so ganz dazu angetan (wenn man ihm nur den entsprechenden Kredit verschaffte), in Kreise einzudringen, die gewöhnlichen Spionen verschlossen waren. Die Vorsehung! Die Vorsehung! Und Fürst K., der in das Geheimnis eingeweiht wurde, zeigte sich durchaus bereit, sich dieser mystischen Anschauung anzuschließen. »Es wird aber dennoch nötig sein, ihm für später eine Karriere zu sichern«, hatte er ängstlich verlangt. – »Oh, gewiß, das soll unsere Sorge sein«, hatte Mikulin zugestimmt. Fürst K.s Mystizismus war von recht kunstloser Art, Rat Mikulin aber war schlau genug für zwei.

Dinge und Menschen haben immer einen gewissen Punkt, eine gewisse Seite, bei der man sie anpacken muß, wenn man einen festen Griff und unbedingte Herrschaft über sie zu haben wünscht. Das Genie des Rates Mikulin lag in der Geschicklichkeit, mit der er die Leute, die er brauchte, an dieser Seite zu fassen wußte. Für ihn tat es nichts zur Sache, was es war – Eitelkeit, Verzweiflung, Liebe, Haß, Habgier, intelligenter Stolz oder dumme Selbstgefälligkeit –, alles war ihm recht, wenn der Mann nur dienstbar gemacht werden konnte. Dem unbekannten, verbindungslosen jungen Studenten Rasumoff wurde in einem Augenblick großer moralischer Vereinsamung zu verstehen gegeben, daß eine Gruppe hochgestellter Persönlichkeiten sich für ihn interessierte. Fürst K. wurde dazu überredet, persönlich zu vermitteln, und ließ bei einer bestimmten Gelegenheit einer männlichen Rührung freien Lauf, die Herrn Rasumoff um so mehr außer sich brachte, als er sie in keiner Weise erwartet hatte. Daß dieser Mann, in dem die Königstreue und verdrängte Vatergefühle arbeiteten, ihn plötzlich umarmte, das bedeutete für Rasumoff die Enthüllung neuer Gefühlszentren in seinem eigenen Innern.

»Das war es also«, sagte er sich. Eine Art geringschätziger Zärtlichkeit besänftigte die trübe Ansicht, die sich der junge Mann von seinem Leben gebildet hatte, während er nun jene bewegte Unterredung mit dem Fürsten K. überdachte. Dieser einfache, weltliche Exgardeoffizier und Senator, dessen weicher, grauer, konventioneller Backenbart seine Wange gestreift hatte, sein aristokratischer und überzeugter Vater – war er um einen Deut schätzenswerter oder törichter als jener halbverhungerte fanatische Revolutionär, der rotnasige Student?

Neben diesen Überredungskünsten gab es aber noch einen anderen Druck. Man ließ Herrn Rasumoff immer wieder fühlen, daß er sich kompromittiert hatte. Vor diesem Gefühl gab es kein Entrinnen, vor diesem sanften und nicht zu beantwortenden »Wohin?« des Rat Mikulin. Dabei schonte man seine Empfindlichkeit in jeder Weise. Man brauchte ihn für eine gefährliche Mission nach Genf, um in einem kritischen Moment unbedingt zuverlässige Informationen aus einem unzugänglichen revolutionären Zentrum zu erhalten. Es gab Anzeichen dafür, daß ein sehr weitgehender Anschlag vorbereitet wurde … Die Ruhe, die für ein großes Land unerläßlich ist, stand auf dem Spiel … Eine große Reihe von Reformen, die die Regierung in Vorbereitung hatte, war in Gefahr … Die höchsten Persönlichkeiten im Lande waren lebhaft besorgt, und so weiter. Kurz und gut, Rat Mikulin wußte, was er zu sagen hatte. Seine große Geschicklichkeit erhellt eindeutig genug aus der Beichte oder vielmehr der Selbstanalyse, die Herr Rasumoff in seinem Tagebuch hinterlassen hat – dieser erbarmungswürdigen Ausflucht eines jungen Menschen, der keinen vertrauten Freund, keine Zuneigung hatte, in die er sich hätte retten können.

Es ist überflüssig, zu erzählen, wie alle diese Vorarbeiten der Beobachtung entzogen wurden. Es genügt, an die Geschichte mit dem Augenarzt zu erinnern. Rat Mikulin war um Ausreden nicht verlegen, und die Aufgabe war nicht allzuschwer. Kein Student, auch nicht der mit der roten Nase, konnte irgend etwas darin finden, daß Herr Rasumoff in ein Miethaus ging, um einen Augenarzt zu konsultieren. Der schließliche Erfolg hing lediglich von der Selbsttäuschung ab, der sich die Revolutionäre hingaben, indem sie an eine geheimnisvolle Mitwisserschaft Rasumoffs in der Haldin-Affäre glaubten. In dieser Sache kompromittiert zu sein, war Kredit genug – und das war ihr eigenes Werk. Und gerade dieses Renommee ließ Rasumoff als ein Werkzeug der Vorsehung erscheinen, himmelweit verschieden von den landläufigen Agenten für »Europäischen Überwachungsdienst«.

Und das Sekretariat ließ es sich angelegen sein, dieses Renommee weiter zu vertiefen, durch eine Reihe berechneter und falscher Indiskretionen.

Es kam schließlich so weit, daß Herr Rasumoff eines Abends unerwartet den Besuch eines der »denkenden« Studenten erhielt, den er früher, vor der Haldin-Affäre, bei verschiedenen privaten Zusammenkünften zu treffen pflegte; ein großer Bursche mit ruhigem, unauffälligem Benehmen und einer angenehmen Stimme.

Als er die Stimme erkannte, die im Vorzimmer laut fragte: »Kann man hineinkommen?«, sprang Rasumoff, der müßig auf dem Sofa gelegen hatte, auf. »Vielleicht kommt er, um mich umzubringen«, dachte er spöttisch, setzte schnell einen grünen Schirm über sein linkes Auge und rief in strengem Tone: »Herein!«

Der andere war befangen und sprach die Hoffnung aus, daß er nicht störe.

»Sie waren einige Tage nicht zu sehen, und das wunderte mich.« Er hustete leicht. »Das Auge besser?«

»Beinahe gut.«

»Ist recht. Ich bleibe nur einen Augenblick. Aber sehen Sie, ich oder vielmehr wir – kurz und gut, ich habe die Aufgabe übernommen, Sie zu warnen, Kyrill Sidorowitsch, da Sie sich scheinbar in unangebrachter Sicherheit fühlen.«

Rasumoff saß still, stützte den Kopf in die Hand und verbarg so auch das Auge, über das er keinen Schirm trug.

»Auch ich habe das Gefühl.«

»Dann ist alles in Ordnung. Vorderhand scheint alles ruhig, aber die Kerle bereiten irgendeinen neuen Anlauf zu allgemeiner Unterdrückung vor. Das wäre ja nicht weiter verwunderlich, und ich bin auch nicht gekommen, um Ihnen gerade das zu erzählen.« Er rückte seinen Stuhl näher und senkte die Stimme. »Sie werden in Kürze verhaftet werden, fürchten wir.«

Ein obskurer Schreiber im Sekretariat hatte ein paar Worte eines gewissen Gesprächs belauscht und einen Blick in einen gewissen Akt geworfen. Dieser Bericht durfte nicht zu leicht genommen werden.

Rasumoff lachte ein wenig, und sein Besucher schien lebhaft beunruhigt.

»Oh, Kyrill Sidorowitsch, dabei gibt es nichts zu lachen. Man hat Sie eine Weile ungeschoren gelassen, aber …! Wirklich, Sie täten besser daran, das Land zu verlassen, Kyrill Sidorowitsch, solange es noch Zeit ist.«

Rasumoff sprang auf und begann ihm für den guten Rat mit spöttischer Redseligkeit zu danken, so daß der andere sich errötend empfahl und die Überzeugung mitnahm, daß dieser vertrackte Rasumoff nicht der Mensch war, der von untergeordneten Sterblichen gewarnt oder beraten werden konnte.

Als Rat Mikulin am nächsten Tag von dem Vorfall erfuhr, zeigte er sich lebhaft befriedigt: »Hm! Ha! Hm! Gerade, was wir wünschten …« und sah über seinen Bart hinunter.

»Ich schließe daraus«, sagte Rasumoff, »daß der Moment gekommen ist, wo ich meine Reise anzutreten habe.«

»Der psychologische Moment«, betonte Rat Mikulin sanft und sehr ernst, beinahe ehrfürchtig.

Es wurden alle Vorbereitungen getroffen, um den Anschein einer schwierigen Flucht möglichst getreu zu wahren. Rat Mikulin erwartete nicht, Herrn Rasumoff vor seiner Abreise noch zu sehen. Diese Zusammenkünfte waren gewagt, und es gab nichts weiter zu besprechen.

»Wir haben einander nun alles gesagt, Kyrill Sidorowitsch«, bemerkte der hohe Beamte gefühlvoll und drückte dabei Rasumoffs Hand mit der rückhaltslosen Herzlichkeit, die Russen so leicht in ihr Benehmen bringen können. »Es gibt nichts Unaufgeklärtes mehr zwischen uns, und ich will Ihnen eines sagen, ich betrachte es als ein Glück für mich, daß ich Ihre, hm …«

Er sah über seinen Bart hinunter und händigte nach einem kurzen nachdenklichen Schweigen Rasumoff einen halben Bogen Aktenpapier ein – ein kurzer Überblick über die bereits besprochenen Fragen, ein paar Punkte, die aufzuklären waren, das Vorgehen, auf das man sich geeinigt hatte, ein paar Winke über Persönlichkeiten, und so weiter. Es war das einzige kompromittierende Dokument in diesem Fall, aber, wie Rat Mikulin bemerkte, es war leicht zu vernichten. Herr Rasumoff sollte jetzt lieber niemand mehr sehen – erst jenseits der Grenze, wo es ja natürlich angebracht war … hören, sehen und …

Er sah über seinen Bart hinunter. Als aber Rasumoff erklärte, daß er die Absicht habe, wenigstens eine Person noch zu sehen, bevor er St. Petersburg verließ, da konnte Rat Mikulin eine leichte Unruhe nicht verbergen. Das arbeitsreiche, einsame und vorwurfsfreie Leben des jungen Menschen war ihm wohl bekannt. Es bildete mit eine Gewähr für seine Befähigung. Der Beamte verlegte sich aufs Bitten. Hatte sein lieber Kyrill Sidorowitsch wohl auch bedacht, ob es im Hinblick auf das gewaltige Unternehmen nicht wirklich besser wäre, jedes Gefühl zu opfern …

Rasumoff schnitt diese Vorstellungen kurz ab. Es war keine junge Frau, es war ein junger Dummkopf, den er aus einem bestimmten Grunde zu sehen wünschte. Rat Mikulin fühlte sich erleichtert, aber überrascht.

»Ah! Und warum denn wohl?«

»Um die Wahrscheinlichkeit noch zu erhöhen«, sagte Rasumoff kurz, aus dem Wunsch heraus, seine Unabhängigkeit zu betonen. »Ich muß verlangen, daß man mir traut.«

Rat Mikulin gab taktvoll nach und murmelte: »O gewiß, Ihr Urteil …«

Und mit einem neuerlichen Händedruck trennten sie sich.

Der Dummkopf, an den Rasumoff gedacht hatte, war der reiche und frohlaunige Student, der unter dem Namen »der tolle Kostja« bekannt war. Da er brauseköpfig, geschwätzig und leicht erregbar war, so konnte man sich beruhigt auf seine völlige Indiskretion verlassen. Als ihn aber Rasumoff an sein früheres Dienstangebot erinnerte, verfiel der heitere Bursche aus seiner gewöhnlichen sprudelnden Laune in die größte Betrübnis.

»Oh, Kyrill Sidorowitsch, mein liebster Freund, mein Gold, was soll ich tun. Ich habe gestern nacht alles, was ich von meinem Vater neulich bekommen hatte, bis auf den letzten Rubel hinausgeschmissen. Können Sie mir nicht bis Donnerstag Zeit lassen? Ich will alle Wucherer abklappern, die ich kenne … Nein, natürlich, Sie können nicht. Sehen Sie mich nicht so an! Was soll ich tun? Es hat keinen Zweck, den Alten zu fragen. Ich sage Ihnen, er hat mir vor drei Tagen eine Handvoll großer Noten gegeben. Verdammter Esel, der ich bin!«

Er rang verzweifelt die Hände. Ganz unmöglich, an den Alten auch nur zu denken. »Sie« hatten ihm einen Orden gegeben. Erst im letzten Jahr. Ein Kreuz, um den Hals zu tragen, und seither verfluchte er die modernen Bestrebungen. Und würde lieber alle Intellektuellen in Rußland in einer Reihe gehenkt sehen, als sich von einem einzigen Rubel trennen.

»Kyrill Sidorowitsch, warten Sie einen Augenblick. Verachten Sie mich nicht. Ich hab's. Ich will – ja – ich will es tun – ich will seinen Schreibtisch erbrechen. Es bleibt kein anderer Weg. Ich kenne die Schublade, wo er seinen Plunder aufhebt, und ich kann auf dem Heimweg ein Brecheisen kaufen. Er wird ja natürlich ganz verzweifelt sein, aber Sie müssen wissen, der liebe, alte Kerl hat mich wirklich gern. Er wird es eben verwinden müssen – und ich auch. Kyrill, meine liebe Seele, wenn Sie nur ein paar Stunden warten können, bis heute abend, dann will ich den ganzen gesegneten Haufen stehlen, der mir unter die Hände kommt. Sie glauben mir nicht! Warum denn? Sie brauchen nur ein Wort zu sagen.«

»Stehlen Sie, unbedingt«, sagte Rasumoff und sah ihn starr an.

»Zum Teufel mit den zehn Geboten«, schrie der andere in der höchsten Erregung. »Die neue Zukunft bricht an.«

Als er aber spät abends in Rasumoffs Zimmer trat, da zeigte er ein ungewöhnlich gesetztes, fast feierliches Benehmen.

»Es ist getan«, sagte er.

Rasumoff saß vornübergebeugt und ließ die gefalteten Hände zwischen die Knie hängen; bei dem vertrauten Klang dieser Worte schauderte er zusammen. Kostja legte im Lichtkreis der Lampe langsam ein Paket nieder, das in braunes Papier gewickelt und mit einem Stück Bindfaden umschnürt war.

»Wie ich gesagt habe – alles, was mir unter die Hände kam. Der alte Knabe wird glauben, daß das Ende der Welt gekommen ist.«

Rasumoff nickte vom Sofa her und beobachtete mit boshafter Freude den Ernst dieses Burschen mit seinem Spatzengehirn.

»Ich habe mein kleines Opfer gebracht«, seufzte der tolle Kostja, »und habe Ihnen zu danken, Kyrill Sidorowitsch, daß Sie mir die Gelegenheit dazu geboten haben.«

»Ist es Ihnen schwer gefallen?«

»O ja, gewiß. Sehen Sie, der liebe, alte Kerl hat mich wirklich gern, es wird ihm weh tun.«

»Und Sie glauben alles, was die andern Ihnen von der neuen Zukunft und dem heiligen Willen des Volkes erzählen?«

»Unbedingt. Ich wollte mein Leben lassen … Nur sehen Sie, ich bin wie ein Schwein am Trog. Ich bin zu nichts gut. Das ist meine Natur.«

Rasumoff, in Gedanken verloren, hatte seine Anwesenheit vergessen, bis ihn die Stimme des Jungen, der ihn dringend bat, ohne jeden Zeitverlust zu fliehen, unliebsam aufschreckte.

»Ganz recht. Nun also – leben Sie wohl.«

»Ich will Sie nicht verlassen, bevor ich Sie nicht aus St. Petersburg hinausgebracht habe«, erklärte Kostja plötzlich mit ruhiger Entschlossenheit. »Das können Sie mir nun nicht abschlagen. Um Gottes willen, Kyrill, meine Seele, die Polizei kann jeden Augenblick hier sein, und wenn Sie ihr in die Hände fallen, dann wird man Sie irgendwo für Jahrzehnte einmauern – bis Ihr Haar grau wird. Ich habe unten vorm Haus den besten Traber aus meines Vaters Stall vor einem leichten Schlitten stehen. Wir können dreißig Meilen fahren, bevor der Mond untergeht, und irgendeine kleine Station finden …«

Rasumoff blickte erstaunt auf. Die Reise war beschlossen und unvermeidlich. Er hatte den Aufbruch zu seiner Mission für den nächsten Tag festgesetzt, und nun bemerkte er plötzlich, daß er nicht daran geglaubt hatte. Er war herumgegangen, hatte über seine simulierte Flucht gesprochen, nachgedacht, sich vorreden lassen, in der ständig wachsenden Überzeugung, daß dies alles widersinnig sei. Als ob irgendjemand solche Sachen täte! Es war wie ein Versteckspiel. Und nun war er verblüfft. Da war also jemand, der mit verzweifeltem Ernst daran glaubte. »Wenn ich nicht jetzt gehe, sofort«, dachte Rasumoff mit plötzlicher Angst, »dann werde ich nie gehen.«

Er erhob sich wortlos, und der besorgte Kostja setzte ihm die Mütze auf und half ihm in seinen Mantel, sonst hätte er wohl das Zimmer bloßköpfig, wie er war, verlassen. Er schritt schweigend hinaus, als ihn ein scharfer Ruf zum Stehen brachte.

»Kyrill!«

»Was?« Er wandte sich widerstrebend im Türrahmen um. Kostja stand kerzengerade mit verzerrtem, bleichem Gesicht da und wies mit ausgestrecktem Arm stumm und vielsagend auf das kleine, braune Paket, das vergessen in dem hellen Lichtkreis auf dem Tisch lag. Rasumoff zögerte und kam schließlich unter dem strengen Blick seines Begleiters, dem er zuzulächeln versuchte, zurück. Der knabenhafte tolle Junge machte aber ein finsteres Gesicht. »Es ist ein Traum«, dachte Rasumoff, während er das kleine Paket in die Tasche steckte und die Stiegen hinunterging. »Kein Mensch tut so etwas.« Der andere stützte ihn unter dem Arm, warnte ihn flüsternd vor Gefahr und gab ihm Verhaltungsmaßregeln für mögliche Situationen. »Widersinnig«, murmelte Rasumoff, als er im Schlitten verstaut wurde. Er begann nun die weitere Entwicklung des Traumes mit gespannter Aufmerksamkeit zu verfolgen. Alles verlief durchaus programmgemäß, mit unendlicher Logik – die lange Fahrt, die Wartezeit auf einer kleinen Station neben einem Ofen. Sie wechselten keine sechs Worte miteinander. Kostja, der selbst düster gestimmt war, versuchte nicht das Schweigen zu brechen. Zum Abschied umarmten sie sich zweimal – es mußte sein; und dann verschwand Kostja aus dem Traum.

Als der Tag anbrach, erwachte Rasumoff in einem heißen dunstigen Eisenbahnwagen, der seiner ganzen matt erleuchteten Länge nach mit Bettzeug und schlafenden Leuten angefüllt war, erhob sich ruhig, ließ das Fenster ein wenig herunter und warf ein kleines braunes Paket auf die große Schneefläche hinaus. Dann setzte er sich wieder nieder und verharrte reglos. Die große weiße Wüste hartgefrorener Erde glitt an seinen Augen vorüber, ohne irgendein Anzeichen menschlicher Behausung.

Das war ein kurzes Erwachen gewesen; und dann hatte ihn der Traum wieder: Preußen, Sachsen, Württemberg, Gesichter, Eindrücke, Worte – alles ein Traum, der mit ärgerlicher gereizter Aufmerksamkeit verfolgt wurde, Zürich, Genf – immer noch ein Traum, sorgfältig beobachtet, der einen zu rauhem Lachen, zur Wut reizen oder töten konnte. Und dabei die ewige Angst vor einem endlichen Erwachen …

2

»Vielleicht ist gerade dies das Leben«, überlegte Rasumoff, während er unter den Bäumen der kleinen Insel, allein mit der Bronzestatue von Rousseau, auf und ab ging. »Ein Traum und eine Angst.« Die Dämmerung wurde tiefer. Die Seiten, die er beschrieben und aus seinem Notizbuch gerissen hatte, waren die erste Frucht seiner »Mission«. Kein Traum das. Sie enthielten die Versicherung, daß er vor weittragenden Entdeckungen stand. »Ich glaube, daß meiner restlosen Annahme nichts weiter entgegensteht.«

Er hatte in diesen Seiten seine Eindrücke zusammengefaßt und einige der Gespräche festgehalten. Er ging sogar so weit, zu schreiben: »Nebenbei bemerkt, habe ich die Persönlichkeit jenes furchtbaren N. N. festgestellt. Ein widerliches schmerbäuchiges Vieh. Wenn ich irgend etwas von seinen nächsten Plänen erfahre, so werde ich eine Warnung schicken.« Die Nutzlosigkeit von alledem kam ihm niederdrückend zum Bewußtsein. Selbst jetzt konnte er noch nicht an die Wirklichkeit seiner Mission glauben. Er blickte verzweifelt um sich, als suche er einen Weg, um sein Leben aus diesem unfaßbaren Gefühl zu retten. Er knüllte die Seiten des Notizbuches ärgerlich in der Hand zusammen. »Das muß zur Post«, dachte er.

