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Zunächst möchte ich feststellen, daß ich in keiner Weise die starke Einbildungskraft und Ausdrucksfähigkeit besitze, die es mir ermöglicht hätte, dem Leser die Gestalt des Mannes anschaulich zu machen, der sich, der russischen Sitte gemäß, Kyrill Sohn des Isidor – Kyrill Sidorowitsch – Rasumoff nannte.
Hätte ich diese Gaben überhaupt jemals in irgendeiner Weise besessen, so wären sie doch schon längst in einem Wust von Worten untergegangen. Worte sind ja bekanntlich die geschworenen Feinde der Wirklichkeit. Ich war jahrelang Sprachlehrer. Diese Beschäftigung räumt auf die Dauer mit allem auf, was ein Durchschnittsmensch an Einbildungskraft, Beobachtungsgabe oder Einsicht besitzen könnte. Für einen Sprachlehrer kommt die Zeit, wo ihm die Welt nichts ist als die Heimat vieler Worte und der Mensch lediglich ein sprechendes Tier, nicht viel wunderbarer als ein Papagei.
Unter solchen Umständen wäre es mir unmöglich gewesen, der Geschichte Rasumoffs einen Schein von Lebendigkeit zu geben oder gar sie frei zu gestalten. Selbst die freie Erfindung der nackten Tatsachen seines Lebens hätte meine Kraft weit überstiegen. Doch ich glaube, daß auch ohne diese Erklärung die Leser dieser Geschichte darin die unverkennbaren Zeichen des tatsächlichen Geschehens entdecken werden; und wirklich liegt ihr ein Dokument zugrunde. Mein ganzer Anteil besteht in meinen Kenntnissen der russischen Sprache, die für meinen Zweck genügten. Das Dokument ist natürlich eine Art Tagebuch und doch wieder nicht das, was man gemeinhin darunter versteht. So wurde zum Beispiel der größere Teil der Eintragungen nicht von Tag zu Tag gemacht, wenn sie auch alle datiert sind. Manche dieser Eintragungen umfassen Monate und erstrecken sich über Dutzende von Seiten. Der ganze erste Teil ist ein Rückblick in erzählender Form und bezieht sich auf ein Ereignis, das sich ungefähr ein Jahr vorher zutrug.
Ich muß erwähnen, daß ich lange Zeit in Genf lebte. Ein ganzer Bezirk dieser Stadt wird mit Rücksicht auf die vielen Russen, die darin wohnen, »La Petite Russie« genannt – das kleine Rußland. Zu jener Zeit hatte ich recht ausgedehnte Beziehungen zu diesem »kleinen Rußland«, doch gestehe ich, daß mir das Verständnis für den russischen Charakter fehlt. Die Unlogik ihres Gehabens, die Willkür ihrer Schlüsse, die vielen Ausnahmen sollten für jemand, der viele Grammatiken studiert hat, keine Schwierigkeiten bieten. Es muß aber noch etwas anderes vorliegen, ein besonderer menschlicher Zug, einer jener feinen Unterschiede, die sich dem Auge des bloßen Lehrers entziehen. Was einen Sprachlehrer immer packen muß, das ist die außerordentliche Vorliebe der Russen für Worte; sie häufen sie an, sie pflegen sie, behalten sie aber nicht für sich, sondern sind im Gegenteil Tag und Nacht bereit, sie in reichem Fluß von sich zu geben, und oft mit so treffender Schärfe, daß man sich, wie bei besonders hochstehenden Papageien, manchmal der Vermutung nicht erwehren kann, daß sie wirklich verstehen, was sie sagen. In allen ihren wortreichen Ausführungen liegt ein Feuer, das sie über bloße Geschwätzigkeit weit hinaushebt, und doch sind sie wieder nicht in sich geschlossen genug, um als Beredsamkeit gelten zu können. – Doch muß ich wegen dieser Abschweifungen um Entschuldigung bitten.
Es wäre müßig, nachforschen zu wollen, warum Rasumoff diese Erinnerungen hinterlassen hat. Es scheint schwer glaublich, daß es sein Wunsch gewesen sein könnte, sie möchten irgendeinem Menschen vor Augen kommen. Hier spielt, glaube ich, ein geheimnisvoller Trieb der menschlichen Natur herein. Abgesehen von Samuel Pepys, der sich auf diese Weise das Tor der Unsterblichkeit erschlossen hat, haben ungezählte andere – Verbrecher, Heilige, Philosophen, junge Mädchen, Staatsmänner und glatte Dummköpfe – offenherzige Tagebücher geführt, aus Eitelkeit zweifellos, doch gewiß auch aus anderen Gründen. Es muß eine wunderbar beruhigende Kraft in bloßen Worten liegen, da so viele Leute sie gebrauchen, wenn sie Einkehr in sich selbst halten wollen. Da ich selbst ein ruhiger Mensch bin, so nehme ich an, daß es irgendeine Art von Frieden ist oder vielleicht nur eine Formel dafür, was alle suchen. Jedenfalls ist der Ruf danach heutzutage laut genug. Inwiefern aber Kyrill Sidorowitsch Rasumoff erwarten konnte, in der Aufzeichnung seiner Erinnerungen Frieden zu finden, das übersteigt meine Fassungsgabe.
Jedenfalls bleibt die Tatsache bestehen, daß er sie aufgezeichnet hat.
Rasumoff war ein schlanker, wohlgebauter junger Mann, ganz ungewöhnlich dunkel für einen Russen aus den zentralen Provinzen. Seine Schönheit wäre unbestreitbar gewesen, ohne einen merkwürdigen Mangel von Feinheit in seinen Zügen. Es war, als hätte man ein kräftig in Wachs modelliertes Gesicht (von einer fast ans Klassische grenzenden Ebenmäßigkeit) nahe ans Feuer gehalten, bis mit der Erweichung des Materials alle Schärfe der Linienführung verloren gegangen wäre. Doch auch so sah er gut genug aus. Auch seine Manieren waren gut. In Diskussionen beugte er sich gern vor Argumenten und Autoritäten, jüngeren Landsleuten gegenüber nahm er die Pose des undurchdringlichen Zuhörers an, eines Menschen von der Art, die einen aufmerksam bis zu Ende anhören und dann – einfach das Thema wechseln.
Dieser Kniff, der in geistiger Unzulänglichkeit seine Ursache haben kann oder auch in einem mangelhaften Vertrauen in die eigene Überzeugung, brachte Rasumoff in den Ruf von Gedankentiefe. Unter einer Schar begeisterter Sprecher, deren Gewohnheit es ist, sich täglich in feurigen Diskussionen auszugeben, muß natürlich ein verhältnismäßig schweigsamer Mensch den Anschein von Verschlossenheit erwecken. Seine Kameraden von der St. Petersburger Universität blickten auf Kyrill Sidorowitsch Rasumoff, der im sechsten philosophischen Semester stand, als auf einen starken Charakter, – einen durchaus zuverlässigen Mann. In einem Lande, in dem eine Überzeugung ein Verbrechen sein kann, auf dem Tod steht oder manchmal ein schlimmeres Schicksal als bloßer Tod, hieß das, daß man ihm verbotene Überzeugungen zutrauen und anvertrauen konnte. Er war aber auch beliebt wegen seiner Liebenswürdigkeit und seiner ruhigen Art, jemand gefällig zu sein, selbst auf Kosten seiner persönlichen Bequemlichkeit.
Rasumoff galt als der Sohn eines Erzpriesters, und es hieß, daß er von einem Hocharistokraten – vielleicht aus seiner eigenen entfernten Provinz – protegiert werde. Seine äußere Erscheinung aber stimmte schlecht zu einer so einfachen Herkunft. Diese Abstammung schien nicht glaublich. Tatsächlich ging das Gerücht, daß Rasumoffs Mutter die hübsche Tochter eines Erzpriesters gewesen sei, was natürlich die ganze Frage in anderem Lichte erscheinen ließ. Diese Vermutung machte auch die Protektion des Aristokraten verständlich. Doch hatte man all dem niemals boshaft oder sonstwie nachgeforscht. Niemand wußte es oder kümmerte sich darum, wer der fragliche Aristokrat war. Rasumoff erhielt einen bescheidenen, doch durchaus ausreichenden Monatswechsel von einem ziemlich bekannten Sachwalter ausgezahlt, der in gewisser Beziehung als sein Vormund zu fungieren schien. Dann und wann erschien er bei Privatempfängen irgendeines Professors. Davon abgesehen, wußte niemand andere gesellschaftliche Beziehungen Rasumoffs in der Stadt anzugeben. Er besuchte die vorgeschriebenen Vorlesungen regelmäßig und galt an der Universität als vielversprechender Student. Er arbeitete zu Hause nach Art eines Menschen, der es vorwärtsbringen will, schloß sich deswegen aber nicht asketisch ab. Er war immer zugänglich, und sein Leben erschien weder geheimnisvoll noch zurückgezogen.
Der Anfang von Rasumoffs Erinnerungen ist mit einem Ereignis verknüpft, wie es für das moderne Rußland charakteristisch ist: mit der Ermordung eines hervorragenden Staatsmannes, – und noch charakteristischer für die moralische Korruption einer unterdrückten Gesellschaft, in der die edelsten Triebe des Menschen, der Freiheitsdrang, glühende Vaterlands- und Gerechtigkeitsliebe, das Mitleid und sogar die feste Treue schlichter Gemüter der Willkür von Haß und Furcht preisgegeben sind, den unzertrennlichen Begleitern eines nicht hinreichend gefestigten Despotismus.
Das erwähnte Ereignis ist das gelungene Attentat auf Herrn von P., den Präsidenten der berüchtigten Unterdrückungskommission, die vor einigen Jahren vom Staatsminister eingesetzt und mit außerordentlicher Macht bekleidet worden war. Die Zeitungen schrieben mehr als genug über jene fanatische schmalbrüstige Erscheinung in goldverschnürter Uniform, mit einem Gesicht wie altes Pergament, ausdruckslosen, bebrillten Augen und dem Großkreuz des Prokopius-Ordens um den faltigen Hals. Eine Zeitlang verging, wie man sich erinnern wird, kein Monat, ohne daß sein Bild in irgendeiner der illustrierten Zeitschriften Europas erschienen wäre. Er diente der Monarchie, indem er Männer und Frauen, junge und alte, ins Gefängnis, in die Verbannung oder zum Galgen schickte, mit ewig gleichem, unerschütterlichem Eifer. In seiner mystischen Verehrung des autokratischen Prinzips hatte er es sich zum Ziel gesetzt, im Lande jedwede Spur davon auszutilgen, was an Freiheit im öffentlichen Leben erinnern konnte, und bei seiner rücksichtslosen Verfolgung der neuen Generation schien er es darauf abgesehen zu haben, sogar die Hoffnung auf Freiheit zu vernichten.
Man erzählt sich, daß dieser vielfach verwünschte Mann nicht Einbildungskraft genug hatte, sich über den Haß klar zu werden, den er erweckte. Es klingt kaum glaublich; und doch ist es eine Tatsache, daß er recht wenig Maßnahmen für seine persönliche Sicherheit traf. In dem Leitartikel einer gewissen bekannten Staatszeitung hat er einmal erklärt, daß »der Freiheitsgedanke in dem Werk des Schöpfers niemals existiert habe. Aus einer Vielheit menschlicher Entschlüsse könne immer nur Auflehnung und Unordnung sich ergeben, und diese seien Sünde in einer Welt, die für Gehorsam und Ordnung geschaffen sei. Nicht Vernunft, sondern Autorität sei der Ausdruck der göttlichen Absicht. Gott sei der Selbstherrscher des Weltalls …« Es mag sein, daß der Mann, der diese Erklärung abgab, glaubte, der Himmel selbst müßte ihn in seinem rücksichtslosen Kampf für die Autokratie auf dieser Welt beschützen.
Zweifellos rettete ihn die Wachsamkeit der Polizei zu verschiedenen Malen. Fest steht aber auch, daß die zuständigen Behörden ihm keine Warnung hatten geben können, als das ihm zugedachte Geschick sich erfüllte. Sie hatten keine Kenntnis von irgendeiner Verschwörung gegen des Ministers Leben; durch ihre üblichen Kanäle war keine Kunde davon gesickert, man hatte keine Anzeichen bemerkt, keine verdächtigen Regungen oder gefährlichen Personen.
Herr von P. fuhr in einem offenen, zweispännigen Schlitten nach der Bahnstation, mit Lakai und Kutscher auf dem Bock. Es hatte die ganze Nacht geschneit, und die Straße war zu dieser frühen Stunde noch nicht frei gemacht, so daß die Pferde schwer vorwärts kamen. Der Schnee fiel immer noch in dichten Flocken. Doch der Schlitten mußte genau beobachtet worden sein. Als das Gefährt nach links ausbog, um eine Ecke zu nehmen, bemerkte der Lakai einen Bauern, der langsam auf dem Bürgersteig hinschritt, die Hände in den Taschen seines Pelzrockes und die Schultern im Schneegestöber hochgezogen. Als der Schlitten ihn überholte, fuhr der Bauer plötzlich herum und erhob den Arm. Im Augenblick erfolgte ein furchtbarer Schlag, eine Detonation, die durch das Schneetreiben gedämpft wurde. Beide Pferde lagen tot und verstümmelt auf dem Boden, und der Kutscher war mit einem schrillen Aufschrei tödlich verwundet vom Bock gefallen. Der Lakai, der unverletzt blieb, hatte keine Zeit, sich das Gesicht des Mannes in dem Schafpelz einzuprägen. Dieser entfernte sich, nachdem er die Bombe geschleudert hatte, doch vermutet man, daß er es für klüger gehalten habe, zu dem Ort der Explosion zurückzukehren, da er von allen Seiten eine Menge von Leuten durch das Schneetreiben heraneilen sah.
In unglaublich kurzer Zeit hatte sich eine aufgeregte Masse rings um den Schlitten versammelt. Der Ministerpräsident, ebenfalls unverletzt, war in den tiefen Schnee hinausgetreten, stand neben dem sterbenden Kutscher und sprach zu wiederholten Malen den Leuten mit seiner schwachen, farblosen Stimme zu: »Ich bitte euch, bleibt weg. Um der Liebe Gottes willen, bitte ich euch, gute Leute, wegzubleiben.«
In diesem Augenblick trat ein schlanker junger Mensch, der bisher regungslos in einem Torweg zwei Häuser weiter gestanden hatte, in die Straße hinaus, ging rasch ein paar Schritte und schleuderte über die Köpfe der Menge weg eine zweite Bombe. Diese traf den Ministerpräsidenten gerade an der Schulter, während er sich über seinen sterbenden Diener beugte, fiel dann zu seinen Füßen nieder, explodierte mit grauenhafter Gewalt und streckte ihn selbst tot zu Boden, gab dem Verwundeten den Rest und vernichtete den leeren Schlitten in einem Umsehen. Mit einem Schrei des Entsetzens stob die Menge nach allen Richtungen auseinander, mit Ausnahme jener, die tot oder sterbend nächst dem Ministerpräsidenten liegen blieben, und einem oder zwei anderen, die erst niederstürzten, nachdem sie eine kurze Strecke gerannt waren. Die erste Explosion hatte wie durch Hexerei eine Menschenmenge zur Stelle gebracht, die zweite ebenso rasch eine völlige Leere in der Straße geschaffen, für Hunderte von Metern nach jeder Seite hin. Durch den fallenden Schnee blickten Leute von ferne auf den kleinen Haufen von Leichen, die übereinander lagen, neben den beiden Pferdekadavern. Niemand wagte sich in die Nähe, bis ein paar Kosaken von einer Straßenpatrouille angaloppierten, absaßen und die Toten umzuwenden begannen. Unter den unschuldigen Opfern der zweiten Explosion, die man auf den Bürgersteig gebettet hatte, war auch ein Mann in einem bäuerlichen Schafpelz, doch das Gesicht war unkenntlich, in den Taschen seiner ärmlichen Kleidung wurde absolut nichts gefunden, und er war der einzige, dessen Identität niemals festgestellt wurde.
An jenem Tage stand Rasumoff zur gewöhnlichen Stunde auf und verbrachte den Vormittag in der Universität, indem er Vorlesungen hörte und eine Zeitlang in der Bibliothek arbeitete. Bei Tisch in der Mensa academica, wo er sein Mittagsmahl zu nehmen pflegte, hatte er die ersten leisen Andeutungen über irgend etwas wie ein Bombenattentat gehört. Doch diese Andeutungen wurden nur geflüstert, und man war in Rußland, wo es nicht immer rätlich war, besonders für einen Studenten, an gewissen Arten von Geflüster zu viel Anteil zu nehmen. Rasumoff war einer jener Leute, die in einer Periode geistiger und politischer Unruhen leben und dabei instinktiv im normalen, praktischen, alltäglichen Leben Halt suchen. Er war sich der hochgradigen Spannung seiner Zeit bewußt. Er reagierte sogar darauf in unbestimmter Weise; sein Hauptaugenmerk aber war auf seine Arbeit, seine Studien und seine eigene Zukunft gerichtet.
Da er offiziell und tatsächlich keine Familie besaß (denn die Tochter des Erzpriesters war längst tot), so hätten keine äußerlichen Einflüsse auf seine Überzeugungen oder Gefühle einwirken können. Er stand in der Welt so allein wie ein Mann, der auf hoher See schwimmt. Das Wort Rasumoff war nichts als die Spitzmarke für eine einsame Persönlichkeit. Nirgendwo gab es Rasumoffs, die zu ihm gehörten. Seine nächsten verwandtschaftlichen Beziehungen waren mit der Feststellung gegeben, daß er ein Russe war, und diese Beziehung allein konnte ihm alles Gute, was er vom Leben erhoffte, geben oder versagen. Diese ungeheure Verwandtschaft litt unter inneren Zerwürfnissen. Doch er schreckte instinktiv vor dem Getriebe zurück, so wie ein gutmütiger Mensch davor zurückschrecken mag, in einem heftigen Familienzwist Partei zu nehmen.
Auf dem Heimweg überlegte Rasumoff, daß er nun seine ganze Zeit der Preisarbeit widmen könne, da er mit den Vorarbeiten für die nächste Prüfung fertig sei. Er strebte nach der Silbernen Medaille. Das Unterrichtsministerium hatte einen Preis ausgesetzt, die Namen der Bewerber sollten dem Minister selbst vorgelegt werden. Die bloße Beteiligung mußte höheren Ortes als verdienstvoll angesehen werden, und der Erringer des Preises sollte nach Erlangung des Doktorgrades Anspruch auf eine bessere Anstellung bei der Regierung haben. In einer Anwandlung von Stolz vergaß der Student Rasumoff die Gefahren, die den Bestand der Einrichtungen bedrohten, die Belohnungen und Anstellungen zu vergeben hatten; dachte er aber an den Preisträger des Vorjahres, dann fühlte Rasumoff, der junge Mann ohne irgendwelche Verwandte, sich ernüchtert. Er und einige andere waren zufällig im Zimmer ihres Kameraden anwesend, als diesem gerade die offizielle Verständigung von seinem Erfolg zugestellt wurde. Er war ein ruhiger, anspruchsloser junger Mensch. »Verzeiht«, hatte er gesagt, während er mit einem schwachen Lächeln der Entschuldigung nach seiner Pelzmütze griff, »ich gehe fort und lasse Wein heraufschicken. Zuerst aber muß ich meinen Leuten nach Hause telegraphieren. Ich bin sicher, daß die beiden Alten ein Fest deswegen feiern und die Leute zwanzig Meilen in der Runde zu Gaste laden werden.«
Rasumoff dachte, daß es für ihn nichts dergleichen in der Welt gäbe. Über seinen Erfolg würde sich niemand freuen. Dennoch fühlte er keine Bitterkeit gegen seinen hochadeligen Protektor, der übrigens kein Provinzmagnat war, wie man allgemein annahm. Tatsächlich war es niemand Geringeres als Fürst K., der einst eine große und glänzende Rolle in der Welt gespielt hatte und nun, da seine Zeit um war, als Senator und gichtischer Invalide zwar immer noch glänzend, doch mehr in seine Häuslichkeit zurückgezogen lebte. Er hatte ein paar junge Kinder und eine Frau, die ebenso adelsstolz war wie er selbst.
In seinem ganzen Leben war es Rasumoff nur einmal vergönnt gewesen, mit dem Fürsten in persönliche Berührung zu kommen.
Dies eine Mal trug den Anschein eines zufälligen Zusammentreffens in dem Büro des kleinen Sachwalters. Als Rasumoff sich eines Tages auf eine Einladung dort einfand, sah er einen Fremden vor sich stehen, einen schlanken Mann von aristokratischem Äußeren, mit seidigem, grauem Backenbart. Der kahlköpfige, listige kleine Advokat rief mit leicht ironischer Herzlichkeit: »Treten Sie ein, treten Sie ein, Herr Rasumoff!« Dann wandte er sich ehrfurchtsvoll an den großartigen Fremden mit den Worten: »Mein Mündel, Ew. Exzellenz, einer der meistversprechenden Studenten seiner Fakultät an der St. Petersburger Universität.« Zu seiner maßlosen Überraschung sah Rasumoff, wie sich ihm eine weiße, wohlgeformte Hand entgegenstreckte. Er nahm sie in großer Verwirrung (sie war weich und schlaff) und hörte zur gleichen Zeit ein herablassendes Murmeln, von dem er nur die Worte erfaßte: »erfreulich« und »so fortmachen«. Das Erstaunlichste dabei aber war, daß er plötzlich einen deutlichen Druck der weißen wohlgeformten Hand fühlte, knapp bevor sie zurückgezogen wurde, einen leichten Druck wie ein geheimes Zeichen. Rasumoff wurde dadurch unglaublich erregt. Das Herz schien ihm in die Kehle zu springen. Als er die Augen wieder erhob, hatte die aristokratische Persönlichkeit eben den kleinen Sachwalter zur Seite gewinkt, die Türe geöffnet und war im Hinausgehen.
Der Advokat wühlte eine Zeitlang unter den Papieren auf seinem Tisch. »Wissen Sie, wer das war?« fragte er plötzlich.
Rasumoff, dessen Herz noch immer hart pochte, schüttelte schweigend den Kopf.
»Das war Fürst K. Sie wundern sich, was er in der Bude eines armen Aktenschnüfflers, wie ich es bin, zu tun haben könnte, he? Diese grausam hohen Herrschaften kennen die sentimentale Neugier so gut wie gewöhnliche Sünder. Wenn ich aber Sie wäre, Kyrill Sidorowitsch«, fuhr er fort – mit einem scharfen Seitenblick und eigentümlicher Betonung des ersten Vornamens, »dann würde ich mich dieser Vorstellung nicht weiter rühmen. Das wäre nicht schlau, Kyrill Sidorowitsch, bei Gott nicht! Im Gegenteil, es wäre gefährlich für Ihre Zukunft.«
Dem jungen Menschen brannten die Ohren wie Feuer. Sein Blick war umnebelt. »Dieser Mann«, sagte sich Rasumoff, »Er!« Von da ab wurde es Rasumoff zur Gewohnheit, dieses »Er« zu gebrauchen, wenn er an den Fremden mit dem grauen seidigen Backenbart dachte. Von dieser Zeit an achtete er auch mit besonderer Aufmerksamkeit auf die prachtvollen Pferde und Wagen mit den Lakaien des Fürsten K. auf dem Bock, so oft er sie in den Straßen traf. Einmal sah er die Fürstin aussteigen – sie machte Einkäufe –, von zwei Mädchen gefolgt, von denen das eine fast um einen Kopf größer war als das andere. Ihr blondes Haar hing ihnen offen über den Rücken, nach englischer Art; sie hatten frohe Augen, ihre Pelzjacken, Muffe und kleinen Pelzkappen waren vollkommen gleich, und ihre Wangen und Nasenspitzen hatte die Kälte lustig gerötet. Sie kreuzten gerade vor ihm die Straße, und Rasumoff ging seines Weges weiter und lächelte verstohlen vor sich hin. »Seine« Töchter. Sie waren »Ihm« ähnlich. Der junge Mann fühlte eine warme Sympathie für diese Mädchen, die nie von seiner Existenz erfahren sollten. Heute oder morgen würden sie Generale oder Kammerherren heiraten und wieder Mädel und Buben haben, die vielleicht einmal von ihm hören würden, wenn er ein berühmter alter Professor sein würde, mit vielen Orden, vielleicht ein Geheimrat, eine von den Größen Rußlands und nichts mehr.
Doch ein berühmter Professor war immerhin auch etwas. Die Berühmtheit würde die Spitzmarke Rasumoff zu einem geehrten Namen machen. In der Sehnsucht des Studenten Rasumoff nach Berühmtheit lag nichts Außergewöhnliches. Das wahre Leben eines Mannes beginnt ja erst, wenn er in der Begriffssphäre anderer Menschen in Ehrfurcht oder natürlicher Liebe festen Fuß gefaßt hat. Als er am Tage des Attentats an Herrn von P. nach Hause kam, faßte er den Entschluß, seine volle Kraft für die Silberne Medaille einzusetzen. – Während er langsam in dem dunkeln, schmutzigen Stiegenhaus die vier Stockwerke bis zu seiner Wohnung emporklomm, fühlte er eine feste Siegeszuversicht. Der Name des Gewinners sollte am Neujahrstage in den Zeitungen veröffentlicht werden, und bei dem Gedanken, daß »Er« ihn da höchstwahrscheinlich lesen würde, machte Rasumoff auf der Treppe kurz halt und stieg dann mit einem leisen Lächeln über seine eigene Erregung weiter. »Das sind ja nur Träume«, sagte er sich, »die Medaille ist aber doch ein fester Anfang.«
Mit diesen verheißenden Plänen im Kopfe empfand er die Wärme seines Zimmers doppelt angenehm und ermutigend. »Ich will vier Stunden lang fest arbeiten«, sagte er. Kaum aber hatte er die Tür hinter sich geschlossen, da erschrak er furchtbar. Gegen den landesüblichen, hohen weißen Kachelofen, der durch das Dämmer schimmerte, hob sich ganz schwarz eine merkwürdige Gestalt ab, in einem langen, eng anliegenden, braunen Tuchrock mit einem Gürtel um die Taille, in hohen Stiefeln und mit einer kleinen Astrachanmütze auf dem Kopf. Ein leichtes Grauen schien von dem Fremden auszugehen.
Rasumoff war aufs tiefste bestürzt. Erst als die Gestalt zwei Schritte vortrat und ihn mit ruhiger, ernster Stimme fragte, ob die äußere Tür geschlossen sei, gewann er die Sprache zurück.
»Haldin … Viktor Viktorowitsch, sind Sie es …? Ja, die Außentür ist gut zu. – Doch das hatte ich wirklich nicht erwartet.«
Viktor Haldin, ein Student, der älter war als die meisten seines Jahrganges an der Universität, war keiner von den Fleißigen. Fast nie sah man ihn in den Vorlesungen. Im Rektorat wurde er als »unruhig« und »ungläubig« geführt – eine sehr üble Klassifikation. Unter seinen Kameraden aber erfreute er sich hohen Ansehens und beeinflußte ihre Gedanken stark. Rasumoff war mit ihm nie vertraut gewesen. Von Zeit zu Zeit waren sie in Versammlungen bei anderen Studenten zusammengetroffen. Einmal hatten sie sogar eine Diskussion miteinander geführt, eine jener Diskussionen über grundlegende Prinzipien, wie die heißköpfige Jugend sie liebt.
