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Das Wasser unter der Brücke strömte schnell und tief. Sein leicht welliges Drängen schien imstande, in einem Umsehen sich einen Weg durch massigen Granit zu bohren. Wäre es aber durch Rasumoffs Brust geflossen, so hätte es die Bitterkeit nicht wegspülen können, die sich seit dem Zusammenbruch seines Lebens in ihm angehäuft hatte.
»Was soll dies alles nur«, dachte er und sah auf das Wasser hinunter, das so glatt und rein hinfloß, daß immer nur das Vorübertreiben einer Luftblase oder eines haarfeinen Schaumstreifens die schwindelerregende Schnelligkeit und die furchtbare Kraft zeigte. »Warum hat sich dieser mittelalterliche Engländer mir angehängt? Und was soll die dumme Geschichte von dem verrückten alten Weib?«
Er zwang sich mit Absicht, möglichst roh zu denken, vermied aber dabei jeden Ausfall gegen das junge Mädchen. »Ein verrücktes altes Weib«, wiederholte er sich. »Es ist ein Unglück. Oder sollte ich alles das als Narretei verachten? Aber nein, ich irre mich. Ich kann es mir nicht leisten, irgend etwas zu verachten. Eine Narretei kann der Ausgangspunkt für die allergefährlichsten Verwicklungen werden. Wie soll man sich dagegen schützen? Daran scheitert der Verstand. Je intelligenter man ist, desto weniger neigt man dazu, sich mit Narreteien zu befassen.«
Eine Zornwelle, die heiß in ihm aufstieg, hemmte seine Gedanken einen Augenblick und ließ seinen vorgebeugten Körper erzittern. Dann nahm er sein schweigsames Denken wieder auf, wie ein vergessenes Selbstgespräch. Doch selbst in dieser Ungestörtheit hatte er das verschwommene Bewußtsein, daß er vor sich selbst irgend etwas verheimlichte.
»Schließlich ist das gar nicht närrisch; es ist unbedeutend. Es ist gänzlich unbedeutend. Der Wahnwitz eines alten Weibes, die schusselige Neuigkeitskrämerei eines alten Engländers. Welcher Teufel hat ihn mir in den Weg geführt? Habe ich ihn nicht hundschnäuzig genug behandelt? Das ist die Art, wie man solche aufdringlichen Leute behandeln muß. Ist es möglich, daß er jetzt hinter mir steht und wartet?«
Rasumoff fühlte, wie ihm ein leiser Schauder das Rückgrat hinunterrann. Es war nicht Angst. Er war sicher, daß es nicht Angst war – nicht Angst für sich selbst; aber es war doch eine Art Beklemmung, wie für einen anderen, für irgend jemand, den er kannte, ohne ihn beim Namen nennen zu können. Dann erinnerte er sich aber, daß der geschäftige Engländer bei einem Zug zu sein hatte, und beruhigte sich ein wenig. Es war zu lächerlich, anzunehmen, daß der seine Zeit mit Warten vergeuden sollte. Es war unnötig, sich umzuwenden, um sich zu vergewissern.
Aber was wollte der Mann nur mit seinem ausgefallenen Geschwätz von der Zeitung und der verrückten alten Frau, fiel ihm plötzlich ein. Das war in jedem Falle eine verdammte Anmaßung, wie sie nur ein Engländer fertigbringen konnte. Dies alles war eine Art Sport für ihn – ein Revolutionssport – ein Spiel, dem er von der Höhe seiner Überlegenheit aus zusehen konnte. Und was zum Teufel meinte er nur mit seinem Ausruf: »Würde denn die Wahrheit nicht ausreichen?«
Rasumoff umklammerte mit den Armen die Mauerkrone, über die er sich lehnte. »Würde denn die Wahrheit nicht ausreichen? Die Wahrheit für die verrückte alte Mutter des …«
Der junge Mann schauderte mehrmals. »Ja, die Wahrheit würde ausreichen. Ganz augenscheinlich würde sie das. Bestimmt sogar. Und noch Dank ernten«, dachte er und versuchte, die ungesprochenen Sätze zu formen. »Sie wird mir vor Dankbarkeit um den Hals fallen«, höhnte er innerlich. Doch diese Stimmung verließ ihn plötzlich. »Ich muß vorsichtig sein«, schloß er, wie aus einem Halbschlaf erwachend. »Nichts und niemand ist so unbedeutend und widersinnig, daß er nicht beachtet werden müßte«, dachte er müde. »Ich muß vorsichtig sein.«
Rasumoff stieß sich mit der Hand vom Geländer ab und ging den Weg, den er gekommen war, zurück, geradeaus in seine Wohnung, wo er ein paar Tage lang ein einsames und zurückgezogenes Leben führte. Er vernachlässigte Peter Iwanowitsch, dem er von der Stuttgarter Gruppe empfohlen war; er suchte nie die revolutionären Flüchtlinge auf, denen er nach seiner Ankunft vorgestellt worden war. Er hielt sich jenen Kreisen gänzlich fern. Dabei fühlte er aber, daß dieses Benehmen Überraschung und Verdacht erwecken und damit für ihn selbst eine Gefahr bedeuten mußte.