Er ging zur Brücke und zurück zum Nordufer, weil er sich erinnerte, in einer der engen Nebengassen einen kleinen, obskuren Laden gesehen zu haben, mit billigen Holzschnitzereien und den unglaublich schmierigen Pappbänden einer kleinen Leihbibliothek vollgepfropft. Sie verkauften dort auch Schreibwaren. Ein mürrischer, schäbiger alter Mann döste hinter dem Ladentisch. Eine magere schwarzgekleidete Frau mit kränklichem Gesicht reichte ihm das verlangte Kuvert, ohne ihn anzusehen. Rasumoff dachte, daß man unbesorgt sich auf diese Leute verlassen konnte, weil sie sich um nichts in der Welt mehr kümmerten. Er schrieb noch im Laden auf den Umschlag den deutschen Namen einer gewissen Persönlichkeit, die in Wien lebte. Doch er wußte, daß diese seine erste Mitteilung an Rat Mikulin den Weg zur Wiener Botschaft finden, dort von irgendeiner verläßlichen Persönlichkeit in Chiffreschrift übersetzt und mit dem diplomatischen Kurier an die richtige Adresse befördert werden würde. Diese Einrichtungen hatte man getroffen, um den Spionagedienst vor allen unberufenen Augen geheimzuhalten und vor allen Indiskretionen, unglücklichen Zufällen und Verrätereien zu schützen. Man wollte ihn sicherstellen, absolut sicher.

Er verließ den elenden Laden und ging der Post zu. Dabei sah ich ihn zum zweiten Male an jenem Tag. Er kreuzte die Rue Montblanc ganz in der Haltung eines ziellosen Bummlers. Er erkannte mich nicht. Mir aber fiel er schon aus einiger Entfernung auf. Er sah wirklich gut aus, dachte ich, dieser bemerkenswerte Freund von Fräulein Haldins Bruder. Ich beobachtete ihn, wie er zum Briefkasten ging und dann denselben Weg zurückkam. Wieder ging er ganz knapp an mir vorbei, doch bin ich ganz gewiß, daß er mich auch diesmal nicht sah. Er trug den Kopf hoch, machte aber den Eindruck eines Schlafwandlers, der sich gegen den Traum wehrt, der ihn an gefährliche Plätze führt. Meine Gedanken eilten zu Natalia Haldin und ihrer Mutter. Dieser Mensch da verkörperte alles, was ihnen von ihrem Bruder und ihrem Sohn geblieben war.

Der Westeuropäer in mir war verwirrt. In dem Ausdruck dieses Gesichtes lag irgend etwas Abstoßendes. Wäre ich selbst ein Verschwörer, ein russischer politischer Flüchtling gewesen, so hätte ich vielleicht aus dieser zufälligen Beobachtung irgendwelche wichtigen Schlüsse ziehen können. So aber fühlte ich mich, wie gesagt, nur verwirrt und dabei merkwürdigerweise wegen Natalia Haldin beunruhigt. Dies scheint unerklärlich, und ich erwähne es nur, weil diese Stimmung mich zu dem Entschluß brachte, nach meinem einsamen Abendessen den Damen noch einen Besuch zu machen. Es war richtig, daß ich Natalia Haldin nur wenige Stunden zuvor getroffen hatte. Frau Haldin aber hatte ich ziemlich lange Zeit nicht gesehen. Um die Wahrheit zu sagen, hatte es mir in der letzten Zeit widerstrebt, sie aufzusuchen.

Arme Frau Haldin! Ich gestehe, daß sie mich ein wenig erschreckte. Sie war eine jener glücklicherweise ziemlich seltenen Naturen, zu denen man sich unweigerlich hingezogen fühlt, weil sie in gleicher Weise Furcht und Mitleid erwecken. Für sich selbst fürchtet man ihre Berührung und noch mehr für die, die einem nahestehen, so offensichtlich ist es, daß sie geboren werden, um zu leiden und auch andere leiden zu machen. Es fällt einem schwer, sich vorzustellen, daß, ich will nicht sagen, die Freiheit, sondern nur ein bloß äußerlicher Liberalismus, der sich für uns in Worten und politischen Ambitionen erschöpft (und wenn überhaupt welche, so doch höchstens Gefühle erweckt, die unser Innerstes unberührt lassen), daß dieser Liberalismus für andere Wesen, die uns selbst ganz ähnlich sind und unter demselben Himmel leben, eine Lebensfrage von einschneidender Bedeutung bilden soll, die mit Tränen, Ängsten und Blut einhergeht. Frau Haldin hatte die Nöte ihrer Zeit gefühlt. Man erinnere sich an ihren enthusiastischen Bruder, den Offizier, der unter Nikolaus erschossen worden war. Eine ironisch gefärbte Resignation ist kein sicherer Panzer für ein leicht verwundbares Herz. Da Frau Haldin in ihren Kindern getroffen worden war, so mußte sie von neuem die Vergangenheit durchleiden und den ungewissen Druck der Zukunft fühlen. Sie war eines der Wesen, die sich selbst nicht zu heilen wissen, die sich zu viel mit ihrem Herzen beschäftigen und, ohne feig oder selbstsüchtig zu sein, immer wieder leidenschaftlich in ihren Wunden rühren.

Diese Gedanken beschäftigten mich während meiner bescheidenen einsamen Junggesellenmahlzeit. Sollte irgend jemand bemerken wollen, daß dies für mich lediglich ein Vorwand war, an Natalie Haldin zu denken, so kann ich darauf nur erwidern, daß sie wohl einige Beachtung verdiente. Sie hatte ihr ganzes Leben vor sich. Ich gebe gerne zu, daß ich an dieses ihr Leben mit Gefühlen dachte, die denen ihrer Mutter ganz ähnlich waren, und diese Gefühle sind ja bei einem alten Mann, der noch nicht zu alt für jegliches Mitleid ist, wohl erlaubt. Fast ihre ganze Jugend lag noch vor ihr. Eine Jugend, die mit einem Schlage ihrer natürlichen Unbefangenheit und Freude beraubt und von einem uneuropäischen Despotismus überschattet war; eine furchtbar düstere Jugend, allen Zufällen eines wütenden Kampfes zwischen zwei gleich grausamen, diametral entgegengesetzten Ideen ausgeliefert.

Ich hing meinen Gedanken mehr nach, als ich es hätte tun dürfen. Ich fühlte mich so hilflos, und was schlimmer war, so merkwürdig außenstehend. Im letzten Augenblick zögerte ich noch, ob ich überhaupt hingehen sollte. Wozu sollte es gut sein?

Der Abend war schon vorgeschritten, als ich in den Boulevard des Philosophes einbog und das Eckfenster erleuchtet sah. Die Vorhänge waren zugezogen, doch ich konnte mir leicht vorstellen, wie dahinter Frau Haldin in ihrem Armstuhl saß, in ihrer gewöhnlichen Stellung, und nach irgend jemand ausspähte, auf den sich seit kurzem ihre Erwartung konzentrierte.

Ich glaubte mich durch den Lichtschein genügend ermächtigt, an die Türe zu klopfen. Die Damen hatten sich noch nicht zurückgezogen. Ich hoffte nur, daß sie keinen Besucher ihrer eigenen Nationalität haben würden. Manchmal war ein heruntergekommener pensionierter russischer Beamter zur Abendzeit bei ihnen anzutreffen. Er war unglaublich zerfahren und ermüdete durch seine bloße betrübliche Gegenwart. Ich glaube, daß die Damen seine häufigen Besuche nur mit Rücksicht auf eine frühere Freundschaft mit Herrn Haldin, dem Vater, oder aus einem ähnlichen Grunde duldeten. Ich nahm mir fest vor, nur wenige Minuten zu bleiben, wenn ich ihn oben vorfinden sollte.

Es überraschte mich, daß die Tür aufflog, bevor ich noch geläutet hatte.

Fräulein Haldin stand mir gegenüber, in Hut und Jacke, augenscheinlich im Begriff, auszugehen. Um diese Stunde! Vielleicht zum Arzt?

Ihre Begrüßung beruhigte mich. Es klang, als sei eben ich der Mann, den sie zu sehen gewünscht hatte. Meine Neugier war erweckt. Sie zog mich hinein, und die treue Anna, die ältliche deutsche Dienstmagd, schloß die Tür, ging aber nicht weg. Sie blieb nahebei stehen, als wollte sie zur Hand sein, um mich gleich wieder hinauszulassen. Es ergab sich, daß Fräulein Haldin im Begriff gewesen war, auszugehen und mich zu suchen.

Sie sprach mit einer Hast, die ich an ihr nicht gewöhnt war. Sie wäre geradenwegs hingegangen und hätte an Frau Zieglers Tür geläutet, trotz der späten Stunde, denn Frau Zieglers Gewohnheiten …

Frau Ziegler, die Witwe eines hervorragenden Professors, der mein vertrauter Freund gewesen war, hat mir drei Zimmer von ihrer großen und schönen Wohnung abgetreten, die sie nach dem Tode ihres Gatten nicht hatte aufgeben wollen. Ich habe aber von der Treppe aus meinen eigenen Eingang. Dieses Abkommen bestand schon durch mindestens zehn Jahre. Ich sagte, daß es mich sehr freute, selbst auf den Gedanken gekommen zu sein …

Fräulein Haldin schickte sich durchaus nicht an, ihre Überkleider abzulegen. Mir fielen ihre lebhaften Farben auf und eine merkwürdige Entschlossenheit im Tone. Ob ich Herrn Rasumoffs Adresse kennte?

Herrn Rasumoffs Adresse? Rasumoff? Um diese Stunde – so dringend? Ich warf in völliger Verblüffung die Arme hoch. Hätte ich drei Stunden früher ihre Frage auch nur geahnt, so hätte ich ihn auf der Straße vor dem neuen Postgebäude danach gefragt, und er hätte sie mir vielleicht gesagt, oder aber, was genau so gut möglich war, mir grob zurückgegeben, ich sollte mich um meine eigenen Sachen kümmern. Vielleicht auch, dachte ich in der Erinnerung an sein merkwürdig halluzinatives, verängstigtes und geistesabwesendes Aussehen, wäre er aus Schreck über die Anrede ohnmächtig umgefallen. Ich sagte Fräulein Haldin nichts von dem allem und erwähnte nicht einmal, daß ich den jungen Mann vor kurzem flüchtig gesehen hatte. Mein Eindruck war so ungemein peinlich gewesen, daß ich froh gewesen wäre, ihn selbst vergessen zu können.

»Ich weiß wirklich nicht, wo ich mich erkundigen sollte«, murmelte ich hilflos. Ich hätte mich gerne irgendwie nützlich gemacht und wäre mit Freuden fortgegangen, um irgendeinen Mann, jung oder alt, herbeizuholen, denn ich hatte blindes Vertrauen in ihre Besonnenheit.

»Was brachte Sie darauf, mit dieser Frage gerade zu mir zu kommen?« fragte ich.

»Es war nicht nur deswegen«, sagte sie leise. Sie sah aus wie jemand, der eine peinliche Aufgabe vor sich hat.

»Soll ich das so verstehen, daß Sie mit Herrn Rasumoff heute abend noch sprechen müssen?«

Natalie Haldin bewegte zustimmend den Kopf, sagte, nach einem Blick auf die Tür zum Wohnzimmer, französisch: »C'est maman«, und blieb eine Weile reglos stehen.

Da ich wußte, daß sie immer ernst zu nehmen und durch keine noch so großen Schwierigkeiten aus der Fassung zu bringen war, so stieg meine Neugier aufs höchste. Was hatte Herr Rasumoff mit ihrer Mutter zu tun? Frau Haldin wußte nichts davon, daß der Freund ihres Sohnes in Genf angekommen war.

»Darf ich hoffen, Ihre Mutter heute abend zu sehen?« fragte ich.

Fräulein Haldin streckte den Arm aus, als wollte sie mir den Weg versperren.

»Sie ist in der furchtbarsten Aufregung. Oh, Sie würden es vielleicht gar nicht merken … Es ist ganz innerlich, aber ich, die ich Mutter kenne, bin bestürzt. Ich habe nicht den Mut, es länger mit anzusehen. Alles ist meine Schuld; ich kann wohl keine Rolle spielen; ich habe nie zuvor etwas vor Mutter verborgen. Es war auch nie ein Anlaß dazu da. Aber Sie kennen ja selbst den Grund, weswegen ich mich zurückhielt, ihr gleich von Herrn Rasumoffs Ankunft hier zu erzählen. Sie verstehen doch, nicht wahr? Wegen ihres schlimmen Zustandes. Und jetzt – ich bin keine Schauspielerin. Da meine eigenen Gefühle so stark im Spiel sind, so habe ich irgendwie … ich weiß nicht. Ihr ist etwas in meinem Benehmen aufgefallen. Sie meinte, ich verheimlichte ihr etwas. Sie bemerkte meine häufigere Abwesenheit, und da ich ja Herrn Rasumoff täglich getroffen habe, so bin ich tatsächlich, wenn ich ausging, länger weggeblieben als früher. Gott weiß, was für Vermutungen sie aufstellt! Sie wissen ja, daß sie die ganze Zeit seither nicht mehr sie selbst war … Heute abend also begann sie auf einmal – nach dem furchtbaren Schweigen der letzten Wochen – zu sprechen. Sie sagte, daß sie mir keinen Vorwurf zu machen wünschte; daß ich meinen Charakter habe so gut wie sie den ihren; daß sie in meine Angelegenheiten oder gar in meine Gedanken nicht einzudringen wünschte; sie ihrerseits habe nie etwas vor ihren Kindern zu verheimlichen gehabt … Gräßlich, das alles anzuhören. Und alles in ihrer ruhigen Stimme, mit dem armen zerstörten Gesicht, kalt wie ein Stein. Es war unerträglich.«

Fräulein Haldin sprach halblaut und rascher, als ich es irgendwann zuvor von ihr gehört hatte. Das allein schon beunruhigte mich. Da der Vorraum hell erleuchtet war, so konnte ich unter dem Schleier die Röte in ihrem Gesicht erkennen. Sie stand aufrecht, ihre linke Hand ruhte leicht auf einem kleinen Tisch. Die andere hing reglos zur Seite herab. Dann und wann atmete sie tiefer auf.

»Es war zu überraschend. Denken Sie doch bloß! Sie dachte, ich treffe Vorbereitungen, sie zu verlassen, ohne ihr ein Wort zu sagen. Ich kniete zur Seite ihres Armstuhls nieder und bat sie, doch zu bedenken, was sie sagte! Sie legte mir die Hand auf den Kopf, blieb aber doch bei ihrer irrigen Vermutung. Sie habe immer gedacht, daß sie das Vertrauen ihrer Kinder verdiene, doch augenscheinlich sei dem nicht so. Ihr Sohn habe sich weder auf ihre Liebe noch auf ihr Verstehen verlassen wollen – und nun dächte ich daran, sie in derselben grausamen Weise zu verlassen, und so weiter. – Nichts, was ich sagte … Es ist krankhafter Eigensinn … Sie sagte, sie fühle, daß irgend etwas in mir sei, irgendeine Veränderung … Wenn meine Überzeugungen mich wegriefen, warum dann diese Geheimtuerei, als wäre sie feige oder schwach und man könnte ihr nicht trauen! ›Als ob mein Herz an meinen Kindern zum Verräter werden könnte‹, sagte sie … Ich konnte es kaum aushalten. Dabei streichelte sie unaufhörlich meinen Kopf … Es war ganz überflüssig, ihr zu widersprechen. Sie ist krank. Ihre Seele ist im Innersten …«

Ich wagte nicht, das Schweigen zu brechen, das zwischen uns entstand. Ich sah in ihre Augen, die durch den Schleier glänzten.

»Ich! Verändert!« rief sie im selben halblauten Ton aus. »Meine Überzeugungen riefen mich weg! Es war grausam, das anzuhören, denn mein Konflikt ist es gerade, daß ich schwach bin und nicht weiß, was ich tun soll. Sie wissen das. Und schließlich tat ich etwas recht Selbstsüchtiges. Um ihren Verdacht von mir abzulenken, erzählte ich ihr von Herrn Rasumoff. Das war selbstsüchtig von mir. Sie wissen ja, daß wir in völliger Übereinstimmung beschlossen hatten, ihr seine Anwesenheit zu verheimlichen. Ganz mit Recht. Das sah ich klar ein, sobald ich ihr davon erzählt hatte, daß der Freund unseres armen Viktor hier sei. Man hätte sie vorbereiten müssen; in meiner Verzweiflung aber sprudelte ich es einfach heraus. Mutter wurde sofort furchtbar aufgeregt. Wie lange er schon hier sei? Was er wisse und warum er uns nicht sofort aufsuchte, dieser Freund ihres Viktor? Was hatte das zu bedeuten? War es schon so weit mit ihr, daß man ihr nicht einmal die Erinnerungen anvertrauen wollte, die von ihrem Sohn noch übrig waren? … Stellen Sie sich vor, was ich empfand, als ich sie so sitzen sah, weiß wie ein Tuch, völlig regungslos, die dünnen Hände an die Seitenlehnen des Stuhles geklammert. Ich sagte, daß ich an allem schuld sei.«

Ich sah förmlich die reglose gebrochene Gestalt der Mutter vor mir, wie sie in ihrem Stuhl saß, da hinter der Tür, neben der ihre Tochter mit mir sprach. Das Schweigen da drinnen schien laut nach Rache zu schreien für eine historische Tatsache und die modernen Einrichtungen, durch die sie sich immer wieder bestätigte. Dieser Gedanke schoß mir durch den Kopf, dabei sah ich aber auch ganz klar ein, wie grausam Fräulein Haldin gelitten haben mußte. Ich verstand es vollkommen, als sie mir sagte, daß sie keine Nacht über diesem letzten Eindruck vergehen lassen wolle. Frau Haldin hatte sich in den schrecklichsten Vorstellungen, in den grausamsten und phantastischsten Vermutungen ergangen. Man mußte sie um jeden Preis und ohne eine Sekunde zu verlieren beruhigen. Es überraschte mich nicht weiter, zu erfahren, daß Fräulein Haldin ihr gesagt hatte: »Ich gehe sofort und hole ihn her.« Das klang weder töricht noch überspannt. Und ich stimmte ohne Zögern zu: »Ganz recht, aber wie?«

Es war ja recht, daß sie an mich gedacht hatte, aber was konnte ich tun, da ich Herrn Rasumoffs Adresse nicht kannte?

»Und denken müssen, daß er vielleicht ganz nahe wohnt! Einen Steinwurf weit weg!« rief sie aus.

Ich zweifelte daran; doch wäre ich mit Freuden fortgegangen, um ihn vom anderen Ende von Genf herzuholen.

Ich glaube, sie war meiner Dienstwilligkeit sicher, da es ihr erster Gedanke gewesen war, zu mir zu kommen. Der Dienst, den sie aber tatsächlich von mir verlangte, war, daß ich sie nach dem Château Borel begleiten sollte.

Ich sah mit einigem Unbehagen die dunkle Straße, den finstern Park vor mir und das trostlose verdächtige Aussehen jener Hochburg von Nekromantie, Intrige und Weibeskult. Ich warf ein, daß Madame de S. höchstwahrscheinlich nichts von dem wissen würde, was wir zu erfahren wünschten. Auch glaubte ich ganz und gar nicht daran, daß wir den jungen Mann dort finden würden. Ich erinnerte mich des flüchtigen Blickes auf sein Gesicht und kam irgendwie zur Überzeugung, daß ein Mensch, der ärger aussah, als habe er dem Tod ins Gesicht gesehen, den Wunsch haben mußte, sich irgendwo einzuschließen, wo er allein sein konnte. Ich fühlte die merkwürdige Gewißheit, daß Herr Rasumoff auf dem Heimweg gewesen war, als ich ihn gesehen hatte.

»Eigentlich hatte ich mehr an Peter Iwanowitsch gedacht«, bemerkte Fräulein Haldin ruhig.

Oh! Er natürlich mußte es wissen! Ich sah nach meiner Uhr. Es war erst zwanzig Minuten nach neun …

»Ich würde es also in seinem Hotel versuchen«, schlug ich vor. »Er wohnt im Cosmopolitan irgendwo im letzten Stock.«

Ich erbot mich nicht, selbst hinzugehen, weil ich ganz einfach dem Empfang nicht traute, den man mir dort bereiten würde. Ich schlug aber vor, man sollte die treue Anna hinschicken, mit der brieflichen Anfrage um die gewünschte Adresse.

Anna wartete immer noch bei der Tür am anderen Ende des Zimmers, und wir beide berieten uns im Flüsterton. Fräulein Haldin war der Ansicht, daß sie selbst gehen müsse. Anna war schüchtern und langsam. Es würde Zeit verlorengehen, bis sie die Antwort zurückbrächte, und vielleicht war es dann schon zu spät, denn es war ja keineswegs gewiß, daß Herr Rasumoff in der Nähe wohnte.

»Wenn ich selbst hingehe«, erklärte Fräulein Haldin, »so kann ich ihn direkt vom Hotel aufsuchen, und ich müßte ja jedenfalls ausgehen, da ich Herrn Rasumoff persönlich verschiedenes auseinandersetzen und ihn sozusagen vorbereiten muß. Sie können sich von Mutters Zustand keine Vorstellung machen.«

Die Farbe auf ihrem Gesicht kam und ging. Sie dachte sogar, daß es für sie sowohl als auch für ihre Mutter besser wäre, wenn sie eine Zeitlang nicht zusammenwären. Anna, die ihre Mutter gern hatte, würde zur Hand sein.