Rasumoff wünschte, daß der Mann eine andere Zeit für eine Plauderstunde gewählt hätte. Er fühlte sich in der richtigen Verfassung, die Preisarbeit anzugehen. Da er nun aber Haldin nicht kurzweg hinausweisen konnte, so bequemte er sich zu einem gastfreundlichen Ton und forderte ihn auf, Platz zu nehmen und zu rauchen.
»Kyrill Sidorowitsch«, sagte der andere und warf seine Kappe weg, »wir stehen vielleicht nicht ganz im selben Lager, Ihr Urteil ist mehr philosophisch gefärbt, Sie sind ein Mensch von wenig Worten; ich habe aber niemand getroffen, der die Großmut Ihrer Gefühle anzuzweifeln gewagt hätte. In Ihrem Charakter liegt eine Festigkeit, die ohne Mut nicht denkbar ist.«
Rasumoff fühlte sich geschmeichelt und murmelte verlegen etwas von »sehr erfreut über die gute Meinung«. Da hob Haldin die Hand.
»Das sagte ich zu mir selbst«, fuhr er fort, »während ich mich in dem Holzlager am Fluß unten versteckt hielt; ›er ist ein fester Charakter, dieser junge Mensch‹ sagte ich mir, ›er trägt nicht das Herz auf der Zunge‹. Ihre Zurückhaltung hat mir immer ausgezeichnet gefallen, Kyrill Sidorowitsch. Also versuchte ich, mich Ihrer Adresse zu erinnern, und sehen sie an, ich hatte Glück – Ihr Dwornik war eben von der Tür fort und sprach mit einem Schlittenkutscher auf der anderen Straßenseite. Ich traf niemand auf den Stiegen, keine Seele. Als ich hier oben ankam, erblickte ich Ihre Wirtin, die aus Ihrem Zimmer kam, doch sie sah mich nicht. Sie ging über den Flur in ihre eigenen Zimmer, und dann schlüpfte ich herein. Ich bin nun seit zwei Stunden hier und erwartete, Sie jeden Augenblick kommen zu hören.«
Rasumoff hatte verwundert zugehört. Bevor er aber den Mund öffnen konnte, fügte Haldin mit langsamer Betonung hinzu: »Ich war es, der heute früh P. beiseite geschafft hat.«
Rasumoff unterdrückte einen Schrei des Entsetzens. Das Gefühl, daß sein Leben zerstört sei durch die Berührung mit einem derartigen Verbrechen, fand seinen gedrängten Ausdruck in dem halb spöttischen Gedanken: »Jetzt ist die silberne Medaille futsch.«
Haldin fuhr nach einer kurzen Pause fort:
»Sie sagen nichts, Kyrill Sidorowitsch! Ich verstehe Ihr Schweigen. Von Ihrer kalten englischen Art war es ja auch sicherlich nicht zu erwarten, daß Sie mich umarmen würden. Doch lassen wir Ihre Art! Sie haben Herz genug, das Weinen und Zähneknirschen gehört zu haben, das dieser Mann im Lande weckte. Das allein müßte genügen, alle philosophischen Hemmungen zu überwinden. Er wollte die zarte Pflanze entwurzeln. Man mußte ihm Halt gebieten. Er war ein gefährlicher Mann – ein Mann von Überzeugung. Wäre er noch drei Jahre am Werk geblieben, so hätte er uns um fünfzig Jahre in die Knechtschaft zurückgeworfen, und bedenken Sie, wie viele Leben, wie viele Seelen in dieser Zeit zerstört und verlorengegangen wären.«
Seine harte, selbstbewußte Stimme verlor plötzlich allen Klang, und er fügte dumpf hinzu: »Ja, Bruder, ich habe ihn getötet. Harte Arbeit!«
Rasumoff war in einen Stuhl gesunken. Er erwartete jeden Augenblick, einen Haufen Polizisten hereinstürzen zu sehen. Tausende von ihnen mußten jetzt nach dem Mann Umschau halten, der da in seinem Zimmer auf und ab schritt. Haldin sprach wieder, mit beherrschter, fester Stimme; dann und wann schwenkte er einen Arm, langsam und ohne Erregung.
Er erzählte Rasumoff, daß er sich ein Jahr lang mit dem Entschluß getragen, daß er buchstäblich seit Wochen nicht mehr geschlafen habe. Er und »ein anderer« waren von der Ausfahrt des Ministers spät am Vorabend »durch eine gewisse Person« unterrichtet worden. Er und dieser »andere« setzten ihre »Maschinen« instand und beschlossen, nicht zu schlafen, bevor »die Tat« getan wäre. Sie schritten im Schneetreiben durch die Straßen mit ihren »Maschinen« und wechselten kein Wort während der ganzen Nacht, die lang war wie ein Leben. Wenn ihnen eine Polizeipatrouille begegnete, faßten sie sich unter und mimten feuchtfröhliche Bauern. Sie grölten und redeten mit schnapsrauhen Stimmen. Von diesen erzwungenen Ausbrüchen abgesehen, schwiegen sie still und gingen unaufhörlich fort. Ihr Plan war vorher fest besprochen worden. Bei Tagesanbruch begaben sie sich an den Punkt, den der Schlitten, wie sie wußten, passieren mußte. Als der Schlitten in Sicht kam, tauschten sie ein gemurmeltes »Lebe wohl!« und trennten sich. Der »andere« blieb an der Ecke, Haldin faßte ein wenig weiter oben in der Straße Posten …
Nachdem er seine »Maschine« geworfen hatte, rannte er fort und wurde im Augenblick von der Menschenmenge überholt, die in panischem Schrecken nach der zweiten Explosion den Ort floh. Die Leute waren außer sich vor Entsetzen. Ein oder zweimal wurde er niedergerannt. Er duckte sich, so gut es ging, um die Menschenflut vorüberzulassen, und wandte sich dann nach links in ein enges Gäßchen. Dort war er allein.
Er wunderte sich über dieses unmittelbare Entrinnen. Die Arbeit war getan. Er konnte es kaum glauben. Er kämpfte mit dem fast unüberwindlichen Drang, sich auf das Pflaster niederzuwerfen und zu schlafen. Doch diese Schwäche – eine schläfrige Schwäche – ging rasch vorüber. Er schritt schneller aus, einem der ärmeren Stadtteile zu, um nach Siemianitsch zu sehen.
Dieser Siemianitsch war, soviel Rasumoff verstehen konnte, eine Art Stadt-Bauer, der es zu etwas gebracht hatte; Besitzer von ein paar Schlitten und Pferden, die er vermietete. Haldin unterbrach sich in seiner Erzählung mit dem Ausruf:
»Ein klarer Geist! Eine starke Seele! Der beste Fahrer in St. Petersburg. Er hat da ein Gespann von drei Pferden … oh! er ist ein ganzer Kerl!«
Dieser Mann hatte sich bereit erklärt, zu jeder Zeit eine oder zwei Personen sicher nach der zweiten oder dritten Station an einer der südlichen Bahnlinien zu bringen. Es war aber keine Zeit geblieben, ihn am Abend vorher zu verständigen. Sein gewöhnlicher Unterschlupf schien ein Kosthaus letzter Klasse an der Stadtgrenze zu sein. Als Haldin dorthin kam, war der Mann nicht zu finden. Man glaubte nicht, daß er vor Abend wiederkehren würde. Haldin wanderte ruhelos weiter.
Er fand das Tor eines Holzhofes offen und schritt hinein, um dem Wind zu entgehen, der auf dem offenen Platz schneidend pfiff. Die hohen rechtwinkligen Stöße von geschnittenem Holz, mit Schnee bedeckt, glichen den Hütten eines Dorfes. Während er sich dahinter duckte, fand ihn der Wächter und sprach ihn zunächst freundlich an. Es war ein vertrockneter alter Mann, der zwei verwitterte Soldatenmäntel übereinander trug. Sein runzeliges, kleines Gesicht, in ein schmutziges rotes Taschentuch eingebunden, das Ohren und Wangen bedeckte, sah komisch aus. Bald wurde er aber unwillig und begann schließlich ohne jeden ersichtlichen Grund wütend zu brüllen:
»Willst du dich wohl bald hier hinauspacken, du Lump! Die Arbeiter von deinem Schlage kennt man schon. Ein großer starker Kerl, nicht einmal besoffen ist er. Was willst du hier? Uns machst du keine Angst. Scher dich fort mit deinen verfluchten Augen.«
Haldin blieb vor dem sitzenden Rasumoff stehen. Seine schlanke Gestalt und die weiße Stirn, über der das blonde Haar wie eine Bürste stand, erweckten den Eindruck von Stolz und Kühnheit.
»Meine Augen gefielen ihm nicht«, sagte er, »und also … hier bin ich.«
Rasumoff bemühte sich, ruhig zu sprechen.
»Aber verzeihen Sie, Viktor Viktorowitsch, wir kennen einander so wenig …, ich sehe nicht ein, warum Sie …«
»Vertrauen«, sagte Haldin.
Dieses Wort schloß Rasumoff die Lippen, als hätte ihm eine Hand auf den Mund geschlagen. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken.
»Und also – hier sind Sie«, murmelte er durch die Zähne. Der andere merkte nicht den Ärger in diesen Worten, vermutete ihn nicht einmal.
»Jawohl, und niemand weiß, daß ich hier bin. Sie sind der letzte, der in Verdacht kommen könnte – wenn man mich fangen sollte. Das ist ein Vorteil, sehen Sie, und dann – einem Mann von überlegenem Geiste, wie Ihnen, kann ich wohl die volle Wahrheit sagen. Es fiel mir ein, daß Sie – daß Sie niemand haben, der zu Ihnen gehört, kein Band irgendwelcher Art, keinen, der leiden würde, wenn dies alles irgendwie herauskäme. Es sind schon genug russische Familien ins Unglück gestürzt worden. Doch ich sehe nicht ein, wie mein Aufenthalt in Ihrer Wohnung je entdeckt werden sollte. Wenn man mich festnimmt, dann werde ich zu schweigen wissen – einerlei, was sie mit mir auch anfangen mögen«, fügte er grimmig hinzu.
Er begann wieder auf und ab zu gehen, während Rasumoff in stummem Entsetzen dasaß.
»Sie dachten, daß –«, stotterte er endlich heraus, halbtot vor Wut.
»Ja, Rasumoff, ja, Bruder! Eines Tages werden auch Sie am Bau mithelfen. Sie halten mich nun für einen Terroristen, – einen, der das Bestehende zerstören will. Doch bedenken Sie, daß die wahren Zerstörer die sind, welche den Geist des Fortschrittes und der Wahrheit zerstören wollen, nicht die Rächer, welche nichts tun, als die Leiber derer töten, die die menschliche Würde verfolgen. Leute wie ich sind notwendig, um Platz zu schaffen für selbstbeherrschte, denkende Leute wie Sie. Gut, wir haben unser Leben geopfert; und dennoch möchte ich entfliehen, wenn es möglich ist. Es ist nicht mein Leben, was ich retten möchte, sondern meine Tatkraft. Ich will nicht müßig leben, o nein, täuschen Sie sich nicht darüber, Rasumoff. Leute wie ich sind selten, und außerdem ist ein Exempel wie dieses für die Bedrücker viel abschreckender, wenn der Täter spurlos verschwindet. Sie sitzen in ihren Büros und Palästen und zittern. Ich verlange nicht mehr von Ihnen, als daß Sie mir verschwinden helfen. Keine große Sache das. Sie brauchen nur hinzugehen und Siemianitsch für mich aufzusuchen, an dem Ort, wohin ich heute morgen ging. Sagen Sie nur, er, den er kennt, wünscht, daß ein gut bespannter Schlitten eine halbe Stunde nach Mitternacht bei dem siebenten Laternenpfahl der Karabelnaya – links vom oberen Ende gezählt – vorfährt. Wenn niemand einsteigt, soll der Schlitten um einen oder zwei Häuserblöcke herumfahren und so zehn Minuten später an derselben Stelle vorüberkommen.«
Rasumoff wunderte sich, warum er das Gespräch nicht längst schon kurz abgeschnitten und diesen Mann hinausgewiesen hatte. War das Schwäche oder was sonst?
Er schloß, daß es ein gesunder Instinkt sei. Haldin mußte gesehen worden sein. Es war undenkbar, daß sich nicht einige Leute das Gesicht und das Äußere des Mannes gemerkt haben sollten, der die zweite Bombe warf. Haldin war eine auffallende Erscheinung. Die Tausenden von Polizisten mußten innerhalb einer Stunde seine Beschreibung gehabt haben. Mit jedem Augenblick wurde die Gefahr größer. Schickte man ihn auf die Straße hinaus, so mußte er notwendig schließlich festgenommen werden.
Die Polizei würde sehr schnell alles über ihn in Erfahrung bringen. Sie würden sich dahinter setzen, eine Verschwörung zu entdecken. Alle, die Haldin je gekannt hätte, würden in die größte Gefahr geraten. Unbedachte Äußerungen, kleine, an sich geringfügige Tatsachen würden als Verbrechen angerechnet werden. Rasumoff erinnerte sich an gewisse Worte, die er gesagt hatte, an die Reden, die er angehört, an die harmlosen Zusammenkünfte, denen er beigewohnt hatte, – es war fast unmöglich für einen Studenten, sich von allem auszuschließen, ohne von seinen Kameraden verdächtigt zu werden.
Rasumoff sah sich schon in einer Festung eingekerkert, gequält, geplagt, mißhandelt vielleicht. Er sah sich auf Regierungsbefehl deportiert, sein Leben zerbrochen, vernichtet und jeder Hoffnung beraubt. Er sah sich – bestenfalls – ein elendes Leben führen, unter Polizeiaufsicht, in irgendeiner kleinen, weit abgelegenen Provinzstadt, ohne Freunde, wie andere sie hatten, die ihm beistehen oder Schritte tun konnten, um sein Los zu verbessern. Andere hatten Väter, Mütter, Brüder, Verwandte, Verbindungen, die Himmel und Erde ihretwegen in Bewegung setzen würden, – er hatte niemand. Die Beamten selbst, die ihn eines Morgens verurteilten, würden seine Existenz vor Sonnenuntergang vergessen haben.
Er sah seine Jugend in Elend und bitterster Not verstreichen, seine Kräfte nachlassen, seinen Geist verflachen. Er sah sich selbst schmierig und heruntergekommen durch die Straßen kriechen und vielleicht plötzlich einmal in einem schmutzigen Loch von Zimmer – oder in dem schmierigen Bett eines Kreisspitales sterben.
Er schauderte. Dann überkam ihn eine verbitterte Ruhe. Es war das beste, diesen Mann von der Straße wegzuhalten, bis man sich seiner mit einiger Aussicht auf Rettung entledigen konnte. Das war das beste, was sich tun ließ. Natürlich fühlte Rasumoff, daß die Sicherheit seines einsamen Lebens ständig gefährdet blieb. Die Ereignisse dieses Abends konnten zu jeder Zeit gegen ihn aufstehen, so lange dieser Mann lebte und die gegenwärtigen Einrichtungen zu Recht bestanden. Die letzteren erschienen ihm in diesem Augenblicke vernünftig und unzerstörbar. Sie hatten die ganze Gewalt eines harmonischen Gefüges für sich – im Gegensatz zu dem grellen Mißton, den die Gegenwart dieses Mannes bedeutete. Er haßte den Menschen – und sagte ruhig:
»Ja natürlich, ich will gehen. Sie müssen mir genaue Weisungen geben, und im übrigen – verlassen Sie sich auf mich.«
»Oh, Sie sind ein Kerl! Kopf hoch – und kalt wie eine Gurke. Ein richtiger Engländer. Wo haben Sie Ihre Seele her? Es gibt nicht viele wie Sie. Sehen Sie mich an, Bruder! Männer wie ich hinterlassen keine Nachkommen, doch ihre Seelen sind nicht verloren. Keines Mannes Seele ist je verloren. Sie arbeitet für sich weiter – denn wo bliebe sonst der Trieb zur Selbstaufopferung, zum Märtyrertum, zur Überzeugungstreue – diesen edelsten Blüten der Seele? Was soll aus meiner Seele werden, wenn ich den Tod sterbe, der mir bestimmt ist, – bald – sehr bald vielleicht? Sie soll nicht zugrunde gehen! Und mißverstehen wir uns nicht, Rasumoff. Dies ist nicht Mord – es ist Krieg, Krieg. Mein Geist soll in dem Körper irgendeines Russen weiterkämpfen, bis alle Falschheit aus der Welt gewichen ist. Die moderne Zivilisation ist falsch, doch aus Rußland soll eine neue Erkenntnis hervorgehen. Ha, Sie sagen nichts. Sie sind ein Skeptiker. Ich achte Ihre philosophische Skepsis, Rasumoff, – doch lassen Sie die Seele aus dem Spiel. Die russische Seele, die in uns allen lebt, die hat eine Zukunft. Sie hat eine Mission, sage ich Ihnen! Oder wodurch sonst hätte ich bestimmt werden können, all dies zu tun – rücksichtslos – wie ein Schlächter –, mitten unter alle diese Unschuldigen – den Tod zu schleudern – ich! ich! … ich könnte keiner Fliege was zuleide tun!«
»Nicht so laut«, warnte Rasumoff mit heiserer Stimme.
Haldin setzte sich plötzlich hin, legte den Kopf über die gefalteten Arme und brach in Tränen aus. Er weinte lange. Die Dämmerung in dem Raume hatte sich vertieft. Rasumoff lauschte reglos, in düsterem Staunen, dem Schluchzen des anderen.
Da hob der den Kopf, stand auf und zwang seine Stimme mit Gewalt zur Festigkeit.
»Jawohl, Männer wie ich hinterlassen keine Nachkommen«, wiederholte er in resigniertem Ton. »Zwar habe ich eine Schwester. Sie ist bei meiner alten Mutter. Ich überredete sie, für dieses Jahr zu verreisen – Gott sei Dank. Ein tüchtiges Mädchen soweit, meine Schwester, sie hat treuere Augen als irgendein menschliches Wesen, das je diese Welt betrat. Sie wird gut heiraten, hoffe ich. Sie mag Kinder haben – Söhne vielleicht. Sehen Sie mich an. Mein Vater war Regierungsbeamter in der Provinz, er hatte auch einen kleinen Landbesitz. Ein einfacher, gottesfürchtiger Mann – ein echter Russe in seiner Art. Seine erste Tugend war der Gehorsam. Doch ich bin nicht wie er. Man sagt, ich sei dem ältesten Bruder meiner Mutter ähnlich, einem Offizier. Der wurde im Jahr achtundzwanzig erschossen, unter Nikolaus, Sie wissen. Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß dies Krieg ist, Krieg … Doch beim gerechten Gott, es ist harte Arbeit.«
Rasumoff saß in seinem Stuhl, hatte den Kopf in die Hand gestützt, und seine Stimme klang wie aus der Tiefe eines Abgrundes herauf.
»Sie glauben an Gott, Haldin?«
»Da klammern Sie sich nun wieder an Worte, die einem die Erregung erpreßt. Was tut das zur Sache? Wie sagte doch der Engländer: ›Eine göttliche Seele wohnt in den Dingen …‹, hol ihn der Teufel, ich erinnere mich jetzt nicht. Aber er sprach die Wahrheit. Wenn einmal der Tag für euch Denker kommt, dann vergeßt nicht, was das Göttliche in der russischen Seele ist: es ist die Ergebung. Die sollt ihr bei aller eurer geistigen Unruhe achten und eurer arroganten Weisheit nicht erlauben, sie zu unterdrücken. Ich spreche da zu Ihnen wie ein Mann, der schon den Strick um den Hals hat. Wofür halten Sie mich? Für einen Empörer? Nein. Ihr Denker seid es, die in ständiger Auflehnung sind. Ich bin einer der Ergebenen. Als die Notwendigkeit dieser schweren Tat an mich herantrat, und als ich begriff, daß sie getan sein mußte, – was tat ich da? Jubelte ich? Fühlte ich mich stolz auf mein Vorhaben? Versuchte ich, seinen Wert und seine Folgen abzuwägen? Nein! ich war ergeben. Ich dachte – ›Gottes Wille geschehe‹.«
Er warf sich der Länge nach auf Rasumoffs Bett, legte die Handrücken über die Augen und verharrte vollkommen reglos und schweigend. Man hörte nicht einmal das Geräusch seiner Atemzüge. Die tote Stille des Raumes blieb ungestört, bis Rasumoff in das Dunkel hinein dumpf fragte:
»Ja«, antwortete der andere, ohne Zögern, doch ohne sich zu rühren. Er war nun auf dem Bett nicht mehr zu erkennen.
»Ist es nicht Zeit für mich, aufzubrechen?«
»Ja, Bruder«, hörte man den anderen sagen, aus der Dunkelheit heraus, als spräche er im Schlaf, »die Stunde ist da, das Schicksal auf die Probe zu stellen.«
Er machte eine Pause und gab dann wenige, klare Anweisungen mit der ruhigen, unpersönlichen Stimme eines Menschen in Trance. Rasumoff machte sich fertig, ohne ein Wort der Erwiderung. Als er im Begriff stand, das Zimmer zu verlassen, klang die Stimme vom Bett hinter ihm her:
»Geh mit Gott, du schweigsame Seele.«
Im Vorraum angekommen, schloß Rasumoff lautlos die Tür ab und schob den Schlüssel in die Tasche.
Die Worte und Vorfälle dieses Abends müssen sich wie mit stählernem Griffel in Rasumoffs Erinnerung gegraben haben, da er noch lange Monate später imstande war, diesen Bericht mit so ausführlicher Genauigkeit niederzuschreiben.
Die Aufzeichnungen über die Gedanken, die ihn auf der Straße bestürmten, sind noch genauer ausgeführt. Es scheint, als habe die Überlegung erst eingesetzt, als er sich allein fühlte und seine Denkfähigkeit nicht länger durch Haldins Gegenwart gehemmt war, – durch die lähmende Gegenwart eines großen Verbrechens und eines großen Fanatismus. Wenn ich die Seiten von Rasumoffs Tagebuch durchblättere, so muß ich zugeben, daß der Ausdruck »Ansturm von Gedanken« kein richtiges Bild gibt.
Es würde die Sachlage besser kennzeichnen, wenn man von einem »Wirrwarr von Gedanken« sprechen wollte. Diese Gedanken an sich waren nicht zahlreich – sie waren, wie die der meisten menschlichen Wesen, vereinzelt und einfach –, nur geht es nicht an, hier alle die abgerissenen Ausrufe wiederzugeben, in denen sie sich in endlosem Durcheinander wiederholten, – denn der Weg war lang.
Wenn sie dem westeuropäischen Leser unangebracht erscheinen oder vielleicht sogar verwerflich, so will ich daran erinnern, daß dies zunächst einmal an meiner unbeholfenen Wiedergabe liegen mag. Im übrigen betone ich nur, daß diese Geschichte nicht im westlichen Europa spielt.
Mag sein, daß die Nationen sich ihre Regierungen gemodelt haben, doch die Regierungen haben es ihnen mit gleicher Münze heimgezahlt. Es ist undenkbar, daß irgendein junger Engländer in Rasumoffs Lage kommen könnte. Und es wäre daher auch ein müßiges Beginnen, ausklügeln zu wollen, was dieser junge Engländer dann denken würde. Die einzige Vermutung, die einigen Anspruch auf Wahrscheinlichkeit hat, ist die, daß seine Gedanken bei diesem Ereignis sich nicht in derselben Bahn bewegen würden wie die Rasumoffs, denn der junge Engländer hätte nicht das ererbte und persönliche Wissen über die Mittel, deren sich eine seit Jahrhunderten bestehende Autokratie bedient, um Ideen zu unterdrücken und ihre eigene Macht und ihr Fortbestehen zu schützen und zu verteidigen.
Eine zügellose Phantasie könnte ihn auf die Möglichkeit bringen, daß er ohne weiteres ins Gefängnis geworfen werden könnte; doch nur in den wirrsten Fieberträumen (und vielleicht dann nicht einmal) würde er sich zu dem Gedanken versteigen, daß man ihn durchpeitschen könnte, um die Untersuchung zu fördern, oder auch, um ihn zu strafen.
Dies ist nur ein schlechtes und beiläufiges Beispiel für die Grundverschiedenheit der Anschauungen des Westens. Ich weiß nicht, ob diese letzte Befürchtung gerade in Rasumoff auftauchte. Zweifellos aber spielte sie mit herein in die allgemeine Angst und Bestürzung, die er in sich fühlte. Rasumoff war sich, wie sich gezeigt hat, nicht im unklaren über die versteckteren Mittel, mit denen eine despotische Regierung ein Individuum aus dem Wege räumen konnte. Die Ausstoßung von der Universität (das weitaus geringste, was ihm passieren konnte), verbunden mit der Unmöglichkeit, seine Studien irgendwie fortzusetzen, mußte genügen, einen jungen Menschen völlig zu ruinieren, der auf die Ausbildung seiner natürlichen Fähigkeiten angewiesen war, um sich einen Platz in der Welt zu schaffen. Er war ein Russe: in eine derartige Frage verwickelt zu werden, war für ihn gleichbedeutend mit der völligen Entwurzelung, mit dem Herabsinken in die tiefsten sozialen Schichten, unter die Verzweifelten und Enterbten – die Nachtvögel der Stadt.
Auch müssen die besonderen Umstände von Rasumoffs Abstammung, oder besser seine diskrete Abstammung, mit berücksichtigt werden. Und er dachte auch daran. Er war erst kürzlich ganz besonders grausam durch diesen verwünschten Haldin daran erinnert worden. »Weil ich dies eine nicht habe, muß mir alles andere genommen werden?« dachte er.
Er zwang sich gewaltsam zum Weitergehen. Der Straße entlang huschten, Schatten gleich, klingelnde Schlitten durch das wirbelnde Weiß, das das dunkle Antlitz der Nacht verhüllte. »Denn es ist ein Verbrechen«, sagte er sich. »Ein Mord ist ein Mord. Wenn auch, natürlich, etwas liberalere Einrichtungen …«
Ein Gefühl unsagbarer Schwäche überkam ihn. »Ich muß tapfer sein«, suchte er sich selbst anzufeuern. Seine ganze Kraft war plötzlich verflogen. Dann kehrte sie durch eine mächtige Willensanstrengung zurück, denn er fürchtete, in der Straße ohnmächtig und von der Polizei aufgelesen zu werden, mit seinem Zimmerschlüssel in der Tasche. Man würde Haldin dort finden, und dann wäre es auch um ihn geschehen.
Merkwürdig genug ist diese Furcht, die ihn bis zuletzt aufrecht erhalten zu haben scheint. Es waren nur wenig Leute unterwegs. Sie tauchten plötzlich knapp vor ihm auf, ganz schwarz in dem Flockengewimmel, und verschwanden auf einmal wieder lautlos, mit unhörbaren Schritten.