Damit soll nicht gesagt sein, daß er während dieser wenigen Tage überhaupt nicht ausging. Ich traf ihn zu wiederholten Malen in den Straßen, er schien mich aber nicht zu kennen. Einmal, als ich von einem Abendbesuch von den Damen Haldin nach Hause ging, sah ich ihn die dunkle Fahrbahn des Boulevard des Philosophes kreuzen. Er trug einen breitrandigen weichen Hut und hatte den Rockkragen hochgeschlagen. Ich sah ihm zu, wie er gerade auf das Haus zuschritt. Statt aber hineinzugehen, blieb er gerade unter den noch erleuchteten Fenstern stehen und bog nach einer Weile in eine Seitengasse ein.
Ich wußte, daß er Frau Haldin noch nicht besucht hatte. Fräulein Haldin hatte mir erzählt, daß er sich dagegen sträubte; überdies hatte sich auch der Seelenzustand Frau Haldins verändert. Sie schien nun in dem Glauben befangen, daß ihr Sohn lebe, und erwartete vielleicht seine Ankunft. Ihre Reglosigkeit in dem großen Lehnstuhl neben dem Fenster machte immer den Eindruck der Erwartung, sogar wenn die Jalousien heruntergelassen und die Lampen angezündet waren.
Ich für mein Teil war überzeugt, daß sie den Todesstreich erhalten hatte; Fräulein Haldin, der ich natürlich von meinen Vorahnungen nichts sagte, war der Ansicht, daß es von wenig Nutzen sein könnte, Herrn Rasumoff gerade jetzt vorzustellen, und ich stimmte ihr völlig bei. Ich wußte, daß sie den jungen Mann auf den Bastionen traf. Ein- oder zweimal sah ich sie langsam in der Hauptallee auf und ab gehen. Wochen hindurch trafen sie sich jeden Tag. Ich vermied es, dort um die Stunde vorbeizukommen, wo Fräulein Haldin ihre Spaziergänge machte. Eines Tages aber ging ich in einem Anfall von Zerstreutheit durch das Tor hinein und traf sie allein an. Ich blieb stehen, um einige Worte zu wechseln. Herr Rasumoff kam nicht, und wir begannen über ihn zu sprechen, wie es ja ganz natürlich war.
»Hat er Ihnen irgend etwas Genaues über die Tätigkeit Ihres Bruders gesagt, und über sein Ende?« wagte ich zu fragen.
»Nein«, gab Fräulein Haldin etwas zögernd zu, »nichts Bestimmtes.«
Ich konnte mir recht gut vorstellen, daß alle ihre Gespräche sich auf den Toten bezogen haben mußten, der sie zusammengebracht hatte. Das war unvermeidlich. Ihr Interesse aber gehörte dem lebenden Mann, und das, vermute ich, war auch unvermeidlich. Und als ich mit Fragen weiter in sie drang, da entdeckte ich, daß er sich ihr als durchaus nicht konventioneller Revolutionär gezeigt hatte, als Verächter von Schlagworten, Theorien und sogar Menschen. Das war mir recht angenehm zu hören – und doch war ich etwas verblüfft.
»Sein Sinn eilt dem Kampf weit voraus«, erklärte Fräulein Haldin. »Natürlich ist er auch tätiger Arbeiter«, fügte sie hinzu.
»Und verstehen Sie ihn?« fragte ich kerzengerade.