»Sie könnte ihre Näharbeit mit ins Zimmer nehmen«, fuhr Fräulein Haldin fort und ging auf die Tür zu. Dann wendete sie sich auf Deutsch an die Magd, die uns öffnete: »Sie können meiner Mutter sagen, daß dieser Herr vorgesprochen hat und mit mir Herrn Rasumoff suchen gegangen ist. Sie soll sich nicht ängstigen, wenn ich einige Zeit fortbleibe.«

Wir traten rasch auf die Straße hinaus, und sie atmete in tiefen Zügen die kühle Nachtluft. »Ich habe Sie nicht einmal gebeten«, murmelte sie.

»Das war wohl auch überflüssig, denke ich«, gab ich mit einem Lachen zurück. Es war jetzt nicht die Zeit, daran zu denken, wie der große Feminist mich aufnehmen würde. Daß er sich nicht freuen würde, mich zu sehen, und mir höchstwahrscheinlich mit seiner gewohnten erhabenen Frechheit begegnen würde, daran zweifelte ich nicht, glaubte aber auch nicht, daß er den Mut aufbringen würde, mich glattweg hinauszuwerfen. Und das war das einzige, was ich fürchtete. »Wollen Sie nicht meinen Arm nehmen?« fragte ich.

Das tat sie schweigend, und keines von uns sagte irgend etwas Bemerkenswertes, bis ich sie als erste in die große Halle des Hotels eintreten ließ. In dem glänzend erleuchteten Raum saßen eine Menge Leute herum.

»Ich könnte recht gut ohne Sie hinaufgehen«, schlug ich vor.

»Ich möchte nicht allein hierbleiben«, sagte sie leise, »ich komme mit Ihnen.«

Also führte ich sie geradenwegs zum Lift. Im obersten Stockwerk wies uns der Diener nach rechts: »Am Ende des Korridors.«

Die Wände waren weiß, der Teppich rot, elektrische Lampen waren in reicher Menge angebracht, und die Leere, das Schweigen, die ganz gleichen und numerierten geschlossenen Türen erinnerten mich an die peinliche Ordnung irgendeines streng nach dem Einzelhaftsystem erbauten Musterzuchthauses. Hier oben unter dem Dach dieses riesigen Bienenstockes erreichte uns kein Laut. Der dicke rote Bodenbelag verschlang den Schall unserer Schritte. Wir eilten vorwärts, ohne einander anzusehen, bis wir an der letzten Tür des langen Korridors angekommen waren. Da trafen sich unsere Augen, und wir blieben einen Augenblick stehen und lauschten auf den schwachen Stimmenlärm, der von innen klang.

»Ich glaube, hier ist es«, flüsterte ich unnötigerweise. Ich sah, wie Fräulein Haldin wortlos die Lippen bewegte, und auf mein scharfes Klopfen verstummte das Gespräch im Zimmer. Ein tiefes Schweigen herrschte für ein paar im Augenblicke. Dann wurde die Tür heftig aufgerissen, von einer kleinen, schwarzäugigen Frau in roter Bluse, mit üppigem, fast weißem Haar, das nachlässig und unkleidsam aufgesteckt war. Ihre dünnen, tiefschwarzen Augenbrauen waren zusammengezogen. Ich erfuhr später, daß es die berühmte – oder berüchtigte – Sofia Antonowna war. Damals aber fiel mir nur der seltsame, mephistophelische Ausdruck in ihrem forschenden Blick auf, obwohl er andererseits wieder so gar nicht bösartig, so – ich möchte sagen – unteuflisch war. Er wurde noch milder, als er Fräulein Haldin traf, die mit ihrer vollen, ruhigen Stimme Peter Iwanowitsch einen Augenblick zu sehen verlangte.

»Ich bin Fräulein Haldin«, fügte sie hinzu.

Daraufhin glätteten sich die Brauen der Frau in der roten Bluse gänzlich; sie antwortete aber kein Wort, sondern schritt zu einem Sofa, setzte sich nieder und ließ die Tür weit offen.

Und vom Sofa aus sah sie mit den Händen im Schoß zu, wie wir eintraten.

Fräulein Haldin schritt bis in die Mitte des Zimmers. Ich, eingedenk meiner Rolle des bloßen Begleiters, blieb neben der Tür stehen, nachdem ich sie hinter mir geschlossen hatte. Das Zimmer war groß, doch niedrig, und spärlich eingerichtet. Über dem großen Tisch (auf dem eine Karte größten Maßstabes lag) hing eine elektrische Zuglampe mit Porzellanschirm, die tief heruntergezogen war und den übrigen Raum in trübem Zwielicht ließ. Peter Iwanowitsch war nicht zu sehen. Auch Herr Rasumoff war nicht da. Aber auf dem Sofa neben Sofia Antonowna saß ein Mann mit knochigem Gesicht und einem Geißbart, die Hände auf die Knie gestützt, und sah uns aufmerksam, doch freundlich an. In einem entfernten Winkel erkannte man ein breites, bleiches Gesicht und die Umrisse einer massigen Gestalt, scheinbar viel zu groß für den niedrigen Stuhl, auf dem sie ruhte. Der einzige, den ich kannte, war der kleine Julius Laspara, der scheinbar eben die Karte studiert hatte, die Füße um die Stuhlbeine geklammert. Er sprang hastig auf, verbeugte sich vor Fräulein Haldin und sah dabei ganz lächerlich einem Jungen ähnlich, der sich eine Hakennase und einen prächtigen neuen Bart aufgeklebt hat. Er trat vor und bot seinen Platz an, den Fräulein Haldin ablehnte. Sie sei nur für einen Augenblick gekommen, um Peter Iwanowitsch ein paar Worte zu sagen.

Seine hohe Stimme machte sich unangenehm hörbar.

»Ganz merkwürdig, eben heute nachmittag habe ich an Sie gedacht, Natalia Viktorowna. Ich habe Herrn Rasumoff getroffen. Ich bat ihn, mir einen Artikel zu schreiben, über was er wollte. Sie könnten ihn ins Englische übersetzen – mit einem solchen Lehrer.«

Dabei nickte er mir anerkennend zu. Als der Name Rasumoff genannt wurde, ertönte ein unbeschreiblicher Laut, eine Art leises Quietschen, wie von einem bösen kleinen Tier, aus der Ecke, in der der Mann saß, der für seinen Sessel viel zu groß schien. Ich hörte nicht, was Fräulein Haldin antwortete. Laspara sprach wieder.

»Es ist Zeit, etwas zu tun, Natalia Viktorowna. Doch denke ich, daß Sie Ihre eigenen Ideen haben. Warum schreiben Sie nicht selbst etwas? Wie wäre es, wenn Sie uns bald besuchten? Wir könnten es durchsprechen. Jeder Rat …«

Wieder verstand ich Fräulein Haldins Worte nicht. Laspara hub nochmals an.

»Peter Iwanowitsch? Er ist für einen Augenblick im anderen Zimmer. Wir warten alle auf ihn.«

Der große Mann trat in diesem Augenblick ein und sah höher aus, schlanker und durchaus ehrfurchtgebietend in einem langen Schlafrock aus irgendeinem dunklen Stoff, der in gerader Linie bis zu seinen Füßen niederfiel. Er erinnerte an einen Mönch oder einen Propheten, an die rüstige Gestalt irgendeines Wüstenbewohners – stark asiatisch; und die dunklen Augengläser in Verbindung mit diesem Kostüm ließen ihn in dem unsicheren Licht geheimnisvoller als je erscheinen.

Der kleine Laspara ging zu seinem Stuhl zurück und begann wieder die Karte zu studieren, die der einzige hell beleuchtete Gegenstand im Zimmer war. Sogar von meinem entfernten Standpunkt bei der Tür aus konnte ich nach der Form des blauen Teils, der das Wasser vorstellte, erkennen, daß es eine Karte der baltischen Provinzen war. Peter Iwanowitsch ließ einen leisen Ausruf hören, näherte sich Fräulein Haldin, blieb plötzlich, als er mich, zweifellos nur recht undeutlich, erblickte, stehen und starrte hinter seinen dunklen Gläsern hervor. Schließlich mußte er mich an meinem grauen Haar erkannt haben, denn mit einem eindeutigen Zucken seiner breiten Schultern wandte er sich in wohlwollender Nachsicht Fräulein Haldin zu. Er faßte ihre Hand in seine dick gepolsterte Pranke und legte die andere wie einen Deckel darüber.

Während die beiden, in der Mitte stehend, ein paar unhörbare Worte miteinander wechselten, rührte sich niemand sonst im Zimmer. Laspara kniete mit dem Rücken zu uns auf dem Sessel und stützte die Ellbogen auf die große Landkarte; das schattenhafte Ungeheuer im Winkel, der Mann auf dem Sofa, mit dem Ziegenbart und dem offenen Blick, die Frau in der roten Bluse neben ihm – niemand von ihnen rührte sich. Ich nehme an, daß ihnen keine Zeit dazu blieb, denn Fräulein Haldin entzog Peter Iwanowitsch sofort ihre Hand und schritt, ehe ich mich's versah, der Tür zu. Ich unbeachteter Westeuropäer öffnete ihr eilig und folgte ihr hinaus. Ein letzter Blick zeigte mir, daß die ganze Versammlung regungslos in verschiedenen Stellungen verharrte. Peter Iwanowitsch stand allein aufrecht und sah mit seinen dunklen Gläsern wie ein riesenhafter blinder Prediger aus; hinter ihm breitete sich der grelle Lichtkreis über die farbige Karte, von der sich der kleine Laspara abhob.

Später, viel später, zur Zeit des Presserummels wegen einer vorzeitig entdeckten Militärverschwörung in Rußland (er nahm keine bestimmte Form an und erstarb bald), fiel mir das Bild dieser regungslosen Gruppe mit ihrer Hauptfigur ein. Einzelheiten sickerten nicht durch, aber es wurde doch bekannt, daß die revolutionären Parteien im Ausland ihre Unterstützung zugesagt, im voraus Sendboten geschickt hatten und daß sogar Geld aufgetrieben worden war, um einen Dampfer, mit Waffen und Verschwörern beladen, in den Baltischen Meerbusen zu schicken. Und während ich die mangelhaften Enthüllungen überflog (die übrigens kein weiteres Interesse weckten), dachte ich, daß dem alten behäbigen Europa in meiner Person, als ich damals das russische Mädchen begleitete, sozusagen ein Blick hinter die Kulissen gestattet worden war. Ein schneller Blick, im Dachgeschoß jenes großen internationalen Hotels: Da war der große Mann selbst, im Winkel die reglose Masse des Gendarmentöters, dann Jakowlitsch, der Veteran aus früheren terroristischen Feldzügen; die Frau mit den lebhaften schwarzen Augen und dem Haar, das weiß war wie das meine; alle in einem geheimnisvollen Zwielicht, mit der grell beleuchteten Karte von Rußland auf dem Tisch. Die Frau zu sehen hatte ich später noch einmal Gelegenheit. Während wir auf den Lift warteten, kam sie hastig den Korridor entlang, sah Fräulein Haldin starr ins Gesicht und zog sie beiseite, als hätte sie ihr eine vertrauliche Mitteilung zu machen. Es war nicht viel, nur ein paar Worte.

Während wir im Lift hinunterfuhren, brach Natalia Haldin das Schweigen nicht. Wir gingen aus dem Hotel hinaus, den Kai entlang, dessen Laternen frohe Farbflecke in die frische Dunkelheit um uns brachten und sich in den schwarzen Wassern des kleinen Hafens zu unserer Linken spiegelten. Zur Rechten ragten undeutlich die riesigen Hotels in den Himmel. Da erst sprach sie:

»Das war Sofia Antonowna. Kennen Sie die Frau? …«

»Ja, ich weiß, die berühmte …«

»Ganz richtig. Scheinbar hat Peter Iwanowitsch, nachdem wir gegangen, den Zweck meines Kommens gesagt. Deshalb kam sie uns nachgelaufen. Sie nannte ihren Namen und sagte dann: ›Sie sind die Schwester eines Braven, der nicht vergessen werden soll. Vielleicht sehen Sie noch bessere Zeiten.‹ Ich antwortete ihr, daß ich hoffte, die Zeit zu erleben, wo all dies vergessen sein würde, und sollte auch der Name meines Bruders mitvergessen sein. Irgend etwas trieb mich, das zu sagen, aber Sie verstehen?«

»Ja«, sagte ich, »Sie denken an die Ära von Eintracht und Gerechtigkeit.«

»Ja. In dieser Arbeit hier steckt zuviel Haß und Rachsucht. Sie muß aber getan sein. Es ist ein Opfer – mag es dadurch noch größer werden. Zerstörung ist das Werk der Wut. Mögen die Tyrannen und ihre Henker zugleich der Vergessenheit anheimfallen und nur die in Erinnerung bleiben, die wieder aufgebaut haben.«

»Und stimmt Sofia Antonowna mit Ihnen überein?« fragte ich skeptisch.

»Sie sagte nichts weiter als: ›Es ist gut für Sie, an Liebe zu glauben.‹ Ich denke, sie hat mich verstanden. Dann fragte sie mich, ob ich hoffte, Herrn Rasumoff gleich noch zu sehen. Ich antwortete ihr, daß ich es gern fertigbringen wollte, ihn noch diesen Abend zu meiner Mutter zu führen, da meine Mutter von seiner Anwesenheit erfahren habe und mit krankhafter Ungeduld darauf warte, ob er uns irgend etwas von Viktor zu sagen habe. Er war der einzige Freund meines Bruders, von dem wir wußten, und sein engster Vertrauter. Sie sagte: ›Oh, Ihr Bruder – ja, bitte, sagen Sie Herrn Rasumoff, daß ich die Geschichte weitergegeben habe, die mir von St. Petersburg aus mitgeteilt wurde. Sie bezieht sich auf die Verhaftung Ihres Bruders‹, fügte Sie hinzu. ›Er wurde von einem Mann aus dem Volke verraten, der sich inzwischen erhängt hat. Herr Rasumoff wird Ihnen alles erklären. Ich habe ihm heute Nachmittag alle Einzelheiten mitgeteilt; und sagen Sie bitte Herrn Rasumoff, daß Sofia Antonowna ihn grüßen lasse. Ich gehe morgen früh weg – weit weg.‹«

Nach einem kurzen Schweigen setzte Fräulein Haldin hinzu: »Ich war so bewegt von dem, was ich da so unerwartet erfuhr, daß ich einfach nicht früher mit Ihnen sprechen konnte … Ein Mann aus dem Volke! O unser armes Volk!«

Sie ging langsam, als sei sie plötzlich todmüde. Ihr Kopf sank nach vorn. Aus den Fenstern eines Gebäudes mit Terrassen und Balkonen klangen die banalen Klänge einer Hotelmusik. Vor dem geschmacklosen Hauptportal des Kasinos flammten im Schein der elektrischen Lampen zwei rote Anschlagzettel marktschreierisch auf. Die Leere der Kais, die verlassene Ruhe der Straßen erweckten den Eindruck heuchlerischer Ehrbarkeit und unsagbarer Öde.

Ich nahm als selbstverständlich an, daß sie die Adresse erfahren hatte, und ließ mich von ihr führen. Auf der Montblancbrücke, wo ein paar Gestalten wie verloren in der weiten, von wenigen Lichtern umgrenzten Perspektive auftauchten, sagte sie:

»Es ist nicht sehr weit von unserm Hause. Ich hatte merkwürdigerweise gleich gedacht, daß es so sein müsse. Die Adresse ist Rue de Carouge. Ich glaube, es muß eines der großen neuen Handwerkerhäuser sein.«

Sie nahm zutraulich und unbefangen meinen Arm und schritt schneller aus. In unserem ganzen Vorhaben lag eine gewisse Primitivität. Wir hatten die Fortschritte der Zivilisation ganz vergessen. Eine späte Straßenbahn überholte uns. Neben dem Gitter der Gärten stand eine Reihe von Droschken. Es kam uns gar nicht in den Sinn, eines dieser Verkehrsmittel in Anspruch zu nehmen. Sie war vielleicht zu sehr in Eile, und ich – nun, sie hatte zutraulich meinen Arm genommen. Während wir die leichte Steigung zur Corraterie hinangingen – alle Läden waren geschlossen und in keinem Fenster Licht, als sei die ganze Handelsbevölkerung mit Sonnenuntergang geflohen –, schlug sie mir vor:

»Ich könnte einen Augenblick hinauflaufen und nach Mutter sehen. Es wäre kein großer Umweg.«

Ich riet ihr ab. Wenn Frau Haldin wirklich erwartete, diesen Abend noch Herrn Rasumoff zu sehen, so wäre es unklug, sich ohne ihn vor ihr zu zeigen. Wir mußten trachten, den jungen Mann so bald als möglich aufzufinden und ihn mitzubringen, damit er ihre Mutter beruhige. Sie stimmte meinen Gründen zu, und wir überquerten die Place de Théâtre. Die großen Steinplatten der Pflasterung glänzten bläulich im Lichte der Bogenlampen, und in der Mitte stand ganz schwarz die einsame Reiterstatue. In der Rue de Carouge kamen wir in die ärmeren Viertel und näherten uns der Grenze der Stadt. An der Ecke einer Seitenstraße fiel grelles Licht aus einem frisch getünchten Laden durch eine weit offene Tür in die Nacht heraus, wie ein Fanal. Man konnte von weitem die Innenwände mit den dürftig bestellten Regalen erkennen und den braun gestrichenen Ladentisch. Das war das Haus. Während wir längs eines geteerten Plankenzauns darauf zuschritten, starrte uns schmal und bleich die scharfe Eckfront entgegen, fünf einzelne Fenster hoch, die alle dunkel und von dem tiefen Schatten des steilen vorspringenden Daches überkrönt waren.

»Wir müssen im Laden nachfragen«, sagte Fräulein Haldin zu mir.

Ein blasser Mann mit spärlichem Backenbart, schmutzigweißem Kragen und einer ausgefransten Krawatte legte bei unserem Eintritt eine Zeitung nieder, lümmelte sich vertraulich auf beiden Ellbogen weit über den Ladentisch und teilte uns mit, daß der bewußte Herr allerdings sein locataire vom dritten Stock, doch augenblicklich nicht zu Hause sei.

»Augenblicklich«, wiederholte ich mit einem Blick auf Fräulein Haldin. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie ihn bald zurückerwarten?«

Er war äußerst liebenswürdig, hatte einschmeichelnde Augen und sanfte Lippen. Er lächelte leise, als wüßte er alles und jedes. Herr Rasumoff sei den ganzen Tag weg gewesen und abends früh nach Hause gekommen. Darum habe es ihn sehr überrascht, ihn vor etwa einer halben Stunde nochmals herunterkommen zu sehen. Herr Rasumoff habe seine Schlüssel dagelassen und unter anderem bemerkt, daß er ausgehe, weil er Luft brauche.

Er lächelte uns hinter seinem Ladentisch hervor weiter an, den Kopf in beide Hände gestützt. Luft. Luft. Ob das aber eine lange oder kurze Abwesenheit bedeutete, das war schwer zu sagen. Gewiß sei die Nacht sehr schwül.

Nach einer Weile fügte er mit einem Blick auf die Tür hinzu: »Das Gewitter wird ihn nach Hause treiben.«

»Gibt es denn ein Gewitter?« fragte ich.

»Ja, natürlich doch!«

Wie zur Bestätigung seiner Worte hörten wir weit entfernt ein tiefes Grollen. Ich sandte einen fragenden Blick auf Fräulein Haldin, und da ich sah, daß sie gar nicht gesinnt schien, ihr Vorhaben aufzugeben, so bat ich den Ladeninhaber, Herrn Rasumoff, falls er innerhalb einer halben Stunde nach Haus kommen sollte, zu bitten, er möchte unten im Laden bleiben. Wir würden wieder vorkommen.

Als Antwort neigte er unmerklich den Kopf. Fräulein Haldin drückte ihre Zustimmung durch Schweigen aus. Wir gingen langsam die Straße hinunter, von der Stadt weg. Über die niedrigen Gartenmauern der bescheidenen Villen, die der Zerstörung geweiht waren, ragten Baumkronen und Blättermassen, auf die von unten her der Schein der Gaslampen fiel. Von der Arve her, die mit heftigem und eintönigem Rauschen nahebei über ein niedriges Wehr strömte, wehte uns eine eisige Kühle zu; vor uns erstreckte sich über einen großen, offenen Platz, der noch ohne Häuser war, eine doppelte Reihe von Lichtern, die eine Straße andeuteten. Vom andern Ufer her aber, über dem grauenhaft schwarz das Gewitter brütete, schien uns ein einzelnes trübes Licht mit müdem Blick anzustarren. Als wir bis an die Brücke gekommen waren, sagte ich:

»Wir sollten lieber umkehren …«

Im Laden studierte der kränkliche Mann noch immer seine Zeitung, die er nun auf den Ladentisch ausgebreitet hatte. Er hob nur den Kopf, als ich eintrat, schüttelte ihn verneinend und kräuselte die Lippen. Ich trat gleich wieder zu Fräulein Haldin hinaus, und wir gingen rasch weg. Sie sagte mir, sie wolle ganz früh am nächsten Morgen Anna mit einem Billett herüberschicken. Ich achtete ihr Schweigen, da mir dies der beste Weg schien, mein Mitgefühl auszudrücken.