Es war eines der ärmsten Stadtviertel. Rasumoff bemerkte eine ältere Frau, die ganz in Lumpen gehüllt war. Im Lichte der Straßenlampe schien sie ihm eine Bettlerin, die von der Arbeit kam. Sie schritt ohne Eile durch den Schneesturm, als hätte sie kein Heim, zu dem es sie hinzog. Unter dem Arm barg sie, wie ein unschätzbares Gut, einen runden Laib Schwarzbrot: und Rasumoff wendete den Blick von ihr, beneidete sie um ihren Seelenfrieden und um ihr frohes Geschick.
Wenn man Rasumoffs Geschichte liest, so kann man sich eines lebhaften Staunens nicht erwehren, wie er es fertig brachte, die endlosen Straßen, eine nach der anderen, zu durchschreiten, durch Schneemassen, die sich immer undurchdringlicher aufhäuften. Was ihn vorwärtstrieb, war der Gedanke an Haldin, den er in seinem Zimmer eingeschlossen hatte, und der verzweifelte Wunsch, ihn loszuwerden. Eine klare Überlegung leitete ihn nicht, und als er in dem letztklassigen Speisehaus ankam und erfuhr, daß der Pferdevermieter Siemianitsch nicht da sei, da konnte er nur blöde vor sich hinstarren.
Der Kellner, ein wüst behaarter Bursche in geteerten Stiefeln und roter Schürze, zeigte in einem dummen Grinsen sein bleiches Zahnfleisch und erklärte, daß Siemianitsch heute bereits früh am Nachmittag seine tägliche Ration zu sich genommen habe und mit einer Flasche unter jedem Arm weggegangen sei, zu den Pferden wohl, nehme er an.
Der Besitzer der Spelunke, ein knochiger kleiner Mann in einem schmutzigen Kaftan, der ihm bis zu den Fersen ging, stand dabei, die Hand im Gürtel, und nickte bestätigend.
Der Fuseldunst, der Qualm ranzigen Bratenfetts würgten Rasumoff in der Kehle. Er schlug mit der Faust auf einen Tisch und brüllte wütend:
»Ihr lügt!«
Aufgedunsene, schmutzige Gesichter wandten sich ihm zu. Ein zerlumpter Landstreicher mit sanften Augen, der am Nebentisch Tee trank, rückte weiter weg. Ein erstauntes Murmeln erhob sich, in dem Unruhe mitklang. Auch ein Lachen wurde laut und ein scherzhaft besänftigender Zuruf. Der Kellner sah sich rings im Zimmer um und erklärte laut:
»Der Herr hier will nicht glauben, daß Siemianitsch besoffen ist.«
Aus einer entfernten Ecke grunzte eine rauhe Stimme, die einem schauerlichen, unbeschreiblich zerlumpten Wesen gehörte, mit einem Gesicht, schwarz und zottig wie eine Bärenschnauze:
»Der verfluchte Diebskutscher! was haben wir hier mit seinem Herrn zu schaffen? Wir sind lauter ehrliche Leute hier.«
Rasumoff biß sich die Lippen blutig, um nicht in lautes Flehen auszubrechen. Dann folgte er dem Besitzer der Spelunke, der ihm zuflüsterte: »Kommen Sie mit, Väterchen«, und ihn in einen höhlenähnlichen Verschlag hinter dem hölzernen Schanktisch führte, aus dem es wie Wasserplätschern klang. Ein schmieriges, durchnäßtes Wesen, eine Art geschlechtsloser, frostbebender Vogelscheuche, spülte da drinnen Gläser, bei dem Licht einer Unschlittkerze über einen hölzernen Bottich gebeugt.
»Ja, Väterchen«, sagte der Mann in dem langen Kaftan mit kläglichem Ton. Er hatte ein braunes, komisches kleines Gesicht mit spärlichem grauem Bart. Während er sich bemühte, eine Zinnlaterne anzuzünden, schwatzte er halblaut vor sich hin.
Er würde den Herrn zu Siemianitsch führen, um ihm zu beweisen, daß man nicht gelogen habe. Der Herr würde auch sehen, daß er betrunken sei. Seine Frau sei ihm scheinbar letzte Nacht durchgebrannt. »Das war eine Hexe! Mager, pfui!« Er spuckte aus. Sie brannte ihm immer durch, diesem Teufelsfuhrmann, und er war doch sechzig Jahre alt und konnte sich immer noch nicht daran gewöhnen. Doch jeder Mensch hat seinen Kummer, und Siemianitsch war Zeit seines Lebens der geborene Narr gewesen. Dann stürzte er sich immer über die Flasche. »›Wer könnte in unserem Lande das Leben ohne Schnaps ertragen‹, sagt er; ein echter russischer Mann – das Ferkel … will der Herr mir folgen.«
Rasumoff kreuzte eine rechteckige Fläche tiefen Schnees, die zwischen hohen Mauern mit ungezählten Fenstern eingeschlossen lag. Da und dort schwebte ein trübes kleines Licht in dem Dunkel ringsum. Das Haus war eine ungeheure Mietskaserne, ein Unterschlupf für den Auswurf der Menschheit, ein Monument des Elends, das aus der Masse von Hunger und Verzweiflung ringsum herauswuchs.
An einer Ecke ging es steil bergab, und Rasumoff folgte dem Licht der Laterne durch einen engen Torweg in eine langgestreckte Höhle, die wie ein vernachlässigter, unterirdischer Kuhstall aussah. Tief drinnen steckten drei zottige kleine Pferde, an Ringen angehängt, ihre Köpfe zusammen. Das mußte das berühmte Gespann sein, das Haldin retten sollte.
Rasumoff spähte ängstlich in das Dunkel. Sein Führer stieß mit dem Fuß in das Stroh.
»Hier ist er. Oh, mein Täubchen! Ein echt russischer Mann. ›Ich mag keine schwermütigen Leute‹, sagt er, ›bring die Flasche her und schaff mir deine häßliche Fratze aus den Augen.‹ Ha, ha, ha, so ein Kerl ist er.«
Er hielt die Laterne über die hingestreckte Gestalt eines Mannes, der augenscheinlich reisefertig angezogen war. Sein Kopf war in einer gemusterten Tuchkapuze verborgen. Auf der anderen Seite eines Strohhaufens schauten zwei Füße in unheimlich dicken Stiefeln hervor.
»Immer bereit, loszufahren«, bemerkte der Gastwirt, »ein echt russischer Fuhrmann das! Heiliger oder Teufel, Nacht oder Tag, das ist für Siemianitsch einerlei, wenn sein Herz frei von Kummer ist. ›Ich frage nicht, wer ihr seid, sondern wohin ihr wollt‹, sagt er. Er würde Satan selbst nach seinem eigenen Reich fahren und lustig wieder zurückkommen. Hat manch einen gefahren, der heute in den Nertschinskminen seine Ketten schleppt.«
Rasumoff schauderte.
»Rufe ihn an, wecke ihn auf«, stammelte er. Der andere setzte die Laterne nieder, trat zurück und gab dem Schläfer einen Tritt. Der rührte sich weiter nicht. Bei dem dritten Fußstoß grunzte er, blieb aber reglos wie zuvor.
Der Gastwirt gab es auf und seufzte tief.
»Sie sehen selbst, wie es ist. Wir haben alles für Sie getan, was wir tun konnten.«
Er nahm die Laterne wieder auf. Tiefe Schattenflecke umtanzten den Lichtkreis. Der blindwütige Trieb der Selbsterhaltung erfaßte Rasumoff. »Ah, das elende Vieh«, brüllte er heraus, mit einer unmenschlichen Stimme, daß die Laterne hüpfte und zitterte, »ich will dich aufwecken … gib mir … gib mir … gib mir …«
Er sah wild um sich, faßte den Stiel einer Mistgabel, stürzte vorwärts und begann auf den hingestreckten Körper mit unartikuliertem Gebrüll loszuschlagen. Nach einiger Zeit verstummte er, und in dem dunklen Gewölbe blieben nur noch die niederfallenden Schläge vernehmbar. Rasumoff bearbeitete Siemianitsch mit unersättlicher Wut und ließ die Hiebe blindlings und hageldicht niedersausen. Die tote Ruhe des Geprügelten stach seltsam gegen die heftigen Bewegungen Rasumoffs ab. Es war eine unheimliche Szene.
Plötzlich gab es einen scharfen Knacks: der Stiel brach mitten durch, und die eine Hälfte flog weit weg in das Dunkel außerhalb des Lichtkreises. Zugleich setzte sich Siemianitsch auf. Im gleichen Augenblick fiel Rasumoff in dieselbe reglose Erstarrung wie der Mann mit der Laterne, nur seine Brust arbeitete zum Zerspringen.
Irgendeine dumpfe Schmerzempfindung mußte sich endlich durch die tröstende Trunkenheit durchgerungen haben, die den Mann mit der »starken Seele«, wie ihn Haldin nannte, umfangen hielt. Siemianitsch sah aber augenscheinlich gar nichts. Seine Augäpfel blinkten im Licht einmal, zweimal hell auf, dann verlöschte der Schimmer. Kurze Zeit saß er noch im Stroh, mit geschlossenen Augen und einem merkwürdigen Ausdruck trüben Nachsinnens, und sank dann langsam zurück, ohne den geringsten Laut; nur das Stroh raschelte ein wenig. Rasumoff stierte wild auf ihn und keuchte immer noch. Nach einer oder zwei Sekunden hörte man ein leises Schnarchen.
Rasumoff warf den Teil des Stieles, den er noch in der Hand hielt, von sich und ging mit großen hastigen Schritten davon, ohne einmal umzublicken.
Nachdem er kopflos etwa fünfzig Meter in die Straße hinaus gerannt war, geriet er in einen Schneehaufen und stak bis zu den Knien darin, bevor er innehielt.
Dies brachte ihn wieder zu sich selbst. Er sah sich um und bemerkte, daß er die falsche Richtung eingeschlagen hatte. So ging er denselben Weg zurück, doch jetzt in etwas gemäßigterem Tempo. Als er an dem Hause vorüberkam, das er eben verlassen hatte, da schüttelte er die Fäuste gegen diese düstere Hochburg von Elend und Verbrechen, deren drohende Masse von dem weißen Grund abstach. Dann ließ er den Arm wieder sinken – entmutigt.
Die Leidenschaft, mit der Siemianitsch sich Schmerz und Trost hingab, hatte ihn im Innersten gepackt. Das war das Volk. Ein echt russischer Mann! Rasumoff war froh, daß er das Vieh geprügelt hatte – »die starke Seele« des anderen; da waren sie beide: das Volk und der Enthusiast.
Gegen die beiden war für ihn nicht aufzukommen, gegen die Trunksucht des Bauern, die jede Tatkraft lähmte, und die überspannten Träumereien des Idealisten, der unfähig war, die Ursache der Dinge und den wahren Charakter der Menschen zu erkennen. Es schien eine Art furchtbarer Kinderei. Doch für Kinder gab es Lehrer. »Oh, der Stock, der Stock, die harte Hand«, dachte Rasumoff und sehnte sich nach der Gewalt, nach der Macht, zu zerschlagen und zu vernichten.
Er war froh, daß er das Vieh geprügelt hatte. Die physische Anstrengung hatte ihn in einen angenehmen Dämmerzustand versetzt. Seine innere Erregung war abgeflaut, da er sich in äußerlicher Gewalttätigkeit ausgegeben hatte. Zugleich mit dem fortwährenden Bewußtsein einer furchtbaren Gefahr fühlte er in sich nun auch einen ruhigen und unbeirrbaren Haß.
Er ging immer langsamer, und in Anbetracht des Gastes, den er in seiner Wohnung hatte, war es kein Wunder, daß er auf dem Wege zögerte. Ihm war wie einem, der eine üble Krankheit im Hause hat, die ihn vielleicht nicht das Leben kosten, doch alles, was das Leben lebenswert macht, – eine schleichende Krankheit, die ihm die Erde zur Hölle machen könnte.
Was sollte er nun tun? Sich auf das Bett legen wie ein Toter, mit den Handrücken über den Augen? Rasumoff sah plötzlich mit unheimlicher Klarheit Haldin auf seinem Bett vor sich – das weiße Kissen, vom Kopf niedergedrückt, die Beine in hohen Stiefeln, die aufwärts gekehrten Füße. Und in einem Schauder sagte er sich: »Ich will ihn töten, wenn ich heimkomme.« Aber er wußte recht gut, daß das nutzlos war. Hatte er erst einmal den Leichnam auf dem Halse, so würde der für ihn mindestens so gefährlich sein wie jetzt der Lebende. Nur eine völlige Vernichtung konnte helfen. Und die war unmöglich. Was dann? Mußte er sich töten, um dieser Heimsuchung zu entgehen?
Rasumoffs Verzweiflung war zu kräftig mit Haß durchsetzt, als daß er diesen Ausweg hätte wählen können.
Und doch faßte ihn reine Verzweiflung bei dem Gedanken, er müßte mit Haldin tagelang weiterleben, in tödlichem Schreck bei jedem Geräusch. Doch vielleicht, wenn er hörte, daß diese »starke Seele« von Siemianitsch viehisch besoffen war, dann würde der Kerl seine höllische Resignation anderswohin tragen. Aber dies schien nach der Sachlage wenig wahrscheinlich.
Rasumoff dachte: »Ich soll zermalmt werden, und ich kann nicht einmal fliehen.« Andere hatten irgendwo auf der Erde einen Winkel, ein kleines Landhaus in der Provinz vielleicht, wohin sie ein Recht hätten sich mit ihren Sorgen zurückzuziehen. Eine mütterliche Zufluchtsstätte. Er hatte nichts, nicht einmal die moralische Zuflucht des Vertrauens. An wen konnte er sich mit dieser Geschichte wenden – in diesem ganzen, großen Lande?
Rasumoff stampfte mit dem Fuß, und unter der weichen Schneedecke fühlte er den harten Boden Rußlands, träge, kalt, gefühllos, wie eine gramvolle Mutter, deren Gesicht von einem weißen Leichentuch bedeckt ist; – seine Heimatserde, und doch ohne einen Herd für ihn, ohne ein Herz.
Er blickte auf und blieb erstaunt stehen. Der Schneefall hatte aufgehört, und nun sah er, wie durch ein Wunder, über seinem Kopf den klaren, schwarzen Himmel des nordischen Winters, von dem flackernden Feuer der Sterne durchstrahlt. Es war ein würdiger Baldachin für die blendende Weiße der Schneefläche.
Rasumoff hatte das fast körperliche Gefühl endlosen Raumes und ungezählter Millionen.
Er reagierte darauf mit der Bereitwilligkeit des Russen, dem der Sinn für Raum und Zahl angeboren ist. Unter der endlosen Pracht des Himmels deckte der Schnee die ungeheuren Wälder, die gefrorenen Ströme, die Ebenen dieses weiten Landes, verwischte die Grenzen, die Unebenheiten des Bodens, breitete über alles eine weiße Fläche, wie ein riesenhaftes unbeschriebenes Blatt, das die Aufzeichnung einer unfaßbaren Geschichte erwartet. Es deckte das untätige Land mit den zahllosen Menschen darin vom Schlage dieses Siemianitsch und der Handvoll Agitatoren wie Haldin, die ein Wahnsinn zum Mord trieb.
Es lag etwas Heiliges in dieser Trägheit. Rasumoff fühlte sich von Achtung davor durchdrungen. Eine Stimme in ihm schien zu rufen: »Rühre nicht daran.« Sie schien die Gewähr für die Dauer und Sicherheit in sich zu schließen, während im Schoße der Zeit das Schicksal reifte; – nicht die Revolution mit ihren überstürzten Impulsen und hitzigen Taten war es, was dieses Land brauchte, sondern der Friede; nicht die auseinandergehenden Bestrebungen eines Volkes, sondern ein starker und einiger Wille: nicht das Gewirr vieler Stimmen, sondern ein Mann, stark und in sich gefestigt.
Rasumoff war auf dem Punkt, sich zu bekehren. Er fühlte die neue Überzeugung mit überwältigender Logik nahen. Denn ein zusammenhängender Gedankengang ist nie falsch. Die Falschheit liegt tief in den Notwendigkeiten des Lebens, in geheimen Ängsten und halb ausgesprochenen Wünschen, in einer geheimen Zuversicht und einem geheimen Mißtrauen des einzelnen gegen sich selbst, in der irrigen Hoffnung und der Furcht vor ungewissen Tagen.
In Rußland, dem Land der bunten Ideen und haltlosen Bestrebungen, haben sich manche starke Geister letzten Endes von dem ziel- und endlosen Zwist abgekehrt, der einen großen, historischen Tatsache zu – dem Lande. Sie kehrten unter die Autokratie zurück, um ihrem politischen Gewissen den Frieden zu geben, so wie ein müder Ungläubiger, von dem Strahl der Gnade getroffen, zu dem Glauben seiner Väter zurückkehrt, um seinem Geist die Ruhe zu gönnen. Wie andere Russen vor ihm, fühlte Rasumoff diesen Strahl der Gnade auf seiner Stirne, als er mit sich zu zerfallen drohte.
»Haldin will den Umsturz«, dachte er im Weiterschreiten. »Was soll seine Entrüstung, sein Gerede von Knechtschaft, von Gottes Gerechtigkeit? Alles das läuft auf Umsturz hinaus. Lieber mögen Tausende leiden, als daß ein Volk eine zusammenhanglose Masse werden sollte, hilflos wie Spreu im Winde. Dunkelwirtschaft ist besser als der Schein von Brandfackeln. Der Same reift im Dunkeln. Aus dem schwarzen Boden dringt die fertige Pflanze. Eine vulkanische Eruption aber ist unfruchtbar und der Tod für den tragenden Boden. Und soll ich, der ich mein Land liebe – der ich nichts anderes habe als dieses Land, um meine Liebe und meinen Glauben daran zu hängen –, soll ich meine Zukunft, vielleicht meine ganze Existenz, zerstören lassen durch diesen blutdürstigen Fanatiker?«
Die Gnade zog in Rasumoff ein. Er glaubte nun an den Mann, der in der Fülle der Zeit erscheinen würde.
Was ist ein Thron? Ein paar Stücke Holz, mit Samt gepolstert. Doch ein Thron ist auch der Sitz der Macht. Der Regierungsgedanke verkörpert sich in diesem Werkzeug. Zwanzigtausend Schwätzer aber, seien sie auch von den edelsten Gefühlen entflammt, – wenn sie untereinander uneins sind, nehmen sie nur unnütz Raum weg, haben keine Macht, keinen Willen und nichts zu geben.
So fuhr er fort, ohne auf den Weg zu achten, und hielt mit außerordentlicher Leichtigkeit ein gedankenvolles Selbstgespräch. Für gewöhnlich kamen ihm die Sätze langsam, nach gewissenhaftem und peinlichem Nachdenken. Nun aber hatte ihm irgendeine höhere Macht eine Flut unerschütterlicher Argumente eingegeben, so wie manche bekehrte Sünder plötzlich eine unwiderstehliche Beredsamkeit finden.
Er fühlte sich von reiner Freude erfüllt.
»Was sind die unklaren, dumpfen Tüfteleien dieses Kerls gegen meinen scharf zupackenden Intellekt?« dachte er. »Ist dies nicht mein Land? Habe ich nicht vierzig Millionen Brüder?« fragte er sich in überschäumendem Siegesgefühl. Die furchtbare Züchtigung, die er dem leblosen Siemianitsch verabreicht hatte, schien ihm ein Zeichen engen Verbundenseins, eine pathetische, ernste Pflicht brüderlicher Liebe. »Nein, wenn ich leiden muß, dann laßt mich wenigstens für meine Überzeugung leiden, nicht für ein Verbrechen, das mein Verstand, mein kühler überlegener Verstand, verurteilt.«
Er unterbrach sich einen Augenblick lang in seinen Gedanken. In seiner Brust war völlige Stille. Doch er fühlte einen verdächtigen Druck, so wie er einen überkommen mag, der im Dunkeln einen fremden Ort betritt, – das unbestimmte Gefühl, es könnte uns irgend etwas im Dunkeln anspringen, die unsinnige Furcht vor dem Unsichtbaren.
Natürlich war er weit entfernt, sich restlos der Reaktion in die Arme zu werfen. Es stand nicht alles zum besten: despotische Bürokratie … Mißtrauen, Korruption und so weiter. Man brauchte tüchtige Leute, helle Köpfe, ergebene Herzen. Doch die absolute Macht sollte erhalten bleiben, das Werkzeug, fertig für den Mann, – für den großen Autokraten der Zukunft. Rasumoff glaubte an ihn. Die Logik der Weltgeschichte machte sein Kommen unausbleiblich. Die Liebe des Volkes verlangte ihn. »Was sonst«, fragte er sich erregt, »was sonst könnte diese ganze Masse in einer Richtung bewegen? Nichts als ein einzelner Wille.«
Er war überzeugt, daß er seine persönliche Sehnsucht nach Liberalismus aufopferte – den reizvollen Irrtum verwarf, der nüchternen russischen Wahrheit zuliebe. »Das ist Patriotismus«, sagte er sich, fügte hinzu: »auf diesem Wege gibt es kein Innehalten«, und schloß mit der Bemerkung: »Ich bin kein Feigling.«
Und wieder gab es ein totes Schweigen in Rasumoffs Brust. Er schritt mit gesenktem Kopfe hin, ohne irgend jemand auszuweichen. Er ging langsam, seine Gedanken kehrten zurück und sprachen feierlich langsam auf ihn ein.
»Was ist dieser Haldin? Und was bin ich? Nur zwei Sandkörner. Doch ein großes Gebirge ist aus ebensolchen Sandkörnern gefügt, und der Tod eines Mannes oder vieler Männer ist ein unbedeutendes Ding. Wir bekämpfen eine ansteckende Seuche. Wünsche ich seinen Tod? Nein, ich wollte ihn retten, wenn ich könnte. – Aber niemand kann das. Er ist ein krankes Glied, das abgeschnitten werden muß. Muß ich durch ihn zugrunde gehen, so will ich wenigstens nicht mit ihm verderben, gegen meinen Willen, seiner düsteren Narrheit gesellt, die nichts erfaßt von Menschen und Dingen. Warum sollte ich ein schlechtes Andenken hinterlassen?«
Es fiel ihm ein, daß es niemand in der Welt gab, der sich darum kümmerte, welches Andenken er hinterließ. Sofort rief er sich zu: »Vergebens für einen Irrtum sterben! … Welch elendes Geschick!«
Er war in einem belebteren Stadtteil. Er bemerkte es nicht, wie zwei Schlitten an einer Kurve krachend zusammenstießen. Der Kutscher des einen brüllte verzweifelt den andern an:
»Oh, du elender Schuft!«
Dieser rauhe Schrei, fast an seinem Ohr ausgestoßen, verwirrte Rasumoff. Er schüttelte ungeduldig den Kopf und ging weiter, den Blick gerade vor sich gerichtet. Plötzlich sah er auf dem Schnee, quer über seinen Weg auf dem Rücken ausgestreckt, Haldin, körperlich deutlich, die Handrücken über die Augen gelegt, in einem braunen, eng anliegenden Rock und langen Stiefeln. Er lag ein wenig abseits, als hätte er sich diesen Platz absichtlich ausgesucht. Der Schnee ringsherum wies keine Fußspuren auf.
Diese Halluzination hatte so ganz den Anschein der Wirklichkeit, daß Rasumoffs Hand im ersten Augenblick nach seiner Tasche zuckte, um sich zu vergewissern, daß der Zimmerschlüssel noch darin war. Er unterdrückte diese Bewegung aber mit einem verächtlichen Lächeln. Er verstand. Seine Gedanken waren intensiv auf die Gestalt konzentriert, die er auf seinem Bett liegend verlassen hatte, und spiegelten ihm nun diese verblüffende Sinnestäuschung vor. Rasumoff ging das Phänomen ruhig an. Mit unbewegtem Gesicht, ohne Zögern, die Augen weit über die Vision weg gerichtet, schritt er fort und empfand nichts weiter als ein leises Zusammenziehen in der Brust. Als er vorüber war, wendete er den Kopf und sah nichts als die ununterbrochene Spur seiner Schritte gerade über den Platz, wo die Brust des Phantoms gelegen hatte.
Rasumoff ging weiter und äußerte nach einer kurzen Weile flüsternd sein Erstaunen:
»Ganz, als ob er lebte! Schien zu atmen! Und mitten in meinem Weg noch dazu. Dies ist ein außerordentliches Erlebnis!«
Er machte noch ein paar Schritte und stieß zwischen den Zähnen hervor:
»Ich zeige ihn an.«
Dann war für zwanzig Meter oder mehr alles weiß und blank. Er hüllte sich dichter in seinen Mantel und zog die Mütze tiefer in die Augen.
»Verrat! Ein großes Wort. Was ist Verrat? Man spricht von einem Mann, der sein Land, seine Freunde, seine Liebste verrät. Zuerst muß ein moralisches Band da sein. Alles, was ein Mann verraten kann, ist sein Gewissen, und wo ist mein Gewissen hier gebunden? Wo ist das Band gemeinsamen Glaubens, gemeinsamer Überzeugung, das mich verpflichten könnte, mich von diesem fanatischen Narren mit hinunterreißen zu lassen? Im Gegenteil – der wahre Mut weist mir den anderen Weg.«
Rasumoff sah unter der Mütze hervor um sich.
»Was kann mir die vorurteilsvolle Welt vorwerfen? Habe ich sein Vertrauen herausgefordert? Nein. Habe ich ihm durch ein einziges Wort, einen Blick, eine Geste ein Recht zu der Vermutung gegeben, daß ich sein Vertrauen angenommen habe? Nein. Es ist wahr, daß ich eingewilligt habe, diesen Siemianitsch aufzusuchen. Nun gut. Ich habe ihn aufgesucht und habe einen Stecken an seinem Rücken zerschlagen – an diesem Vieh.«
In seinem Kopfe schien sich ein Umschwung zu vollziehen, der ein einziges, hartes klares Fazit obenauf brachte.
»Es wird übrigens jedenfalls besser sein«, überlegte er weiter, mit gänzlich veränderter Einstellung, »diesen Umstand ganz für mich zu behalten.«
Er war an der Seitengasse vorbei, die zu seiner Wohnung führte, in eine breite und vornehme Straße gelangt. Ein paar Läden waren noch offen, und alle Restaurants. Licht fiel auf das Pflaster, wo Männer in kostbaren Pelzen, und da und dort die elegante Gestalt einer Frau, in augenscheinlicher Muße hinschritten. Rasumoff blickte auf sie mit der Verachtung des reinen Gläubigen für die frivole Menge. Das war die Welt, – diese Offiziere, Würdenträger, Gecken, Beamten, Mitglieder des Jachtklubs; das Ereignis des Morgens beschäftigte sie alle. Was würden sie sagen, wenn sie wüßten, was dieser Student im dürftigen Mantel zu tun im Begriff stand?
»Keiner von ihnen ist fähig, so tief wie ich zu fühlen und zu denken. Wie viele von ihnen könnten eine Gewissenstat vollbringen?«
Rasumoff trieb sich in der hell erleuchteten Straße herum. Er war fest entschlossen. Eigentlich konnte man es kaum einen Entschluß nennen. Er hatte einfach entdeckt, was er die ganze Zeit über zu tun beabsichtigt hatte, und doch fühlte er das Bedürfnis nach fremder Zustimmung.