Sie zögerte abermals und murmelte dann: »Nicht ganz.«
Ich sah ein, daß er sie berückt haben mußte, indem er eine geheimnisvoll verschlossene Haltung annahm.
»Wissen Sie, was ich denke?« sagte sie und durchbrach ihre Hemmungen mit sichtlicher Anstrengung. »Ich denke, daß er mich beobachtet und studiert, um herauszubringen, ob ich sein Vertrauen verdiene.«
»Und das gefällt Ihnen?«
Sie hüllte sich einen Augenblick lang in undurchdringliches Schweigen, dann sagte sie energisch, doch in vertraulichem Ton:
»Ich bin überzeugt, daß dieser außergewöhnliche Mensch sich mit irgendeinem großen Plan trägt, an einem großen Unternehmen arbeitet; er ist wie besessen davon. Er leidet darunter und unter seiner Einsamkeit.«
»Er sieht sich also nach Helfern um«, bemerkte ich und wandte den Kopf ab.
Wieder gab es ein Schweigen.
»Warum nicht?« sagte sie schließlich.
Der tote Bruder, die sterbende Mutter, der ausländische Freund, sie waren alle weit in den Hintergrund gerückt. Zugleich aber war auch Peter Iwanowitsch überhaupt nirgends, und dieser Gedanke beruhigte mich. Doch sah ich, wie der gigantische Schatten russischen Lebens sich um sie her verdichtete wie das Dunkel einfallender Nacht. Bald mußte er sie verschlingen. Ich fragte nach Frau Haldin, – diesem anderen Opfer des todbringenden Schattens. Eine reuevolle Verlegenheit trat in ihre offenen Augen. Mutter schien es nicht schlechter zu gehen, doch wenn sie nur wüßte, was sie mitunter für komische Launen hatte. Dann sah Fräulein Haldin auf ihre Uhr, erklärte, daß sie keinen Augenblick länger bleiben könne, und eilte nach einem flüchtigen Händedruck fort.
Ganz augenscheinlich war also Herr Rasumoff an diesem Tag nicht mehr zu erwarten. Unbegreiflicher Mensch! …
Doch weniger als eine Stunde später ging ich über die Place Mollard und sah ihn, wie er auf eine Straßenbahn nach dem Südufer sprang.
»Er geht ins Château Borel«, dachte ich.
Nachdem der Wagen Rasumoff vor den Toren des Château Borel, etwa eine halbe Meile vor der Stadt, abgesetzt hatte, sauste er seinen Weg zwischen zwei graden Linien schattiger Bäume weiter. Von der Straße weg führte ein kurzer, hölzerner Pier in das seichte Wasser hinaus, das weiter draußen ein tiefes Blau zeigte und unangenehm von den sauberen grünen Hängen des gegenüberliegenden Ufers abstach. Die weißen Hafendämme unterstrichen wirksam die dunkeln Häuser der Stadt links und die Wasserfläche, die sich rechts weit hinaus erstreckte. Die Vorgebirge, die da und dort hineinragten, zeigten keine besonderen Formen, und das Ganze sah leblos und kitschig aus, wie ein frisches Öldruckbild. Rasumoff wandte der Landschaft verächtlich den Rücken. Sie schien ihm widerwärtig – unerträglich widerwärtig – in ihrer reizlosen Vollkommenheit: die Vollkommenheit der Mittelmäßigkeit, die endlich nach Jahrhunderten voll Kampf und Kultur erreicht war. Rasumoff also kehrte dem allem den Rücken und stand dem Parktor zum Château Borel gegenüber. Die Stäbe und die schmiedeeisernen Bogen zwischen den dunklen verwitterten Steinsäulen waren arg verrostet. Obgleich frische Räderspuren darunter wegführten, sah das Tor aus, als wäre es lange Zeit nicht geöffnet worden. Knapp neben dem Pförtnerhäuschen, das aus demselben grauen Stein gebaut war wie die Torpfeiler (die Fensterläden waren alle geschlossen), gab es noch eine kleine Seitentür. Auch deren Stäbe waren rostig; sie stand weit offen und sah aus, als sei sie lange Zeit nicht geschlossen worden. Und als Rasumoff sie ein wenig weiter aufstoßen wollte, bemerkte er tatsächlich, daß sie unbeweglich war.