Die halb ländliche Straße, die wir bei unserem Rückweg einschlugen, ging nach und nach in den gewöhnlichen städtischen Charakter über, wurde breit und einsam. Wir trafen keine vier Leute, und der Weg schien endlos, da sich die Unruhe meiner Begleiterin unwillkürlich auf mich übertrug. Endlich bogen wir in den Boulevard des Philosophes ein, der noch weiter, noch leerer, noch toter dalag, in der ganzen Öde schlummernder Ehrsamkeit. Beim Anblick der beiden erleuchteten Fenster, die von fern schon in die Augen fielen, mußte ich an Frau Haldin denken, die in ihrem Armstuhl eine furchtbar quälende Wache hielt, unter dem Bann eines eisernen Zwanges: ein Opfer der Tyrannei und der Revolution, ein Anblick, der zugleich grausam und töricht war.

3

»Wollen Sie nicht für einen Augenblick hereinkommen?« fragte mich Natalia Haldin.

Ich zögerte wegen der späten Stunde. »Sie wissen doch, daß Mutter Sie sehr gern hat«, betonte sie.

»Ich will nur mitkommen, um zu hören, wie es Ihrer Mutter geht.«

Sie sagte wie zu sich selbst: »Ich weiß nicht einmal, ob sie glauben wird, daß ich Herrn Rasumoff nicht finden konnte, da sie es sich ja einmal in den Kopf gesetzt hat, daß ich etwas vor ihr verheimliche. Vielleicht können Sie sie überzeugen …«

»Vielleicht traut Ihre Mutter auch mir nicht«, bemerkte ich.

»Ihnen! Warum? Was sollten Sie vor ihr zu verbergen haben? Sie sind kein Russe und kein Verschwörer.«

Ich fühlte tief, wie sehr ich als Europäer abseitsstand, und sagte nichts, entschloß mich aber, meine Rolle des hilflosen Zuschauers bis zu Ende durchzuführen. Das ferne Donnerrollen kam aus dem Rhonetal näher zu der schlafenden Stadt mit ihren prosaischen Tugenden und ihrer unbeschränkten Gastlichkeit. Wir überschritten die Straße gerade vor dem großen dunklen Eingangstor, und Fräulein Haldin läutete an der Wohnungstür. Sie wurde fast im Augenblick geöffnet, als ob die alte Magd im Vorzimmer auf unsere Rückkehr gewartet hätte. Ihr stumpfes Gesicht zeigte einen Ausdruck der Zufriedenheit. Der Herr sei hier, erklärte sie, während sie die Tür schloß.

Keiner von uns verstand sie. Fräulein Haldin wandte sich hastig an sie: »Wer?«

»Herr Rasumoff«, erklärte sie.

Sie hatte vor unserem Weggehen genug von unserer Unterhaltung verstanden, um zu wissen, warum ihre junge Herrin ausgegangen war. Als der Herr seinen Namen genannt hatte, hatte sie ihn sofort eingelassen.

»Niemand hätte das vorhersehen können«, murmelte Fräulein Haldin und sah mich mit ihren ernsten grauen Augen an. Ich mußte an den Gesichtsausdruck des jungen Menschen denken, der mir vor nicht viel mehr als vier Stunden aufgefallen war, und fühlte lebhaftes Staunen und einen leisen Schreck.

»Haben Sie meine Mutter zuerst gefragt?« fragte Fräulein Haldin die Magd.

»Nein. Ich habe den Herrn gemeldet«, gab sie zurück, augenscheinlich überrascht durch unsere bestürzten Gesichter.

»Immerhin«, sagte ich leise, »war Ihre Mutter vorbereitet.«

»Ja, aber er hat keine Idee …«

Es schien mir, als ob sie an seinem Takt zweifelte. Auf ihre Frage, wie lange der Herr schon bei ihrer Mutter sei, antwortete uns die Magd, daß es kaum eine Viertelstunde her sei.

Sie wartete einen Augenblick und zog sich dann zurück, ein wenig verschreckt. Fräulein Haldin sah mich schweigend an.

»Es hat sich zufällig getroffen«, sagte ich, »daß Sie ganz genau wissen, was Ihres Bruders Freund Ihrer Mutter zu sagen hat. Und danach können Sie sicher …«

»Ja«, sagte Natalia Haldin langsam. »Ich frage mich nur, ob es, da ich ja nicht hier war, als er kam, nicht vielleicht besser wäre, wenn ich jetzt nicht störte.«

Wir verharrten schweigend und strengten wohl beide unsere Ohren an, doch kein Laut drang durch die geschlossene Tür zu uns. In Fräulein Haldins Gesicht prägte sich eine peinliche Unentschlossenheit aus; sie machte eine Bewegung, als wollte sie hineingehen, blieb dann aber doch stehen. Sie hatte Schritte hinter der Tür gehört. Die Tür flog auf, und Rasumoff kam eilig in das Vorzimmer heraus. Die Anstrengungen dieses Tages und der Kampf mit sich selbst hatten ihn derartig verändert, daß es mir vielleicht schwer gefallen wäre, das Gesicht wiederzuerkennen, das wenige Stunden zuvor, als er mich vor dem Postgebäude angerannt hatte, wohl auch auffallend genug, doch gänzlich verschieden gewesen war. Damals war es nicht so leichenblaß gewesen und die Augen nicht so düster. Jetzt sahen sie zwar allerdings nicht mehr so irr drein, doch lag darin der Schatten einer bewußten Bosheit.

Ich erzähle das, weil sein Blick zunächst auf mich fiel, allerdings ohne die leiseste Spur von Erkennen oder Verständnis. Ich stand einfach zufällig in seinem Weg. Ich weiß nicht, ob er die Glocke gehört oder irgend jemand zu sehen erwartet hatte. Ich glaube, daß er einfach weggehen wollte und Fräulein Haldin nicht früher sah, als bis sie ein oder zwei Schritte auf ihn zutrat. Er übersah die Hand, die sie ihm entgegenstreckte.

»Sie sind's, Natalia Viktorowna … Sie sind vielleicht überrascht … so spät. Aber, sehen Sie, ich erinnerte mich an unsere Gespräche in jenem Garten. Ich dachte wirklich, es sei Ihr Wunsch, daß ich – ohne Zeitversäumnis … und so kam ich. Kein anderer Grund. Einfach um zu sagen …«

Das Sprechen fiel ihm schwer. Ich bemerkte das und erinnerte mich, daß er dem Mann im Laden gesagt hatte, er ginge aus, weil er »Luft brauche«. Wenn das sein Zweck gewesen war, so lag es auf der Hand, daß er ihn ganz und gar nicht erreicht hatte. Mit niedergeschlagenen Augen und gesenktem Kopf strengte er sich an, den abgebrochenen Satz fortzusetzen.

»Zu erzählen, was ich selbst erst heute gehört habe – heute …«

Durch die Tür, die er zu schließen vergessen hatte, konnte ich in das Wohnzimmer sehen. Es war nur von einer verhängten Lampe beleuchtet. – Frau Haldins Augen konnten weder Gas noch elektrisches Licht vertragen. Es war ein ziemlich großer Raum, und im Gegensatze zu dem hellerleuchteten Vorzimmer verloren sich seine Tiefen in einem düsteren Halbdunkel, hinter dem schwere Schatten lauerten; ganz im Hintergrund sah ich die regungslose Gestalt von Frau Haldin, leicht vorgebeugt, mit einer Hand auf der Armlehne des Stuhles.

Sie rührte sich nicht. Auch drückte ihre Stellung nicht mehr Erwartung aus. Die Vorhänge des Fensters waren herabgelassen. Dahinter war nur ein Nachthimmel, der eine Wetterwolke barg, und die Stadt, gleichgültig und gastfrei, in ihrer kalten, fast verächtlichen Toleranz – eine ehrbare Stadt, für die alle diese Sorgen und Hoffnungen ein Nichts waren. Das weiße Haupt der Greisin war tief gebeugt.

Der Gedanke, daß das wirkliche Drama der Autokratie sich nicht auf der breiten politischen Bühne abspielt, kam mir, als ich, wieder als Zuschauer, diesen zweiten Blick hinter die Kulissen tat. Ich hatte die Gewißheit, daß diese Mutter sich im Innersten wehrte, ihren Sohn verloren zu geben. Das war mehr als Rachels untröstliche Trauer. Es war etwas Tieferes und Unnahbareres in ihrer furchtbaren Ruhe. Wie ich ihre verschwommene Gestalt in dem kaum sichtbaren hochbeinigen Stuhl sitzen sah, schien es, als ob sie sich über ein liebes Haupt beugte, das in ihrem Schoße ruhte.

Diesen Blick hinter die Kulissen tat ich, und dann ging Fräulein Haldin an dem jungen Mann vorbei und schloß die Tür. Sie tat es nicht ohne Zögern. Einen Augenblick glaubte ich, sie würde zu ihrer Mutter gehen, sie warf aber nur einen ängstlichen Blick hinein. Vielleicht, wenn Frau Haldin sich geregt hätte … Doch nein. Die reglose Starrheit ihres blutleeren Gesichtes zeugte von unheilbarem Schmerz.

Inzwischen war der junge Mann mit niedergeschlagenem Blick dagestanden. Der Gedanke, daß er die Geschichte, die er eben erzählt hatte, würde wiederholen müssen, war ihm unerträglich. Er hatte erwartet, die beiden Frauen beisammen zu finden. Und dann, hatte er sich gesagt, würde es ein für allemal vorbei sein. »Ein Glück, daß ich an kein Jenseits glaube«, – hatte er zynisch gedacht.

Als er seinen Geheimbrief zur Post gebracht hatte und wieder in seinem Zimmer allein war, hatte Rasumoff einigermaßen seine Fassung wiedergewonnen, indem er in seinem geheimen Tagebuch schrieb. Er war sich der Gefahren dieser merkwürdigen Laune wohl bewußt; er erwähnt es auch selbst, daß er sich trotzdem nicht zurückhalten konnte. Es beruhigte ihn, söhnte ihn mit seinem Leben aus. Er saß beim Schein einer einzigen Kerze und schrieb, bis es ihm einfiel, daß er die Erklärung von Haldins Verhaftung, die er eben von Sofia Antonowna gehört hatte, wohl oder übel den Damen selbst mitteilen müsse. Sie würden die Geschichte ja zweifellos von sonst jemand erfahren, und dann mußte seine Zurückhaltung merkwürdig erscheinen, nicht nur der Mutter und Schwester von Haldin, sondern auch anderen Leuten.

Als er zu diesem Schluß gekommen war, entdeckte er dieser Notwendigkeit gegenüber keinen sonderlichen Widerwillen in sich, und sehr bald stellte sich in ihm der dringende Wunsch ein, die ganze Sache abzutun. Er sah nach der Uhr. Nein; es war nicht unbedingt zu spät.

Die Viertelstunde mit Frau Haldin schien die Rache des Unbekannten: das weiße Gesicht, die schwache deutliche Stimme; der Kopf, der sich ihm zunächst lebhaft zuwandte und dann nach einer Weile reglos niedersank; das trübe gedämpfte Licht des Zimmers, in dem seine Worte so merkwürdig laut widerhallten: alles hatte ihn wie eine ungeahnte Entdeckung verwirrt. Er fühlte in dem Kummer der Frau einen geheimen Starrsinn, irgend etwas Unverständliches. Jedenfalls etwas, was er nicht erwartet hatte. War es Feindseligkeit? Doch einerlei. Ihm konnte nun nichts mehr geschehen. In den Augen der Revolutionäre war seine Vergangenheit nun fleckenlos. Nun war er wirklich über Haldins Phantom weggeschritten. Es lag machtlos hinter ihm auf dem schneebedeckten Pflaster. Und da war die Mutter dieses Phantoms, aufgelöst in Schmerz und bleich wie ein Gespenst. Er hatte eine mitleidige Überraschung empfunden. Doch das hatte natürlich nichts zu sagen. Mütter hatten nichts zu sagen. Obwohl er sich des peinigenden Eindrucks dieser schweigsamen, weißhaarigen Frau nicht ganz erwehren konnte, fühlte er doch, wie eine gewisse Härte in ihm hochkam. Das waren die Folgen. Nun gut. Und was weiter? »Bin denn ich auf Rosen gebettet?« hatte er sich gefragt, während er aus einiger Entfernung den Blick auf die Kummergestalt vor ihm richtete. Er hatte ihr alles gesagt, was er zu sagen hatte, und als er fertig war, hatte sie kein Wort geäußert. Noch während er sprach, hatte sie den Kopf abgewandt. Das Schweigen, das nach seinen letzten Worten entstanden war, hatte fünf Minuten oder noch länger angehalten. Was bedeutete das? Während er noch über das Unverständliche darin nachdachte, fühlte er, wie eine Wut seine Härte durchbrach. Die alte Wut gegen Haldin, die durch den Anblick von Haldins Mutter wieder erweckt wurde. Ob es nicht vielleicht auch Neid war, Neid auf ein Vorrecht, das ihm allein unter allen Menschen versagt war? Der andere hatte es fertiggebracht, zur Ruhe zu kommen und doch weiterzuleben in der Liebe dieser alten trauernden Frau und in den Gedanken aller der Leute, die sich als Menschenfreunde ausgeben. Es war unmöglich, von ihm freizukommen. »Mich selbst habe ich der Vernichtung preisgegeben«, dachte er. »Er hat mich dazu gebracht, ich kann ihn nicht abschütteln.«

In der ersten Bestürzung über diese Erkenntnis sprang er auf und schritt aus dem stillen, halbdunklen Zimmer hinaus, in dem diese schweigsame alte Frau saß. Er sah nicht zurück. Es war eine Flucht. Als er aber die Tür geöffnet hatte, fand er den Rückzug abgeschnitten. Die Schwester war da. Er hatte die Schwester nie vergessen. Nur hatte er nicht erwartet, sie da – oder vielleicht überhaupt noch einmal zu sehen. Ihre Anwesenheit im Vorzimmer war genau so unvorhergesehen, wie es die Erscheinung ihres Bruders gewesen war. Rasumoff fuhr zusammen, als sei er in eine Falle geraten. Er versuchte zu lächeln, brachte es aber nicht fertig und schlug die Augen nieder. »Muß ich diese dumme Geschichte noch einmal erzählen?« fragte er sich und fühlte, wie sich ihm das Herz zusammenzog. Er hatte seit dem Tag vorher keinen Bissen über die Lippen gebracht, war aber nicht in der Verfassung, die Gründe seiner Schwäche zu erkennen. Er dachte seinen Hut zu nehmen und mit möglichst wenig Worten sich zu verabschieden. Doch sah er sich überrumpelt durch die rasche Bewegung, mit der Fräulein Haldin die Tür schloß. Er wandte sich halb nach ihr um, doch ohne den Blick zu heben, völlig passiv, wie eine Feder im Luftzug schwanken mag. Im nächsten Augenblick war sie an ihren früheren Platz zurückgekommen, und er wandte sich ihr wieder zu, so daß sie sich in derselben Stellung gegenüberstanden.

»Ja, ja«, sagte sie hastig, »ich bin Ihnen sehr dankbar, Kyrill Sidorowitsch, daß Sie gleich gekommen sind … Nur wünschte ich, ich hätte … Hat Ihnen Mutter gesagt?«

»Ich möchte gerne wissen, was sie mir hätte sagen können, was ich nicht schon früher gewußt hätte«, sagte er, wie zu sich selbst, doch deutlich vernehmbar. »Denn ich wußte es immer«, fügte er lauter und wie verzweifelt hinzu.

Er ließ den Kopf hängen. Er empfand Natalia Haldins Gegenwart so stark, daß er fühlte, es müßte eine Erlösung sein, sie anzusehen. Sie war es, die ihn nun verfolgt hatte. Er hatte darunter gelitten, seit dem Augenblick, wo sie ihm in dem Park der Villa Borel entgegengetreten war, mit ausgestreckter Hand und den Namen ihres Bruders auf den Lippen … Im Vorzimmer waren an der Wand neben der Außentür eine Reihe von Kleiderhaken angeschraubt. Gegenüber stand ein kleiner, schwarzer Tisch mit einem Stuhl. Die Tapete war weiß mit einem schwachen Dessin. Das Licht einer Glühbirne, die hoch oben unter der Decke hing, durchforschte den hellen, viereckigen Schacht bis in seine vier kahlen Winkel, hart, schattenlos – eine merkwürdige Bühne für ein düsteres Drama.

»Was meinen Sie?« fragte Miß Haldin. »Was ist es, das Sie immer wußten?«

Er hob sein Gesicht, das bleich war und von unausgesprochenem Schmerze zeugte. Jedoch der Ausdruck von dumpfem Starrsinn, der jedermann, der mit ihm sprach, überraschte, begann aus seinen Augen zu weichen. Es schien, als käme er zu sich selbst, in dem neuerwachten Bewußtsein der wunderbaren Harmonie von Zügen, Linien, Blicken, Stimme, die das Mädchen vor ihm zu einem so seltenen, eigenen Wesen machte, weit über dem durchschnittlichen Schönheitsbegriff. Er sah sie so lange an, daß sie leicht errötete.

»Was ist es, das Sie wußten?« wiederholte sie unsicher.

Diesmal brachte er es zu einem Lächeln.

»Wären nicht die ein oder zwei Begrüßungsworte, so müßte ich zweifeln, ob Ihre Mutter meine Anwesenheit überhaupt gemerkt hat. Verstehen Sie?«

Natalia Haldin nickte. Ihre herabhängenden Hände zuckten.

»Ja. Ist es nicht herzbrechend? Sie hat noch keine Träne vergossen – keine einzige Träne.«

»Nicht eine Träne! Und Sie, Natalia Viktorowna? Konnten Sie weinen?«

»Ich konnte es. Und dann, Kyrill Sidorowitsch, ich bin jung genug, um an die Zukunft zu glauben. Wenn ich aber meine Mutter so furchtbar niedergeschlagen sehe, dann vergesse ich fast alles. Ich frage mich, ob man sich stolz fühlen sollte – oder nur resigniert. Es gab so viele Leute, die zu uns kamen. Völlig Fremde fragten schriftlich um die Erlaubnis an, ihre Hochachtung ausdrücken zu dürfen. Es war unmöglich, unsere Tür geschlossen zu halten … O ja, es gab viel echte Sympathie, doch es gab auch Leute, die offen über diesen Tod frohlockten. Und dann, wenn ich mit der armen Mutter allein war, schien dies alles so verkehrt, so gar nicht wert des Preises, den sie dafür zahlte. Sobald ich aber hörte, daß Sie in Genf seien, Kyrill Sidorowitsch, fühlte ich, daß Sie der einzige Mensch sein müssen, der mir helfen könnte …«

»Eine beraubte Mutter zu trösten? Ja!« fiel er ein, in einem Ton, der sie zwang, ihre ahnungslosen Augen aufzuschlagen. »Hier fragte es sich aber, ob ich die Fähigkeit dazu habe. Haben Sie darüber nachgedacht?«

Die atemlose Hast, mit der er diese Worte hervorstieß, stand im grellen Widerspruch mit dem ungeheuerlichen Spott, der sich dahinter zu verbergen schien.

»Wie denn?« flüsterte Natalia Haldin weich. »Wer sollte besser dazu befähigt sein als Sie?«

Er unterdrückte mühsam eine impulsive Geste der Verzweiflung.

»Wirklich! Sobald Sie hörten, daß ich in Genf sei – ohne mich gesehen zu haben? Das ist ein neuerlicher Beweis dieses Vertrauens …«

Plötzlich änderte er den Ton, sprach nachdrücklicher und freier.

»Männer sind arme Geschöpfe, Natalia Viktorowna. Ihnen fehlt das intuitive Verständnis für Gefühle. Um zu einer Mutter, die ihren Sohn verloren hat, die richtigen Worte zu finden, muß man selbst eine Mutter gekannt haben. Das ist bei mir nicht der Fall – wenn Sie schon die volle Wahrheit wissen müssen. Ihre Hoffnungen scheitern hier an ›einer Brust, die keine Zuneigung je erwärmte‹, wie der Dichter sagt … Damit soll nicht gesagt sein, daß sie gefühllos wäre«, fügte er leise hinzu.

»Ich bin sicher, daß Ihr Herz nicht gefühllos ist«, sagte Fräulein Haldin sanft.

»Nein, es ist nicht hart wie Stein«, fuhr er in derselben nachdenklichen Weise fort und sah dabei aus, als läge sein Herz schwer wie ein Stein in der unerwärmten Brust, von der er gesprochen hatte. »Nein, nicht so hart. Um aber das fertigzubringen, was Sie von mir erwarten, oh – das ist eine andere Frage. Niemand hat je etwas Ähnliches von mir erwartet. Da war keiner, der nach meiner Zärtlichkeit irgendwie verlangt hätte. Und nun kommen Sie. Sie! Jetzt! Nein, Natalia Viktorowna, es ist zu spät. Sie kommen zu spät. Sie müssen nichts von mir erwarten.«

Sie wich ein wenig von ihm zurück, obwohl er keine Bewegung gemacht hatte; vielleicht hatte sie in seinem Gesicht irgendeinen Wechsel beobachtet, der seinen Worten den Stempel eines geheimen Gefühls aufdrückte, das ihnen beiden gemein war. Für mich, den schweigenden Zuschauer, schienen sie zwei Leute, denen der Zauber bewußt wird, unter dem sie seit dem ersten Augenblick standen. Hätte eines von ihnen damals nach mir gesehen, so hätte ich ruhig die Tür geöffnet und wäre hinausgegangen. Sie taten es aber nicht, und ich blieb: ich brauchte nicht zu fürchten, indiskret zu scheinen, da ich mir wohl bewußt war, wie ungeheuer fern ich den düsteren, russischen Problemen stand, die sie bewegten.