Aus diesem Gefühl heraus, das der Angst ähnlich war, sagte er zu sich selbst:
»Ich brauche jemand, der mich versteht!« Dieser ganz allgemeine Wunsch mit all seiner tiefen Melancholie überfiel Rasumoff, der unter achtzig Millionen Menschen seines eigenen Stammes keinen hatte, dem er sein Herz ausschütten konnte.
An den Sachwalter war nicht zu denken. Er verachtete den kleinen Winkeladvokaten zu tief. Man konnte auch nicht hingehen und dem Polizeimann an der Ecke seine Gewissensnöte offenbaren. Ebensowenig fühlte sich Rasumoff geneigt, zum Polizeikommissar des Bezirks zu gehen, – einem gewöhnlich aussehenden Menschen, den er manchmal auf der Straße traf, in schmieriger Uniform, eine qualmende Zigarette an die Unterlippe geklebt. »Sein erstes wäre höchstwahrscheinlich, mich einzusperren. Jedenfalls würde er sich furchtbar aufregen und einen großen Skandal machen«, überlegte Rasumoff.
Eine Gewissenstat hat mit außerordentlicher Würde zu geschehen.
Rasumoff sehnte sich verzweifelt nach einem Rat, einem moralischen Halt. Wer weiß, was wahre Einsamkeit ist, – nicht das konventionelle Wort, sondern das nackte Grauen? Für den Einsamen selbst trägt sie eine Maske. – Der verworfenste Elende bewahrt sich im Innersten eine Erinnerung, eine Illusion. Dann und wann aber wird durch ein unglückliches Zusammentreffen von Ereignissen der Schleier einen Augenblick gelüftet. Nur einen Augenblick. – Kein menschliches Wesen könnte den ständigen Anblick seelischer Einsamkeit ertragen, ohne verrückt zu werden.
Rasumoff war zu diesem Grad von Einsicht gelangt. Um ihr zu entgehen, überlegte er eine volle Minute lang den wahnsinnigen Plan, nach Hause zu eilen und sich auf die Knie zu werfen, zur Seite des Bettes, auf dem die dunkle Gestalt ausgestreckt lag; eine völlige Beichte herauszusprudeln, in leidenschaftlichen Worten, die das ganze Wesen jenes Mannes bis in seine innersten Tiefen aufrühren müßten. Es würde in Umarmungen und Tränen enden, in einer unglaublichen Seelenfreundschaft, wie sie die Welt nie gesehen hatte. Es war herrlich.
Innerlich weinte und zitterte er bereits. An den Blicken aber, die ihn gelegentlich trafen, merkte er, daß er immer noch als ein ruhiger Student erschien, auf einem Abendspaziergang begriffen. Er bemerkte auch den heißen Seitenblick einer schönen Frau mit feinem Kopf, die bis zu den Füßen hinab in haarige Raubtierfelle gehüllt war, wie eine zarte und schöne Wilde. – Dieser Blick ruhte einen Augenblick lang mit einer Art spöttischer Zärtlichkeit auf dem anscheinend so gedankenvollen, netten jungen Menschen.
Plötzlich machte Rasumoff halt. Er hatte blitzrasch im Vorübereilen einen grauen Backenbart erspäht, und dadurch war das Bild des Fürsten K. vor seine Seele gerufen worden, des Mannes, der einst seine Hand gedrückt hatte wie niemand sonst zuvor; ein leiser und doch anhaltender Druck, wie ein geheimes Zeichen, wie eine halb widerwillige Liebkosung …
Und Rasumoff wunderte sich, warum er nicht früher an ihn gedacht hatte.
»Ein Senator, ein Würdenträger, eine mächtige Persönlichkeit, eben der richtige Mann – ›Er‹!«
Ein merkwürdig besänftigendes Gefühl überkam Rasumoff und machte seine Knie ein wenig zittern. Er unterdrückte es mit neu erworbener Würde. Jedes Gefühl war hier gefährlicher Unsinn. Er konnte nicht schnell genug sein; und als er in einen Schlitten sprang, brüllte er dem Kutscher zu:
»Zum K.-Palast. Fahr los, du! Fliege, flieg!«
Der verblüffte Muschik, dem ein Bartgewirr bis zu den Augen hinauf wucherte, antwortete ehrerbietig:
»Ich höre, Ew. Gnaden.«
Es war ein Glück für Rasumoff, daß Fürst K. kein ängstlicher Mensch war. An dem Tage der Ermordung des Herrn von P. herrschte in den Kreisen der hohen Beamten äußerste Bestürzung und Verzagtheit.
Dem Fürsten K., der traurig und allein in seinem Arbeitszimmer saß, wurde von seinen bestürzten Dienern gemeldet, daß ein geheimnisvoller junger Mann sich den Zutritt in die Vorhalle erzwungen, sich geweigert habe, seinen Namen oder die Art seines Anliegens zu nennen, und nicht weggehen wolle, ohne seine Exzellenz privat gesprochen zu haben. Anstatt sich einzuschließen und nach der Polizei zu telephonieren, wie es neun von zehn hohen Persönlichkeiten an jenem Abend getan hätten, gab der Fürst seiner Neugier nach und kam ruhig an die Tür seines Arbeitszimmers.
In der Vorhalle, deren Portal weit offenstand, erkannte er plötzlich Rasumoff, bleich wie der Tod, mit stieren Augen und umringt von ratlosen Lakaien.
Der Fürst ärgerte sich maßlos, war sogar entrüstet, doch seine humanen Instinkte und ein verfeinertes Gefühl von Selbstachtung erlaubten ihm nicht, diesen jungen Mann von Dienerhänden auf die Straße werfen zu lassen. Er zog sich ungesehen in seinen Raum zurück und läutete kurz darauf. Rasumoff in der Halle hörte, wie irgendwo, weit weg, eine verdächtig laute, ruhige Stimme sagte:
»Führe den Herrn hier herein.«
Rasumoff trat ohne Zögern ein. Er fühlte sich unverletzlich – hoch erhaben über die Enge gewöhnlicher Beurteilung. Obwohl es ihm nicht entgehen konnte, daß der Fürst ihn mit unverhohlenem Mißvergnügen betrachtete, gab ihm doch seine innere Klarheit, deren er sich wohl bewußt war, eine außerordentliche Selbstsicherheit. Er wurde nicht aufgefordert, Platz zu nehmen.
Eine halbe Stunde später erschienen sie zusammen in der Halle. Die Lakaien standen auf und halfen dem Fürsten, der sich schwerfällig auf gichtischen Beinen bewegte, in seine Pelze. Seine Equipage war schon vorher bestellt worden. Als das große Doppeltor krachend aufflog, hörte Rasumoff, der schweigend und mit verlorenem Blick, innerlich aber bis zum äußersten angespannt, dabei gestanden hatte, den Fürsten sagen:
»Ihren Arm, junger Mann!«
Auf den beweglichen und oberflächlichen Geist des ehemaligen Gardeoffiziers, der so manche prunkvolle Mission erfüllt hatte, doch eigentlich nur in den Künsten galanter Intrigen und weltmännischen Erfolges erfahren war, hatte gleichermaßen die zweifellos schwierige augenblickliche Situation Eindruck gemacht, wie die ruhige Würde, mit der Rasumoff sie erläutert hatte.
Er hatte gesagt: »Nein, alles in allem kann ich den Schritt nicht verurteilen, den Sie wagten, als Sie mit Ihrer Geschichte zu mir kamen. Das ist nichts für die untergeordneten Polizeiorgane, man mißt dem Ereignis die größte Wichtigkeit bei … Beruhigen Sie sich, ich will Ihnen durch diese ganz außergewöhnliche und schwierige Situation durchhelfen.«
Dann hatte sich der Fürst erhoben, um zu läuten, und Rasumoff hatte ehrerbietig und mit einer kurzen Verbeugung gesagt:
»Ich habe mich auf meinen Instinkt verlassen. Ein junger Mensch ohne irgendeine befreundete Seele in der Welt hat sich in einer Stunde der Versuchung, die seine tiefsten politischen Überzeugungen aufrührte, an einen berühmten Russen gewendet – das ist alles.«
Der Fürst hatte hastig ausgerufen:
»Sie haben recht getan.«
Im Wagen – es war ein schmales, geschlossenes Coupé auf Schlittenkufen, – brach Rasumoff das Schweigen mit leicht zitternder Stimme:
»Meine Dankbarkeit ist größer als meine Vermessenheit.«
Er brach ab, da er ganz unerwartet im Dunkeln einen kurzen Druck an seinem Arm fühlte.
»Sie haben recht getan«, wiederholte der Fürst.
Als das Gefährte hielt, murmelte der Fürst Rasumoff zu, der keine Frage gewagt hätte:
»Das Haus von General T.«
Inmitten der schneebedeckten Straße flammte ein offenes Feuer. Ein paar Kosaken, die Zügel ihrer Pferde über dem Arm, wärmten sich ringsum. Zwei Schildwachen standen an der Tür, mehrere Gendarmen in dem großen Torweg, und in dem Gang des ersten Stockes erhoben sich zwei Ordonnanzen und standen stramm. Rasumoff schritt neben dem Fürsten einher.
Eine überraschende Menge von Treibhauspflanzen in Töpfen stand im Vorzimmer umher. Diener eilten herzu. Ein junger Mann in Zivil kam hastig an, nahm eine geflüsterte Meldung entgegen, verbeugte sich tief und verschwand eiligst irgendwo in den inneren Gemächern, mit dem diensteifrigen Ausruf: »Gewiß, diesen Augenblick.« Der Fürst machte Rasumoff ein Zeichen.
Sie durchschritten eine Reihe von Empfangsräumen, die alle nur halb erleuchtet waren; einer davon war zum Tanzen hergerichtet. Die Gemahlin des Generals hatte ihr Fest abgesagt. Eine lähmende Furcht schien über dem ganzen Haus zu liegen. Nur in dem eigenen Zimmer des Generals, mit schweren dunklen Vorhängen, zwei massiven Tischen und tiefen Armstühlen, waren alle Lichter angedreht. Der Diener schloß hinter den beiden Herren die Tür, und sie warteten. In einem englischen Kamin brannte ein Kohlenfeuer. Rasumoff hatte nie zuvor ein solches Feuer gesehen. Das Schweigen in dem Raum schien wie das Schweigen des Grabes, vollkommen und zeitlos. Denn nicht einmal die Uhr auf dem Kaminsims schlug. Auf einem schwarzen Gestell, das eine Ecke füllte, stand eine viertellebensgroße Bronze, die einen Jüngling mit schlanken Gliedern im Laufe darstellte. Der Fürst bemerkte halblaut:
»Von Spontini, ›Die fliehende Jugend‹. Herrlich!«
»Wunderbar«, stimmte Rasumoff schüchtern bei.
Sie sprachen nichts weiter. Der Fürst schwieg in seiner vornehmen Pose, Rasumoff stierte die Statue an. Ihn drückte ein Gefühl, das mit nagendem Hunger Ähnlichkeit hatte.
Er wandte sich nicht um, als er eine innere Tür aufgehen und rasche Schritte kommen hörte, die der Teppich dämpfte.
Der Fürst rief sofort mit einer Stimme, die heiser war vor Erregung:
»Wir haben ihn, – ce misérable. Ein tüchtiger junger Mann kam zu mir. – Nein, es ist unglaublich …«
Rasumoff vor der Statue hielt den Atem an, als erwarte er eine Explosion. Hinter ihm sagte eine Stimme, die er nie gehört hatte, mit höflichem Nachdruck:
»Asseyez-vous donc.«
Der Fürst kreischte fast: »Mais comprenez-vous, mon cher, – l'assassin! Den Mörder, – wir haben ihn …!«
Rasumoff fuhr herum. Die glatten, mächtigen Backen des Generals ruhten auf dem steifen Kragen seiner Uniform. Er mußte Rasumoff schon länger betrachtet haben, denn dieser sah die blaßblauen Augen kalt auf sich gerichtet.
Der Fürst sagte aus seinem Armsessel heraus mit einer empfehlenden Handbewegung:
»Und dies ist ein durchaus ehrenwerter junger Mann, den die Vorsehung selbst … Herr Rasumoff.«
Der General quittierte die Vorstellung mit einem leisen Kopfnicken nach Rasumoff hin, der seinerseits völlig regungslos blieb.
Dann setzte sich der General vor seinen Tisch und hörte mit zusammengepreßten Lippen zu. Es war unmöglich, auf seinem Gesicht irgendein Anzeichen von Erregung zu entdecken. Rasumoff beobachtete die Unbeweglichkeit des fleischigen Profils. Diese währte aber nur so lange, bis der Fürst geendet hatte. Und als der General sich zu dem gottgesandten jungen Mann wendete, da machten seine blühende Hautfarbe, die blauen ungläubigen Augen und ein blankes konventionelles Lächeln den Eindruck jovialer und unbekümmerter Grausamkeit. Er zeigte über die außerordentliche Geschichte weder Staunen, noch Vergnügen, noch Aufregung – noch auch Ungläubigkeit. Er ließ sich überhaupt kein Gefühl anmerken, sondern sagte nur mit einer fast ehrerbietigen Höflichkeit, daß »der Vogel vielleicht ausgeflogen sein möchte, während Herr – Herr Rasumoff in den Straßen herumlief«.
Rasumoff trat in die Mitte des Raumes und sagte: »Die Tür ist abgesperrt, und ich habe den Schlüssel in der Tasche.« Sein Ekel vor dem Mann war ungeheuer. Er hatte ihn so plötzlich überkommen, daß er das Gefühl hatte, er müsse in seiner Stimme mitgeklungen haben. Der General sah nachdenklich zu ihm auf, und Rasumoff grinste.
Alles dies ging über den Kopf des Fürsten K. weg, der in einem tiefen Armstuhl saß, äußerst müde und ungeduldig.
»Ein Student mit Namen Haldin«, sagte der General in Gedanken.
Rasumoff hörte auf zu grinsen.
»Das ist sein Name«, sagte er unnötig laut. »Viktor Viktorowitsch Haldin, – ein Student.«
Der General richtete sich ein wenig auf.
»Wie ist er angezogen? Würden Sie die Güte haben, mir etwas darüber zu sagen?«
Rasumoff beschrieb ärgerlich Haldins Kleidung in ein paar abgerissenen Worten. Der General sah ihn die ganze Zeit unverwandt an und sagte dann französisch zum Fürsten:
»Wir hatten einige Anhaltspunkte; eine gute Frau, die gerade in der Straße war, beschrieb uns einen Menschen, der ganz ähnlich gekleidet war wie der, der die zweite Bombe geworfen hatte. Wir haben sie im Sekretariat zurückgehalten, und alle Leute in Tscherkessenröcken, deren wir habhaft werden konnten, wurden ihr vorgeführt. Sie bekreuzte sich fortwährend bei ihrem Anblick und schüttelte den Kopf. Es war zum Verzweifeln.«
Er wandte sich an Rasumoff und redete ihn russisch in freundlichem Vorwurf an:
»Nehmen Sie Platz, Herr Rasumoff, bitte. Warum stehen Sie?«
Rasumoff setzte sich nachlässig nieder und sah den General an.
»Dieser glotzäugige Idiot versteht nichts«, dachte er.
Der Fürst begann hastig zu sprechen.
»Herr Rasumoff ist ein junger Mann von hervorragenden Fähigkeiten. Es liegt mir sehr am Herzen, daß seine Zukunft nicht …«
»Gewiß«, unterbrach ihn der General mit einer Geste. »Hat er wohl Waffen bei sich, was glauben Sie, Herr Rasumoff?«
Der General sprach mit leise singender Stimme. Rasumoff erwiderte mit unterdrücktem Ärger:
»Nein, aber meine Rasiermesser liegen herum, – Sie verstehen.«
Der General senkte zustimmend den Kopf: »Sehr richtig.«
Und dann zum Fürsten, höflich erklärend:
»Wir wollen den Vogel lebendig. Es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn wir ihn nicht ein wenig singen machen könnten, bevor wir mit ihm fertig sind.«
Das grabähnliche Schweigen des Raumes mit seiner stummen Uhr schloß sich nach diesem in lautem Ton hingesagten furchtbaren Satz. Der Fürst, in seinem Stuhl verborgen, gab keinen Laut.
Dann begann der General ganz unerwartet einen Gedanken zu entwickeln.
»Die Treue zu bedrohten Einrichtungen, von denen die Sicherheit eines Thrones und eines Volkes abhängt, ist kein Kinderspiel. Wir wissen das, mon prince – und – tenez«, setzte er in ruhigem und doch schmeichelhaftem Ton hinzu, »Herr Rasumoff hier beginnt das gleichfalls zu begreifen.«
Die Augen, die er Rasumoff zuwendete, schienen aus dem Kopf herauszutreten. Doch ihr grotesker Anblick störte Rasumoff nicht länger. Er sagte mit düsterer Überzeugung:
»Haldin wird nie sprechen.«
»Das wollen wir abwarten«, murmelte der General.
»Ich bin dessen gewiß«, beharrte Rasumoff. »Ein Mann wie er spricht niemals … Glauben Sie vielleicht, daß ich aus Angst hier bin?« fügte er heftig hinzu. Er fühlte sich bereit, seine Meinung von Haldin bis zum äußersten durchzuhalten.
»Gewiß nicht«, wehrte der General kühl ab. »Und ich zögere nicht, Ihnen zu gestehen, Herr Rasumoff, daß er wie ein Stein im Wasser verschwunden wäre, wenn er mit seiner Geschichte nicht an einen so überzeugten und kaisertreuen Russen geraten wäre, wie Sie es sind … und das hätte einen abscheulichen Eindruck gemacht,« fügte er hinzu, mit einem frohen, grausamen Lächeln unter dem starren Blick. »Sie sehen also, daß von Furcht hier gar nicht die Rede sein konnte.«
Der Fürst mischte sich ein und sah über die Lehne des Klubsessels nach Rasumoff.
»Niemand zweifelt an dem moralischen Wert Ihrer Handlungsweise, beruhigen Sie sich darüber, bitte.«
Dann wandte er sich leicht verlegen an den General.
»Dies ist der Grund meiner Anwesenheit. Sie sind vielleicht überrascht, warum ich …«
Der General unterbrach ihn eilig: »Ganz und gar nicht. Durchaus natürlich. Sie haben die Wichtigkeit erkannt …«
»Jawohl«, fiel der Fürst ein, »und ich erlaube mir die inständige Bitte, daß meine und Herrn Rasumoffs Einmischung nicht bekannt werden möchte. Er ist ein junger Mensch von vielversprechenden und bemerkenswerten Fähigkeiten.«
»Ich zweifle nicht daran«, murmelte der General, »er flößt Vertrauen ein.«
»Heutzutage sind alle möglichen gefährlichen Ansichten so weit verbreitet, reichen in Kreise, in denen man es nicht vermuten sollte, und so könnte er, so ungeheuerlich es klingt, Schaden nehmen … seine Studien … seine …«
Der General stützte die Ellbogen auf den Tisch und nahm den Kopf in beide Hände:
»Ja, ja, ich überdenke es eben … wie lange ist es her, daß Sie ihn in Ihrem Zimmer verlassen haben, Herr Rasumoff?«
Rasumoff nannte die Zeit, zu der er ungefähr aus der großen Diebeshöhle geflohen war. Er hatte sich entschlossen, Siemianitsch ganz aus dem Spiel zu lassen. Die bloße Erwähnung würde für die »starke Seele« Verhaftung bedeuten, grausame Durchpeitschung vielleicht, und schließlich eine Reise nach Sibirien, in Ketten. Rasumoff, der Siemianitsch geprügelt hatte, fühlte nun für ihn eine vage und ein wenig reuevolle Zärtlichkeit.
Der General gab zum ersten Male seinen gehobenen Gefühlen nach und rief verächtlich aus:
»Und Sie sagen, daß er zu Ihnen kam, um Ihnen dieses Geständnis zu machen. Nur so – für nichts – à propos des bottes.«
Rasumoff witterte Gefahr. Hier hatte der unbarmherzige, mißtrauische Despotismus endlich offen gesprochen. Eine plötzliche Angst schloß Rasumoff den Mund. Das Schweigen des Raumes erinnerte nun an die Totenstille eines tiefen Kellerloches, in dem die Zeit stille steht und in dem ein Verdächtiger mitunter für immer vergessen wird. Doch der Fürst kam zu Hilfe.
»Die Vorsehung selbst hat den Schuft dazu gebracht, in einem Augenblick geistiger Verwirrung Herrn Rasumoff aufzusuchen. Auf Grund eines früheren, gänzlich mißverstandenen Gedankenaustausches, einer Art müßiger, spitzfindiger Unterhaltung –, die, wie ich höre, vor Monaten stattfand und die Herr Rasumoff seither gänzlich vergessen hat.«
»Herr Rasumoff«, fragte der General nachdenklich nach einem kurzen Schweigen, »gefallen Sie sich oft in spitzfindigen Unterhaltungen?«
»Nein, Exzellenz«, erwiderte Rasumoff kalt, mit plötzlich wiedergekehrtem Selbstvertrauen. »Ich bin ein Mensch von festen Überzeugungen. Gefährliche Ansichten liegen in der Luft. Sie sind es nicht immer wert, daß man sie bestreitet. Doch selbst die schweigende Verachtung eines ernsten Menschen kann von verrückten Phantasten falsch ausgelegt werden.«
Der General sah unter den stützenden Händen auf, Fürst K. murmelte:
»Ein ernster junger Mensch. Un esprit supérieur.«
»Ich sehe das, mon eher prince«, sagte der General, »Herr Rasumoff hat von mir nichts zu fürchten. Er interessiert mich. Er hat, wie es scheint, die große und nützliche Gabe, Vertrauen einzuflößen. Was mich wundert, ist nur das eine, warum der andere überhaupt etwas erwähnte – ich meine, auch die bloße Tatsache –, wenn es ihm nur darum zu tun war, für ein paar Stunden Unterschlupf zu finden. Denn schließlich und endlich war ja nichts leichter, als von der ganzen Sache überhaupt zu schweigen, außer vielleicht, er hätte in grober Verkennung Ihrer tatsächlichen Gefühle Ihren Beistand zu erringen versucht. – Wie, Herr Rasumoff?«
Rasumoff war, als wankte der Boden unter ihm. Dieser groteske Mann in der engen Uniform war furchtbar. Es war schon richtig, was man von ihm erzählte.
»Ich verstehe, was Exzellenz meinen. Doch ich kann nur antworten, daß ich den Grund nicht kenne.«
»Ich meine gar nichts«, murmelte der General, höflich überrascht.
»Ich bin seine Beute, seine wehrlose Beute«, dachte Rasumoff. Die Müdigkeit und der Ärger, die Aufregungen des Nachmittags, der Wunsch, zu vergessen, die Angst, die er nicht ganz niederzuhalten vermochte, dies alles erweckte seinen Haß gegen Haldin aufs neue.
»Dann kann ich Ew. Exzellenz nicht helfen. Ich weiß nicht, was er damit meinte. Ich weiß nur, daß ich einen Augenblick lang den Wunsch fühlte, ihn zu töten. Dann gab es einen anderen Augenblick, wo ich selbst wünschte, tot zu sein. Ich sagte nichts, ich wurde überfallen. Ich forderte kein Vertrauen heraus – verlangte keine Erklärungen –«
Rasumoff schien außer sich, doch sein Geist war klar. Der Ausbruch war berechnet.
»Es ist sehr schade«, sagte der General, »daß Sie das nicht taten. Haben Sie gar keine Ahnung, was er vorhat?«
Rasumoff beruhigte sich, als er diesen Ausweg sah.
»Er sprach mir von der Hoffnung, daß ihn ein Schlitten erwarten solle, etwa eine halbe Stunde nach Mitternacht, beim siebenten Laternenpfahl, vom linken oberen Ende der Karabelnaya an gerechnet. Jedenfalls wollte er um diese Zeit dort sein. Er bat nicht einmal, die Kleider wechseln zu dürfen.«
»Ah, voilà«, wendete sich der General zu Fürst K., augenscheinlich befriedigt. »Da hätten wir also die Möglichkeit, Ihren Protegé, Herrn Rasumoff, bei der bevorstehenden Verhaftung ganz aus dem Spiel zu lassen. Wir wollen den Herrn in der Karabelnaya erwarten.«
Der Fürst äußerte seine Dankbarkeit. Eine aufrichtige Rührung klang aus seiner Stimme. Rasumoff saß reglos und schweigend da und stierte auf den Teppich. Der General fragte ihn:
»Eine halbe Stunde nach Mitternacht. Bis dahin müssen wir uns auf Sie verlassen, Herr Rasumoff. Sie halten es nicht für möglich, daß er seine Absicht ändert?«
»Wie kann ich das sagen?« erwiderte Rasumoff. »Doch Leute dieser Art gehen nie von einem Vorhaben ab.«
»Was für Leute meinen Sie?«
»Die fanatischen Anhänger der Freiheit im allgemeinen. Freiheit mit großem F, Exzellenz. Der Freiheit, unter der nichts Bestimmtes zu verstehen ist. Der Freiheit, in deren Namen Verbrechen begangen werden.«
Der General murmelte:
»Ich hasse jede Art von Rebellion. Ich kann nicht anders, es liegt in meiner Natur.«
Er schüttelte die geballten Fäuste vor sich. »Sie müssen vernichtet werden.«
»Sie haben schon im vorhinein auf ihr Leben verzichtet«, meinte Rasumoff mit leisem Spott und sah dem General gerade ins Gesicht. – »Wenn Haldin heute nacht seine Absicht ändert, so können Sie sich darauf verlassen, daß er es nicht tun wird, um sich auf irgendeine andere Art durch Flucht zu retten. Er könnte höchstens auf die Idee kommen, noch ein anderes Attentat zu wagen, doch das ist nicht wahrscheinlich.«
Der General wiederholte wie für sich: »Sie müssen vernichtet werden.«
Rasumoff machte ein undurchdringliches Gesicht. Der Fürst rief aus:
»Welch furchtbare Notwendigkeit!«
Der General senkte langsam den Arm:
»Einen Trost gibt es. Diese Brut hinterläßt keine Nachkommen. Ich habe es immer gesagt. Eine Anstrengung, erbarmungslos, hartnäckig, nachdrücklich – und wir sind sie ein für allemal los.«
Rasumoff sagte sich, daß dieser Mann, dem so unumschränkte Gewalt anvertraut war, fest überzeugt sein mußte von der Richtigkeit dieser Worte, da er sonst die Verantwortung nicht hätte tragen können.