»Demokratische Tugendhaftigkeit. Hier scheint es also keine Diebe zu geben«, murmelte er mißvergnügt vor sich hin. Bevor er in den Park eintrat, sah er sich noch mürrisch nach einem Arbeiter um, der müßig auf einer Bank in der reinlichen, breiten Avenue lümmelte. Der Kerl hatte die Füße weit von sich gestreckt; ein Arm hing über die niedere Rückenlehne. Er genoß einen freien Tag in göttlicher Ruhe, als ob alles ringsum ihm gehörte.
»Wähler! Wählbar! Aufgeklärt!« sagte sich Rasumoff. »Und ein Vieh bei alledem.«
Er trat in den Park ein, folgte rasch dem weiten Bogen der Zufahrtsstraße; er versuchte an nichts zu denken und seinen Kopf und seine Aufregung zur Ruhe zu zwingen. Am Fuße der Terrasse vor dem Haus angekommen, stockte er aber, als ob ihn irgendeine unsichtbare Erscheinung körperlich hemmte. Er machte kurz halt und sah auf die Ziegelmauer der Terrasse, die mit engen Bogen geschmückt und von ein paar kränklichen Schlingpflanzen kümmerlich bewachsen war; ein schlecht gehaltenes schmales Blumenbeet zog sich an ihrem Fuße hin.
»Hier ist es«, dachte er wie in Ehrfurcht. »Hier ist es – – auf ebendiesem Fleck …«
Bei dem bloßen Gedanken an sein erstes Zusammentreffen mit Natalie Haldin fühlte er sich versucht, zu fliehen. Er gestand es sich selbst ein; dennoch rührte er sich nicht. Jedoch nicht, weil er vielleicht einer unwürdigen Schwäche zu widerstehen wünschte, sondern weil er wußte, daß es für ihn keinen Platz gab, wohin er fliehen konnte. Überdies konnte er Genf nicht verlassen. Er erkannte, ohne Nachdenken sogar, daß es unmöglich war. Das wäre ein todbringendes Eingeständnis gewesen, ein Akt moralischen Selbstmordes. Und es konnte auch physisch gefährlich werden. Langsam schritt er die Stufen der Terrasse hinan, die von zwei moosfleckigen Steinurnen von leichenbitterhaftem Aussehen eingefaßt waren.
Über die breite Fläche weg, aus deren verwaschenem Kies da und dort kleine Grasbüschel wucherten, sah er die geschlossenen Fensterläden des Erdgeschosses und die weit offene Haustür. Er nahm an, daß sein Kommen bemerkt worden war; denn im Rahmen der Tür stand Peter Iwanowitsch, ohne Zylinder, und schien sein Näherkommen zu erwarten.
Der feierlich schwarze Gehrock und der bloße Kopf von Europas größtem Feministen gaben ein treffendes Bild von seiner zweifelhaften Stellung im Haus der Madame de S., seiner Egeria. In seiner Erscheinung vereinten sich die Förmlichkeit des Besuchers mit der Sorglosigkeit des Eigentümers. Sein Gesicht war blühend wie immer, bärtig und von den dunklen Brillengläsern maskiert; er schritt dem Besucher entgegen und nahm sofort vertraulich seinen Arm.
Rasumoff unterdrückte jede Andeutung von Widerwillen mit einer Anstrengung, die durch die ständig nötige Vorsicht fast schon mechanisch geworden war. Durch diese Notwendigkeit war auch sein Gesichtsausdruck zu einer erhabenen, fast fanatischen Verschlossenheit erstarrt. Der »heldenhafte Flüchtling« konnte von der strengen Zurückhaltung dieses neuen Ankömmlings aus dem revolutionären Rußland nicht unberührt bleiben und schlug einen versöhnlichen, sogar fast vertraulichen Ton an. Madame de S. ruhte eben nach einer schlimmen Nacht. Sie hätte öfters schlimme Nächte. Er habe seinen Hut oben im Treppenhaus gelassen und sei heruntergekommen, um seinem jungen Freund einen Spaziergang und eine offenherzige Aussprache in einer der schattigen Alleen hinter dem Hause vorzuschlagen. Nach diesen einleitenden Bemerkungen sah der große Mann auf das unbewegte Gesicht zu seiner Seite und konnte sich nicht enthalten, auszurufen:
»Auf mein Wort, junger Mann, Sie sind eine außergewöhnliche Persönlichkeit.«
»Ich glaube, Sie irren sich, Peter Iwanowitsch. Wäre ich wirklich eine außergewöhnliche Persönlichkeit, dann wäre ich nicht hier und ginge nicht neben Ihnen in einem Garten in der Schweiz, Kanton Genf, Gemeinde – wie heißt die Gemeinde, zu der dieser Ort hier gehört? … Ist ja gleich – im Herzen einer Republik eben. Das richtige Herz dafür: nicht größer als eine getrocknete Erbse und auch etwa so wertvoll. Ich bin nicht außergewöhnlicher als alle anderen Russen, die ins Ausland gehen.«
Peter Iwanowitsch aber widersprach nachdrücklich.