Fräulein Haldin, mutig und offenherzig wie immer, behielt trotz der Erregung ihre Stimme in der Gewalt.

»Was kann dies bedeuten?« fragte sie, als spräche sie zu sich selbst.

»Es mag bedeuten, daß Sie selbst sich an leere Traumbilder verloren haben, während ich es fertiggebracht habe, mitten in der Wahrheit der Dinge und den Wirklichkeiten unseres russischen Lebens, so wie es ist, stehenzubleiben.«

»Es ist grausam«, murmelte sie.

»Und widerwärtig. Vergessen Sie das nicht – und widerwärtig. Sehen Sie, wohin Sie wollen. Sehen Sie sich hier um, hier im Ausland, wo Sie sind, und dann sehen Sie zurück nach der Heimat, aus der Sie kommen.«

»Man muß über die Gegenwart hinaussehen.« In ihren Worten klang heiße Überzeugung.

»Das kann der Blinde am besten. Ich habe das Unglück gehabt, mit scharfen Augen zur Welt zu kommen. Und wenn Sie nur wüßten, was für merkwürdige Dinge ich gesehen habe, was für verblüffende und unerwartete Enthüllungen! … Doch warum von alledem reden?«

»Im Gegenteil. Ich möchte von alledem mit Ihnen sprechen«, gab sie ernst zurück. Die düsteren Stimmungen von ihres Bruders Freund ließen sie unberührt, als wären seine Bitterkeit, der unterdrückte Ärger die Beweise einer empörten Geradheit. Sie sah wohl, daß er kein gewöhnlicher Mensch war, und vielleicht wollte sie ihn gar nicht anders, als er ihren gläubigen Augen erschien. »Jawohl, gerade mit Ihnen«, beharrte sie. »Mit Ihnen unter allen Russen der Welt …« Ein leichtes Lächeln spielte einen Augenblick lang um ihre Lippen. »Ich bin in gewisser Art wie meine arme Mutter. Auch ich kann, scheint es, unseren geliebten Toten nicht aufgeben, der uns, vergessen Sie nicht, alles in allem war. Ich möchte Ihre Sympathie nicht mißbrauchen, doch müssen Sie verstehen, daß wir nur in Ihnen alles finden können, was von seiner edlen Seele geblieben ist.«

Ich sah nach ihm; keine Fiber seines Gesichtes rührte sich. Und doch hielt ich ihn selbst in diesem Augenblick nicht für unempfindlich. Er schien in tiefen Gedanken befangen. Dann fuhr er leicht zusammen.

»Sie wollen gehen, Kyrill Sidorowitsch?« fragte sie.

»Ich? Gehen? Wohin? O ja, doch ich muß Ihnen zuerst sagen …« Seine Stimme klang erstickt, und er zwang sich mit sichtlichem Widerstreben zum Reden, als wäre das eine widerliche oder lebensgefährliche Sache. »Die Geschichte, wissen Sie, – die Geschichte, die ich heute nachmittag hörte …«

»Ich kenne die Geschichte schon«, sagte sie traurig.

»Sie kennen sie! Haben auch Sie Korrespondenten in St. Petersburg?«

»Nein. Es ist Sofia Antonowna. Ich habe sie eben erst gesehen. Sie läßt Sie grüßen. Sie reist morgen ab.«

Er senkte endlich seinen starren Blick; auch sie sah zu Boden, und wie sie so in demselben Licht voreinander standen, zwischen den vier kahlen Wänden, schienen sie den endlos verschwimmenden östlichen Weiten entrückt und der Beobachtung meiner Augen, den Augen des Westens, grausam preisgegeben. Und ich beobachtete sie. Es gab nichts sonst zu tun. Die beiden schienen meine Anwesenheit so völlig vergessen zu haben, daß ich es nicht wagte, mich zu rühren. Und ich dachte mir, daß sie ganz natürlich zusammenkommen müßten, die Schwester und der Freund des jungen Toten. Die Ideen, die Hoffnungen, Bestrebungen, die Sache der Freiheit, alles, was aus ihrer gemeinsamen Zuneigung für Viktor Haldin, jenes moralische Opfer der Autorität, sprach – alles das mußte sie übermächtig zueinander treiben. Ihre gänzliche Ahnungslosigkeit und seine Einsamkeit, auf die er so merkwürdig angespielt hatte, mußten mithelfen. Und ich sah, daß es tatsächlich schon geschehen war. Natürlich. Es lag auf der Hand, daß die beiden lange vor ihrem ersten Zusammentreffen aneinander gedacht haben mußten. Sie hatte den Brief des geliebten Bruders, der durch die ernsten Lobesworte über jenen einen Namen ihre Phantasie aufstachelte, und für ihn war es genug, dieses Ausnahmemädchen zu sehen. Das einzig Überraschende war seine düstere Verschlossenheit vor ihrer offen gezeigten Willkommensfreude. Doch er war jung und nicht blind, so rein und stark er auch seinen revolutionären Idealen ergeben sein mochte. Die Zeit der Zurückhaltung war vorbei. Er schien im Begriff, aus sich herauszutreten. Ich konnte die Bedeutung dieses späten Besuchs nicht mißverstehen, denn nichts von dem, was er zu sagen hatte, war unaufschiebbar dringend. Der wahre Grund dämmerte mir auf: er hatte erkannt, daß er sie brauchte – und sie wurde von dem gleichen Gefühl geleitet. Es war das zweitemal, daß ich sie zusammen sah, und ich wußte, daß ich bei ihrer nächsten Begegnung nicht gegenwärtig sein würde, weder erinnert noch vergessen. Ich würde einfach für diese beiden jungen Leute zu existieren aufgehört haben.

Diese Erkenntnis kam mir in ganz wenig Augenblicken. Inzwischen erzählte Natalia Haldin Rasumoff in kurzen Worten von unseren Wanderungen durch Genf von einem Ende zum andern. Während sie sprach, hob sie die Hand, um ihren Schleier loszubinden. Diese Bewegung verriet für einen Augenblick die ganze verführerische Anmut ihres jugendlichen Körpers in der einfachen Trauerkleidung. In dem leichten Schatten, den der Hutrand über ihr Gesicht warf, gewannen ihre grauen Augen einen berückenden Glanz. Ihre Stimme mit dem unweiblichen und doch reizvollen Timbre klang fest, und sie sprach rasch, frei und ungehemmt. Als sie ihre Handlungsweise mit dem Zustand ihrer Mutter entschuldigte, kam ein gequälter Ausdruck in ihr Gesicht. Ich bemerkte, daß er mit dem abgewandten Blick eher einer fernen Musik als bloßen Worten zu lauschen schien. Und als sie schwieg, verharrte er in derselben Stellung, regungslos lauschend, wie unter dem Bann der verführerischen Klänge. Dann kam er zu sich und murmelte:

»Ja, ja. Sie hat keine Träne vergossen. Sie schien nicht zu hören, was ich sagte. Ich hätte ihr irgend etwas sagen können. Es schien, als gehörte sie nicht länger dieser Welt an.«

Fräulein Haldin zeigte aufrichtige Betrübnis. Ihre Stimme schwankte. »Sie wissen nicht, wie hart ich es nun habe. Jetzt erwartet sie ihn zu sehen!« Der Schleier glitt ihr aus den Fingern, und sie schlug angstvoll die Hände zusammen. »Es wird damit enden, daß sie ihn sieht«, rief sie.

Rasumoff hob scharf den Kopf und warf ihr einen langen, nachdenklichen Blick zu.

»Hm. Das ist sehr möglich«, murmelte er in einem merkwürdigen Ton, als gäbe er ein sachliches Urteil über irgendein Ereignis ab. »Ich möchte nur wissen, was …« Er unterbrach sich.

»Das wäre das Ende. Dann wäre es mit ihrem Verstande vorbei, und ihre Seele würde folgen.«

Fräulein Haldin zog die Hände auseinander und ließ sie niedersinken.

»Glauben Sie das?« fragte er dumpf. Fräulein Haldins Lippen waren leicht geöffnet. Irgend etwas Unerwartetes und Unaussprechliches in dem Charakter des jungen Mannes hatte sie vom ersten Augenblick an gereizt. »Nein. Weder Wahrheit noch Trost ist von den Erscheinungen der Toten zu erwarten«, fügte er nach einer drückenden Pause hinzu. »Ich hätte ihr etwas Wahres sagen können; zum Beispiel, daß Ihr Bruder die Absicht hatte, sein Leben zu retten, zu fliehen. Darüber ist kein Zweifel möglich. Ich tat es aber nicht.«

»Sie taten es nicht! Warum denn nur?«

»Ich weiß nicht. Mir kamen andere Gedanken«, antwortete er. Mir schien es, als beobachte er sich selbst innerlich, als versuchte er, seine eigenen Herzschläge zu zählen, während seine Augen keinen Augenblick von dem Gesicht des Mädchens wichen. »Sie waren nicht da«, fuhr er fort. »Ich hatte mich entschlossen, Sie nie wieder zu sehen.«

Dies schien sie einen Augenblick gänzlich außer Fassung zu bringen.

»Sie … Wie ist das möglich?«

»Sie können gut fragen … Immerhin glaube ich, daß ich mich durch Klugheit zurückhalten ließ, es Ihrer Mutter zu sagen. Ich hätte ihr versichern können, daß er in dem letzten Gespräch, das er als freier Mann führte, Sie beide erwähnte …«

»Dieses letzte Gespräch hatte er mit Ihnen«, fiel sie mit ihrer tiefen, klingenden Stimme ein. »Eines Tages müssen Sie …«

»Jawohl, mit mir. Von Ihnen sagte er, daß Sie treue Augen hätten. Und ich weiß nicht, warum ich nicht imstande war, diesen Ausspruch zu vergessen. Er meinte damit, daß in Ihnen kein Falsch ist, kein Mißtrauen, keine Lüge, – daß nichts in Ihrem Herzen ist, was Sie dazu bringen könnte, sich eine lebende, handelnde, sprechende Lüge zu denken, wenn sie Ihnen je begegnen sollte. Daß Sie ein vorbestimmtes Opfer sind … O welch höllischer Gedanke!«

Der krampfhafte Klang der letzten Worte durchbrach die eiserne Beherrschung, die er über sich hatte. Er schien ein Mann, der auf einem hohen Grat seine eigene Schwindelfreiheit erproben will und plötzlich am Rande des Abgrundes taumelt. Fräulein Haldin preßte die Hand an die Brust. Der schwarze Schleier lag zwischen ihnen auf dem Boden. Ihre Bewegung beruhigte ihn. Er sah fest auf ihre Hand, bis sie langsam sank, und hob dann den Blick wieder zu ihrem Gesicht. Doch er ließ ihr keine Zeit zu sprechen.

»Nein? Sie verstehen nicht? Ganz recht.« Er hatte durch eine ans Wunderbare grenzende Willensanstrengung seine Ruhe wieder erlangt.

»So haben Sie mit Sofia Antonowna gesprochen?«

»Ja. Sofia Antonowna sagte mir …« Fräulein Haldin brach ab, und ein Ausdruck des Staunens kam in ihre weit geöffneten Augen.

»Hm. Das ist die einzige Feindin, mit der zu rechnen ist«, murmelte er, als wäre er allein.

»Sie sprach in den denkbar freundlichsten Ausdrücken von Ihnen«, bemerkte Fräulein Haldin nach einem kurzen Warten.

»Haben Sie den Eindruck? Und dabei ist sie noch die Intelligenteste der ganzen Bande. Dann geht also alles so gut wie nur möglich. Alles scheint verschworen … O diese Verschwörer«, sagte er langsam und verächtlich. »Sie würden Sie im Handumdrehen an sich reißen. Wissen Sie, Natalia Viktorowna, daß ich die größte Mühe habe, mich vor dem Aberglauben an eine tätige Vorsehung zu retten. Es scheint unwiderstehlich … Das Gegenstück dazu wäre natürlich der leibhaftige Teufel unserer schlichten Altvorderen. Wenn es aber so ist, dann hat er es zu toll getrieben – der alte Vater der Lüge – unser Nationalpatron – unser Hausgötze, den wir mit uns nehmen, wenn wir ins Ausland gehen. Er hat es zu weit getrieben. Es scheint, daß ich nicht schlecht genug bin … Das ist es! Ich hätte wissen müssen … und ich wußte es«, fügte er hinzu, im Ton eines so aufrichtigen Schmerzes, daß er mich damit aus meiner Verblüffung riß.

»Dieser Mann ist gestört«, sagte ich mir in hellem Schrecken.

Im nächsten Augenblick verhalf er mir zu einer ganz unerhörten Sensation, die außerhalb des Bereichs jeder gemeinhin denkbaren Definition liegt. Es war, als hätte er sich draußen irgendwo einen Dolchstoß beigebracht und sei nun hereingekommen, um es zu zeigen; und mehr noch – als drehte er das Messer in der Wunde um und wollte die Wirkung beobachten. Das war, ins Physische übersetzt, mein Eindruck. Man konnte sich eines gewissen Mitleids nicht erwehren. Wegen Fräulein Haldin aber, die ohnedies schon in ihrem Innersten so angegriffen war, fühlte ich eine lebhafte Sorge. Ihre Haltung, ihr Gesicht zeigten einen Kampf zwischen Mitleid, Zweifel und Grauen.

»Was ist es, Kyrill Sidorowitsch?« Ein Schatten von Zärtlichkeit klang in diesem Aufschrei mit. Er sah sie nur starr an, mit dem gänzlichen Nachlassen aller Fähigkeiten, die bei einem glücklichen Liebhaber Ekstase zu nennen gewesen wäre.

»Warum sehen Sie mich so an, Kyrill Sidorowitsch? Ich bin Ihnen offen entgegengetreten. Ich muß diesmal klar sehen in mir selbst …« Sie schwieg einen Augenblick, als wollte sie ihm die Möglichkeit lassen, wenigstens mit einem Wort ihr unbegrenztes Vertrauen in den Freund ihres Bruders zu rechtfertigen. Sein Schweigen war eindrucksvoll und schien einen augenblicklichen Entschluß zu verraten.

Endlich fuhr Fräulein Haldin beschwörend fort:

»Ich habe sehnsüchtig auf Sie gewartet. Nun aber, da Sie sich in Ihrer Güte entschlossen haben, zu uns zu kommen, erschrecken Sie mich. Sie sprechen unverständlich. Es scheint, als wollten Sie mir etwas verbergen.«

»Sagen Sie mir, Natalia Viktorowna«, brachte er schließlich mit merkwürdig klangloser Stimme hervor, »wen haben Sie an jenem Ort gesehen?«

Sie schien erschreckt und in ihren Erwartungen enttäuscht.

»Wo? Bei Peter Iwanowitsch? Herr Laspara war da und drei andere.«

»Oho! Die Avantgarde – die vernichtete Hoffnung des großen Coups«, dachte er; und dann laut: »Die Träger des Funkens, der eine Explosion herbeiführen und dadurch das Leben so und so vieler Millionen Menschen so gründlich ändern soll, daß Peter Iwanowitsch ein Staatsoberhaupt werden kann.«

»Sie machen sich über mich lustig«, sagte sie. »Der eine, der uns lieb war, sagte mir einmal, ich sollte nie vergessen, daß Menschen immer etwas Größerem dienen als nur sich selbst – der Idee.«

»Der eine, der uns lieb war«, wiederholte er langsam. In der Anstrengung, ruhig zu erscheinen, gingen seine ganzen seelischen Kräfte auf. Er stand vor ihr, als wäre kaum noch Leben in ihm. Seine Augen hatten wie in großem physischen Schmerz allen Glanz verloren. »Oh! Ihr Bruder … Aber von Ihren Lippen, mit Ihrer Stimme klingt es … An Ihnen ist wirklich alles göttlich … Ich wollte, ich könnte die verborgensten Tiefen Ihrer Gedanken, Ihrer Gefühle erfassen …«

»Aber warum, Kyrill Sidorowitsch«, rief sie aus, halb erschreckt von diesen Worten, die von so befremdend leblosen Lippen kamen.

»Fürchten Sie nichts! Ich wünschte es nicht, um Sie zu verraten. Sie sind also dahin gegangen? … Und Sofia Antonowna, was hat sie Ihnen gesagt?«

»Sie hat nur ganz wenig gesagt. Sie wußte, daß ich alles von Ihnen erfahren würde. Sie hatte nicht Zeit für mehr als ein paar flüchtige Worte.«

Fräulein Haldin machte eine kurze Pause und fügte dann traurig hinzu: »Es scheint, daß der Mann sich das Leben genommen hat.«

»Sagen Sie mir, Natalia Viktorowna«, fragte er zögernd, »glauben Sie an Reue?«

»Was für eine Frage?«

»Was können Sie davon wissen«, murmelte er finster. »Das ist nichts für Ihresgleichen … Ich wollte nur wissen, ob Sie an die Wirksamkeit der Reue glaubten?«

Sie schwankte, als hätte sie nicht verstanden; dann erhellte sich ihr Gesicht.

»Ja«, sagte sie fest.

»So ist er freigesprochen. Überdies war jener Siemianitsch ein betrunkenes Vieh.«

Natalia Haldin erschauerte.

»Aber ein Mann aus dem Volk«, fuhr Rasumoff fort. »Aus dem Volke, dem sie, die Revolutionäre, die märchenhaftesten Hoffnungen aufbinden. Ja. Dem Volke muß verziehen werden … Und Sie müssen auch nicht alles glauben, was Ihnen aus jener Quelle kam«, fügte er mit düsterem Widerstreben hinzu.

»Sie verbergen mir etwas!« rief sie aus.

»Glauben Sie, Natalia Viktorowna, an die Verpflichtung zur Rache?«

»Hören Sie, Kyrill Sidorowitsch. Ich glaube, daß die Zukunft uns allen gnädig sein wird. Revolutionär und Reaktionär, Opfer und Henker, Verräter und Verratener, sie alle werden in gleicher Weise Gnade finden, wenn einmal das Licht aus unserem dunklen Himmel bricht. Gnade und Vergessen; denn ohne das gäbe es keine Einigung und keine Liebe.«

»Ich höre. Es gibt also keine Rache für Sie? Niemals? Nicht im geringsten?« Ein bitteres Lächeln erschien auf seinen farblosen Lippen. »Sie selbst scheinen geradezu der Genius jener gnadenreichen Zukunft. Merkwürdig, daß sie dadurch nicht leichter wird … Nein! Aber gesetzt den Fall, der wirkliche Verräter Ihres Bruders – Siemianitsch spielte auch eine Rolle dabei, doch gänzlich untergeordnet und unfreiwillig –, nehmen Sie an, daß der wirkliche Verräter ein junger Mann sei, gebildet, ein geistiger Arbeiter mit eigenen Gedanken, ein Mann, dem Ihr Bruder in einem gewissen Grade vertraut haben mag, aber doch – nehmen Sie an … Aber das ist eine ganze Geschichte.«

»Und Sie kennen die Geschichte! Aber warum dann –«

»Ich habe sie gehört. Ein Treppenhaus kommt darin vor und sogar Gespenster. Aber das tut nichts zur Sache, wenn ein Mensch immer etwas Größerem dient als sich selbst – der Idee. Ich frage mich, wer das größte Opfer in dieser Geschichte ist.«

»In dieser Geschichte!« wiederholte Fräulein Haldin. Sie schien wie zu Stein erstarrt.

»Wissen Sie, warum ich zu Ihnen kam? Einfach, weil es niemand in der ganzen großen Welt gibt, zu dem ich hätte gehen können. Verstehen Sie, was ich sage. Niemand, zu dem ich hätte gehen können. Erfassen Sie die Trostlosigkeit des Gedankens –, niemand – zu dem – ich – hätte – gehen – können.«

Ihre eigene Auslegung von zwei Zeilen in dem Brief eines Phantasten, die eigene Furcht vor einsamen Tagen, die eigenen Sorgen, die ihr aus den täglichen Widerwärtigkeiten kamen, hatten sie so befangen gemacht, daß sie außerstande war, zu bemerken, wie sich ihm die Wahrheit auf die Lippen drängte. Sie fühlte nur dunkel, daß er litt. Schon war sie im Begriff, ihm in einer Aufwallung die Hand entgegenzustrecken, als er wieder zu sprechen anfing:

»Eine Stunde, nachdem ich Sie zum erstenmal gesehen hatte, wußte ich, wie es kommen würde. Die Schrecken der Reue, Rache, Wut, Haß, Furcht sind nichts gegen die grausame Versuchung, in die Sie mich führten, an dem Tage, an dem Sie vor mir erschienen, mit Ihrer Stimme, mit Ihrem Gesicht, in dem Park jener verfluchten Villa.«

Sie schien einen Augenblick erstaunt und ging dann mit einer Art verzweifelten Scharfblicks auf den brennenden Punkt los.