Der General wiederholte noch einmal, in tiefer Erbitterung:
»Ich hasse Rebellen. Diese Umstürzler, diese geistigen Débauchés. Mein ganzes Leben ist auf der Treue aufgebaut. Das ist ein Gefühl. Es zu verteidigen, bin ich bereit, mein Leben hinzugeben – sogar meine Ehre –, wenn es nötig wäre. Doch sagen Sie mir, bitte, wie kann man von Ehre reden bei Rebellen – bei Leuten, die Gott selbst leugnen, – bei Ungläubigen! Tiere sind es. Es ist schrecklich, das auszudenken.«
Während dieser Tirade hatte Rasumoff den General fest angesehen und zweimal leicht genickt. Fürst K. stand in vornehmer Ruhe zur Seite und murmelte mit einem Aufblick:
»Hélas!«
Dann senkte er den Blick und erklärte mit großer Entschiedenheit:
»Bei diesem jungen Mann, General, fallen Ihre denkwürdigen Worte auf den richtigen Boden.«
Der Gesichtsausdruck des Generals wechselte von finsterm Groll zu vollkommener Höflichkeit.
»Ich möchte Herrn Rasumoff nun bitten«, sagte er, »in seine Wohnung zurückzukehren. Bemerken Sie, daß ich Herrn Rasumoff nicht gefragt habe, ob er seine Abwesenheit vor seinem Gaste entschuldigt hat? Zweifellos hat er dies in hinreichender Weise getan. Aber ich frage nicht. Herr Rasumoff flößt Vertrauen ein. Das ist eine wertvolle Gabe. Ich will nur sagen, daß eine noch längere Abwesenheit das Mißtrauen des Verbrechers wecken und ihn vielleicht dazu bestimmen könnte, seine Pläne zu ändern.«
Damit erhob er sich und geleitete seine Besucher mit fast übertriebener Zuvorkommenheit in den Vorraum, der mit den vielen Blumentöpfen angefüllt war.
Rasumoff verließ den Fürsten an einer Straßenecke. In dem Wagen hatte er Reden angehört, in denen ein natürliches Gefühl mit der Vorsicht kämpfte. Augenscheinlich befürchtete der Fürst, die Hoffnung auf weiteren Verkehr zu ermutigen. In der Stimme aber, die im Dunkeln alle die gleichgültigen Worte zu Rasumoff sprach, lag auch ein Schatten von Zärtlichkeit. Endlich sagte der Fürst:
»Ich habe festes Vertrauen zu Ihnen, Herr Rasumoff.«
»Alle haben, wie es scheint, Vertrauen zu mir«, dachte Rasumoff unmutig. Er fühlte eine leichte Verachtung für den Mann, der Schulter an Schulter mit ihm in dem engen Raume saß. Wahrscheinlich fürchtete er sich vor irgendeiner Szene mit seiner Frau. Man erzählte sich von ihr, daß sie stolz und heftig sei.
Es kam ihm merkwürdig vor, daß das Geheimnis in der ruhigen Bequemlichkeit des Lebens eine so große Rolle spielen sollte. Doch er wollte dem Fürsten die Seelenruhe wiedergeben, und so sagte er mit angemessenem Pathos, daß er sich einiger geringer Fähigkeiten wohl bewußt sei und im Vertrauen auf seine Arbeitskraft hoffnungsfroh in die Zukunft blicke. Er danke für die hilfreich dargebotene Hand. So gefährliche Situationen kämen in einem Leben nicht zweimal vor, fügte er hinzu.
»Und in diesem einen Falle haben Sie eine Entschlußkraft und Feinfühligkeit bewiesen, die mir einen hohen Begriff von Ihrem Wert geben …«, sagte der Fürst feierlich. »Sie müssen nun weiter so bleiben – so bleiben.«
Als er schon auf dem Pflaster stand, sah Rasumoff, wie sich ihm aus dem herabgelassenen Fenster des Brougham eine weiße, unbehandschuhte Hand entgegenstreckte. Sie hielt einen Augenblick lang seine eigene umschlossen, während das Licht einer Straßenlaterne auf des Fürsten schmales Gesicht und seinen altmodischen Backenbart fiel.
»Ich hoffe, Sie sind nun vollkommen beruhigt wegen der möglichen Folgen.«
»Nach allem, was Ew. Exzellenz geruht haben, für mich zu tun, kann ich mich auf mein Gewissen verlassen.«
»Adieu«, sagte der Kopf mit dem Backenbart gefühlvoll.
Rasumoff verbeugte sich. Der Schlitten fuhr mit einem leisen Knirschen an, kam außer Sicht, und Rasumoff stand allein auf der Straße.
Er sagte sich, daß er darüber nicht weiter nachzudenken habe, und trat den Heimweg an.
Er ging langsam. Es war ihm eine liebe Gewohnheit, so heimzugehen, dem Bett zu, nach einem Abend, den er irgendwo bei einem Kameraden oder auf den billigeren Plätzen eines Theaters verbracht hatte. Nach einer kurzen Strecke Weges drängte sich ihm die Vertrautheit der Umgebung auf. Nichts war verändert. Da war die gewohnte Ecke, und gleich dahinter sah er das vertraute trübe Licht des Kramladens, der einer deutschen Frau gehörte. In dem schmalen Auslagenfenster sah man altbackene Brotlaibe, Bünde von Zwiebeln und lange Ketten von Würsten. Der Laden wurde eben geschlossen. Der kränkliche, lange Bursche, den er vom Sehen so gut kannte, wackelte in den Schnee heraus und hielt mit beiden Armen einen großen Holzladen umarmt.
Es würde alles beim alten bleiben. Sein Haus grüßte ihm wohlbekannt entgegen mit dem schwarzgähnenden Torweg und den schwachen Lichtschimmern, die die Absätze des Stiegenhauses kennzeichneten.
Der Lebensmut hing von äußerlichen Eindrücken ab. Die Banalitäten des Alltages bildeten einen Schutzwall für die Seele; dieser Gedanke bestärkte Rasumoff in seiner inneren Ruhe, als er die Treppen zu ersteigen begann, deren Stufen seine Füße mühelos im Dunkeln fanden, während seine Hand über das altgewohnte, naßkalte Geländer glitt. Das Außerordentliche konnte nicht aufkommen gegen die körperliche Berührung mit der gewohnten Umgebung, wodurch ein Tag dem anderen ähnlich wurde. Das Morgen würde sein wie das Gestern.
Erst auf dem Vorplatz seiner Wohnung kam ihm das Ungewöhnliche zum Bewußtsein.
»Ich vermute«, dachte Rasumoff, »daß ich ebenso ruhig wie jetzt diese Stiegen heraufgekommen wäre, wenn ich den Entschluß gefaßt hätte, mir hier oben eine Kugel in den Kopf zu schießen. Was kann ein Mann tun! Was sein muß, muß sein. Gewiß geschehen außerordentliche Dinge. Sind sie aber geschehen, dann sind sie auch abgetan, das heißt, sobald man einen Entschluß gefaßt hat. Diese Frage ist abgetan, und die täglichen Sorgen unseres gewohnten Gedankenganges verschlingen sie. – Und das Leben geht weiter wie zuvor, und seine geheimnisvollen und verborgenen Zufälle bleiben außer Sicht, wie es sich gehört. Das Leben ist eine öffentliche Sache.«
Rasumoff sperrte seine Tür auf und zog den Schlüssel ab. Dann trat er ganz ruhig ein und schloß die Tür vorsichtig hinter sich.
Er dachte »er hört mich« und blieb, nachdem er die Tür geschlossen hatte, mit angehaltenem Atem stehen. Kein Laut war zu hören. Er durchschritt das lange erste Zimmer, vorsichtig durch die Dunkelheit tappend. Als er in das zweite gekommen war, tastete er den ganzen Tisch nach der Streichholzschachtel ab. Nur diese vorsichtigen Bewegungen seiner Hand unterbrachen die tiefe Stille. Konnte der Bursche so fest schlafen?
Er machte Licht und sah nach dem Bett. Haldin lag auf dem Rücken wie zuvor, nur hatte er die Hände jetzt unter dem Kopf. Seine Augen waren offen. Er starrte nach der Decke.
Rasumoff hielt das Streichholz hoch. Er sah die scharf geschnittenen Züge, das feste Kinn, die weiße Stirn und den blonden Haarschopf gegen das weiße Kissen. Da war er, flach auf dem Rücken ausgestreckt. Rasumoff dachte plötzlich: »Ich bin über seine Brust weggegangen.«
Er sah starr hin, bis das Streichholz ausgebrannt war, rieb dann ein anderes an und entzündete die Lampe schweigend, ohne nochmals nach dem Bett hinzusehen. Er kehrte ihm den Rücken zu und hängte eben seinen Rock an einen Nagel, als er Haldin seufzen und dann mit müder Stimme sagen hörte:
»Nun, was haben Sie ausgemacht?«
Seine Erregung war so groß, daß Rasumoff froh war, die Hände gegen die Wand stützen zu können. Er fühlte die teuflische Lust in sich, zu sagen: »ich habe Sie der Polizei ausgeliefert«, und erschrak tödlich dabei. Er sprach es aber nicht aus. Er sagte, ohne sich umzudrehen mit undeutlicher Stimme:
»Es ist getan.«
Wieder hörte er Haldin seufzen. Er ging zum Tisch zurück, setzte sich gerade vor die Lampe und sah erst dann wieder zum Bett hin.
In der fernen Ecke des großen Raumes, weitab von der Lampe, die klein war und einen sehr dichten seidenen Schirm hatte, erschien Haldin nur wie ein dunkler und langgestreckter Schatten, in tödlicher Reglosigkeit erstarrt. Dieser Leib schien noch weniger Körperlichkeit zu haben als sein Phantom, über das Rasumoff mitten in der weißbeschneiten Straße weggegangen war. In seiner schattenhaften, beharrlichen Wirklichkeit war er furchtbarer anzusehen als die klare, aber rasch vorübergehende Halluzination.
Haldin ließ sich abermals hören.
»Sie müssen einen ganz üblen Weg gehabt haben …«, murmelte er bedauernd, »dieses Wetter –«
Rasumoff antwortete rasch:
»Schrecklicher Weg … ein Höllenweg!«
Er schauderte hörbar zusammen. Haldin seufzte wieder auf und sagte dann:
»Und Sie haben also Siemianitsch gesehen, Bruder?«
»Ich habe ihn gesehen.«
Dabei erinnerte sich Rasumoff an die Zeit, die er mit dem Fürsten verbracht hatte, und hielt es für klug, hinzuzufügen: »Ich hatte einige Zeit zu warten.«
»Ein Charakter, was? Es ist ganz unglaublich, wie stark in diesem Mann das Verständnis für die Notwendigkeit der Freiheit ist; und dann hat er Aussprüche – einfach, aber treffend, wie sie eben nur das Volk in seinem rauhen Mutterwitz erfinden kann. Ein Charakter der …«
»Ich hatte allerdings nicht viel Gelegenheit …«, murmelte Rasumoff durch die Zähne.
Haldin fuhr fort nach der Decke zu starren.
»Sehen Sie, Bruder, ich war in der letzten Zeit ziemlich viel in jenem Haus. Ich pflegte Bücher dahin mitzunehmen, – Flugblätter. Ziemlich viele unter den Armen, die dort leben, können lesen, und sehen Sie, die Gäste für das Festmahl der Freiheit müssen an den Hecken und Zäunen zusammengesucht werden. Die Wahrheit zu sagen, habe ich zuletzt fast ganz in jenem Haus gewohnt. Manchmal schlief ich im Stall; es gibt einen Stall dort …«
»Ebenda hatte ich auch meine Unterredung mit Siemianitsch«, fiel Rasumoff höflich ein. Eine merkwürdige Spottlust überkam ihn, und er fügte hinzu: »Sie war in gewissem Sinn recht befriedigend. Ich kam mir nachher wesentlich erleichtert vor.«
»Was, er ist ein ganzer Kerl?« fuhr Haldin fort, langsam zur Decke hinauf zu sprechen. »Ich kam nämlich so dazu, seine Bekanntschaft zu machen: Vor einigen Wochen schon, sobald ich mich entschlossen hatte, das zu tun, was getan sein mußte, versuchte ich mich zu isolieren. Ich gab meine Zimmer auf. Wozu hätte ich denn eine brave Witwe der Gefahr aussetzen sollen, von der Polizei verrückt gemacht zu werden. Ich gab es auf, irgendwelche unserer Kameraden zu sehen …«
Rasumoff zog einen halben Bogen Papier zu sich heran und begann mit einem Bleistift Linien darauf zu ziehen.
»Meiner Seele«, dachte er wütend, »er scheint auf jedermanns Sicherheit bedacht zu sein, nur nicht auf meine.«
Haldin sprach weiter:
»Heute morgen, was, heute morgen, das war etwas anderes. Wie soll ich Ihnen das erklären? Vor der Tat wanderte ich die Nächte durch herum und verbarg mich unter Tags, überdachte alles und fühlte mich ruhig. Schlaflos, aber ruhig. Womit hätte ich mich quälen sollen. Heute morgen aber – nachher! –, da wurde ich ruhelos. Ich hätte es in diesem großen Hause voll Elend nicht aushalten können. Die Elenden dieser Welt können einem keinen Frieden geben, und als der dumme Wächter in dem Holzlager Lärm zu schlagen begann, da sagte ich mir: ›In dieser Stadt gibt es einen jungen Mann, der himmelhoch über die gewöhnlichen Vorurteile erhaben ist‹.«
»Macht er sich über mich lustig«, fragte sich Rasumoff, während er fortfuhr, ziellos Dreiecke und Quadrate zu zeichnen, und plötzlich kam ihm der Gedanke: »Mein Benehmen muß ihn befremden. Wenn er sich darüber erschreckt und mir fortrennt, bin ich übel dran. Der verdammte General …«
Er ließ den Bleistift fallen, fuhr herum und sah nach der schattenhaften Gestalt, die auf dem Bett ausgestreckt lag – soviel undeutlicher als die andere, über deren Brust er ohne Zögern hinweggeschritten war. War diese etwa auch ein Phantom?
Das Schweigen hatte lange Zeit angehalten. »Er ist nicht mehr hier«, das war der Gedanke, gegen den Rasumoff verzweifelt ankämpfte, ganz entsetzt vor seiner möglichen Wahrheit. »Er ist schon fort … und dies … nur …«
Er konnte nicht länger an sich halten, sprang auf die Füße, und mit dem lauten Ausruf: »Ich habe eine unerträgliche Angst in mir«, machte er ein paar lange Schritte bis zum Bett hin. Seine Hand fiel leicht auf Haldins Schulter, und im selben Augenblick, wo er seine Körperlichkeit fühlte, packte ihn der verrückte Wunsch, diese bloße Kehle zu fassen und den Atem aus diesem Leib zu quetschen, damit er nicht seiner Obhut entfliehe und vielleicht nur ein Phantom zurückließe.
Haldin rührte kein Glied, nur der Blick seiner überschatteten Augen wandte sich Rasumoff zu mit inniger Dankbarkeit für diese Gefühlsäußerung.
Rasumoff wendete sich ab und schritt im Zimmer auf und nieder. »Vielleicht wäre es eine Wohltat gewesen«, sagte er sich und war überrascht, daß sich ihm gerade diese Verteidigung für seine mörderische Absicht auftat. Er kam nicht los davon und mußte sich immer eingehender damit beschäftigen. »Was hat er zu erwarten«, dachte er; »den Galgen zuletzt. Und ich …«
Haldins Stimme riß ihn aus seinen Betrachtungen.
»Warum sollten Sie um mich Angst haben? Sie können meinen Leib töten, aber meine Seele können sie nicht aus dieser Welt verbannen. Ich will Ihnen etwas sagen – ich glaube so fest an diese Welt, daß ich mir die Ewigkeit nur als ein sehr langes Leben vorstellen kann. Vielleicht ist das der Grund, daß ich zum Sterben so ganz bereit bin.«
»Hm«, knurrte Rasumoff, biß sich auf die Unterlippe und versuchte, seinen Gedankengang fortzuführen, während er im Zimmer auf und ab ging.
»Gewiß, für einen Mann in dieser Lage würde es eine Wohltat bedeuten. Es handelt sich hier aber nicht darum, gütig zu sein, sondern fest. Er ist ein unsicherer Kunde …«
»Auch ich, Viktor Viktorowitsch, glaube an diese äußere Welt«, sagte er mit Nachdruck; »auch ich, solange ich lebe. Doch Sie scheinen ja entschlossen, als Geist wiederzukehren. Sie können doch nicht im Ernst meinen …«
Haldin unterbrach ihn.
»Als Geist umgehen! Gewiß, denen, die den Gedanken unterdrücken wollen, der die Welt belebt, die die Seelen ausrotten wollen, die die Durchsetzung der Menschenrechte erstreben, denen sollte man als rächender Geist erscheinen. Den anderen, die nur meinen Leib vernichten werden, denen habe ich schon im voraus verziehen.«
Rasumoff war stehengeblieben, als wollte er zuhören, zugleich aber verfolgte er seine eigenen Gedanken. Er beklagte sich über sich selbst, daß er Haldins Worten soviel Wichtigkeit beimaß.
»Der Kerl ist verrückt«, sagte er sich, doch diese Überzeugung stimmte ihn gegen Haldin nicht milder. Es war eine ganz besonders schamlose Art von Irrsinn, und wenn die einmal im öffentlichen Leben eines Volkes frei um sich greift, dann war es ganz zweifellos die Pflicht jedes guten Bürgers …
Hier brach dieser Gedankengang kurz ab und machte einem so wütenden Haß gegen Haldin Platz, daß Rasumoff schleunigst zu sprechen begann:
»Jawohl; Ewigkeit, natürlich. Ich kann mir auch kein ganz klares Bild davon machen … dennoch denke ich mir darunter etwas Ruhiges und Ausgeglichenes. Es könnte nichts Unerwartetes mehr geben – verstehen Sie mich. Das Zeitbewußtsein wäre ausgeschaltet.«
Er zog seine Uhr heraus und sah nach der Zeit. Haldin drehte sich auf die Seite und sah aufmerksam nach ihm hin.
Diese Bewegung erschreckte Rasumoff. Ein unsicherer Kunde, dieser Kerl mit dem Phantom. Es war noch nicht Mitternacht. Er fuhr hastig fort:
»Und Geheimnisse wären undenkbar. Können Sie sich in der Ewigkeit irgend etwas Verborgenes denken? Unmöglich! Während das Leben davon wimmelt. So gibt es zum Beispiel diskrete Geburten, daran trägt man bis zu seinem Lebensende. Es liegt doch etwas Komisches darin … Doch lassen wir das. Dann gibt es geheime Gründe, die die Handlungsweise beeinflussen, die scheinbar offenherzigsten Handlungen eines Menschen haben ihre geheime Unterbedeutung. Das ist interessant und doch so unergründlich. So zum Beispiel: ein Mensch verläßt sein Zimmer, um einen Gang zu machen. Etwas durchaus Alltägliches scheinbar, und doch kann es von schwerwiegender Bedeutung sein. Er kommt zurück – vielleicht hat er irgendein besoffenes Vieh gesehen, besondere Eindrücke von dem Schnee auf der Straße empfangen – und ist nicht mehr derselbe Mann. Die unwahrscheinlichsten Dinge haben eine geheimnisvolle Macht über die Gedanken – der graue Backenbart eines bestimmten Menschen – oder die Glotzaugen eines anderen.«
Rasumoff hatte Schweiß auf der Stirne. Er durchmaß den Raum ein-, zweimal mit gesenktem Kopfe und lächelte böse vor sich hin.
»Haben Sie je über den Einfluß von Glotzaugen und grauen Backenbärten nachgedacht? Entschuldigen Sie, Sie scheinen mich für verrückt zu halten, da ich zu dieser Stunde solches Zeug daherrede. Ich rede nicht ins Blaue. Ich habe Beispiele erlebt. Ich habe einmal mit einem Menschen gesprochen, dessen Schicksal durch grob äußerliche Umstände dieser Art bestimmt worden war, und der Mann wußte es nicht. Es war allerdings eine Gewissensfrage, doch materielle Tatsachen, wie die erwähnten, führten die Lösung herbei. Und Sie sagen mir, Viktor Viktorowitsch, ich soll keine Angst haben. Was! Ich bin verantwortlich für Sie«, schrie Rasumoff fast auf.
Zugleich hatte er Mühe, ein mephistophelisches Gelächter zu unterdrücken. Haldin, ganz bleich, richtete sich auf den Ellbogen auf.
»Und die Überraschungen des Lebens«, fuhr Rasumoff fort, nach einem unruhigen Blick auf den anderen, »bedenken Sie doch, wie ganz verblüffend die sind. Ich sage nicht, daß Sie unrecht getan haben; von einem gewissen Gesichtspunkt aus gesehen hätten Sie eigentlich nichts Besseres tun können. Sie hätten an einen Mann geraten können, der Rücksicht auf Verwandte und Freunde zu nehmen gehabt hätte. Sie selbst haben solche Rücksichten zu nehmen. Ich dagegen bin, wie Sie wohl wissen, in einem Erziehungsinstitut aufgewachsen, wo man uns nicht genug zu essen gab. Unter solchen Umständen von Gefühlen zu reden – das sehen Sie selbst … Und was die Rücksichten angeht, so sind die einzigen, die für mich existieren, sozialer Natur. Ich muß mir auf irgendeine Weise Anerkennung verschaffen, bevor ich meine Kräfte entfalten kann. Da sitze ich und arbeite … und glauben Sie nicht, daß auch ich für den Fortschritt tätig bin? Ich muß mir über den richtigen Weg meine eigenen Ideen bilden … Verzeihen Sie«, fuhr Rasumoff fort, holte tief Atem und lachte kurz und heiser auf, »aber ich habe keine revolutionären Triebe oder körperliche Ähnlichkeit von einem Onkel geerbt.«
Wieder sah er nach der Uhr und konstatierte wütend, daß noch eine Reihe von Minuten bis Mitternacht fehlte. Er nahm die Uhr samt Kette aus der Tasche und legte sie offen auf den Tisch mitten in den Lichtkreis der Lampe. Haldin legte sich auf den Ellbogen zurück und rührte sich nicht. Rasumoff fühlte sich durch diese Stellung beunruhigt. »Welchen Plan heckt er jetzt wohl aus?« dachte er. »Man muß ihn daran verhindern. Ich muß weiter zu ihm sprechen.«
Er erhob die Stimme:
»Sie sind der Sohn, Bruder, Neffe, Vetter – ich weiß nicht was – einer endlosen Reihe von Leuten. Ich bin nur ein Mann. Hier steht er vor Ihnen. Ein Mann mit Verstand. Haben sie darüber nachgedacht, wie ein Mann, der nie in seinem Leben ein Wort warmer Zuneigung oder Anerkennung gehört hat, sich zu der Frage stellen würde, an die Sie zunächst mit dem Für und Wider Ihrer Abstammung, mit Ihrer Familientradition, Ihren häuslichen Vorurteilen herangehen würden … Haben Sie je darüber nachgedacht, wie ein solcher Mann empfinden würde? Ich habe keine Familientradition. Ich kenne keine Nebengedanken. Meine Tradition ist die Weltgeschichte. Was bleibt mir als diese nationale Vergangenheit, von der ihr Herren euch wegentwickeln wollt? Soll ich meinen Verstand, mein Streben nach einem besseren Los ihres einzigen Zieles berauben, nur weil es gewalttätige Enthusiasten wollen? Sie kommen aus Ihrer Provinz, doch dieses ganze Land ist mein, oder ich habe gar nichts. Zweifellos wird man Sie eines Tages als Märtyrer betrachten, als eine Art Helden, einen politischen Heiligen. Doch ich tue dabei nicht mit. Ich bin zufrieden damit, ein Arbeiter zu sein. Und was tut ihr anderen schon, wenn ihr ein paar Tropfen Blut auf den Schnee spritzt, auf diese Unendlichkeit, auf diese unglückliche Unendlichkeit. Ich sage Ihnen«, schrie er mit zitternder Stimme und trat einen Schritt gegen das Bett vor, »wir brauchen keine Spukgeister, über die ich weggehen könnte – sondern einen Mann.«
Haldin streckte die Arme vor, als wollte er ihn entsetzt von sich abwehren.
»Jetzt verstehe ich alles«, rief er aus, erschreckt und traurig. »Ich verstehe – endlich.«
Rasumoff wankte zum Tisch zurück. Auf der Stirne brach ihm der Schweiß aus, während ihm ein kalter Schauder den Rücken hinablief.
»Was habe ich gesagt?« fragte er sich. »Habe ich ihn zuletzt doch noch aus den Fingern gelassen?«
Er fühlte, wie seine Lippen trocken wurden gleich Pergament, und anstatt eines beruhigenden Lächelns brachte er nur eine ungewisse Grimasse zusammen.
»Was wollen Sie«, begann er mit versöhnlicher Stimme, die nach den ersten paar unsicheren Worten fest wurde, »was wollen Sie, bedenken Sie doch, ein arbeitsamer zurückgezogener Mensch – und plötzlich das alles! Ich bin nicht gewohnt, durch die Blume zu reden, aber …«
Er fühlte, wie eine verbissene Wut wieder in ihm hoch kam. »Was sollten wir bis Mitternacht miteinander anfangen? Uns hier gegenübersitzen und über Ihre – Ihre – Schlächterei nachdenken?«
Haldin sah demütig und gebrochen aus. Er senkte den Kopf und ließ die Hände hängen. Seine Stimme klang leise und schmerzlich, aber ruhig.
»Ich sehe nun, wie es ist, Rasumoff, Bruder. Sie sind eine großherzige Seele, aber meine Tat ist Ihnen ein Abscheu – leider Gottes …«
Rasumoff stierte ihn an. Aus Furcht hatte er die Zähne so fest zusammengebissen, daß ihn das ganze Gesicht schmerzte. Es war ihm unmöglich, einen Ton hervorzubringen.
»Und vielleicht ist Ihnen sogar meine Person widerwärtig«, fügte Haldin trostlos hinzu, nach einer kurzen Pause, sah für einen Augenblick auf und richtete dann den Blick zu Boden. »Denn wirklich, wenn einer nicht …«
Er brach ab und wartete augenscheinlich auf irgendein Wort. Rasumoff blieb schweigsam. Haldin nickte trübselig mit dem Kopf.
»Natürlich, natürlich …«, murmelte er. »Ah, harte Arbeit!«
Er verhielt sich einen Augenblick lang ganz ruhig und machte dann Rasumoffs Herz jählings schlagen, indem er unvermittelt aufsprang.
»Sei es so!« rief er in halblautem, traurigem Ton aus. »Leben Sie wohl!«
Rasumoff machte einen Schritt nach vorwärts, doch der Anblick von Haldins erhobener Hand ließ ihn innehalten, noch bevor er vom Tisch losgekommen war. Er stützte sich schwer auf die Platte und horchte auf den schwachen Klang einer Stadtuhr, die die Stunde schlug. Haldin stand schon in der Tür, schlank und sehnig wie ein Bogen, mit bleichem Gesicht und die Hand wie lauschend erhoben; er hätte ein Modell abgeben können für die Statue eines wagemutigen Jünglings, der in sich hinabhorcht. Rasumoff sah ganz mechanisch nach seiner Uhr. Als er den Blick wieder nach der Tür richtete, war Haldin verschwunden. Man hörte ein schwaches Geräusch im Vorraum, das leise Schnappen eines Türriegels, der vorsichtig zurückgezogen wurde. Er war verschwunden – lautlos, fast wie eine Vision.