»Nein, nein, Sie sind kein gewöhnlicher Mensch. Ich habe einigen Blick für Russen, die im Ausland leben. Sie erscheinen mir und auch anderen als eine markante Persönlichkeit.«
»Was meint er damit?« fragte sich Rasumoff und sah seinen Begleiter voll an. Das Gesicht von Peter Iwanowitsch zeigte nachdenklichen Ernst.
»Sie können sich doch denken, Kyrill Sidorowitsch, daß ich aus verschiedenen Orten von Ihnen gehört habe, wo Sie sich auf Ihrer Herreise vorstellten. Ich habe Briefe erhalten.«
»Oh, wir sind groß darin, über andere zu reden«, warf Rasumoff ein, der mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört hatte. »Klatschgeschichten, Verdächtigungen und all das meistern wir großartig. Verleumdung sogar.«
Bei diesem scheinbaren Gefühlsausbruch gelang es Rasumoff sehr gut, die Angst zu verbergen, die ihn befallen hatte. Zu gleicher Zeit sagte er sich aber, daß es keinen erdenklichen Grund für Angst geben konnte. Die unverkennbare Aufrichtigkeit, die in der Antwort des andern klang, beruhigte ihn.
»Himmel«, rief Peter Iwanowitsch, »wovon sprechen Sie? Welchen Grund können Sie haben …?«
Der große Verbannte warf die Arme hoch, als fehlten ihm die Worte. Rasumoff war befriedigt, fühlte sich aber doch bestimmt, im selben Ton fortzufahren.
»Ich spreche von den giftigen Pflanzen, die in der Welt der Verschwörer gedeihen, wie schlechte Pilze in einem dunklen Keller.«
»Sie gefallen sich da in Schwarzsehereien«, erwiderte Peter Iwanowitsch, »Was Sie selbst betrifft …«
»Nein«, unterbrach ihn Rasumoff ohne Erregung, »ich denke gar nicht an Schwarzseherei. Es kommt nur auf dasselbe hinaus, wenn man keine Illusionen hat.«
Peter Iwanowitsch warf ihm durch die dunklen Brillengläser einen unergründlichen Blick zu, von einem schwachen Lächeln begleitet. »Der Mann, der sagt, daß er keine Illusionen habe, hat wenigstens diese eine«, sagte er überaus freundlich. »Aber ich sehe schon, wie es ist, Kyrill Sidorowitsch, sie streben nach Stoizismus!«
»Stoizismus! Das ist eine Pose der Griechen und Römer. Lassen wir sie ihnen, wir sind Russen, das heißt – Kinder –, das heißt – aufrichtig –, das heißt – zynisch, wenn Sie wollen; aber das ist keine Pose.«
Ein langes Schweigen folgte. Sie schritten langsam unter den Linden. Peter Iwanowitsch hatte die Hände auf den Rücken gelegt. Rasumoff fühlte den ungekiesten Boden des tief schattigen Weges feucht und schlüpfrig unter seinen Füßen. Er fragte sich beunruhigt, ob er wohl die rechten Dinge sagte, und überlegte dabei, daß er die Führung des Gespräches mehr in der Hand haben müßte. Auch der große Mann an seiner Seite schien zu überlegen. Er räusperte sich leicht, und Rasumoff fühlte, wie sofort ein peinliches Gefühl von Spott und Angst in ihm wach wurde.