»Die Geschichte, Kyrill Sidorowitsch, die Geschichte!«

»Es ist nichts mehr zu sagen.« Er machte eine Bewegung nach vorwärts, und sie legte ihm die Hand auf die Schulter, um ihn wegzuhalten; doch die Kräfte verließen sie, und er blieb, wo er war, wenn er auch an allen Gliedern zitterte. »Sie endet hier – hier auf diesem Fleck.« Er stieß den Zeigefinger wie anklagend gegen die eigene Brust und versank in völlige Reglosigkeit.

Ich stürzte vor, riß einen Stuhl mit und kam gerade noch zurecht, um Fräulein Haldin aufzufangen und niederzulassen. Während sie sich in den Sessel sinken ließ, drehte sie sich in meinem Arm halb um und blieb von uns beiden abgewandt über die Lehne geneigt. Er stierte sie mit furchtbar ausdrucksloser Ruhe an. Mich beraubten eine Zeitlang Ungläubigkeit, die mit Erstaunen kämpfte, Wut und Ekel der Sprache. Dann wandte ich mich zu ihm und konnte nur flüstern vor Wut:

»Das ist ungeheuerlich. Worauf warten Sie noch! Lassen Sie sich nicht noch einmal vor ihr sehen. Gehen Sie! …« Er rührte sich nicht. »Verstehen Sie denn nicht, daß Ihre Gegenwart unerträglich ist? Sogar mir? Wenn noch der leiseste Rest von Schamgefühl in Ihnen ist …«

Langsam wandten sich seine stieren Augen mir zu. »Wie ist dieser alte Mann hierhergekommen?« murmelte er verblüfft.

Plötzlich sprang Fräulein Haldin vom Stuhle auf, machte ein paar Schritte und schwankte. Ich vergaß meine Empörung und sogar den Menschen selbst und eilte ihr zu Hilfe. Ich faßte sie am Arm, und sie ließ sich von mir ins Wohnzimmer führen. Außerhalb des Lichtkreises der Lampe, in dem Halbdunkel der Fensternische, erschien das Profil von Frau Haldin, ihre Hände, ihre ganze Gestalt, mit der Regungslosigkeit eines dunkel getönten Gemäldes. Fräulein Haldin blieb stehen und wies traurig auf die trostlose Starrheit ihrer Mutter, die immer noch ein geliebtes Haupt, das in ihrem Schoße ruhte, zu betrachten schien.

Ihre Geste hatte eine unerhörte Ausdruckskraft. Und es sprach daraus eine so tiefe, menschliche Trauer, daß man nicht glauben konnte, sie wiese damit nur auf das ruchlose Werk politischer Einrichtungen. Nachdem ich Fräulein Haldin bis zum Sofa gebracht hatte, ging ich zurück, um die Tür zu schließen. In ihrem Rahmen gewahrte ich Rasumoff, der immer noch in dem grellen Licht des weißen Vorzimmers vor dem leeren Stuhl stand, als wäre er für ewig an den Ort seiner grausamen Beichte gebannt. Mich überkam Staunen, daß die geheimnisvolle Macht, die ihm das Geständnis entrissen, nicht auch sein Leben zerstört, seinen Körper zerschmettert hatte. Er stand unversehrt vor mir. Ich starrte auf die breite Linie seiner Schultern, seinen dunklen Kopf, die verblüffende Unbeweglichkeit seiner Glieder. In dem harten, weißen Licht hob sich der Schleier, den Fräulein Haldin zu seinen Füßen hatte niederfallen lassen, grell schwarz ab. Er sah wie verzaubert darauf hinab. Im nächsten Augenblick bückte er sich mit einer unglaublichen Heftigkeit, hob das Gewebe hoch und preßte es mit beiden Händen an sein Gesicht. Irgend etwas, vielleicht grenzenloses Staunen, trübte mir den Blick, so daß er mir entschwand, bevor er sich noch gerührt hatte.

Das Zuschlagen der Außentür gab mir die Sehschärfe zurück, und ich fuhr fort, den leeren Stuhl in dem leeren Vorzimmer zu betrachten. Plötzlich kam mir mit einem Ruck die Bedeutung dessen, was ich eben gesehen, zum Bewußtsein. Ich faßte Natalia Haldin bei der Schulter: »Der elende Schuft hat Ihren Schleier mit fortgenommen!« rief ich aus, erschreckt und halb von Sinnen durch die furchtbare Entdeckung. »Er …«

Der Rest blieb ungesprochen. Ich trat zurück und sah in schweigendem Grauen auf sie hinunter. Ihre Hände lagen leblos, mit nach oben gekehrten Handflächen, in ihrem Schoß. Sie erhob langsam ihre grauen Augen. Schatten schienen darin zu kommen und zu gehen, als ob die ruhig brennende Flamme ihrer Seele nun doch zu flackern begonnen hätte in dem verspäteten Luftzug, der aus jener verderbten dunklen Unendlichkeit herschlug, zu der auch sie gehörte und wo sogar die Tugenden zum Verbrechen werden, in dem Zynismus, der aus Unterdrückung und Empörung geboren wird.

»Man kann nicht unglücklicher sein …« Ihr leises Flüstern erfüllte mich mit Schmerz. »Es ist unmöglich … Ich fühle, wie mein Herz zu Eis wird.«

4

Rasumoff schritt auf dem nassen, glitzernden Pflaster geradenwegs nach Hause. Ein heftiger Regenschauer ging über ihn nieder; gegen die schwarzen Umrisse der Häuser, die sich mit geschlossenen Läden die ganze Länge der Rue de Carouge hinzogen, spielten schwache Blitze. Dann und wann folgte auf den bleichen Schein ein leises, schläfriges Grollen; die Hauptmacht des Gewitters aber blieb unten im Rhonetal versammelt, wie zum Angriff auf die ehrbare und leidenschaftslose Hochburg demokratischer Freiheit bereit. Diese ernsthafte Stadt mit ihren öden Hotels, die Touristen aller Nationen und internationalen Verschwörern jeden Glaubens dieselbe gleichgültige Gastfreundschaft bietet.

Der Ladeninhaber wollte eben schließen, als Rasumoff eintrat und ohne ein Wort die Hand nach seinem Zimmerschlüssel ausstreckte. Der Mann kam ihm jedoch zuvor und holte ihn von einem Sims herab. Dazu wollte er ein Scherzwort anbringen, über das Luftschnappen bei einem Gewitter; nachdem er aber seinem Mieter ins Gesicht gesehen hatte, bemerkte er, um nur überhaupt etwas zu sagen:

»Sie sind ordentlich naß geworden.«

»Ja. Ich bin rein gewaschen«, murmelte er, der von Kopf bis zu Fuß triefte, und ging durch die Innentür dem Stiegenhaus zu, das zu seiner Wohnung führte.

Er wechselte die Kleider nicht, sondern zündete eine Kerze an, nahm die Uhr mit Kette aus der Tasche, legte sie vor sich auf den Tisch und setzte sich sofort zum Schreiben hin. Sein schwer belastendes Tagebuch verwahrte er in einer versperrten Schublade, die er nun heftig aufriß, ohne sich die Mühe zu nehmen, sie wieder zuzuschieben.

Diese merkwürdige Pedanterie eines Menschen, der immer mit der Feder in der Hand gelesen, gedacht, gelebt hatte, sprach für die Aufrichtigkeit des Versuchs, sich auf dem gewohnten Wege zu einer tieferen Erkenntnis durchzuringen. Nach einigen Stellen, die bereits zum Aufbau dieser Erzählung benützt worden oder für die psychologische Seite des Falles bedeutungslos sind (in dieser letzten Eintragung kommt sogar noch eine Anspielung auf die Silberne Medaille vor), folgen anderthalb Seiten zusammenhangsloser Aufzeichnungen, weil seine Ausdrucksmöglichkeiten zu versagen schienen vor der geheimnisvollen Neuheit jener Seite unseres Gefühlslebens, die ihm bei seinem einsamen Leben verschlossen geblieben war. Da erst beginnt er sich unmittelbar an die Leserin zu wenden, an die er die ganze Zeit über gedacht hatte, und versucht, in abgebrochenen Sätzen voll Staunen und Grauen die souveräne (er gebraucht dieses selbe Wort) Macht ihrer Persönlichkeit über seine Einbildungskraft zu schildern, in der die Saat von ihres Bruders Worten schlummerte.

»… Die treuesten Augen in der Welt – so sagte Ihr Bruder von Ihnen, als er schon so gut wie ein toter Mann war. Und als Sie vor mir standen, mit ausgestreckter Hand, da hörte ich förmlich nochmals seine Stimme, sah in Ihre Augen – und das war genug. Ich wußte, daß irgend etwas geschehen war, aber ich wußte damals nicht, was … Doch täuschen Sie sich nicht, Natalia Viktorowna. Ich glaubte, in meiner Brust wäre nichts als ein unerschöpflicher Bodensatz von Wut und Haß gegen Sie beide. Ich erinnerte mich, daß er die Hoffnung ausgesprochen hatte, seine Seherseele würde in Ihnen weiterleben. Er, dieser Mensch, der mich um mein Leben voll harter Arbeit und guter Vorsätze gebracht hatte. Auch ich hatte meine führende Idee; und vergessen Sie nicht, daß es bei uns schwerer ist, ein Leben voll Arbeit und Selbstverleugnung zu führen, als auf die Straße hinauszugehen und zu töten. Doch genug davon. Haß oder nicht Haß, ich fühlte auf einmal, daß ich Ihr Bild nicht aus mir verbannen konnte, wenn ich auch Ihren Anblick mied. Oft wandte ich mich an jenen Toten mit der Frage: ›Ist das die Art, in der du mich verfolgen willst?‹ Erst viel später verstand ich – erst heute, vor ein paar Stunden erst. Was hätte ich denn wissen sollen von der Kraft, die mich in Stücke riß und mir das, was ewig verborgen bleiben sollte, auf die Lippen zerrte! Sie waren berufen, das Böse zu vernichten, indem Sie mich zwangen, mich selbst zu verraten, zurück in Wahrheit und Frieden. Sie! Und Sie haben es auf dieselbe Art getan, auf die er mich ruiniert hat: indem Sie mir Ihr Vertrauen aufzwangen. Nur schien mir das, wofür ich ihn verachtet hatte, bei Ihnen edel und erhaben. Doch ich wiederhole: täuschen Sie sich nicht. Ich war dem Bösen ergeben. Ich jubelte darüber, daß ich jenen harmlosen Narren dazu gebracht hatte, seines Vaters Geld zu stehlen. Er war ein Narr, aber kein Dieb. Ich habe ihn dazu gemacht. Es war nötig. Ich mußte in mir selbst die Verachtung und den Haß stärken für alles, was ich verriet. An meinem Herzen haben genau ebensoviele Vipern genagt wie an dem irgendeines dieser Umstürzler: Eitelkeit, Ehrgeiz, Eifersucht, schamlose Wünsche, die bösen Leidenschaften Neid und Rache. Meine Sicherheit war mir gestohlen worden, Jahre guter Arbeit, meine besten Hoffnungen. Hören Sie – nun kommt die wahre Beichte. Das andere war nichts. Um mich zu retten, mußten Ihre treuen Augen mich bis an den Rand des schwärzesten Verrates bringen. Ich fühlte ständig Ihren Blick auf mir, aus dem das Vertrauen Ihres reinen Herzens sprach, dem alles Böse ferngeblieben war. Viktor Haldin hat mir, der ich sonst nichts auf der Welt hatte, die Wahrheit meines Lebens gestohlen und rühmte sich, er würde in Ihnen auf dieser Erde weiterleben, wo ich keinen Fleck hatte, mein Haupt hinzulegen. ›Sie wird eines Tages heiraten‹, hatte er gesagt – und daß Ihre Augen treu seien. Und wissen Sie, was ich mir vornahm? Ich will seiner Schwester die Seele stehlen. – Als wir uns an jenem ersten Morgen in den Gärten trafen und Sie aus Ihrer Großmut heraus vertraulich zu mir sprachen, da dachte ich: ›Ja, er selbst hat sie in meine Hand gegeben, als er mir von ihren treuen Augen sprach!‹ Hätten Sie damals in mein Herz sehen können, Sie würden laut aufgeschrien haben vor Schreck und Ekel. Vielleicht wird niemand an die Möglichkeit einer so niedrigen Absicht glauben. Sicher ist, daß ich mich daran ergötzte, nachdem wir uns an jenem Morgen getrennt hatten. Ich versuchte den besten Weg auszuklügeln. Der alte Mann, dem Sie mich vorgestellt hatten, bestand darauf, mit mir zu gehen. Ich weiß nicht, wer er ist. Er sprach von Ihnen, von Ihrer verlassenen, hilflosen Lage, und jedes Wort, das dieser Ihr Freund mit mir sprach, trieb mich weiter in den unverzeihlich sündhaften Vorsatz hinein, Ihre Seele zu stehlen. Konnte er der leibhafte Teufel in der Gestalt eines alten Engländers sein? Natalia Viktorowna, ich war besessen! Ich kehrte jeden Tag zurück, um Sie zu sehen und mich in Ihrer Gegenwart an dem Gift meines ruchlosen Vorhabens zu berauschen. Doch ich sah Schwierigkeiten voraus. Dann tauchte Sofia Antonowna, an die ich nicht gedacht hatte – ich hatte ihre Existenz vergessen –, mit jener Geschichte aus St. Petersburg auf … Das einzige, was noch zu meiner Sicherheit fehlte. – Nun war ich für alle Zukunft des Vertrauens der Revolutionäre sicher.

Es war, als hätte sich Siemianitsch erhängt, um mir zu weiteren Verbrechen zu helfen. Die Macht der Lüge schien unwiderstehlich. Die Leute waren wie blind in ihrer eignen Narrheit, – da sie ja selbst die Sklaven von Lügen sind. Natalia Viktorowna, ich betete die Macht der Lüge an, ich frohlockte darüber – ich ergab mich ihr für eine Zeit. Wer hätte widerstehen können! Sie selbst waren der Preis. Ich saß allein in meinem Zimmer und malte mir mein Leben aus; bei dem bloßen Gedanken daran schaudere ich heute, wie ein Gläubiger, der in der Versuchung war, eine grauenhafte Gotteslästerung zu begehen. Damals aber dachte ich unablässig über ferne Möglichkeiten nach. Das einzige war nur, daß es in dieser Zukunft keine Luft zu geben schien. Und dann fürchtete ich mich auch vor Ihrer Mutter. Die meine habe ich nie gekannt. Nie habe ich irgendeine Art von Liebe kennengelernt. In dem bloßen Wort liegt etwas … Vor Ihnen fühlte ich keine Furcht –, verzeihen Sie, daß ich Ihnen das sage. Nein, nicht vor Ihnen. Sie waren die Wahrheit selbst. Sie konnten mich nicht verdammen. Was nun Ihre Mutter anlangt, so fürchteten Sie selbst schon, daß ihr Verstand sich durch den Kummer verwirrt habe. Wer konnte irgend etwas gegen mich glauben? Hatte sich nicht Siemianitsch aus Reue selbst erhängt? Ich sagte mir: ›Machen wir noch eine letzte Belastungsprobe, und dann soll es ein für allemal vorbei sein.‹ Ich zitterte, als ich in Ihre Wohnung kam; Ihre Mutter aber hörte kaum auf das, was ich ihr sagte, und schien nach einer kurzen Weile meine Anwesenheit gänzlich vergessen zu haben. Ich saß da und sah sie an. Nichts stand länger zwischen Ihnen und mir. Sie waren wehrlos – und bald, sehr bald würden Sie allein sein … So dachte ich. Wehrlos. Tagelang haben Sie mit mir gesprochen und mir Ihr Herz ausgeschüttet … Ich erinnerte mich an den Schatten Ihrer Wimpern über Ihren grauen, treuen Augen und an Ihre reine Stirne. Sie ist niedrig wie die Stirn von Statuen, ruhig und fleckenlos. Es war, als ob von Ihren reinen Augen ein Licht ausginge, das in mich drang, mein Herz durchstrahlte und mich vor Schmach und vor der letzten Schande rettete. Und auch Sie hat es gerettet. Verzeihen Sie meine Anmaßung. Doch es lag etwas in Ihrem Blick, das mir zu verraten schien, daß Sie … Ihr Licht! Ihre Wahrheit! Ich fühlte, ich mußte Ihnen sagen, daß ich dahin gekommen war, Sie zu lieben. – Und um Ihnen das sagen zu können, muß ich erst beichten. Beichten, gehen – und verderben.

Plötzlich standen Sie vor mir! Sie allein in der ganzen Welt, der ich beichten muß. Sie berückten mich – Sie haben die Blindheit von Wut und Haß von mir genommen – die Wahrheit, die aus Ihren Augen strahlte, trieb die Wahrheit aus mir empor. Nun habe ich es getan; und während ich Ihnen nun schreibe, bin ich wohl in den Tiefen des Schmerzes, doch es ist Luft zum Atmen da – Luft! Und während ich noch zu Ihnen sprach, sprang jener alte Mann von irgendwo hervor und tobte gegen mich wie ein enttäuschter Teufel. Ich leide furchtbar, doch bin ich nicht verzweifelt. Für mich gibt es nur mehr eines zu tun. Danach – wenn sie mich lassen – will ich weggehen und mich in dunklem Elend verbergen. Dadurch, daß ich Viktor Haldin anzeigte, habe ich schließlich mich selbst in der schmählichsten Weise verraten. Sie müssen glauben, was ich nun sage, Sie können sich nicht wehren, dies zu glauben. In der schmählichsten Weise. Durch Sie erst bin ich dazu gekommen, dies alles so tief zu empfinden. Schließlich sind sie es und nicht ich, auf deren Seite das Recht ist! – Hinter ihnen stehen unsichtbare Mächte. So mag es sein. Doch täuschen Sie sich nicht, Natalia Viktorowna, ich bin nicht bekehrt. Habe ich denn eine Sklavenseele? Nein! Ich bin unabhängig – und darum ist Verderben mein Los.«

Nach diesen Worten hörte er zu schreiben auf, schloß das Buch und wickelte es in den schwarzen Schleier, den er mit sich genommen hatte. Dann durchsuchte er die Schublade nach Papier und Bindfaden, machte ein Paket, das er an Fräulein Haldin Boulevard des Philosophes adressierte, und schleuderte dann die Feder weit von sich in einen fernen Winkel.

Dann blieb er mit der Uhr vor sich ruhig sitzen. Er hätte gleich ausgehen können, doch die Stunde hatte noch nicht geschlagen. Die Stunde sollte Mitternacht sein. Es gab keinen anderen Grund für diesen Wunsch außer dem einen, daß die Ereignisse und Worte eines gewissen Abends in seiner Vergangenheit seine gegenwärtigen Handlungen in ihrem Zeitpunkt bestimmten. Die plötzliche Gewalt, die Natalia Haldin über ihn erlangt hatte, schrieb er derselben Ursache zu. »Man schreitet nicht ungestraft über die Brust eines Phantoms«, hörte er sich murmeln. »So rettet er mich«, dachte er plötzlich. »Er selbst, der Verratene.« Das lebendige Bild von Fräulein Haldin schien neben ihm zu stehen und ihn unablässig zu beobachten. Sie erschreckte ihn nicht. Er hatte mit dem Leben abgeschlossen und bemühte sich, selbst in ihrer Gegenwart seine Gedanken ruhig in der Gewalt zu behalten. Nun erstreckte sich seine Verachtung auf sich selbst. »Ich war weder einfach, noch mutig, noch selbstbeherrscht genug, um einen Schuft abgeben zu können oder einen ausnahmsweise befähigten Menschen. Denn wer könnte bei uns in Rußland einen Schuft von einem ausnahmsweise befähigten Mann unterscheiden …?«

Es schien, als sei er zum Spielzeug seiner Vergangenheit geworden, denn mit dem Schlag Mitternacht sprang er auf und rannte hastig über die Stiegen hinunter, als sei er fest überzeugt, daß die Macht des Schicksals vor der unerläßlichen Notwendigkeit dieser seiner Irrfahrt die Haustür aufspringen lassen würde. Und tatsächlich wurde das Tor gerade, als er am Fuß der Treppe angekommen war, für ihn geöffnet, von ein paar Leuten aus dem Haus, die spät heimkamen: zwei Männern und einer Frau. Er stürzte zwischen ihnen durch hinaus auf die Straße, durch die heulend der Wind fegte. Die Leute waren natürlich sehr erschreckt. Im Schein eines Blitzes konnten sie sehen, wie er rasch dahin ging. Einer der Männer schrie und wollte sich zur Verfolgung aufmachen. Doch die Frau hatte ihn erkannt. »Es ist alles in Ordnung. Es ist nur der junge Russe aus dem dritten Stock.« Die Dunkelheit brach wieder ein, mit einem einzelnen Donnerschlag; es klang, als würde ein Kanonenschuß abgefeuert, der seine Flucht aus dem Gefängnis der Lüge anzeigte.

Er mußte irgendwann einmal gehört und sich nun daran erinnert haben, daß an jenem Abend eine Zusammenkunft der Revolutionäre im Hause von Julius Laspara stattfinden sollte. Jedenfalls ging er gerade auf das Haus von Laspara los und war durchaus nicht überrascht, als er sich plötzlich davor fand und an der Straßentür läutete, die natürlich geschlossen war. Das Gewitter hatte eben mit Macht eingesetzt. In den Gassen der Straße strömte das Wasser. Der dichte Platzregen umhüllte ihn im Schein der Blitze wie ein leuchtender Schleier. Er war vollständig ruhig und lauschte zwischen den Donnerschlägen aufmerksam auf das helle Klingeln der Torglocke irgendwo weit drinnen im Hause.