Rasumoff stürzte taumelnd vor, den Mund geöffnet, doch stumm. Die Außentür stand offen. Er schwankte auf den Treppenabsatz hinaus und lehnte sich weit über das Geländer. Während er in den tiefen schwarzen Schacht hinabsah, den ganz von unten her eine schwache blakende Flamme erhellte, hörte er das Geräusch eines Menschen, der die gewundene Treppe auf den Fußspitzen hinabeilte. Es war ein rascher, unsicherer Laut, der sich von ihm weg in die Tiefe verlor. Ein fliehender Schatten huschte an der Lampe vorbei – die Flamme zuckte auf, dann war Ruhe.
Rasumoff hing über das Geländer und atmete die kalte rauhe Luft, in die sich die üblen Gerüche des Treppenhauses mischten. Alles ruhig.
Er ging langsam in seine Zimmer zurück und schloß die Türen hinter sich. Das friedliche ruhige Licht seiner Studierlampe fiel auf die Uhr. Rasumoff stand und sah auf das kleine weiße Zifferblatt hinunter. Es fehlten noch drei Minuten auf Mitternacht. Er nahm die Uhr mit unsicheren Fingern auf.
»Zu spät«, murmelte er, und ein merkwürdiger Anfall von nervöser Schwäche überkam ihn. Seine Knie zitterten.
Die Uhr samt der Kette glitt ihm aus den Fingern und fiel zu Boden. Er erschrak derartig, daß er fast selbst gefallen wäre. Als er endlich die Gewalt über seine Glieder so weit wieder erreicht hatte, daß er sich bücken konnte, hob er sie auf und ans Ohr. Nach einer Weile knurrte er: »Stehengeblieben«, und fügte erst nach einer langen Pause hinzu:
»Es ist getan … und jetzt an die Arbeit.«
Er setzte sich nieder, griff auf gut Glück nach einem Buch, schlug es in der Mitte auf und begann zu lesen; nachdem er aber gewissenhaft sich durch zwei Zeilen gearbeitet hatte, verlor er jede Möglichkeit, sich weiter darauf zu konzentrieren, und versuchte es auch nicht zu erzwingen. Er dachte:
»Ganz sicher stand jenseits der Straße ein Polizeibeamter, um das Haus zu beobachten.«
Er sah ihn vor sich, wie er in einem dunklen Torweg lauerte, mit Glotzaugen, bis zur Nase herauf in einen dicken Mantel gehüllt und einen Generalshut mit Federbusch auf dem Kopfe. Diese absurde Vorstellung ließ ihn in seinem Sessel häufig aufschrecken. Er mußte buchstäblich den Kopf heftig schütteln, um sie loszuwerden. Der Mann würde vielleicht als Bauer verkleidet sein … als Bettler … oder vielleicht auch nur einen dunkeln Überzieher tragen und einen Gewehrstock. – Irgendein Erzlump mit verschlagenen Augen, der nach Zwiebeln und Fusel roch.
Dieses Bild verursachte ihm geradezu Übelkeit. »Warum quäle ich mich nur damit ab«, dachte er angeekelt, »bin ich ein Gendarm? … und überdies ist es ja getan.«
Er sprang in großer Erregung auf. Es war nicht getan – noch nicht, nicht vor einhalb ein Uhr. Und die Uhr war stehengeblieben. Dies brachte ihn zur Verzweiflung. Unmöglich, die Zeit zu erfahren! Seine Hausfrau und alle die Leute im selben Stockwerk schliefen bereits. Wie konnte er hingehen und … Gott weiß, was die sich denken und wieviel sie erraten würden. Er wagte es auch nicht, in die Straße hinauszugehen, um sich zu vergewissern. »Ich bin jetzt im Verdacht. Es wäre nutzlos, das leugnen zu wollen«, sagte er sich bitter. Wenn Haldin aus irgendeinem Grunde die Polizei aufsitzen ließ und nicht in der Karabelnaya erschien, dann würde man seine Wohnung stürmen, und würde er darin nicht gefunden, so könnte er sich nie wieder reinwaschen. Niemals. Rasumoff blickte wild um sich, als wollte er irgendein Mittel suchen, die Zeit zu messen, für die ihm das Bewußtsein gänzlich entschwunden schien. Niemals noch, solange er denken konnte, hatte er vor dieser Nacht jene Stadtuhr in seinem Zimmer schlagen hören und war nicht einmal ganz sicher, ob er sie tatsächlich in dieser Nacht gehört hatte.
Er ging zum Fenster und stand dort mit leicht geneigtem Kopf in der Erwartung des schwachen Klanges. »Ich bleibe hier stehen, bis ich irgend etwas höre«, sagte er zu sich selbst. Er stand regungslos, das Ohr den Scheiben zugekehrt. Eine grausame, quälende Mattigkeit, mit stechenden Schmerzen im Rücken und in den Beinen, überkam ihn. Er rührte sich nicht. Sein Geist schwankte an der Grenze des Irrsinns. Plötzlich hörte er sich selbst laut sagen: »Ich gestehe«, wie es ein Mensch auf der Folter tun mag; »ich bin auf der Folter«, dachte er. Er fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Der schwache, tiefe Ton der fernen Uhr schien in seinem Kopfe zu explodieren – so deutlich hörte er ihn … Eins!
Wenn Haldin ausgeblieben wäre, so hätte um diese Zeit schon die Polizei hier sein müssen, um das Haus zu durchsuchen. Kein Laut drang zu ihm. Jetzt war es getan.
Er schleppte sich mühsam zum Tisch und ließ sich in den Stuhl fallen. Das Buch schleuderte er fort und griff nach einem Bogen Papier. Es war ein Blatt von dem gleichen Format wie die, die mit seiner zierlichen Handschrift bedeckt aufeinander lagen, nur weiß. Hastig ergriff er eine Feder und tauchte sie ein, in der verworrenen Absicht, an seinem Essay weiterzuschreiben. Doch die Feder blieb ruhig über dem Papier. Eine ganze Zeitlang hing sie da, bevor sie sich niedersenkte und lange klobige Buchstaben zu malen begann.
Mit unbewegtem Gesicht und zusammengepreßten Lippen begann Rasumoff zu schreiben. Wenn er groß schrieb, dann verlor seine Handschrift gänzlich ihren Charakter – und wurde unbeholfen und fast kindisch. Er schrieb fünf Zeilen untereinander.
Tradition und nicht Theorie.
Patriotismus und nicht Internationalismus.
Evolution, nicht Revolution.
Aufbau und nicht Zerstörung.
Einigkeit und nicht Auflösung.
Er sah in stummem Brüten auf das Blatt. Dann ging sein Blick zum Bett und blieb endlose Minuten daran haften, während seine rechte Hand den Tisch nach dem Federmesser abtastete.
Endlich erhob er sich, ging mit ein paar ruhigen Schritten zum Bett und heftete mit dem Federmesser das Blatt an die Mörtelwand über dem Kopfende. Hierauf trat er einen Schritt zurück und sah sich mit einer weiten Handbewegung im Zimmer um.
Dann sah er nicht mehr nach dem Bett. Er nahm seinen dicken Mantel vom Nagel, wickelte sich dicht hinein und legte sich auf das harte Roßhaarsofa auf der anderen Seite des Zimmers. Ein bleierner Schlaf schloß ihm sofort die Augen. Zu wiederholten Malen erwachte er in jener Nacht, noch voll Entsetzen über einen Traum, in dem er sich durch Schneewächten arbeitete, in einem Rußland, in dem er so völlig allein war wie nur je ein verratener Autokrat. Ein ungeheuerliches winterliches Rußland, das er aber in seiner ungeheuren Ausdehnung dennoch mit einem Blick umspannen konnte, als wäre es eine Landkarte. Doch nach jedem erschreckten Auffahren fielen ihm die Augen wieder zu, und er schlief weiter.
Bei diesem Punkt von Mr. Rasumoffs Geschichte angelangt, kommt mir einfachem alten Sprachlehrer die Schwierigkeit der Aufgabe mehr und mehr zum Bewußtsein.
Die Aufgabe liegt ja in Wahrheit nicht darin, ein fremdartiges Dokument möglichst sinngetreu in die erzählende Form zu bringen, sondern vielmehr darin, das sehe ich nun klar ein, die moralischen Grundsätze anschaulich zu machen, die einen großen Teil unserer Welt beherrschen; Voraussetzungen, die nicht leicht zu verstehen, geschweige denn im Rahmen einer Geschichte zu entdecken sind, wenn man nicht ein Schlüsselwort findet; ein Wort, das hinter all den anderen Worten stehen müßte, die die Seiten bedecken, und das, wenn nicht die volle Wahrheit an sich, doch wahr genug wäre, das Verständnis für die Lehre zu erschließen, die die Grundfrage in der Geschichte bilden soll.
Zum hundertsten Male durchblättere ich Rasumoffs Tagebuch, lege es beiseite, nehme die Feder auf und zögere dann doch wieder, schwarz auf weiß das eine Wort festzuhalten, das sich mir immer wieder in die Feder drängen will. Dieses eine Wort aber ist: Zynismus.
Denn dies ist das Kennwort für die russische Autokratie und die russische Rebellion. Der Stolz auf die Zahl, die geheime Freude am Schmerz und der Erniedrigung und das übertriebene Gottähnlichkeitsbewußtsein des einzelnen, diese Tatsachen, die in der jetzigen Strömung Rußlands unverkennbar sind, fallen in ihrer Gesamtheit mit Zynismus zusammen. Zynismus spricht aus den Erklärungen ihrer Staatsmänner, aus den Theorien ihrer Revolutionäre und aus den mystischen Prophezeiungen ihrer Seher, in dem Grade, daß die Freiheit als eine Art Ausschweifung erscheint und die christlichen Tugenden selbst fast unanständig … Doch ich muß um Entschuldigung bitten, wenn ich vom Thema abgewichen bin. Die Wendung hat mich dazu veranlaßt, die Rasumoffs Geschichte nahm, nachdem seine innere Meinung, die zunächst einen, bei seiner Jugend natürlichen, liberalen Einschlag gezeigt hatte, nach der abschreckenden Berührung mit Haldin zu einem überzeugten Konservativismus erstarrt war.
Rasumoff wachte vielleicht zum zehnten Male auf und bebte vor Kälte. Da er das Tageslicht am Fenster sah, widerstand er der Versuchung, sich wieder niederzulegen. Er erinnerte sich an gar nichts, fand es aber nicht weiter verwunderlich, daß er so in seinem Mantel und durchgefroren bis auf das Mark auf dem Sofa erwachte. Das Licht, das durch das Fenster drang, schien merkwürdig trübe und erweckte keine Hoffnungen, wie es jeder neue Tag bei einem jungen Menschen tun sollte. Es war das Erwachen eines Todkranken oder eines Neunzigjährigen. Er sah auf die Lampe, die ausgebrannt war. Da stand sie nun, der verlöschte Leitstern seiner Arbeit, ein kaltes Ding aus Messing und Porzellan, zwischen den verstreuten Blättern seiner früheren Konzepte und den Bücherstößen. Das Ganze ein Chaos von geschwärztem Papier – tot und abgetan – ohne Bedeutung oder Interesse.
Er stand auf, entledigte sich seines Mantels und hängte ihn an den Rechen, alles mit mechanischen Bewegungen. Eine unglaubliche Stumpfheit, eine tote Ruhe, wie von stehendem Wasser, lag über seinem Begriffsvermögen, als hätte sich das Leben von allen Dingen zurückgezogen und sogar aus seinen eigenen Gedanken. Im Hause gab es keinen Laut.
Dann wandte er sich von dem Rechen ab und dachte in der gleichen leblosen Art, daß es noch recht früh sein müsse. Als er aber nach der Uhr auf dem Tisch sah, fand er beide Zeiger auf zwölf Uhr stehen.
»O ja«, murmelte er vor sich hin und begann, als wäre er erst richtig erwacht, sein Zimmer zu mustern. Das Blatt an der Wand erregte seine Aufmerksamkeit. Er fixierte es von weitem, ohne Zustimmung oder Überraschung; als er aber hörte, wie das Dienstmädchen im Vorraum an dem Samowar zu arbeiten begann, um seinen Frühstückstee zu bereiten, da ging er hin und nahm das Blatt herunter, mit dem Ausdruck größter Gleichgültigkeit.
Dabei sah er auf das Bett, in dem er diese Nacht nicht geschlafen hatte. Die Höhlung, die Haldins Kopf hineingedrückt hatte, war sehr auffallend.
Doch sogar der Ärger, den er angesichts dieses Erinnerungszeichens an die Gegenwart jenes anderen empfand, war stumpf, und er versuchte nicht, ihn heller zu entfachen. Er tat überhaupt nichts an jenem Tag; er unterließ es sogar, sich die Haare zu bürsten. Der Gedanke, auszugehen, kam ihm gar nicht in den Kopf – und wenn er sich auf keinen zusammenhängenden Gedankengang einließ, so war es nicht, weil er unfähig gewesen wäre, zu denken – es interessierte ihn nur nicht genügend.
Er gähnte oft, trank große Mengen Tee, ging ziellos im Zimmer herum, und sooft er sich niedersetzte, blieb er lange Zeit reglos sitzen. – Längere Zeit brachte er damit hin, ruhig mit den Fingerspitzen auf dem Fenster zu trommeln. Bei seinem achtlosen Umherwandern im Zimmer erblickte er plötzlich sein Bild im Spiegel, und das ließ ihn haltmachen. Die Augen, die seinen Blick erwiderten, waren die unglücklichsten, die er je gesehen hatte. Und dieser Eindruck war es, der zuerst die geistige Straße dieses Tages durchbrach.
Er fühlte sich nicht persönlich berührt, er dachte nur, daß Leben ohne Glück unmöglich sei. Was war Glück? Er gähnte und wanderte weiter zwischen den Wänden seines Zimmers herum. Vorwärtsblicken war Glück – nur das – nichts weiter. Vorwärts blicken auf die Erfüllung eines Wunsches, einer Leidenschaft, Liebe, Ehrgeiz, Haß – zweifellos auch Haß. Liebe und Haß. Und den Gefahren des Daseins entgehen, ohne Angst leben, das war auch Glück, sonst gab es nichts. Keine Angst kennen – und vorwärts blicken. »O über das elende Los der Menschheit!« rief er aus und fügte sofort in Gedanken hinzu: »Ich sollte eigentlich glücklich genug sein, wenn es darauf ankäme.« Diese Versicherung aber erfreute ihn nicht, im Gegenteil, er gähnte wieder, wie er den ganzen Tag über gegähnt hatte. Er war einigermaßen überrascht, als die Nacht hereinbrach. Im Zimmer wurde es rasch dunkel, obwohl die Zeit scheinbar stillgestanden hatte. Wie ging es nur zu, daß er es nicht bemerkt hatte, wie dieser Tag verstrichen war? Natürlich, die Uhr war ja stehengeblieben …
Er zündete die Lampe nicht an, sondern ging zum Bett hin und warf sich ohne jedes Zögern darauf. Er lag auf dem Rücken, legte die Hände unter den Kopf und stierte zur Decke hinauf. Nach einem Augenblick dachte er: »Da liege ich nun wie jener Mensch. Ich möchte wohl wissen, ob er schlief, während ich mich im Schnee durch die Straßen kämpfte. Nein, er schlief nicht. Doch warum sollte ich nicht schlafen«, und er fühlte, wie die Stille der Nacht wie ein Gewicht auf alle seine Glieder drückte.
Durch die Lautlosigkeit der strengen Kälte draußen klangen scharf die Schläge der Stadtuhr, die Mitternacht kündete.
Wieder begann er zu denken. Es waren vierundzwanzig Stunden, seit der andere seine Wohnung verlassen hatte. Rasumoff hatte das bestimmte Gefühl, daß Haldin in der Festung diese Nacht schlafen würde. Diese Gewißheit machte ihn ärgerlich, weil er nicht an Haldin denken wollte. Doch erklärte er es sich mit physiologischen und psychologischen Gründen. Der Kerl hatte seiner eigenen Angabe nach wochenlang nicht geschlafen, und nun hatte alle Ungewißheit ein Ende. Zweifellos sah er dem Ende seines Märtyrertums gern entgegen. Ein Mann, der den Entschluß gefaßt hat, zu töten, hat nicht weit zu dem anderen, selbst zu sterben. Vielleicht schlief Haldin besser als General T., dessen Arbeit – und auch die war hart – noch nicht getan war und über dessen Haupt das Damoklesschwert der Rebellenrache hing.
Rasumoff dachte an den untersetzten Mann, dessen feiste Backen auf dem Uniformkragen ruhten, an diesen Vorkämpfer der Autokratie, der sich kein Zeichen von Überraschung, Ungläubigkeit oder Freude hatte entschlüpfen lassen, dessen Glotzaugen aber einen tödlichen Haß gegen jede Rebellion ausdrücken konnten. Bei diesem Erinnern warf sich Rasumoff unruhig auf dem Bett herum.
»Er hatte mich im Verdacht«, dachte er, »ich glaube, ihm ist jedermann verdächtig. Seine eigene Frau hätte es werden können, wenn Haldin mit seiner Beichte in ihr Boudoir gegangen wäre.«
Rasumoff setzte sich angstvoll auf. Sollte er für immer ein Verdächtiger bleiben? Sollte er durch sein Leben gehen als ein Mann, dem nicht völlig zu trauen war? Durch eine schlechte Zensur der Geheimpolizei gebrandmarkt? Welch einer Zukunft sollte er entgegenblicken?
»Ich bin nun verdächtig«, dachte er wieder; aber die Gewohnheit geistiger Überlegung und der Wunsch nach Sicherheit, nach einem geordneten Leben, der so stark in ihm war, kamen ihm im Verlaufe der Nacht zu Hilfe. Sein ruhiges, geregeltes und arbeitsames Leben würde schließlich doch für seine Loyalität zeugen. Es gab viele erlaubte Wege, dem eigenen Land zu dienen. Es gab eine Betätigung, die den Fortschritt förderte, ohne revolutionär zu sein. Das Wirkungsfeld war groß und unendlich verschieden – wenn man sich erst einen Namen gemacht hatte.
Seine Gedanken kehrten wie ein Vogel, der im Kreise fliegt, nach vierundzwanzig Stunden zu der Silbernen Medaille zurück und setzten sich daran fest.
Als der Tag anbrach, hatte er nicht geschlafen, keinen Augenblick. Doch stand er nicht sehr müde auf und hinlänglich gekräftigt für jedes Vorhaben.
Er ging aus und hörte während des Vormittags drei Vorlesungen. Nachher in der Bibliothek aber war seine Sammlung nur ganz äußerlich. Er saß da mit vielen offenen Bänden vor sich und versuchte Notizen und Auszüge zu machen. Seine neu gewonnene Ruhe glich einem losen Gewand, das jedes zufällige Wort aufflattern machte. »Verrat! Wieso denn! Der Kerl hatte doch alles nur Erdenkliche getan, um sich selbst zu verraten. Es war wirklich nicht viel notwendig gewesen, um ihn zu täuschen.«
»Ich habe kein Wort zu ihm gesagt, das nicht absolut wahr gewesen wäre. Nicht ein Wort«, hielt Rasumoff sich selbst vor.
Da er sich einmal auf diese Gedanken eingelassen hatte, so konnte von irgendwelcher brauchbaren Arbeit keine Rede mehr sein. In ewiger Wiederholung gingen ihm die gleichen Gedanken durch den Kopf, und er sagte sich im Geiste ewig die gleichen Worte. Endlich schlug er alle Bücher zu und stopfte mit hastigen Bewegungen seine Papiere in die Tasche, in heller Wut gegen Haldin.
Als er die Bibliothek verließ, gesellte sich ein langer, knochiger Student in einem fadenscheinigen Überzieher zu ihm und schritt düster neben ihm her. Rasumoff erwiderte seinen gemurmelten Gruß, ohne ihn anzusehen.
»Was will er nur von mir«, fragte er sich mit einer merkwürdigen Furcht vor dem Unerwarteten, die er mit aller Macht abzuschütteln trachtete, damit sie sich nicht für immer und ewig in seinem Leben festsetze. Der andere murmelte vorsichtig und mit gesenkten Augen die Frage, ob der Kamerad schon davon gehört habe, daß P.s Nachrichter – er brauchte diesen Ausdruck – vorgestern nacht verhaftet worden wäre …
»Ich war krank, kam nicht aus dem Zimmer«, stieß Rasumoff zwischen den Zähnen hervor.
Der lange Student zog die Schultern hoch und bohrte die Hände tief in die Taschen. Er hatte ein haarloses, viereckiges, finniges Kinn, das leicht zitterte, wenn er sprach, und seine Nase, die der scharfe Frost grellrot gefärbt hatte, sah zwischen den eingefallenen Wangen wie eine falsche Nase aus angemaltem Pappendeckel aus. Seine ganze Erscheinung erweckte zwingend den Eindruck von Kälte und Hunger. Er schritt bedächtig an Rasumoffs Seite, die Augen zu Boden geschlagen.
»Es ist eine amtliche Bekanntmachung«, fuhr er mit dem gleichen vorsichtigen Murmeln fort, »es kann eine Lüge sein. Irgend jemand wurde aber in der Nacht vom Dienstag zwischen zwölf und ein Uhr verhaftet, das ist gewiß.«
Und während er nach außen hin seine harmlose Maske wahrte, erzählte er Rasumoff mit fliegenden Worten, daß man dies durch einen untergeordneten Regierungsbeamten aus dem Zentralsekretariat erfahren habe. »Dieser Mann gehört einem der revolutionären Vereine an, demselben, dem auch ich angehöre«, bemerkte der Student.
Sie kreuzten einen großen viereckigen Platz. Eine unendliche Traurigkeit überkam Rasumoff, lähmte seine Tatkraft, und vor seinen Augen erschien alles verworren und wie entschwindend. Er wagte es nicht, den Menschen einfach stehen zu lassen. »Er könnte zur Polizei gehören«, fuhr es ihm durch den Kopf. »Wer kann das wissen?« Nach einem Blick auf die elende, verhungerte und verfrorene Erscheinung seines Gefährten kam ihm aber die Unhaltbarkeit dieser Vermutung zum Bewußtsein.
»Ich aber – müssen Sie wissen –, ich gehöre keinem Verein an. Ich …«
Er wagte nicht mehr zu sagen, noch auch wagte er es, zu verlangen, daß der andere ihn in Ruhe lasse. Der hob seine elend beschuhten Füße und setzte sie nieder, bedächtig und taktfest, und versicherte dabei halblaut, daß es nicht für jedermann nötig sei, einer Organisation anzugehören. Die wertvollsten Persönlichkeiten blieben außerhalb. Die beste Arbeit würde außerhalb der Organisation vollbracht. – Dann plötzlich sehr rasch, mit flüsternden, fiebrigen Lippen:
»Der Mann, den man in der Straße verhaftet hat, war Haldin.«
Und da er Rasumoffs trübes Schweigen ganz natürlich fand, so versicherte er ihm, daß jeder Irrtum ausgeschlossen sei. Jener Regierungsschreiber hätte im Sekretariat Nachtdienst gehabt. Als er in der Vorhalle großen Lärm von Schritten hörte, öffnete er plötzlich die Tür seines Arbeitszimmers, da er wohl wußte, daß zuweilen politische Gefangene nachts aus der Festung herüber gebracht wurden. Bevor noch der diensttuende Gendarm ihn zurückstoßen und ihm die Tür vor der Nase zuschlagen konnte, hatte er gesehen, wie ein Gefangener von einer Schar von Schutzleuten durch die Halle halb getragen und halb gezerrt wurde. Man behandelte ihn sehr roh, und der Schreiber hatte Haldin mit Gewißheit erkannt. Kaum eine halbe Stunde später erschien General T. im Sekretariat, um den Gefangenen persönlich zu verhören.
»Sind Sie nicht überrascht, verwundert?« schloß der Student.
»Nein«, sagte Rasumoff barsch und bereute seine Antwort sofort.
»Alle Welt glaubte doch, daß Haldin in der Provinz sei, bei seinen Leuten. Sie nicht auch?«
Der Student richtete seine großen tiefliegenden Augen auf Rasumoff, der unvorsichtig zurückgab:
»Seine Leute sind verreist.«
Er hätte sich die Zunge abbeißen mögen vor Wut.
Der Student sagte in schwer bedeutungsvollem Ton: »So! Sie allein wußten …« und brach ab.
»Sie haben mein Verderben geschworen …«, dachte Rasumoff. »Haben Sie mit irgend jemand anderem darüber gesprochen?« fragte er dann laut, in bitterer Neugier.
Der andere schüttelte den Kopf.
»Nein, nur mit Ihnen. In unserem Verein dachte man, da Haldin sich öfters mit warmer Anerkennung über Ihren Charakter geäußert hatte, daß …«
Rasumoff konnte eine Bewegung wütender Verzweiflung nicht unterdrücken, die aber der andere mißverstanden haben mußte, denn er hörte auf zu sprechen und wandte seine schwarzen Augen ab.
Sie gingen schweigend nebeneinander weiter. Da begann der lange Student wieder mit abgewandtem Blick zu flüstern:
»Da wir augenblicklich keinen Verbündeten in der Festung haben, der Haldin vielleicht ein Päckchen mit Gift zuschmuggeln könnte, so haben wir schon überlegt, ob wir nicht eine Art Racheakt möglichst rasch folgen lassen sollen …«
Rasumoff unterbrach ihn:
»Waren Sie mit Haldin bekannt, wußte er Ihre Wohnung?«
»Ich hatte das Glück, ihn zweimal sprechen zu hören«, gab sein Begleiter zurück, mit dem fieberhaften Flüsterton, der so seltsam von der düsteren Apathie seines Gesichtes und seiner Haltung abstach. »Er wußte nicht, wo ich wohne … ich lebe sehr ärmlich … bei einer Handwerkerfamilie – ich habe nur eine Ecke in einem Zimmer. Es ist nicht sehr ratsam, mich dort aufzusuchen, sollten Sie mich aber zu irgend etwas brauchen, so bin ich bereit …«
Rasumoff zitterte vor Wut und Angst. Er war außer sich, hielt jedoch seine Stimme gedämpft.
»Sie haben mir nicht in die Nähe zu kommen, Sie haben nicht mit mir zu sprechen, richten Sie nie ein einziges Wort an mich. Ich verbiete es Ihnen.«
»Sehr recht«, sagte der andere unterwürfig und zeigte über dieses unmotivierte Verbot keinerlei Überraschung. »Sie wünschen es nicht, aus geheimen Gründen … ganz recht … ich verstehe.«
Er brach sofort ab und blickte nicht einmal auf, und Rasumoff sah die lange schäbige verhungerte Gestalt die Straße überqueren, mit gesenktem Kopf und der merkwürdig exakten Bewegung der Beine.
Er beobachtete ihn, wie man eine nächtliche Vision beobachten mag, setzte dann seinen Weg fort und versuchte, nicht zu denken. In seinem Vorraum schien ihn seine Hausfrau erwartet zu haben. Sie war eine kleine dicke, formlos üppige Frau mit einem gelben Gesicht, das über und über in einen schwarzen wollenen Schal gehüllt war. Als sie ihn den letzten Treppenabsatz heraufkommen sah, warf sie erregt beide Arme hoch und schlug dann die Hände vor ihrem Gesicht zusammen.