»Ich bin erstaunt«, begann Peter Iwanowitsch liebenswürdig. »Gesetzt den Fall, Sie hätten mit Ihrer Anklage recht, wie können Sie in Ihrem Fall sich über Verleumdung oder Klatsch beschweren? Das ist unbillig. Tatsächlich, Kyrill Sidorowitsch, ist nicht genug über Sie bekannt, als daß Klatsch oder auch nur Verleumdung Platz greifen könnten? Eben jetzt sind Sie ein Mann, der in Beziehung zu einer großen Tat steht, die erhofft und auch versucht worden, doch nie geglückt war. Leute sind zugrunde gegangen bei dem Versuch, das zu tun, was Sie und Haldin endlich vollbracht haben. Mit diesem Ruf kommen Sie aus Rußland heraus zu uns. Aber Sie können nicht bestreiten, daß Sie sich wenig mitteilsam gezeigt haben, Kyrill Sidorowitsch. Leute, die Sie getroffen haben, teilen mir ihre Eindrücke mit. Der eine schrieb dies, der andere das, ich aber bilde mir mein eigenes Urteil. Ich wartete, bis ich Sie gesehen hatte. Sie sind ein Mann, der aus dem Rahmen herausfällt. Das ist ganz sicher so. Sie sind verschlossen, sehr verschlossen. Diese Schweigsamkeit, diese strengen Brauen, dieses unbeugsame und geheimnisvolle Etwas in Ihnen flößt Hoffnungen ein und ein wenig Neugier, zu erfahren, was Sie eigentlich wollen. Sie haben etwas von einem Brutus.«
»O bitte, ersparen Sie mir diese klassischen Vergleiche«, fuhr Rasumoff nervös auf. »Was hat Junius Brutus hiermit zu tun? Es ist lächerlich. Wollen Sie vielleicht sagen«, fügte er sehr hastig, doch mit leiserer Stimme hinzu, »daß die russischen Revolutionäre alle Patrizier und daß ich ein Aristokrat bin?«
Peter Iwanowitsch hatte sich mit ein paar Gesten Luft gemacht, legte nun die Hände wieder auf den Rücken und machte nachdenklich ein paar Schritte.
»Nicht alle Patrizier«, murmelte er endlich. »Sie aber sind auf jeden Fall einer von uns.«
Rasumoff lächelte bitter. »Natürlich heiße ich nicht Guggenheimer«, sagte er spöttisch. »Ich bin kein demokratischer Jude. Was kann ich dafür? Nicht jeder ist so glücklich. Ich habe keinen Namen, ich habe keine …«
Die europäische Berühmtheit zeigte große Bewegung. Er trat einen Schritt zurück und warf die Arme vor sich, ausgestreckt, beschwörend, fast flehend. In seinem tiefen Baß klang aufrichtiger Schmerz.
»Aber, mein lieber junger Freund«, rief er. »Mein lieber Kyrill Sidorowitsch …«
Rasumoff schüttelte den Kopf.
»Sogar auf den Vaternamen, den Sie so höflich gebrauchen, sooft Sie mich anreden, habe ich keinen gesetzlichen Anspruch, – aber was macht das? Ich erhebe ihn auch gar nicht. Ich habe keinen Vater. Umso besser. Aber ich sage Ihnen etwas: meiner Mutter Großvater war ein Bauer – ein Leibeigener. Sehen Sie nun, wie sehr ich einer von Ihnen bin? Ich verlange von niemand, daß er sich zu mir bekennt. Rußland aber kann mich nicht verleugnen; es kann nicht.« Rasumoff schlug sich mit der Faust auf die Brust. »Ich bin Rußland!«
Peter Iwanowitsch ging langsam mit gesenktem Kopfe weiter. Rasumoff folgte ihm und ärgerte sich über sich selbst. Das waren nicht die richtigen Gespräche. Jede Aufrichtigkeit war töricht, und doch konnte man auf Wahrheit nicht gänzlich verzichten, dachte er verzweifelt. Peter Iwanowitsch, der hinter seiner dunklen Brille weitergrübelte, wurde ihm plötzlich so widerlich, daß er sich einbildete, er könnte ihn, hätte er ein Messer, nicht nur ohne Gewissensbisse, sondern sogar mit einer grauenhaften, triumphierenden Genugtuung niederstechen. Seine Einbildungskraft blieb unwillkürlich an dieser Vorstellung haften. Ihm war, als würde er hellsichtig. »Kein Mensch würde das von mir erwarten«, wiederholte er sich. »Kein Mensch würde – ich könnte weggehen, indem ich den Riegel an der kleinen Tür sprenge, die ich dort in der hinteren Mauer sehe. Es ist ein schwaches Schloß. Niemand im Hause scheint zu wissen, daß er mit mir hier ist. O ja, der Hut. Diese Weiber würden sofort den Hut entdecken, den er im Treppenhaus gelassen hat. Sie würden ihn finden, tot, hier in diesen feuchten, düsteren Schatten – ich aber wäre weg, und niemand könnte ihn … Gott! Werde ich verrückt?« fragte er sich schaudernd.