Es gab einige Schwierigkeiten, bevor er eingelassen wurde. Er war dem einen der Gäste, der sich freiwillig erboten hatte, hinunter nachsehen zu gehen, persönlich nicht bekannt. Rasumoff verhandelte geduldig mit ihm. Es könne nichts auf sich haben, wenn man einen Besucher einließ. Er habe der Gesellschaft oben etwas mitzuteilen.

»Etwas Wichtiges?«

»Darüber werden die Hörer zu entscheiden haben.«

»Dringend?«

»Ohne jeden Aufschub.«

Inzwischen war eine der Töchter Lasparas über die Stiegen heruntergekommen, eine kleine Lampe in der Hand; sie trug ein schmutziges, zerknittertes Kleid, das wie durch ein Wunder an ihr zu hängen schien, und sah mehr als je einer alten Puppe gleich, mit einer staubigen braunen Perücke, unter irgendeinem Sofa hervorgezogen. Sie erkannte Rasumoff sofort.

»Wie geht es Ihnen? Natürlich können Sie hereinkommen.«

Rasumoff folgte dem Licht, das sie trug, und erstieg zwei Stockwerke. Sie stellte die Lampe auf ein Wandbrettchen im Vorzimmer, öffnete eine Tür und trat mit dem mißtrauischen Gast ein. Rasumoff ging als letzter. Er schloß die Türe hinter sich, trat zur Seite und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand.

Die drei kleinen ineinander gehenden Zimmer waren mit Leuten vollgepfropft; die Decken waren niedrig und verräuchert; die Beleuchtung bestand aus Petroleumlampen. Überall schienen lebhafte Gespräche im Gang, und überall standen Teegläser halbvoll und leer herum, sogar auf dem Boden. Die zweite Lasparatochter saß, unordentlich und träge wie immer, hinter einem ungeheuren Samowar. Im Rahmen einer der Innentüren bemerkte Rasumoff flüchtig einen machtvoll vorspringenden Bauch, der ihm bekannt vorkam. Ganz nahe bei ihm kletterte Julius Laspara eilig von seinem hohen Stuhl herunter.

Das Erscheinen des mitternächtlichen Besuches verursachte keine geringe Aufregung. Laspara pflegte die Ereignisse jener Nacht sehr kurz zusammenzufassen. Nach einigen Begrüßungsworten, die Rasumoff nicht beachtete, sagte Laspara irgend etwas von Artikelschreiben (dabei übersah er absichtlich den verregneten Aufzug seines Gastes und seine ganz merkwürdige Art, sich einzuführen), bald aber wurde er verlegen, und Rasumoff schien geistesabwesend. »Ich habe schon alles geschrieben, was ich je schreiben werde«, sagte er schließlich mit einem kurzen Lachen.

Die Aufmerksamkeit der ganzen Gesellschaft konzentrierte sich auf den Neugekommenen, der von Nässe triefend und totenbleich an der Wand stand. Rasumoff schob Laspara freundlich zur Seite, als wollte er vom Kopf zu Fuß von jedermann gesehen werden. Der Stimmenlärm war gänzlich verstummt, bis in die fernsten Winkel hinein. Der Türrahmen gegenüber Rasumoff füllte sich mit Männern und Frauen, die die Hälse reckten und ganz augenscheinlich ein aufregendes Geschehnis erwarteten.

Aus der Gruppe ertönte eine freche, mit kreischender Stimme hingeworfene Bemerkung.

»Ich kenne dieses lächerlich eingebildete Individuum.«

»Welches Individuum?« fragte Rasumoff, hob den gesenkten Kopf und spähte mit seinen Augen in all die andern, die auf ihn gerichtet waren. Eine Zeitlang herrschte überraschtes Schweigen. »Wenn ich es bin …« Er brach ab, überlegte die Form, in die er sein Geständnis fassen sollte, und fand sie plötzlich, von der übermächtigen Erinnerung an den schicksalsschwersten Abend seines Lebens geleitet.

»Ich bin hierher gekommen«, begann er mit klarer Stimme, »um von einem Menschen namens Siemianitsch zu reden. Sofia Antonowna hat mir mitgeteilt, daß sie einen gewissen Brief aus St. Petersburg veröffentlichen wolle …«

»Sofia Antonowna hat uns früh am Abend verlassen«, sagte Laspara. »Es ist ganz richtig, jedermann hier hat gehört …«

»Ganz recht«, unterbrach ihn Rasumoff mit leiser Ungeduld, denn sein Herz schlug hart. Dann meisterte er seine Stimme so weit, daß sogar ein Schimmer von Ironie in seinen klar abgesetzten Worten mitklang.

»Um jenem Menschen, dem vielgeschmähten Bauern Siemianitsch, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, erkläre ich hiermit feierlich, daß die Behauptungen jenes Briefes einen Mann aus dem Volk verleumden – eine frohe russische Seele. Siemianitsch hat mit Viktor Haldins Verhaftung tatsächlich nichts zu tun.«

Rasumoff legte einen schweren Nachdruck auf den Namen und wartete dann, bis das schwache schmerzliche Murmeln, das ihm folgte, erstorben war.

»Viktor Viktorowitsch Haldin«, begann er von neuem, »suchte in zweifellos großherziger Unklugheit bei einem gewissen Studenten Zuflucht, von dessen Meinungen er nicht mehr wußte, als was ihm die Illusionen seines eigenen edlen Herzens eingaben. Es war ein durchaus unangebrachtes Vertrauen. Doch ich bin nicht hier, um Viktor Haldins Handlungen zu beurteilen. Soll ich euch von den Gefühlen jenes Studenten erzählen, der in seiner verlassenen Einsamkeit aufgesucht und durch die aufgezwungene Mitwisserschaft bedroht wurde? Soll ich euch sagen, was er tat? Es ist eine recht verwickelte Geschichte. Schließlich ging der Student zu General T. persönlich und sagte: ›Ich habe den Menschen, der von P. getötet hat, in meinem Zimmer eingeschlossen; es ist Viktor Haldin – ein Student wie ich selbst.‹«

Ein großes Getöse brach los, und Rasumoff erhob die Stimme.

»Vergessen Sie nicht, – daß jener Mann gewisse ehrenhafte Ideale vor Augen hatte. Aber ich bin nicht hergekommen, um ihn zu verteidigen.«

»Nein. Aber Sie werden zu erklären haben, wieso Sie von alledem wissen«, klang es düster irgendwoher.

»Ein elender Schuft!« Der Schrei schrillte auf. »Seinen Namen!« brüllten andere Stimmen,

»Was lärmt ihr?« fragte Rasumoff verächtlich in das tiefe Schweigen hinein, das er durch eine Handbewegung hergestellt hatte. »Habt ihr nicht alle verstanden, daß ich der Mann bin?«

Laspara trat unvermittelt von ihm weg und kletterte auf seinen Stuhl. In dem ersten Ansturm der Leute gegen ihn erwartete Rasumoff, in Stücke gerissen zu werden. Doch alle wichen zurück, ohne ihn anzurühren, und es blieb bei dem Lärm. Ganz erstaunlich. Sein Kopf schmerzte furchtbar. Aus dem wirren Durcheinanderschreien hörte er mehrmals den Namen von Peter Iwanowitsch heraus, das Wort »Urteil« und den Satz »Aber das ist ja ein Geständnis«, den irgend jemand in Fisteltönen hinauskreischte. Während des Tumultes trat ein junger Mann, jünger als er selbst, mit blitzenden Augen vor ihn hin.

»Ich muß Sie bitten«, sagte er mit giftiger Höflichkeit, »sich freundlichst nicht von diesem Fleck zu rühren, bis man Ihnen gesagt hat, was Sie zu tun haben.«

Rasumoff zuckte die Schultern.

»Ich bin freiwillig hergekommen.«

»Ganz einerlei. Aber Sie werden nicht hinausgehen, bevor man es Ihnen erlaubt«, gab der andere zurück.

Er winkte mit der Hand und rief: »Louisa, bitte, kommen Sie her«; sofort tauchte eine der Lasparatöchter auf (sie hatten beide hinter dem Samowar hervor Rasumoff angestarrt); sie schleifte einen Stuhl hinter sich her, setzte ihn vor die Tür und ließ sich mit gekreuzten Beinen darauf nieder. Der junge Mann dankte ihr verbindlich und gesellte sich zu einer Gruppe, die halblaut ein angeregtes Gespräch führte.

Rasumoffs Spannkraft ließ einen Augenblick nach.

Eine krächzende Stimme ertönte: »Geständnis hin oder her – Sie sind ein Polizeispitzel.« Der Revolutionär Nikita hatte sich bis zu Rasumoff vorgedrängt und stand ihm nun gegenüber, mit seinen großen, bleichen Wangen, seinem schweren Hängebauch, dem Stiernacken und den ungeheuren Händen. Rasumoff sah den berüchtigten Gendarmentöter mit schweigender Verachtung an.

»Und was sind Sie?« fragte er ganz leise, schloß dann die Augen und lehnte den Hinterkopf an die Wand.

»Es wäre besser für Sie, jetzt zu gehen.« Rasumoff hörte eine sanfte, traurige Stimme und schlug die Augen auf. Der freundliche Sprecher war ein älterer Mann, dessen offenes, kluges Gesicht reiches, weißes Haar wie silberner Heiligenschein umrahmte.

»Peter Iwanowitsch wird von Ihrem Geständnis in Kenntnis gesetzt werden, und Sie werden die Weisung erhalten …« Dann wandte er sich an Nikita mit dem Beinamen Nekator, der daneben stand, und fragte ihn flüsternd: »Was können wir sonst tun? Nach diesem Beweis von Aufrichtigkeit kann er nicht länger mehr gefährlich sein.«

Der andere murrte. »Wir wollen uns lieber dessen vergewissern, bevor wir ihn gehen lassen. Überlassen Sie mir das. Ich weiß mit solchen Herren umzugehen.«

Er wechselte bedeutsame Blicke mit zwei oder drei Leuten, die ihm leicht zunickten; dann fuhr er Rasumoff barsch an: »Haben Sie gehört? Sie werden hier nicht gewünscht. Warum gehen Sie nicht?«

Die Lasparatochter, die Wache hielt, erhob sich und schob gleichmütig den Stuhl aus dem Weg. Sie sah Rasumoff schläfrig an. Er blickte noch einmal durch das Zimmer und ging dann langsam an ihr vorbei, als sei ihm ein plötzlicher Gedanke gekommen.

»Ich bitte Sie alle, zu beachten«, sagte er, schon vom Vorraum aus, »daß ich nur hätte zu schweigen brauchen. Heute konnte ich mich zum erstenmal, seitdem ich unter euch bin, wahrhaft gesichert fühlen. Gerade heute habe ich mich freigemacht von der Lüge, von der Reue – und unabhängig von jedem einzelnen menschlichen Wesen auf der Welt.«

Er wandte dem Zimmer den Rücken und ging dem Treppenhaus zu. Als er aber hinter sich die Türe heftig zuschlagen hörte, sah er über die Schultern zurück und bemerkte, daß ihm Nikita mit drei anderen gefolgt war.

»Nun werden sie mich doch umbringen«, dachte er.

Bevor er noch Zeit hatte, sich umzuwenden und ihnen entgegenzutreten, fielen sie über ihn her. Er wurde gegen die Wand gedrängt. »Ich möchte nur wissen, wie«, dachte er weiter. Nikita schrie ihm mit einem grellen Auflachen ins Gesicht: »Wir werden dich unschädlich machen, warte nur einen Augenblick.«

Rasumoff wehrte sich nicht. Die drei Leute hielten ihn wie festgenagelt an die Wand, während Nikita ein wenig zur Seite trat und bedächtig mit seinem ungeheueren Arm ausholte. Rasumoff spähte nach einem Messer in seiner Hand, sah sie aber offen unbewaffnet auf sich zukommen und erhielt einen furchtbaren Schlag auf den Kopf, gerade über dem Ohr. Im gleichen Augenblick hörte er eine schwache dumpfe Detonation, als ob jemand auf der anderen Seite der Mauer eine Pistole abgefeuert hätte. Eine rasende Wut wallte in ihm auf bei der rohen Mißhandlung. Die Leute in Lasparas Wohnung hielten den Atem an und lauschten auf das verzweifelte Ringen von vier Leuten durch das ganze Vorzimmer. Stöße gegen die Wand, ein derber Anprall gegen die Tür selbst, dann stürzten sie alle miteinander hinunter, mit einer Gewalt, daß das ganze Haus davon zu zittern schien. Rasumoff brach überwältigt und atemlos unter dem Gewicht seiner Angreifer zusammen, sah, wie sich der ungeheure Nikita neben seinem Kopf auf die Knie niederließ, während die anderen ihn am Boden festhielten – auf seiner Brust knieten, seine Kehle umklammerten, über seinen Beinen lagen.

»Dreht sein Gesicht anders herum!« krächzte der schmerbäuchige Terrorist.

Rasumoff konnte sich nicht länger wehren. Er war erschöpft. Er mußte untätig zusehen, wie die wuchtige offene Hand des Rohlings nochmals auf sein anderes Ohr niedersauste. Er glaubte, der Kopf sei ihm zersprungen, und mit einmal verstummten die Leute, die ihn hielten, vollständig, wurden lautlos wie Schatten. Stillschweigend rissen sie ihn roh empor, eilten lautlos mit ihm die Treppen vollends hinunter, rissen die Türe auf und warfen ihn auf die Straße hinaus.

Er fiel nach vorne, überschlug sich sofort hilflos und stürzte mit dem Strom des Regenwassers den kurzen Abhang hinunter. Als er wieder zu sich kam, lag er in der Gosse der Nebenstraße auf dem Rücken. Gerade über ihm zerriß ein Blitz den Himmel, ein greller, langer Blitz, der ihn völlig blendete. Er raffte sich auf und legte den Arm über die Augen, um die Sehkraft wieder zu erlangen. Kein Laut drang zu ihm. Er begann zu gehen und taumelte eine lange, leere Straße hinunter. Rings um ihn zuckten und bebten die stillen Flammen der Blitze, die Wasser des Wolkenbruches stürzten nieder, sammelten sich, fluteten – lautlos wie Nebeltreiben. In dieser überirdischen Ruhe tönten auch seine Schritte auf dem Pflaster nicht wieder. Der Sturm trieb ihn vor sich hin wie einen Sterblichen, der sich in eine Geisterwelt verloren hatte, darin ein unhörbares Gewitter wütete. Gott allein weiß, wohin ihn seine lautlosen Füße in jener Nacht trugen, dahin und dorthin und wieder zurück, ohne Rast. Wir erfuhren später wenigstens von einem Ort, wohin sie ihn geführt hatten; früh am nächsten Morgen sah der Führer der ersten Elektrischen nach dem Südufer einen Menschen in schmutzigen, durchweichten Kleidern, ohne Hut, unbeholfen und mit gesenktem Kopfe die Straße hinabtaumeln. Der Führer läutete verzweifelt mit seiner Glocke, der Mann aber trat gerade vor den Wagen und wurde überfahren.

Als man ihn mit gebrochenen Beinen und einer schweren Brustwunde aufhob, hatte Rasumoff nicht das Bewußtsein verloren. Ihm war, als sei er durch seinen Unglücksfall ins Land der Stummen geraten. Schweigende Männer mit lautlosen Bewegungen hoben ihn hoch, legten ihn auf dem Bürgersteig nieder und gaben nur durch Gesten rings um ihn ihren Schreck und ihr Mitleid zu erkennen. Ein rotes Gesicht mit großem Schnurrbart beugte sich nahe über ihn, die Lippen bewegten sich, die Augen rollten. Rasumoff strengte sich an, den Sinn dieses stummen Schauspiels zu begreifen. Den Umstehenden schien es, als drückte sich auf dem Gesicht dieses schwerverletzten Fremden nichts als ein angestrengtes Nachdenken aus. Später erst sandte er ihnen einen furchtsamen Blick zu und schloß langsam die Augen. Man starrte ihn an. Rasumoff versuchte krampfhaft, sich an ein paar französische Worte zu erinnern.

»Je suis sourd«, hatte er noch Zeit zu flüstern, bevor er in Ohnmacht fiel. »Er ist taub«, riefen die anderen einander zu. »Darum hat er den Wagen nicht gehört.«

Man schaffte ihn in demselben Wagen fort. Bevor er sich in Bewegung setzte, klammerte sich eine Frau in schäbigem, schwarzem Kleide, die aus dem eisernen Tor irgendeines Privatgrundstückes an der Straße herausgestürzt war, an die rückwärtige Plattform und wollte sich nicht abschütteln lassen.

»Ich bin eine Verwandte«, wiederholte sie immer wieder in gebrochenem Französisch. »Dieser junge Mann ist ein Russe, und ich bin seine Verwandte.« Daraufhin ließ man sie gewähren. Sie setzte sich ruhig nieder und nahm seinen Kopf in den Schoß. Ihre verschreckten blassen Augen vermieden es, sein leichenhaftes Gesicht anzusehen. An einer Straßenecke am anderen Ende der Stadt kam eine Bahre dem Wagen entgegen. Die Frau folgte ihr bis zur Tür des Hospitals, wo man ihr erlaubte, mit hineinzugehen und zuzusehen, wie er zu Bett gebracht wurde. Rasumoffs neu entdeckte Verwandte vergoß keine Träne. Doch konnten die Beamten sie nur mit Mühe dazu bringen, wegzugehen. Der Pförtner sah sie lange Zeit auf der anderen Seite der Straße warten. Plötzlich lief sie davon, als sei ihr etwas eingefallen.

Die erbitterte Feindin aller Finanzministerien, die Sklavin von Madame de S., hatte sich entschlossen, auf ihre Stellung als Gesellschaftsdame bei der Egeria von Peter Iwanowitsch zu verzichten. Sie hatte ein Werk nach ihrem eigenen Herzen gefunden.

Stunden zuvor aber, während das nächtliche Gewitter noch tobte, hatte es bei Julius Laspara eine große Sensation gegeben. Der furchtbare Nikita war aus dem Vorzimmer zurückgekommen und hatte seine heisere Stimme bis zum äußersten angestrengt, um in die Gesellschaft hineinzurufen:

»Rasumoff! Herr Rasumoff! Der wunderbare Rasumoff! Der wird keinem mehr als Spitzel irgendwie nützen können. Er wird nicht schwätzen, weil er in seinem Leben nichts mehr hören wird – keinen Ton mehr! Ich habe ihm die Trommelfelle gesprengt. Oh, ihr könnt euch auf mich verlassen. Ich kenne den Trick. Haha! Haha! Haha! Ich kenne den Trick.«

5

Es war fast zwei Wochen nach dem Begräbnis ihrer Mutter, daß ich Natalia Haldin zum letzten Male sah.

In jenen stillen, dunklen Tagen waren die Türen der kleinen Wohnung am Boulevard des Philosophes für jedermann außer mir geschlossen. Ich stelle mir vor, daß ich irgendwie von Nutzen war. Und wenn auch nur deshalb, weil ich allein die ganze Lage bis in ihre unglaublichsten Winkel überschaute. Fräulein Haldin pflegte ihre Mutter allein bis zum letzten Augenblick. Wenn Rasumoffs Besuch irgend etwas mit Frau Haldins Ende zu tun hatte (und ich für mein Teil bin überzeugt, daß er es wesentlich beschleunigte), so liegt es daran, daß der Mann, dem der unglückliche Viktor Haldin vorschnell sein Vertrauen geschenkt hatte, das der Mutter von Viktor Haldin nicht hatte gewinnen können. Welche Geschichte er ihr eigentlich erzählt hat, kann man nicht wissen – ich wenigstens weiß es nicht –, mir schien es aber, als stürbe sie an einer stillschweigend getragenen letzten Enttäuschung. Sie hatte ihm nicht geglaubt. Vielleicht konnte sie überhaupt niemand mehr glauben und hatte daher auch niemand etwas zu sagen – nicht einmal ihrer Tochter. Ich glaube, daß Fräulein Haldin die schwersten Stunden ihres Lebens an jenem stillen Sterbebett verbracht haben muß, und ich gestehe, daß ich eine gewisse Feindseligkeit gegen die gebrochene alte Frau empfand, die ihr hartnäckiges und stummes Mißtrauen gegen ihre Tochter mit hinübernahm.

Als alles vorbei war, half ich, so gut ich konnte. Fräulein Haldin war von ihren Landsleuten umgeben. Viele davon wohnten dem Begräbnis bei. Auch ich ging hin, hielt mich aber später von Fräulein Haldin fern, bis ich eine kurze Nachricht von ihr erhielt, die mich für meine Selbstverleugnung belohnte. »Es kommt nun, wie Sie es wollten. Ich gehe sofort nach Rußland zurück. Mein Entschluß steht fest. Kommen Sie mich besuchen.«

Ich empfand dies tatsächlich als Belohnung für meine Zurückhaltung und ging ohne Zögern hin.

Die kleine Wohnung am Boulevard des Philosophes wies die traurigen Zeichen eines baldigen Aufbruchs auf. Sie kam mir trostlos und fast schon verlassen vor.