»Kyrill Sidorowitsch – Väterchen –, was haben Sie getan? Und so ein ruhiger Mann noch dazu! Gerade den Augenblick sind die Polizisten weggegangen, die bei Ihnen Haussuchung gehalten haben.«
Rasumoff sah mit schweigender, forschender Aufmerksamkeit auf sie herunter. Ihre Fettmassen bebten vor Erregung. Sie hob beschwörend die Augen zu ihm auf.
»So ein gefühlvoller Mann, jedermann kann sehen, daß Sie gefühlvoll sind, und jetzt so – jetzt so – ganz auf einmal … was haben Sie denn davon, sich mit den Nihilisten einzulassen? Lassen Sie das bleiben, Väterchen. Es sind unglückliche Leute.«
Rasumoff zuckte leicht die Schultern.
»Oder hätte Sie irgendein geheimer Feind verleumdet, Kyrill Sidorowitsch? Heutzutage ist die Welt voll von schwarzen Herzen und falschen Anzeigen. Alles ist voll Angst.«
»Und haben Sie gehört, daß ich von jemand denunziert worden bin?« fragte Rasumoff, ohne den Blick von ihrem bebenden Gesicht zu wenden.
Doch sie hatte nichts gehört. Sie hatte versucht, etwas herauszubringen, indem sie den Polizeihauptmann fragte, während seine Leute das Zimmer durchsuchten. Der Polizeihauptmann des Bezirkes kannte sie elf Jahre lang und war ein umgänglicher Herr. Er hatte ihr aber geantwortet, hier im Vorhaus – und hatte ganz finster und verärgert ausgesehen dabei:
»Meine liebe Frau, fragen Sie nicht. Ich weiß selbst nichts. Der Befehl kommt von höherer Stelle.«
Und tatsächlich war kurz nach der Ankunft der Polizeileute vom Bezirk ein sehr feiner Herr erschienen in Pelz und Glanzhut und hatte sich im Zimmer hingesetzt und alle Papiere selbst durchgesehen. Er war allein gekommen und allein weggegangen und hatte nichts mit sich genommen. Sie hatte versucht, wieder ein bißchen Ordnung zu machen, seit die Leute fort waren.
Rasumoff wandte sich brüsk ab und betrat sein Zimmer.
Alle seine Bücher waren durchgeschüttelt und auf den Boden geworfen worden. Seine Hausfrau war ihm gefolgt, bückte sich mühsam und begann sie in ihrer Schürze zu sammeln. Seine Papiere und Notizen, die er immer sauber ordnete (sie bezogen sich alle auf seine Studien), waren durchwühlt und in einem unordentlichen Haufen mitten auf den Tisch aufgestapelt worden.
Die Unordnung machte ihm einen merkwürdig tiefen Eindruck. Er setzte sich nieder und stierte vor sich hin. Er hatte das bestimmte Gefühl, daß seine Existenz auf irgendeine geheimnisvolle Weise untergraben sei, daß seine moralischen Stützen eine nach der anderen fielen. Er fühlte eine leichte körperliche Schwäche und machte eine Bewegung, als wollte er nach irgend etwas langen, um sich daran zu halten.
Die alte Frau erhob sich mit leisem Ächzen, schüttelte die ganzen Bücher, die sie in ihrer Schürze gesammelt hatte, auf das Sofa und verließ murmelnd und seufzend das Zimmer.
Da erst bemerkte er, daß das Blatt, das er für eine Nacht mit dem Messer an die Wand über seinem leeren Bett geheftet hatte, auf dem Stoß obenauf lag.
Als er es tags zuvor abgenommen hatte, hatte er es zerstreut vierfach gefaltet, bevor er es auf den Tisch warf, und nun sah er es obenauf liegen, ausgebreitet, geglättet sogar, und den ganzen unordentlichen Stoß von Papieren bedeckend, die Frucht seines geistigen Lebens in den letzten drei Jahren. Es war nicht dorthin geworfen worden, man hatte es hingelegt – und noch dazu geglättet. Er vermutete darin eine schwerwiegende Absicht – oder vielleicht einen unerklärlichen Spott.
Er saß da und stierte auf das Blatt, bis ihn die Augen schmerzten. Er versuchte nicht, seine Papiere in Ordnung zu bringen, weder an jenem Abend, noch am nächsten Tag, den er zu Hause in einem Zustand merkwürdiger Unentschlossenheit verbrachte. Diese Unentschlossenheit rührte von der Frage her, ob er weiter leben solle, – nicht mehr und nicht weniger. Allerdings lagen seiner Natur die Konflikte eines Mannes nicht, der sich mit Selbstmordgedanken trägt. Rasumoff kam gar nicht auf die Idee, selbst Hand an sich zu legen. Der unbekannte Organismus mit der Spitzmarke Rasumoff, der da herumging, atmete, Kleider trug, war für niemand von Bedeutung, außer vielleicht für die Hausfrau. Das Dasein des wirklichen Rasumoff lag in einer fest gewollten Zukunft – in dieser Zukunft, die nun von der Gesetzlosigkeit der Autokratie – denn die Autokratie kennt keine Gesetze – und der Gesetzlosigkeit der Revolution bedroht war. Das Gefühl, daß seine moralische Persönlichkeit von der Gnade dieser Mächte abhing, die über dem Gesetz standen, war so stark, daß er sich allen Ernstes fragte, ob es wohl der Mühe wert sei, weiterhin die geistigen Funktionen dieser Existenz zu verrichten, die nicht länger mehr die seine schien.
»Zu welchem Zwecke sollte ich wohl meinen Verstand schärfen, systematisch meine Fähigkeiten ausbilden und alle meine Arbeitspläne zu verwirklichen trachten«, sagte er sich. »Ich will meine Lebensführung gern von berechenbaren Faktoren abhängig machen. Welche Sicherheit aber bleibt mir gegen irgend etwas – eine drohende Vernichtung –, die so ganz ohne mein Zutun über mich hereinbricht …?«
Rasumoff sah gespannt nach der Tür des äußeren Zimmers, als erwartete er, daß irgendeine dämonische Erscheinung die Klinke niederdrücken und stillschweigend vor ihn treten würde.
»Ein gemeiner Dieb«, sagte er sich, »findet mehr Schutz in den Gesetzen, die er übertritt, und sogar ein Vieh wie Siemianitsch hat Trostmöglichkeiten.« Rasumoff beneidete den Dieb um seinen Materialismus und den unverbesserlichen Liebhaber um seine Leidenschaft. Die Folgen ihrer Handlungen waren immer klar, und ihr Leben blieb ihr eigen.
Dennoch schlief er in dieser Nacht so tief, als hätte er sich nach Siemianitschs Art getröstet. Er erwachte mit einem Ruck, ganz zerschlagen, und konnte sich an keinen Traum erinnern, doch war es ihm, als wäre seine Seele während der Nacht davongeflattert, um vom Kelche einer bitteren Weisheit zu trinken. Er erhob sich mit einer Art wilder Entschlossenheit und mit einem Gefühl, als habe er sein innerstes Wesen von einer neuen Seite kennengelernt. Er sah spöttisch auf den Haufen Papiere auf seinem Tisch und verließ den Raum, um in die Vorlesungen zu gehen, mit einem gemurmelten: »Wir werden sehen.«
Er war nicht in der Stimmung, mit irgend jemandem zu sprechen oder Fragen darüber anzuhören, warum er tags zuvor den Vorlesungen fern geblieben sei. Es war aber sehr schwer, einen guten Bekannten grob abzufertigen, einen blonden Burschen mit glattem, rosigem Gesicht, der unter seinen Kameraden den Spitznamen »Der tolle Kostia« führte. Er war der einzige, vergötterte Sohn eines sehr reichen und ungebildeten Staatslieferanten und zeigte sich auf der Universität nur während der sehr seltenen Anfälle von Besserungseifer, die auf tränenreiche väterliche Ermahnungen zu folgen pflegten. Er hatte ein lustiges, lärmendes Wesen, wie ein junger Jagdhund, und seine erhobene Stimme und kräftigen Bewegungen brachten in die kahlen Schulkorridore einen Abglanz von gedankenloser, animalischer Lebensfreude und erweckten im weiten Umkreise nachsichtiges Lächeln. Gewöhnlich drehten sich seine Gespräche um Traberpferde, Nachtsitzungen in teuren Weinrestaurants und die Vorzüge leichter Persönchen – immer mit solcher Harmlosigkeit, daß der Zuhörer entwaffnet wurde. Er überfiel Rasumoff um Mittag, etwas weniger lärmend, als es sonst seine Art war, und zog ihn beiseite.
»Nur einen Augenblick, Kyrill Sidorowitsch, ein paar Worte hier in dieser ruhigen Ecke.«
Er fühlte Rasumoffs Widerwillen und schob ihm schmeichelnd die Hand unter den Arm.
»Bitte, bitte, kommen Sie. Ich will nicht über eine meiner dummen Geschichten mit Ihnen reden. Was sind meine Tollheiten? Ganz und gar nichts, aufgelegte Kindereien. Neulich nachts schmiß ich einen Kerl aus einem gewissen Lokal hinaus, wo ich mich gerade gut unterhielt. So ein verdammt hochnäsiger Federfuchser aus dem Schatzamt … Er schrie mit den Leuten im Hause herum, ich verwies ihm das. ›Sie benehmen sich nicht menschlich zu Geschöpfen Gottes, die ein wesentlich erfreulicherer Anblick sind als Sie selbst‹, sagte ich. Ich kann keine Tyrannei mit ansehen, Kyrill Sidorowitsch, auf mein Wort, ich kann nicht. Er nahm es gewaltig übel. ›Wer ist dieses unverschämte Baby‹, fängt er an zu brüllen. Ich war gerade ausgezeichnet beisammen, und er flog ganz plötzlich durch das geschlossene Fenster. Ein ganzes Stück in die Straße hinein flog er. Ich wütete wie – wie – ein Minotaurus. Die Weiber hängten sich an mich und kreischten, die Geiger krochen unter den Tisch … es war eine Riesenhetz! Mein Alter mußte ziemlich tief in die Tasche greifen, kann ich Ihnen sagen.«
Er kicherte.
»Mein Alter ist ein äußerst nützlicher Mann, und das ist auch notwendig bei mir, ich führe schon üble Streiche auf.«
Seine Begeisterung flaute ab. Das war es ja gerade. Was war sein Leben? Nichtig; niemand etwas nutze, ein endloses Gelage. Eines Tages würde es damit enden, daß man ihm in einer betrunkenen Rauferei mit einer Champagnerflasche den Schädel einschlug, und das in einer Zeit, wo Männer sich für Ideen aufopferten. Aber er konnte keine Ideen in seinen Kopf bekommen. Sein Kopf war nichts Besseres wert, als durch eine Champagnerflasche zerschlagen zu werden.
Rasumoff versicherte, daß er keine Zeit habe, und versuchte loszukommen. Der andere änderte den Ton und sprach ernst vertraulich:
»Um Gottes willen, Kyrill, teure Seele, lassen Sie mich irgendein Opfer bringen. Es wäre ja eigentlich gar kein Opfer. Ich habe meinen reichen Alten hinter mir, seine Taschen sind buchstäblich unergründlich.«
Dann wehrte er entrüstet Rasumoffs Vermutung ab, daß dies betrunkenes Geschwätz sei, und bot ihm Geld an, damit er über die Grenze fliehen könne. Er selbst könne jederzeit von seinem Vater Geld haben. Er brauche nur zu sagen, daß er es im Kartenspiel oder sonstwie verloren habe, und bei derselben Gelegenheit nur feierlich versprechen, daß er drei Monate lang keine einzige Vorlesung schwänzen wolle. Damit kriege er den Alten immer herum, und für ihn selbst – Kostia – sei das Opfer nicht groß, obwohl er ja wirklich nicht einsehen könne, wozu er die Vorlesungen besuche, es sei ja doch hoffnungslos.
»Wollen Sie mir nicht erlauben, mich nützlich zu machen?« bettelte er. Rasumoff stand mit niedergeschlagenem Blick schweigend da, gänzlich unfähig, die wahre Absicht des anderen zu ergründen, und mit einem leisen Widerstreben vor weiteren Aufklärungen.
»Wieso kommen Sie darauf, daß ich über die Grenze gehen möchte?« fragte er endlich ganz ruhig.
Kostia dämpfte die Stimme:
»Die Polizei war gestern in Ihren Zimmern; drei oder vier von uns haben davon gehört. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber, woher wir es wissen. Genug, wir wissen es, und so haben wir uns beraten.«
»Aha, Sie haben so schnell davon erfahren«, murmelte Rasumoff nachlässig.
»Jawohl, so schnell, und es hat uns leid getan, daß ein Mann wie Sie …«
»Für was für eine Art von Menschen halten Sie mich eigentlich?« unterbrach ihn Rasumoff.
»Für einen Mann mit eigenen Ideen – einen Mann der Tat überdies. Aber Sie sind so verschlossen, Kyrill. Es ist ganz unmöglich, Ihnen auf den Grund zu kommen, wenigstens für Kerle wie mich. Wir waren aber alle darüber einig, daß Sie unserem Lande erhalten bleiben müßten. Darüber hatten wir nicht den geringsten Zweifel – ich meine alle die unter uns, die wir Haldin bei gewissen Gelegenheiten von Ihnen sprechen gehört haben. Die Polizei durchschnüffelt nicht die Wohnung irgendeines Menschen, wenn nicht eine teuflisch böse Sache über ihm hängt … und wenn Sie also glauben, daß es für Sie besser wäre, gleich auszureißen …«
Rasumoff machte sich los, ging den Korridor hinunter und ließ den anderen regungslos und mit offenem Munde stehen. Doch plötzlich kehrte er wieder um und stand vor dem verblüfften Kostia, der langsam den Mund schloß. Rasumoff sah ihm gerade in die Augen, bevor er mit scharfer Betonung und hart abgesetzt die Worte sprach:
»Ich – danke – ihnen – sehr –«
Zum zweiten Male ging er schnell davon. Kostia rannte ihm, sobald er sich von seiner Überraschung über dieses Gebaren erholt hatte, eiligst nach.
»Nein, warten Sie, hören Sie, ich meine es wirklich so, für Sie wäre es so, als hätten Sie Mitleid mit einem, der am Verhungern ist. Hören Sie, Kyrill. Und wenn Sie irgendeine Verkleidung brauchen, so könnte ich auch die besorgen, von einem Maskenverleiher, einem Juden, den ich kenne. Lassen Sie doch einen Narren sich nützlich machen, wie es seine Narrheit zuläßt. Vielleicht könnten Sie auch einen falschen Bart brauchen oder sonst etwas Ähnliches.«
Rasumoff wandte sich kurz um.
»Bei dieser Geschichte braucht man keinen falschen Bart, Kostia – Sie gutherziger Narr. Was wissen Sie von meinen Ideen? Meine Ideen könnten Gift für Sie sein.«
Der andere schüttelte zum Zeichen energischen Widerspruchs den Kopf.
»Was haben Sie mit meinen Ideen zu tun? Ein paar davon würden mit dem Geldsack Ihres Alten übel aufräumen. Hören Sie auf, sich in Sachen hineinzumischen, die Sie nicht verstehen. Kehren Sie zurück zu Ihren Traberpferden und Ihren Weibern – dann sind Sie wenigstens sicher, keinem andern zu schaden und schwerlich sich selbst.«
Der enthusiastische Jüngling war durch diese Mißachtung ganz niedergeschlagen.
»Sie schicken mich zu meinem Schweinetrog zurück, Kyrill, das ist das Ende. Ich bin ein armer Hund – wie ein Hund werde ich sterben. Aber denken Sie daran, Ihre Verachtung hat mich umgebracht.«
Rasumoff ging mit langen Schritten davon. Es erschien ihm als ein bedenkliches Zeichen der Zeit, daß auch diese einfache und weinfrohe Seele dem Fluch der Revolution verfallen war. Er machte sich seine Bestürzung zum Vorwurf. Persönlich hätte er sich beruhigt fühlen müssen. Es lag ein offensichtlicher Vorteil in dem Irrtum, auf den die Leute sich versteiften: ihn für etwas anderes zu nehmen, als er war. War das nicht merkwürdig?
Wieder erlebte er die merkwürdige Sensation, daß ihm seine Lebensführung durch Haldins revolutionäre Tyrannei aus der Hand genommen war. Seine abgeschlossene und arbeitsame Existenz – das einzige, was er auf dieser Welt sein eigen nannte – war zerstört worden. »Mit welchem Recht?« fragte er sich wütend. »In wessen Namen?«
Am wütendsten machte es ihn, daß er fühlte, wie die »Denker« der Universität ihn augenscheinlich mit Haldin in Verbindung brachten – wohl als eine Art Vertrauensmann im Hintergrund. »Eine geheimnisvolle Beziehung, haha …« Man hatte ihn zur Persönlichkeit gestempelt, ohne daß er irgend etwas davon wußte. Wie dieser verteufelte Haldin über ihn geredet haben mußte! Und doch war es wahrscheinlich, daß Haldin sehr wenig gesagt hatte. Die zufälligsten Aussprüche dieses Burschen wurden von all diesen Trotteln wie Perlen gesammelt und endlos durchstudiert. War nicht die ganze Geheimtätigkeit der Revolutionäre auf wahnwitziger Selbsttäuschung und Lüge aufgebaut?
»Unmöglich, an etwas anderes zu denken«, murmelte Rasumoff. »Ich verblöde noch, wenn das so weitergeht. Die Schufte und die Narren bringen mich um meinen Verstand.«
Er verlor alle Hoffnung auf seine Zukunft, die ja von dem freien Gebrauch seiner geistigen Kräfte abhing.
Er erreichte den Torweg seines Hauses in einem Zustand derartiger Entmutigung, daß er mit völliger Gleichgültigkeit einen amtlich aussehenden Brief aus der schmutzigen Hand seines Türhüters entgegennehmen konnte.
»Ein Gendarm hat es gebracht. Er fragte, ob Sie zu Hause seien. Ich sagte ihm: ›Nein, er ist nicht zu Hause.‹ So ließ er es da. ›Gib es ihm persönlich in die Hände‹, sagte er. Jetzt haben Sie es ja bekommen – nicht?«
Er kroch in seinen Verschlag zurück, und Rasumoff kletterte mit dem Brief in der Hand die Stiege hinauf. In seinem Zimmer angekommen, beeilte er sich nicht, den Umschlag aufzureißen. Natürlich kam diese amtliche Botschaft von der Oberdirektion der Polizei. Ein Verdächtiger! Ein Verdächtiger!
In dumpfer Verwunderung überdachte er seine lächerliche Lage. Er fühlte eine Art trockener, kalter Melancholie; drei Jahre guter Arbeit verloren, der Verlauf von vielleicht vierzig anderen in Frage gestellt – jede Hoffnung in Grauen verkehrt, weil die Ereignisse, die durch menschliche Torheit entstehen, sich untereinander zu Folgen verketten, welche keine Klugheit vorhersehen und kein Mut durchbrechen kann. Das Schicksal tritt in euer Zimmer, während eure Hausfrau eben den Rücken kehrt. Ihr kommt heim und findet es in Fleisch und Blut unter dem Namen irgendeines Menschen – in einem braunen Tuchrock und hohen Stiefeln – gegen den Ofen gelehnt. Es fragt euch: ›Ist die Außentür geschlossen‹ – und ihr wißt nicht genug, um es bei der Kehle nehmen und über die Stiegen hinunterwerfen zu können. Ihr wißt nichts. Ihr heißt das verrückte Schicksal willkommen. ›Nehmen Sie Platz‹, sagt ihr, und alles ist vorbei. Ihr könnt es nie wieder abschütteln. Es wird ewig an euch hängen. Kein Galgen, keine Kugel kann euch die Freiheit eures Lebens wiedergeben und eure geistige Gesundheit … Es war, um mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen.
Rasumoff sah sich langsam im Zimmer um, als suchte er einen Fleck, um mit dem Kopf dagegen zu stoßen. Dann öffnete er den Brief. Er enthielt die Weisung an den Studenten Kyrill Sidorowitsch Rasumoff, sich unverzüglich im Generalsekretariat vorzustellen.
Rasumoff sah im Geiste die Glotzaugen des Generals T. vor sich, die auf ihn warteten, – diese Verkörperung der Autokratie, grotesk und furchtbar. Er verkörperte die Macht der Autokratie, weil er ihr Hüter war. Er verkörperte den Verdacht, die Wut, die Rücksichtslosigkeit eines politischen und sozialen Regimes, das sich verteidigt. Er haßte die Rebellion aus Instinkt, und Rasumoff wurde es klar, daß der Mann einfach unfähig sein mußte, zu begreifen, wie sich jemand aus Überlegung zur Lehre des Absolutismus bekehren könnte.
»Was kann er nur gerade von mir wollen, möchte ich wissen.«
Und als hätte diese innere Frage das bekannte Phantom hervorgerufen, so stand Haldin plötzlich mitten im Zimmer mit unglaublicher Deutlichkeit. Obwohl der kurze Wintertag schon in das düstere Zwielicht einer Schneelandschaft übergegangen war, konnte Rasumoff doch den schmalen Lederriemen um den Tscherkessenrock deutlich wahrnehmen. Die Illusion, daß der Verhaßte gegenwärtig sei, war so vollständig, daß er halb und halb erwartete, die Frage zu hören: »Ist die Außentür geschlossen?« Er sah mit Haß und Verachtung nach dem Phantom. Geister nehmen keine Kleider an. Überdies konnte Haldin noch gar nicht tot sein. Rasumoff schritt drohend vor; die Vision verschwand – er wandte sich kurz auf dem Absatz und verließ mit unsagbarer Verachtung das Zimmer.
Auf dem ersten Stiegenabsatz fiel ihm aber ein, daß man ihn vielleicht bei der obersten Behörde mit dem wirklichen Haldin konfrontieren wollte. Dieser Gedanke traf ihn wie eine Kugel, und hätte er sich nicht mit beiden Händen am Geländer festgehalten, so wäre er wohl bis zum nächsten Absatz hinuntergerollt. Seine Beine versagten ihm geraume Zeit den Dienst … Warum aber, aus welchem erdenklichen Grund? Zu welchem Zweck?
Auf diese Frage konnte es keine vernünftige Antwort geben, doch Rasumoff erinnerte sich an das Versprechen, das der General dem Fürsten K. gegeben hatte. Seine Tat sollte unbekannt bleiben.
Er kam am Fuße der Treppe an, indem er sich von Stufe zu Stufe am Geländer hinuntertastete. Unter dem Tor gewann er so ziemlich seine geistige und körperliche Festigkeit wieder. Mit jedem Schritt fühlte er sich innerlich ausgeglichener. Er trat auf die Straße hinaus, ohne sichtbares Schwanken. Und doch sagte er sich, daß General T. sehr wohl imstande wäre, ihn auf unbegrenzte Zeit in die Festung zu sperren. Sein Temperament paßte gut zu seiner rücksichtslosen Tätigkeit, und seine Allmacht schloß ihn gegen vernünftige Erwägungen ab.
Als aber Rasumoff auf dem Sekretariat ankam, vernahm er, daß er mit General T. nichts zu tun haben würde. Es ist aus Rasumoffs Tagebuch ersichtlich, daß diese gefürchtete Persönlichkeit im Hintergrund bleiben sollte. Ein Zivilbeamter von hohem Rang empfing ihn in einem privaten Arbeitszimmer, nachdem er eine Zeit in anderen Büros gewartet und dem endlosen Geschreibsel an den vielen Tischen in der überhitzten und dumpfen Luft zugesehen hatte.
Der uniformierte Schreiber, der ihn führte, sagte im Korridor:
»Sie kommen vor Gregory Matvieitsch Mikulin.«
An dem Mann, der diesen Namen trug, war nichts Erschreckliches. Sein sanfter, erwartungsvoller Blick war schon auf die Tür gerichtet, als Rasumoff eintrat. Sofort wies er mit dem Federstiel, den er in der Hand hielt, auf ein tiefes Sofa zwischen zwei Fenstern. Er folgte Rasumoff mit den Augen, während dieser das Zimmer durchschritt und sich niedersetzte. Der milde Blick ruhte auf ihm nicht neugierig, nicht forschend, – sicher nicht mißtrauisch – fast ausdruckslos. In seiner leidenschaftslosen Beharrlichkeit lag fast etwas wie Sympathie.
Rasumoff, der seine Energie und seinen Intellekt für eine Begegnung mit General T. selbst vorbereitet hatte, war aufs tiefste verwirrt. All das moralische Rüstzeug, mit dem er sich gegen mögliche Exzesse von Macht und Leidenschaft gewappnet hatte, schien unnütz diesem blassen Mann gegenüber, mit dem blonden, schütteren und seidenfeinen Vollbart. Das Licht fiel auf die glänzenden Wölbungen der hohen gefurchten Stirn, und der Ausdruck des breiten, sanften Gesichtes war so anheimelnd und ländlich, daß der sorgfältig mitten durchs Haar gezogene Scheitel als unnötige Ziererei wirkte.
Rasumoffs Tagebuch zeugt von einiger Erregung seinerseits. Ich will hier gleich bemerken, daß das Tagebuch mit den mehr oder weniger täglichen Eintragungen an diesem selben Abend begonnen zu sein scheint, nachdem Rasumoff nach Hause zurückgekehrt war.
Rasumoff also war aufgeregt. Seine erzwungene Sammlung war plötzlich in Stücke gebrochen.
»Ich muß sehr vorsichtig mit ihm sein«, sagte er sich, während sie sich gegenseitig mit den Blicken maßen. Das Schweigen hielt eine kurze Zeit an und wurde charakterisiert (denn jedes Schweigen hat seinen Charakter) durch eine Art Traurigkeit, die vielleicht von dem milden und gedankenvollen Wesen des bärtigen Beamten ausging.
Rasumoff erfuhr später, daß er Departementchef im Generalsekretariat war, in einem Range, der dem eines Obersten im Heere entsprach.
Rasumoffs Mißtrauen wurde rege. Die Hauptsache war: er durfte sich nicht verleiten lassen, zuviel zu sagen. Man hatte ihn aus irgendeinem Grunde hierher gerufen. Aus welchem Grunde? Um ihm zu verstehen zu geben, daß er verdächtig war – und zweifellos auch, um ihn auszuholen. Worüber nur? Es gab nichts. Oder vielleicht hatte Haldin Lügen erzählt … Rasumoff durchlitt alle Qualen der Ungewißheit. Er konnte das Schweigen nicht länger ertragen, verwünschte seine Schwäche und sprach zuerst, obwohl er sich fest vorgenommen hatte, das auf keinen Fall zu tun.