Der große Mann ließ sich halblaut und zögernd vernehmen: »Hm, ja! das – zweifellos – in gewissem Sinn …« Er erhob die Stimme. »Es ist eine Art Stolz in Ihnen …«
Peter Iwanowitsch legte einen vertrauten, heimischen Klang in seine Stimme, als Anerkennung dafür, daß Rasumoff sich zu seiner bäuerlichen Abstammung bekannte.
»Ein gut Teil Stolz, Bruder Kyrill. Und ich will nicht sagen, daß er nicht gerechtfertigt wäre. Im Gegenteil, ich gebe es zu. Ich habe mir erlaubt, auf die Tatsache Ihrer Abstammung anzuspielen, einfach, weil ich ihr keine sonderliche Bedeutung beimesse. Sie sind einer der Unseren – un des nôtres. Das hebe ich mit Genugtuung hervor.«
»Auch ich lege einigen Wert darauf«, bemerkte Rasumoff ruhig. »Ich möchte nicht einmal leugnen, daß es sogar für Sie von einigem Wert sein könnte«, fuhr er fort, nach einer leichten Pause und mit einem Anflug von Hohn, dessen er sich zu seinem Ärger bewußt wurde. Er hoffte, daß es der Aufmerksamkeit von Peter Iwanowitsch entgangen sein würde. »Wie wäre es aber, wenn wir überhaupt nicht weiter darüber sprächen?«
»Nun gut, das wollen wir auch nicht – nicht nach diesem einen Mal, Kyrill Sidorowitsch«, beharrte der erhabene Hohepriester der Revolution. »Dies soll das letztemal sein. Sie können doch nicht einen Augenblick glauben, daß ich die leiseste Ahnung hatte, ich würde Ihre Gefühle verletzen. Sie sind offensichtlich eine überlegene Natur, – dafür halte ich Sie; weit über durchschnittlichen – hm – Empfindlichkeiten. Tatsächlich aber, Kyrill Sidorowitsch, weiß ich nichts über Ihre Empfindlichkeiten. Kein Mensch außerhalb Rußlands weiß viel über Sie – bisher.«
»Sie haben mich beobachten lassen?« fragte Rasumoff.
»Jawohl.« Der große Mann hatte im Ton völliger Offenherzigkeit gesprochen. Als sie aber einander die Gesichter zukehrten, stieß sich Rasumoff an dem Anblick der dunklen Brille. Unter ihrem Schutze äußerte Peter Iwanowitsch weiter, daß er seit längerer Zeit den Wunsch empfunden habe, einen Mann von Tatkraft und Charakter zu treffen, und zwar wegen eines ganz bestimmten Planes. Er sagte allerdings nichts Genaueres darüber; und nach einigen kritischen Bemerkungen über die Persönlichkeit der verschiedenen Mitglieder des revolutionären Agitationskomitees in Stuttgart ließ er die Unterhaltung lange Zeit verstummen. Sie schritten die Allee von einem Ende zum anderen ab. Rasumoff, der ebenfalls schweigsam war, hob von Zeit zu Zeit die Augen und warf einen Blick auf die Rückwand des Hauses. Kein Anzeichen deutete darauf hin, daß es bewohnt sei. Mit den schmutzigen, verwitterten Wänden und den Fenstern, die von oben bis unten mit Läden verschlossen waren, sah es furchtbar düster und verlassen aus. Es hätte recht wohl nach althergebrachter Art von einem bösartigen, stöhnenden, schlüpfrigen Geist mittleren Ranges bewohnt sein können. Die Geister allerdings, die Madame de S. berief, waren dem Gerüchte nach von anderer Art: Staatsmänner, Diplomaten, Deputierte oder Abgeordnete verschiedener europäischer Parlamente. Rasumoff hatte Madame de S. nur im Wagen gesehen.