Wir wechselten im Stehen einige Worte über ihr Befinden, über das meine, ein paar Bemerkungen über Angehörige der russischen Kolonie, und dann lud mich Natalia Haldin zum Sitzen ein und begann offen über ihre künftige Arbeit und ihre Pläne zu sprechen. Es sollte alles werden, wie ich es gewünscht hatte. Und es sollte fürs Leben sein. Wir wollten einander nie wiedersehen. Nie wieder.

Ich behielt jede Freude über meinen Erfolg für mich. Natalia Haldin schien gereift durch die äußerlichen und innerlichen Erfahrungen der letzten Tage. Sie schritt mit gekreuzten Armen im Zimmer auf und ab und sprach langsam; ihre Brauen lagen glatt, ihr Gesicht zeigte Entschlossenheit. Sie bot mir einen ganz neuen Anblick. Und ich wunderte mich über den Ernst und die Gemessenheit in ihrer Stimme, ihren Bewegungen und ihrer Haltung. Aus alledem sprach vollendete und überdachte Unabhängigkeit. Die ganze Stärke ihrer Natur war zum Durchbruch gekommen, weil die dunklen Tiefen aufgerührt worden waren.

»Wir beide können jetzt darüber sprechen«, bemerkte sie nach einem kurzen Schweigen und trat dicht vor mich hin. »Haben Sie in letzter Zeit im Spital nachgefragt?«

»Ja, gewiß.« Und da sie mich fest ansah, fügte ich hinzu: »Er wird am Leben bleiben, sagen die Ärzte. Aber ich dachte, daß Thekla …«

»Thekla war mehrere Tage nicht bei mir«, erklärte Fräulein Haldin rasch. »Da ich ihr niemals vorschlug, selbst ins Spital mitzugehen, so glaubt sie, ich hätte kein Herz. Ich habe sie enttäuscht.«

Fräulein Haldin lächelte leicht.

»Ja, sie sitzt bei ihm so lange und so oft, wie man es irgend erlaubt«, sagte ich. »Sie sagt, sie wolle ihn nie verlassen, nie, so lange sie lebt. Er wird jemand brauchen – ein hoffnungsloser Krüppel und dabei stocktaub.«

»Stocktaub? Das wußte ich nicht«, murmelte Natalia Haldin.

»Es ist so. Es scheint merkwürdig. Man hat mir gesagt, daß am Kopfe keine äußeren Verletzungen wahrzunehmen waren. Man sagt auch, es sei nicht wahrscheinlich, daß er Thekla allzulange zur Last fallen würde.«

Fräulein Haldin schüttelte den Kopf.

»Solange es noch Reisende gibt, die am Wege niederbrechen, wird unsere Thekla nie müßig sein. Sie fühlt sich unwiderstehlich zur Samariterin berufen. Die Revolutionäre haben sie nicht verstanden. Stellen Sie sich doch vor, daß man ein ergebenes Geschöpf, wie sie, dazu gebraucht hat, Dokumente in ihre Kleider eingenäht herumzutragen oder nach Diktat zu schreiben.«

»Es gibt nicht viel Scharfblick in der Welt!«

Kaum hatte ich es ausgesprochen, da bereute ich diese Bemerkung. Natalia Haldin sah mich fest an und stimmte mit einem leichten Kopfneigen zu. Sie war nicht verletzt, wandte sich aber weg und begann wieder im Zimmer auf und ab zu gehen. Mir schien, als entfernte sie sich weiter und weiter von mir, ins Unerreichbare, ohne aber mit der zunehmenden Entfernung kleiner zu werden. Ich schwieg, da es mir hoffnungslos schien, meine Stimme noch zu erheben. Als ich die ihre nahe bei mir wieder hörte, fuhr ich leicht zusammen.

»Thekla sah ihn, als man ihn nach dem Unfall auflas. Die gute Seele hat mir nie erzählen wollen, wie es sich eigentlich zugetragen hat. Sie versichert, daß es eine geheime Vereinbarung zwischen ihnen gewesen sei – eine Art Pakt –, daß er in jeder bittern Not, in Unglück, Sorge oder Krankheit zu ihr kommen sollte.«

»War es so?« sagte ich. »Dann war es ein Glück für ihn. Er wird die ganze Ergebenheit der guten Samariterin nötig haben.«

Tatsache war, daß Thekla aus irgendeinem Grund um fünf Uhr morgens aus dem Fenster gesehen und Rasumoff im Park des Château Borel erblickt hatte, wie er stocksteif, mit bloßem Kopf, im Regen am Fuß der Terrasse stand. Sie hatte ihn laut beim Namen gerufen, um zu erfahren, was los sei. Er hatte nicht einmal den Kopf erhoben. Bis sie sich genügend angezogen hatte, um hinunterlaufen zu können, war er weg. Sie eilte ihm nach auf die Straße hinaus und kam gerade zu der stehengebliebenen Straßenbahn und der kleinen Gruppe von Leuten, die Rasumoff aufhoben. So viel hatte mir Thekla selbst erzählt, als wir uns eines Nachmittags zufällig an der Türe des Spitals getroffen hatten. Ich fühlte aber keinen Wunsch, über die geheimen Gründe dieses merkwürdigen Geschehnisses weiter nachzudenken.

»Ja, Natalia Viktorowna. Er wird jemand brauchen, wenn sie ihn auf Krücken und stocktaub aus dem Spital entlassen. Ich glaube aber nicht, daß er die Hilfe der guten Thekla verlangen wollte, als er wie ein entsprungener Irrer in den Park des Château Borel stürzte.«

»Nein«, sagte Natalia Haldin und blieb kurz vor mir stehen. »Vielleicht nicht.«

Sie setzte sich und stützte gedankenvoll den Kopf in die Hand. Das Schweigen währte mehrere Minuten. Ich erinnerte mich an den Abend seines furchtbaren Geständnisses – an die Klage, die sie scheinbar mit letzter Kraft hervorgestoßen hatte. »Man kann nicht unglücklicher sein …« Die Erinnerung hätte mich schaudern gemacht, wäre ich nicht in Bewunderung vor ihrer Kraft und Ruhe versunken gewesen. Es gab nicht länger mehr eine Natalia Haldin, da sie gänzlich aufgehört hatte, an sich selbst zu denken. Es war ein großer Sieg, eine echt russische Selbstbezwingung.

Sie brachte mich wieder zu mir selbst, indem sie plötzlich aufsprang, wie jemand, der einen Entschluß gefaßt hat. Sie schritt zum Schreibtisch, der all der kleinen Dinge, die ihrem täglichen Gebrauch gedient hatten, beraubt und als ein totes Möbelstück dastand. Und doch enthielt er noch ein Stück Leben, denn sie entnahm einem Schubfach ein flaches Paket, das sie mir brachte.

»Es ist ein Buch«, sagte sie merkwürdig abgerissen, »es wurde mir in meinen Schleier eingewickelt zugesandt. Ich habe Ihnen seinerzeit nichts davon gesagt, nun aber habe ich mich entschlossen, es Ihnen zu übergeben. Ich habe ein Recht, das zu tun. Es wurde mir geschickt. Es gehört mir. Sie können es behalten oder vernichten, nachdem Sie es gelesen haben. Und während Sie es lesen, denken Sie, bitte, daran, daß ich wirklich wehrlos war. Und daß er …«

»Wehrlos?« wiederholte ich überrascht und sah sie starr an.

»Sie werden dieses selbe Wort darin geschrieben finden«, flüsterte sie. »Nun, es ist wahr! Ich war wehrlos. – Doch vielleicht haben Sie das selbst beobachtet.« Sie errötete und wurde gleich darauf totenbleich. »Ich will gerecht sein gegen den Mann, und darum bitte ich Sie, daran zu denken. O ich war es, ich war es!«

Ich erhob mich etwas taumelnd.

»Ich werde wohl schwerlich irgend etwas vergessen, was Sie mir bei diesem unserem letzten Zusammentreffen sagten.«

Sie faßte meine Hand.

»Es ist schwer zu glauben, daß wir uns für immer Lebewohl sagen müssen.«

Sie erwiderte meinen Druck, und unsere Hände trennten sich.

»Ja. Ich reise morgen von hier ab. Endlich sind meine Augen offen und meine Hände frei. Und im übrigen – wer von uns könnte sein Ohr dem erstickten Schrei unseres großen Schmerzes verschließen? Der großen Welt mag es vielleicht nichts ausmachen.«

»Die große Welt achtet mehr auf eure Uneinigkeit. Das ist ihre Art.«

»Ja.« Sie neigte zustimmend den Kopf und zögerte einen Augenblick. »Ich will Ihnen sagen, daß ich nie aufhören werde, auf den Tag zu hoffen, an dem jede Uneinigkeit zum Schweigen gebracht sein wird. Versuchen Sie, sich sein Dämmern auszumalen. Das Gewitter von Schlägen und Flüchen ist vorüber; alles ist ruhig. Die neue Sonne geht auf, da die müden Menschen, endlich vereint, fühlen, daß der Streit zu Ende ist; und sie werden ihres Sieges doch nicht ganz froh, weil so viele Ideen zugrunde gehen mußten, um des Triumphes der einen willen, weil so mancher Glaube sie haltlos verlassen hat. Sie fühlen sich allein auf der Welt und scharen sich eng zusammen. Ja, es muß viele bittere Stunden geben, doch endlich wird die Herzensangst ausgelöscht werden durch Liebe.«

Und nach diesem letzten Wort ihrer Weisheit, diesem Wort, das so süß, so bitter und manchmal so grausam sein kann, sagte ich Natalia Haldin Lebewohl. Es ist hart, denken zu müssen, daß ich nie wieder in die treuen Augen jenes Mädchens sehen soll. Sie hat sich einem unbesieglichen Glauben vermählt. Im Frühlenz einer Liebe, die wie eine Himmelsblume aus dieser Menschenerde gekeimt war, die mit Blut gedüngt, von Schmerzen durchpflügt, mit Tränen bewässert wird.

 

Ich möchte daran erinnern, daß ich zu jener Zeit nichts von dem Geständnis wußte, das Rasumoff vor den versammelten Revolutionären abgelegt hatte. Natalia Haldin mochte erraten haben, was das »Eine« war, was ihm noch zu tun blieb; ich, mit den Augen des Westens, hatte es natürlich nicht gesehen.

Thekla, die gewesene Gesellschaftsdame der Madame de S., wich nicht von seinem Bett im Spital. Wir trafen uns ein oder zweimal vor jenem Gebäude, doch sie war bei dieser Gelegenheit nicht mitteilsam. Sie gab mir so kurz wie möglich Nachricht von Herrn Rasumoffs Befinden. Er erholte sich langsam und würde sein ganzes Leben ein hilfloser Krüppel bleiben. Persönlich suchte ich ihn nicht mehr auf: ich habe ihn nie wieder gesehen seit dem furchtbaren Abend, an dem ich als aufmerksamer, doch unbeachteter Zuschauer seinem Auftritt mit Fräulein Haldin beiwohnte. Er wurde zu seiner Zeit aus dem Spital entlassen, und seine »Verwandte« – so sagte man mir – habe ihn irgendwohin fortgebracht.

Fast zwei Jahre später erfuhr ich weitere Einzelheiten. Sicher hatte ich nicht danach geforscht; es war ein reiner Zufall, der mich im Hause eines hervorragenden russischen Edelmanns liberaler Gesinnung, der eine Zeitlang in Genf leben wollte, mit einer Frau zusammenführte, die sich in den revolutionären Kreisen hohen Ansehens erfreute.

Der Russe, von dem ich spreche, stellte einen von Peter Iwanowitsch durchaus verschiedenen Typus von Berühmtheit dar – ein dunkelhaariger Mann mit gütigen Augen, hochschulterig, höflich und von stillem, vorsichtigem Wesen. Er wählte einen Augenblick, wo niemand in der Nähe war, und trat in Begleitung einer grauhaarigen, lebhaften Dame in roter Bluse auf mich zu.

»Unsere Sofia Antonowna wünscht mit Ihnen bekannt zu werden«, sagte er mir in seiner verhaltenen Stimme, »und so lasse ich Sie allein, damit Sie sich aussprechen können.«

»Ich hätte mich nie in Ihre Nähe gedrängt«, begann die grauhaarige Dame sofort, »wenn ich nicht mit einer Botschaft für Sie beauftragt wäre.«

Die Botschaft waren ein paar freundliche Worte von Natalia Haldin. Sofia Antonowna war eben von einem geheimen Ausflug nach Rußland zurückgekehrt und hatte Fräulein Haldin gesehen. Sie lebte in einer Stadt »im Zentrum« und teilte ihr mildherziges Werk zwischen den Schrecken überfüllter Gefängnisse und dem herzbrechenden Jammer beraubter Heimstätten. Sofia Antonowna versicherte mir, daß sie ganz ohne Rücksicht auf sich selbst nur ihrer Arbeit lebe.

»Sie hat eine gläubige Seele, einen unbeugsamen Geist und einen unermüdlichen Körper.« So faßte die Revolutionärin ihr Urteil leicht enthusiastisch zusammen.

Eine so begonnene Unterhaltung konnte begreiflicherweise unmöglich an einem Mangel an Interesse von meiner Seite scheitern. Wir zogen uns in eine Ecke zurück, wo wir ungestört waren. Während unseres Gesprächs über Fräulein Haldin bemerkte Sofia Antonowna plötzlich:

»Ich glaube, Sie werden sich erinnern, mich früher gesehen zu haben? An jenem Abend, als Natalia Haldin zu Peter Iwanowitsch kam, um die Adresse eines gewissen Rasumoff zu erfragen, jenes jungen Mannes, der …«

»Ich erinnere mich genau«, sagte ich. Als Sofia Antonowna erfuhr, daß ich durch Fräulein Haldin in den Besitz des Tagebuches jenes jungen Menschen gekommen sei, zeigte sie das lebhafteste Interesse und verbarg ihre Neugier nicht, das Dokument zu sehen.

Ich erbot mich, es ihr zu zeigen, und sie willigte sofort ein, mich zu diesem Zweck am nächsten Tag zu besuchen. Sie las darin über eine Stunde und gab mir dann das Buch mit einem schwachen Seufzer zurück.

Auf ihren Wanderungen durch Rußland hatte sie auch Rasumoff gesehen. Er lebte nicht »im Zentrum«, sondern »im Süden«. Sie beschrieb mir ein kleines zweizimmeriges Holzhaus an der Grenze einer ganz kleinen Stadt, halbversteckt hinter dem hohen Plankenzaun eines Gartens, in dem Nesseln wucherten. Er war verkrüppelt, krank, wurde täglich schwächer, und Thekla, die Samariterin, pflegte ihn unermüdlich, mit der reinen Freude selbstloser Hingabe. Das war eine Aufgabe, die ihr keine Enttäuschung bereiten konnte.

Ich verbarg Sofia Antonowna meine Überraschung darüber nicht, daß sie Herrn Rasumoff besucht habe. Ich verstand den Beweggrund nicht. Doch sie teilte mir mit, daß sie nicht die einzige sei.

»Einige von uns besuchen ihn immer, wenn sie in der Nähe vorbeikommen. Er ist klug. Er hat Ideen … Er spricht auch gut.«

Damals hörte ich zum erstenmal von Rasumoffs öffentlicher Beichte in Lasparas Haus. Sofia Antonowna gab mir eine genaue Schilderung der Vorfälle, die sich damals zugetragen hatten. Rasumoff selbst hatte ihr alles bis ins kleinste erzählt.

Dann sah sie mich mit ihren glänzend schwarzen Augen scharf an und sagte:

»Es gibt böse Augenblicke in jedem Leben. Eine falsche Vorstellung drängt sich in ein Hirn, und dann entsteht die Furcht, – die Furcht vor sich selbst, die Furcht für sich selbst. Oder auch ein falscher Mut – wer weiß. Gut, nennen Sie es, wie Sie wollen. Aber sagen Sie mir, wie viele würden sich nicht lieber mit offenen Augen ins Verderben stürzen (wie er selbst in jenem Buch sagt), als weiterleben, in ihren eigenen Augen insgeheim erniedrigt? Wie viele? … Und, bitte, beachten Sie eines – er war sicher, als er es tat. Es war gerade im Augenblick, als er sich selbst sicher glauben konnte und mehr – unendlich viel mehr –, als ihm zum erstenmal die Möglichkeit dämmerte, jenes wunderbare Mädchen könnte ihn lieben. Da erkannte er, daß sein grimmigster Spott, die zügelloseste Bosheit, alle Teufeleien seines Hasses und Stolzes niemals die Schande des Lebens tilgen konnten, das vor ihm lag. Es liegt Charakter in einer solchen Erkenntnis.«

Ich nahm ihre Schlußworte schweigend auf. Wem würde es wohl einfallen, die Gründe für Vergebung oder Mitleid erforschen zu wollen? Immerhin stellte es sich später heraus, daß die Barmherzigkeit, die die revolutionäre Partei Rasumoff, dem Verräter, erwies, zum Teil vom bösen Gewissen diktiert war. Sofia Antonowna fuhr verlegen fort:

»Und dann, müssen Sie wissen, war er das Opfer einer Mißhandlung. Es geschah ohne Autorisation. Es war noch nichts darüber beschlossen worden, was mit ihm geschehen sollte. Er hatte freiwillig gestanden, und jener Nikita, der ihm absichtlich die Trommelfelle sprengte, draußen im Vorzimmer, wie von seiner Empörung fortgerissen – nun gut, dieser Nikita hat sich später als ein Schuft der schlimmsten Sorte entpuppt – selbst ein Verräter, ein Spion, ein Spitzel! Rasumoff sagte mir, er habe es ihm in einer Art Erleuchtung angesehen …«

»Ich habe den Kerl nur ganz kurz gesehen«, sagte ich. »Aber wie irgend jemand unter Ihnen sich nur einen halben Tag lang täuschen lassen konnte, ist mir unverständlich.«

Sie unterbrach mich.

»Da! Da! Sprechen Sie nicht davon. Als ich ihn zum erstenmal sah, war auch ich erschreckt. Ich wurde niedergeschrien. Wir wiederholten uns untereinander ständig: ›Oh, Sie dürfen auf sein Aussehen nichts geben‹; und dann war er immer bereit zu töten. Darüber gab es keinen Zweifel. Er tötete – ja, in beiden Lagern. Der Feind …«

Und nachdem Sofia Antonowna das ärgerliche Zittern ihrer Lippen überwunden hatte, erzählte sie mir eine ganz eigenartige Geschichte. Es ergab sich, daß Rat Mikulin (kurz nach Rasumoffs Verschwinden aus Genf) in Deutschland reiste und zufällig mit Peter Iwanowitsch in einem Eisenbahnwagen zusammentraf. Da sie beide in dem Abteil allein waren, sprachen sie die halbe Nacht zusammen, und da war es, daß Mikulin, der Polizeichef, dem revolutionären Führer über den wahren Charakter des berühmten Gendarmentöters einen Wink gab. Es hat den Anschein, als habe sich Mikulin dieses seines merkwürdigen Agenten entledigen wollen. Vielleicht war er seiner müde geworden oder hatte Angst vor ihm bekommen. Es muß auch gesagt werden, daß Mikulin den finsteren Nikita von seinem Amtsvorgänger übernommen hatte.

Und auch diese Geschichte nahm ich ohne Kommentar entgegen, da ich mir wohl bewußt war, lediglich ein stummer Zeuge von russischen Dingen zu sein, die ihre östliche Logik vor mir, unter den Augen des Westens ausbreiteten. Doch ich erlaubte mir eine Frage –

»Sagen Sie mir, bitte, Sofia Antonowna, hat Madame de S. ihr ganzes Vermögen Peter Iwanowitsch vermacht?«

»Keinen Pfennig davon.« Die Revolutionärin zuckte angewidert die Schultern. »Sie starb ohne Testament. Eine Schar Neffen und Nichten kamen von St. Petersburg herunter, wie ein Geierschwarm, und rauften sich untereinander um ihr Geld. Lauter verwünschte Kammerherren und Ehrendamen – ekelhaftes Hofgezücht. Pfui!«

»Man hört jetzt nicht viel von Peter Iwanowitsch«, bemerkte ich nach einer Pause.

»Peter Iwanowitsch«, sagte Sofia Antonowna ernst, »hat sich mit einem Bauernmädchen verbunden.«

Ich war ehrlich erstaunt.

»Was! An der Riviera?«

»Unsinn! Natürlich nicht!«

Sofia Antonownas Ton klang etwas herb.

»Lebt er denn augenblicklich in Rußland? Das ist ein großes Wagnis, nicht?« rief ich aus. »Und alles einem Bauernmädchen zulieb! Glauben Sie nicht, daß das ganz verkehrt von ihm ist?«

Sofia Antonowna bewahrte eine Zeitlang ein geheimnisvolles Schweigen und äußerte dann sachlich: »Er betet sie einfach an.«

»Tut er das? Nun, dann hoffe ich, daß sie nicht zögern wird, ihn zu prügeln.«

Sofia Antonowna stand auf und verabschiedete sich von mir, als hätte sie kein Wort meines ruchlosen Wunsches gehört; als ich sie aber hinausbegleitete, wandte sie sich im Türrahmen um und erklärte mit fester Stimme:

»Peter Iwanowitsch ist ein erleuchteter Mann.«

 

Ende

 


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