»Ich habe keinen Augenblick verloren«, sagte er mit heiserer, herausfordernder Stimme; und dann schien ihn die Sprache zu verlassen und in den Körper des Rates Mikulin überzugehen, der zustimmend einfiel:
»Sehr recht, sehr recht, obwohl tatsächlich …«
Doch der Bann war gebrochen, und Rasumoff fiel ihm ins Wort, aus der plötzlichen Überzeugung heraus, daß dies die sicherste Taktik war. In einer Flut von Worten beklagte er sich darüber, daß man ihn mißverstehe. Noch während des Sprechens überlegte er, ob er nicht vielleicht zu kühn sei, fand, daß das Wort »mißverstehen« besser sei als »mißtrauen«, und wiederholte es nochmals mit Beharrlichkeit. Plötzlich unterbrach er sich, da ihn angesichts der reglosen Aufmerksamkeit des Beamten Angst befiel. »Was rede ich nur«, dachte er und maß den anderen mit unsicheren Blicken. Mißtrauen – nicht Mißverstehen – war der richtige Ausdruck für diese Leute. Mißverstanden zu sein, war die andere Seite des Unglücks. Beides hatte ihm dieser verwünschte Haldin auf den Hals gebracht. Sein Kopf schmerzte furchtbar. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirne, – eine unwillkürliche Bewegung des Leidens, die er sich nicht die Mühe gab zu unterdrücken. Im selben Augenblick hatte Rasumoff die Vorstellung, als würde sein eigenes Hirn auf die Folter gespannt. – Er sah in einem dunklen Gewölbe eine lange blasse Gestalt, deren Züge er nicht erkennen konnte und die mit unerhörter Gewalt auf ein Streckbett gespannt wurde. Es war, als hätte er für den Bruchteil einer Sekunde von irgendeinem schauerlichen Bild aus der Inquisitionszeit geträumt …
Es ist nicht im Ernst glaubhaft, daß Rasumoff in der Gegenwart des Rates Mikulin eingeschlafen sein und von einem alten Stich aus der Inquisition geträumt haben sollte. Er war bis zum äußersten erschöpft, und in seinem Tagebuch verzeichnet er ein merkwürdig traumhaftes Angstgefühl bei der Vorstellung, daß niemand neben der blassen und ausgestreckten Gestalt gewesen war. Die Einsamkeit des gefolterten Opfers war ganz besonders gräßlich anzusehen. Die unheimliche Tatsache, daß das Gesicht nicht zu sehen war, flößte eine Art Grauen ein, wie er weiter bemerkt. Alle diese Kennzeichen eines schrecklichen Traumes waren gegeben. Dennoch ist er ganz gewiß, daß er keinen Augenblick lang das klare Bewußtsein verlor, daß er auf dem Sofa saß, vorgelehnt, die Hände zwischen den Knien, und seine Mütze in den Fingern drehte. Alles verflog bei der Stimme des Rates Mikulin. Rasumoff fühlte eine große Dankbarkeit für die gleichmütige Schlichtheit seines Tones.
»Jawohl, ich habe mit Interesse zugehört, ich verstehe in gewissem Maße Ihr … doch Sie sind wirklich im Irrtum …«
Der Rat Mikulin brachte eine Reihe abgerissener Sätze hervor. Anstatt sie zu beenden, sah er auf seinen Bart hinunter. Es war eine bedächtige Geste, die merkwürdigerweise den Sätzen mehr Nachdruck verlieh. Doch er konnte recht fließend sprechen; das bewies er, indem er plötzlich den Ton änderte und überredend fortfuhr: »Dadurch, daß ich Sie angehört habe, wie ich es tat, glaube ich bewiesen zu haben, daß ich unsere Unterredung nicht als streng amtlich betrachte. Tatsächlich wünsche ich auch gar nicht, daß sie diesen Charakter trägt … o ja, ich gebe zu, daß der Wunsch, Sie hier zu haben, in amtlicher Form geäußert wurde. Doch überlasse ich es Ihnen, zu beurteilen, ob diese Form gewählt werden mußte, im Interesse Ihres weiteren Auftretens als …«
»Verdächtiger«, rief Rasumoff aus und sah dem Beamten fest in die Augen. Diese Augen waren groß, mit schweren Lidern, und erwiderten seine Herausforderung mit trübem, ruhigem Blick. »Ein Verdächtiger«, die offene Wiederholung dieses Wortes, das ihn durch alle seine wachen Stunden verfolgt hatte, gab Rasumoff eine eigene Befriedigung. Rat Mikulin schüttelte leicht den Kopf.
»Sie wissen doch sicher, daß bei mir von der Polizei Haussuchung gehalten worden ist …«
»Ich war im Begriff, ›mißverstandene Persönlichkeit‹ zu sagen, als Sie mich unterbrachen«, bemerkte Rat Mikulin ruhig.
Rasumoff lächelte ohne Bitterkeit. Das wiedererwachte Bewußtsein seiner geistigen Überlegenheit stand ihm in der Stunde der Gefahr bei. Er sagte leicht verächtlich:
»Ich weiß wohl, daß ich nur ein Atom bin, doch ich bitte Sie, mir die Überlegenheit des denkenden Atoms zuzugestehen, gegenüber den gedankenlosen Mächten, die es vernichten wollen. Praktisches Denken ist letzten Endes nur Kritik. Vielleicht ist es mir erlaubt, mein Erstaunen darüber auszusprechen, daß dieses Vorgehen der Polizei zwei volle Tage hinausgezögert wurde, während deren ich natürlich alles, was mich irgendwie kompromittieren konnte, hätte vernichten, sagen wir, zu Asche verbrennen können.«
»Sie sind ärgerlich«, bemerkte der Beamte anscheinend gänzlich harmlos. »Ist das vernünftig?«
Rasumoff fühlte, wie er vor Wut rot wurde.
»Ich bin vernünftig, und mehr als das – erlauben Sie mir, es zu sagen. – Ich bin ein Denker, obwohl ja sicherlich diese Bezeichnung heutzutage von ein paar traurigen Kunden monopolisiert scheint, die mit revolutionären Ideen hausieren und sich dabei selbst einer französischen oder deutschen oder weiß der Teufel was sonst für einer fremden Denkweise verschrieben haben. Ich bin aber kein geistiger Bastard. Ich denke wie ein Russe. Ich denke ehrlich – und nehme mir die Freiheit, mich einen Denker zu nennen. Das Wort ist nicht verboten, soviel ich weiß.«
»Nein, warum sollte es verboten sein?« Rat Mikulin wandte sich in seinem Sessel um, die Beine übergeschlagen, stützte seine Ellbogen auf den Tisch und lehnte seine Arme gegen die Knöchel der halbgeschlossenen Hände. Rasumoff bemerkte einen dicken Zeigefinger, von einem massiv goldenen Reifen mit blutrotem Stein umschlossen – einem Siegelring, der gut ein halbes Pfund wiegen mochte und doch durchaus als Schmuck zu diesem gewichtigen Mann paßte, mit dem sauber gescheitelten glänzenden Haar über der gefurchten, aristokratischen Stirn.
»Sollte es eine Perücke sein?« Rasumoff ertappte sich auf diesem auffallend zerstreuten Nebengedanken. Sein Selbstvertrauen war wesentlich erschüttert. Er beschloß, nicht weiter zu schwatzen. Zurückhaltung! Zurückhaltung! Seine Hauptaufgabe bestand darin, die Siemianitsch-Episode unbedingt geheim zu halten, wenn die Fragerei losging. Siemianitsch in keiner seiner Antworten irgendwie zu erwähnen.
Rat Mikulin sah ihn trübe an. Rasumoffs Selbstvertrauen ließ ihn gänzlich im Stich. Es schien unmöglich, Siemianitsch nicht zu erwähnen. Jede Frage würde dahin zielen, da es ja nichts sonst zu fragen gab. Er machte eine Anstrengung, sich zusammenzureißen. Es mißlang. Doch auch Rat Mikulin war auffallend zerstreut.
»Warum sollte es verboten sein«, wiederholte er. »Auch ich halte mich für einen denkenden Mann, versichere ich Ihnen. Die Grundbedingung ist, korrekt zu denken. Ich gebe zu, daß das zunächst für einen jungen Mann, der sich selbst überlassen ist, manche Schwierigkeiten hat, – da seine großmütigen Regungen noch nicht geschult sind – sozusagen – und er jedem Sturm nachzugeben bereit ist. Religiöser Glaube natürlich ist ein großer …«
Rat Mikulin sah auf seinen Bart hinunter, und Rasumoff, dessen innere Spannung durch diese unerwartete und flüchtige Geste gemildert wurde, murmelte finster:
»Der Mensch, Haldin, glaubte an Gott.«
»Das wissen Sie also«, hauchte Rat Mikulin mit zwar leiser, aber doch deutlicher Betonung, als habe auch ihn Rasumoffs Bemerkung aus seiner Zurückhaltung herausgelockt. Der junge Mann bewahrte eine gleichmütige Haltung, obwohl er sich selbst die gefährliche Dummheit heftig vorwarf, einen durchaus falschen Eindruck von Vertrautheit erweckt zu haben. Er hielt die Augen zu Boden geschlagen. »Ich muß unbedingt den Mund halten, wenn er mich nicht zum Reden zwingt«, ermahnte er sich selbst. Doch plötzlich tauchte in ihm gegen seinen Willen die Frage: »Wäre es nicht das beste, ihm alles zu sagen«, mit solcher Deutlichkeit auf, daß er sich auf die Lippen beißen mußte. Rat Mikulin übrigens schien keineswegs auf irgendein Geständnis gerechnet zu haben. Er fuhr fort:
»Sie sagen mir mehr, als seine Richter aus ihm herausbringen konnten. Er wurde von einer Kommission von drei Leuten abgeurteilt. Er sagte kein Wort. Ich habe das Protokoll der Verhandlung hier bei mir. Nach jeder Frage steht: ›Verweigert die Antwort – verweigert die Antwort.‹ So geht es Seite um Seite. Sie müssen wissen, daß ich mit einigen weiteren Nachforschungen in dieser Angelegenheit betraut worden bin. Er hat mir keinen Anhaltspunkt gegeben, an dem diese Nachforschungen einsetzen könnten. Ein verhärteter Bösewicht. Und Sie sagen also, er glaubte …«
Wieder sah Rat Mikulin mit einer leisen Grimasse auf seinen Bart hinunter. Die Pause war nicht lang. Er bemerkte mit leiser Verachtung, daß auch Gotteslästerer diese Art von Glauben hätten, und schloß mit der Vermutung, daß Rasumoff wohl häufig mit Haldin über das Thema gesprochen haben müsse.
»Nein«, sagte Rasumoff laut, ohne aufzusehen; »er sprach, und ich hörte zu, das ist keine Konversation.«
»Zuhören ist eine große Kunst«, bemerkte Rat Mikulin, wie nebenbei.
»Und Leute reden machen, ist eine andere«, murmelte Rasumoff.
»Nun – das ist nicht gar zu schwer«, sagte Mikulin harmlos, »besondere Fälle natürlich ausgenommen, so zum Beispiel diesen Haldin. Nichts konnte ihn zum Sprechen bewegen. Viermal wurde er den Richtern vorgeführt. Vier geheime Verhöre. – Und sogar während des letzten, als Ihre Persönlichkeit ins Treffen geführt wurde …«
»Meine Persönlichkeit ins Treffen geführt«, wiederholte Rasumoff und warf den Kopf hoch, »das verstehe ich nicht.«
Rat Mikulin wandte sich wieder dem Tische zu, nahm mehrere graue Aktenbogen in die Hand und legte sie nacheinander wieder weg bis auf den letzten, den er während des Sprechens vor sich hinhielt.
»Man hielt es für unerläßlich, sehen Sie. In einem derartig schweren Fall darf man kein Mittel unversucht lassen, auf den Schuldigen einzuwirken. Das verstehen Sie selbst, glaube ich.«
Rasumoff stierte mit unnatürlich weit aufgerissenen Augen auf Rat Mikulins Profil, der ihn überhaupt nicht ansah.
»So wurde also beschlossen (General T. fragte mich um Rat), daß dem Beklagten eine gewisse Frage vorgelegt werden sollte. Mit Rücksicht aber auf den ausdrücklichen Wunsch des Fürsten K. ließ man Ihren Namen nicht ins Protokoll kommen und nicht einmal zur Kenntnis der Richter selbst. Fürst K. erkannte die Notwendigkeit unseres Vorhabens an, schien aber um Ihre Sicherheit besorgt. Es sickert manches durch, das leugnen wir nicht. Man kann nicht immer für die Diskretion von untergeordneten Beamten einstehen. Und im Saale befanden sich ja der Sekretär des Spezialtribunals und ein oder zwei Gendarmen. Auch sollten ja, wie ich schon sagte, mit Rücksicht auf Fürst K. sogar die Richter selbst in Unkenntnis gelassen werden. Die Fassung der Frage wurde ihnen von General T. zugesandt (ich habe sie mit meiner eigenen Hand aufgeschrieben) mit dem Befehl, daß sie dem Gefangenen ganz zuletzt vorgelegt werden sollte. Hier ist sie.«
Rat Mikulin lehnte den Kopf in richtige Sehweite zurück und las eintönig vor: »Frage – Hat der Mann, der Ihnen gut bekannt ist, in dessen Wohnung Sie am Montag mehrere Stunden zubrachten und auf dessen Anzeige hin Sie verhaftet wurden – hat dieser Mann vorher irgendwie um ihre Absicht gewußt, einen politischen Mord zu begehen …? Angeklagter verweigert die Antwort.
Die Frage wird wiederholt. Der Gefangene bewahrt das gleiche Schweigen.
Dann wird der würdige Seelsorger der Festung vorgelassen. Er ermahnt den Gefangenen zur Reue und redet ihm ferner dringend zu, er möchte doch ein volles und rückhaltloses Geständnis ablegen, für sein Verbrechen Buße tun; dieses Geständnis würde ihm auch helfen, seine Seele von der Sünde der Auflehnung gegen die göttlichen Gesetze und die geheiligte Majestät des Herrschers über unser gottgeliebtes Land zu befreien. – Da öffnet der Gefangene zum ersten Male während dieser Morgensitzung die Lippen und weist mit lauter, klarer Stimme die Dienste des ehrwürdigen Priesters zurück.
Um elf Uhr vormittags spricht der Gerichtshof das summarische Todesurteil aus.
Die Hinrichtung ist für vier Uhr nachmittags festgesetzt, falls nicht weitere Weisungen von höherer Stelle eintreffen.«
Rat Mikulin legte den Aktenbogen nieder, sah über seinen Bart hinunter und wandte sich dann an Rasumoff, in leichtem, erklärendem Ton:
»Wir sahen keinen Grund, die Hinrichtung aufzuschieben. Mittags wurde der telegraphische Befehl erteilt, das Urteil zu vollstrecken. Ich habe selbst das Telegramm geschrieben. Er wurde heute nachmittag um vier Uhr gehenkt.«
Die endgültige Nachricht von Haldins Tod erweckte in Rasumoff das Gefühl großer Mattigkeit, welches jeder starken Anstrengung oder Erregung zu folgen pflegt. Er hielt sich ganz still auf dem Sofa, konnte aber die geflüsterte Bemerkung nicht unterdrücken:
»Er glaubte an ein ewiges Leben.«
Rat Mikulin zuckte leicht die Schultern, und Rasumoff erhob sich mit Mühe. Sein Bleiben hatte keinen Zweck mehr. Haldin war um vier Uhr gehenkt worden, darüber gab es keinen Zweifel. Er war, so schien es, in sein ewiges Leben eingegangen mit hohen Stiefeln, Astrachanpelzmütze und allem anderen, bis zu dem Ledergurt um die Taille … »Nicht seine Seele war es, nur sein Phantom, was er auf der Erde zurückgelassen hat«, so dachte Rasumoff mit spöttischem Lächeln, während er das Zimmer durchschritt und ganz vergaß, wo er sich befand und daß Rat Mikulin da war. Der Beamte hätte ein ganzes Glockenspiel im ganzen Hause in Tätigkeit setzen können, ohne sich vom Fleck zu rühren. Er ließ Rasumoff bis ganz an die Tür gehen, bevor er sprach.
»Kommen Sie, Kyrill Sidorowitsch. Was wollen Sie tun?«
Rasumoff wandte den Kopf und sah ihn schweigend an. Er war nicht im geringsten bestürzt. Rat Mikulin hatte die Arme vor sich auf dem Tisch ausgestreckt und den Körper etwas vorgelegt.
»Hatte ich wirklich die Absicht, einfach so fortzurennen?« fragte sich Rasumoff verwundert, während er äußerlich unbewegt schien; und er war sich dieser anscheinenden Gleichgültigkeit, die helles Erstaunen verbarg, wohl bewußt. »Augenscheinlich wäre ich hinausgegangen, wenn er nicht gesprochen hätte«, dachte er. »Was hätte er dann getan? Ich muß diese Geschichte irgendwie zu Ende bringen. Er muß seine Karten aufdecken.«
Einen Augenblick überlegte er noch hinter seiner Maske, ließ dann den Türgriff los und kam in die Mitte des Zimmers zurück.
»Ich will Ihnen sagen, was Sie denken«, brach er los, ohne aber die Stimme zu erheben. »Sie denken, es mit einem geheimen Komplicen dieses unglücklichen Menschen zu tun zu haben. Nein, ich weiß nicht, daß er unglücklich gewesen ist. Er hat mir nichts gesagt. Von meinem Standpunkt aus gesehen war er ein Tropf. Denn eine falsche Idee am Leben zu erhalten, ist ein größeres Verbrechen, als einen Mann zu töten. Ich hoffe, Sie werden das nicht leugnen wollen? Ich haßte ihn. Solche Phantome wirken endlos Böses auf der Welt. Ihre Utopien erzeugen in der Masse der Durchschnittsgeister einen Widerwillen gegen das Wirkliche und eine Verachtung für die Jahrhunderte alte Logik der menschlichen Entwicklung.«
Rasumoff zuckte die Schultern und sah starr vor sich hin. »Was für eine Tirade«, dachte er. Die schweigende Reglosigkeit des Rates Mikulin bedrückte ihn. Der bärtige Bürokrat saß an seinem Platz in einer geheimnisvollen Selbstbeherrschung, wie ein Götze, und mit trüben, undurchdringlichen Augen. Rasumoff wechselte unwillkürlich den Ton.
»Wenn Sie mich fragen, woraus sich für mich die Notwendigkeit ergibt, Leute wie Haldin zu hassen, so würde ich Ihnen antworten: dieser Haß ist frei von jeder Sentimentalität. – Ich haßte ihn nicht, weil er das Verbrechen des Mordes begangen hatte. Abscheu ist kein Haß. Ich haßte ihn einfach, weil ich gesund bin, und diese Eigenschaft in mir lehnte sich gegen ihn auf. Sein Tod …«
Rasumoff fühlte, wie ihm die Stimme in der Kehle steckenblieb. Die Trübheit von Rat Mikulins Augen schien sich über sein ganzes Gesicht zu verbreiten und förmlich einen Schleier darüber zu ziehen. Rasumoff versuchte diese Phänomene nicht zu beachten.
»In der Tat«, fuhr er fort und betonte jedes Wort sorgfältig, »was ist mir sein Tod? Wenn er hier auf dem Boden läge, so könnte ich über seine Brust wegschreiten. Der Kerl ist ein Phantom …«
Rasumoffs Stimme brach, sehr gegen seinen Willen. Mikulin hinter dem Tisch erlaubte sich nicht die geringste Regung. Das Schweigen hielt eine kurze Zeit an, bevor Rasumoff weitersprechen konnte.
»Er ging herum und sprach über mich … diese intellektuellen Burschen hocken beieinander und berauschen sich mit fremden Ideen, ganz ebenso wie junge Gardeoffiziere einander mit fremden Weinen bewirten. Nichts als Ausschweifung … auf mein Wort.« – Rasumoff, ganz wütend gemacht durch eine plötzliche Erinnerung an Siemianitsch, zwang sich mit Mühe, die Stimme zu dämpfen. – »Auf mein Wort, wir Russen sind eine Horde von Trunkenen. Irgendeinen Rausch müssen wir haben: die Wut des Schmerzes oder die Sentimentalität der Entsagung. Wir liegen träg wie die Klötzer herum, oder wir zünden das Haus an. Was soll ein nüchterner Mann anfangen, möchte ich gern wissen? Sich gänzlich von seinesgleichen abzuschließen, ist unmöglich. Um in einer Wüste zu leben, muß man ein Heiliger sein. Wenn aber ein Betrunkener aus einem Schnapsladen herausstürzt, Ihnen um den Hals fällt und Sie auf beide Wangen küßt, weil irgend etwas in Ihrer Erscheinung sein Gefallen erregt hat, was dann – sagen Sie mir gütigst? Sie können vielleicht einen Knüttel auf seinem Rücken entzweischlagen, und es mag Ihnen doch nicht gelingen, ihn fortzuprügeln …«
Rat Mikulin hob die Hände und fuhr sich bedächtig über das Gesicht.
»Das … natürlich«, sagte er leise.
Die ruhige Würde dieser Bewegung ließ Rasumoff innehalten. Sie war auch so unerwartet; was wollte er damit? Es sprach ein beängstigender Abstand daraus. Rasumoff erinnerte sich an die Absicht, dem anderen in die Karten zu sehen.
»Ich habe dies alles dem Fürsten K. vorgetragen«, begann er mit gespielter Gleichgültigkeit, die er aber sofort verlor, als er Rat Mikulin leise zustimmend nicken sah. »Sie wissen das? Sie haben gehört … Warum läßt man mich dann hierher kommen, um mir Haldins Hinrichtung mitzuteilen? Wollten Sie mich mit seinem Schweigen konfrontieren? Nun, da der Mensch tot ist, was geht mich sein Schweigen an? Das ist unverständlich. Sie wollen in irgendeiner Weise mein moralisches Gleichgewicht erschüttern.«
»Nein, nicht das«, murmelte Rat Mikulin kaum hörbar. »Der Dienst, den Sie erwiesen haben, wird richtig geschätzt …«
»Wird er das«, unterbrach ihn Rasumoff ironisch.
»… und Ihre Lage ebenfalls.« Rat Mikulin erhob nicht die Stimme. »Bedenken Sie doch nur! Sie fallen in Fürst K.s Arbeitszimmer wie vom Himmel mit Ihrer Schreckensnachricht … Sie studieren noch, Herr Rasumoff – wir aber machen schon Dienst –, vergessen Sie das nicht … und natürlich wurde auch einige Neugier erweckt …«
Rat Mikulin sah auf seinen Bart hinunter. Rasumoffs Lippen zitterten.
»Ein Geschehnis dieser Art kennzeichnet einen Mann«, fuhr die leise Stimme fort. »Ich gebe zu, daß ich neugierig war, Sie zu sehen. General T. glaubte auch, es wäre gut … Denken Sie nicht, daß ich außerstande bin, Ihre Gefühle zu verstehen. Als ich jung war wie Sie, studierte ich …«
»Jawohl – Sie wünschten mich zu sehen«, sagte Rasumoff mit tiefem Widerwillen im Ton. »Natürlich haben Sie das Recht, – ich meine die Macht. Es kommt alles auf dasselbe hinaus. Es ist aber ganz nutzlos, und wenn Sie mich ein Jahr lang ansehen und anhören wollten; ich beginne zu glauben, daß irgend etwas an mir ist, was die Leute scheinbar nicht herauszubringen vermögen. Ein wahres Unglück. Und doch bilde ich mir ein, daß Fürst K. es versteht. So schien es wenigstens.«
Rat Mikulin machte eine leise Bewegung und sprach:
»Fürst K. ist von allem unterrichtet, und ich will Ihnen gern sagen, daß er meine Absicht, persönlich mit Ihnen bekannt zu werden, gebilligt hat.«
Rasumoff fühlte eine ungeheure Enttäuschung und suchte sie mühsam mit spöttischer Überlegenheit zu maskieren. »Auch er ist also neugierig … Nun, schließlich kannte mich ja Fürst K. so wenig. Das ist natürlich sehr schlimm für mich, aber nicht gerade mein Fehler.«
Rat Mikulin machte mit der Hand eine hastig abwehrende Bewegung und neigte den Kopf leicht auf die Schulter.
»Nun, nun, Herr Rasumoff, müssen Sie es gerade so nehmen? Jedermann ist sicherlich imstande …«
Er sah rasch auf seinen Bart hinunter, und als er wieder aufblickte, lag einen Moment lang ein interessierter Ausdruck in seinem verschleierten Blick. Rasumoff entmutigte ihn mit einem kalten, abstoßenden Lächeln.
»Nein, das alles hat keinerlei Wichtigkeit. – Höchstens die eine, daß alle diese Neugierde durch eine so ganz einfache Tatsache erweckt wird … Was soll weiter werden? Die Neugier ist unstillbar. Ich will damit sagen, daß nichts da ist, womit sie zu stillen wäre. Ich bin zufällig als Russe mit patriotischen Instinkten geboren – ob sie ererbt sind oder nicht, vermag ich nicht zu sagen.«
Rasumoff sprach mit bewußter, gekünstelter Ruhe.
»Jawohl, patriotische Instinkte, entwickelt durch die Fähigkeit unabhängigen Denkens – losgelösten Denkens. In dieser Beziehung bin ich freier, als ich es durch irgendeine sozialdemokratische Revolution werden könnte. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß ich nicht ganz so denke wie Sie. Und wie könnte ich das auch? Sie denken wahrscheinlich in diesem Augenblick, daß ich verzweifelt lüge, um jede Spur von Reue zu verdecken.«
Rasumoff hielt inne. Das Herz wollte ihm die Brust zersprengen. Rat Mikulin rührte sich nicht.
»Warum so?« sagte er einfach. »Ich wohnte der Durchsuchung Ihrer Zimmer persönlich bei. Ich sah alle Papiere selbst durch. Eine Art politisches Glaubensbekenntnis hat mir einen tiefen Eindruck gemacht. Ein sehr bemerkenswertes Dokument. Darf ich Sie nun fragen, zu welchem Zweck …«
»Natürlich um die Polizei irre zu führen«, sagte Rasumoff wild … »Was soll dieser ganze Firlefanz? Natürlich, Sie können mich direkt aus diesem Zimmer nach Sibirien schicken. Das wäre verständlich. Ich kann mich in alles fügen, was mir verständlich ist. Aber ich wehre mich gegen diese Komödie von Verfolgung. Die ganze Geschichte artet für meinen Geschmack zu sehr ins Komische aus. Eine Komödie von Irrungen, Phantomen und Verdächtigungen. Es ist einfach unanständig …«
Rat Mikulin horchte auf.
»Sagten Sie Phantomen?« murmelte er.
»Ich könnte auf Dutzende davon meinen Fuß setzen.« Rasumoff machte eine ungeduldige Handbewegung und sprach ungestüm weiter.
»Ich muß aber wirklich verlangen, daß man mich mit dem Mann ein für allemal in Ruhe läßt. Um das zu erreichen, werde ich mir die Freiheit nehmen …« Rasumoff verneigte sich leicht vor dem Beamten »… mich zurückzuziehen – einfach zurückzuziehen«, schloß er fest.
Er ging auf die Türe zu und dachte: »Jetzt muß er seine Karten zeigen. Er muß läuten und mich arretieren lassen, bevor ich aus dem Hause bin, oder er muß mich gehen lassen, und jedenfalls …«
Die Stimme hinter ihm sagte ohne jede Hast:
»Kyrill Sidorowitsch.«
Rasumoff an der Tür wandte den Kopf.
»Mich zurückzuziehen«, wiederholte er.
»Wohin?« fragte Rat Mikulin sanft.