Peter Iwanowitsch erwachte aus seiner Geistesabwesenheit.
»Zwei Dinge möchte ich Ihnen gleich sagen: erstens einmal glaube ich, daß weder ein Führer noch eine entscheidende Tat aus der Hefe eines Volkes heraus geboren werden können. Wenn Sie mich aber nun fragen, was die Hefe eines Volkes ist, – hm – es würde zu weit führen, das zu erklären. Sie würden überrascht sein über die Vielheit der Elemente, aus denen meiner Ansicht nach diese Hefe zusammengesetzt ist – das, was auf dem Grund bleiben sollte und muß … Überdies könnte ja eine solche Aufstellung sich auch bestreiten lassen. Ich kann Ihnen aber sagen, was nicht die Hefe ist. Darüber können wir unmöglich verschiedener Ansicht sein. Die Bauernschaft eines Volkes ist nicht die Hefe, noch auch die höchste Klasse – nun – der Adel. Überlegen Sie das, Kyrill Sidorowitsch. Ich glaube, Sie neigen sehr zu Reflexionen. Alles in einem Volk, was nicht echt ist, nicht ganz wurzelecht oder durch Entwicklung angewachsen, ist – nun – Schmutz! Auch Intellekt am falschen Ort gehört dazu. Auch ausländische Theorien. Schmutz! Hefe! Das zweite, worüber ich Ihnen nachzudenken empfehlen möchte, ist: daß für uns in diesem Augenblick eine Kluft zwischen der Vergangenheit und der Zukunft klafft. Niemals wird sie durch ausländischen Liberalismus zu überbrücken sein. Alle Versuche dazu sind entweder Wahnwitz oder Betrug. Zu überbrücken ist sie nie! Sie muß ausgefüllt werden.«
Eine Art finsteren Spottes hatte sich in die Stimme des berühmten Feministen geschlichen. Er faßte Rasumoffs Arm über dem Ellbogen und schüttelte ihn leicht.
»Verstehen Sie mich, rätselhafter junger Mann? Sie muß einfach ausgefüllt werden.«
Rasumoff blieb unbewegt.
»Glauben Sie nicht, daß ich über das Nachdenken über diesen Punkt schon hinaus bin«, sagte er und machte mit einer ruhigen Bewegung seinen Arm frei; die Entfernung zwischen ihm und Peter Iwanowitsch vergrößerte sich dadurch ein wenig, als sie weiterschritten. Er fügte noch hinzu, daß sicherlich ganze Wagenladungen von Worten und Theorien die Kluft niemals ausfüllen würden. Ein Nachdenken sei überflüssig. Nur das Opfer vieler Leben könne allein – – Er brach plötzlich ab, ohne den Satz zu beenden.
Peter Iwanowitsch senkte langsam seinen großen haarigen Kopf. Nach einer Weile schlug er vor, sie wollten hinaufgehen und sehen, ob Madame de S. sie nun empfangen wolle.
»Wir wollen Tee trinken«, sagte er und ging mit rascherem Schritt aus der schattigen Allee hinaus.
Die Gesellschaftsdame war auf dem Ausguck gewesen. Ihr schwarzes Kleid verschwand im Torweg, als die beiden Männer um die Ecke her in Sicht kamen. Sie mußte irgendwo hineingerannt sein, denn als die beiden in die Vorhalle traten, war sie nicht mehr zu sehen. Durch das staubige Oberlichtfenster fiel hartes Licht auf den schwarz und weiß eingelegten Fußboden, auf dem ihre Schritte schwach widerhallten. Der große Feminist schritt voran die Treppe hinauf. Auf der Balustrade des ersten Stockwerks stand ein Zylinderhut mit dem Rand nach oben; gerade gegenüber lag die Doppeltür zu dem Wohnzimmer, in dem, wie es hieß, die gerufenen Geister erschienen und vermutlich flüchtige Revolutionäre verkehrten. Der brüchige weiße Anstrich und die schmutzige Stuckumrahmung erweckten die Vorstellung, daß auch hinter der Tür Schmutz und Leere herrschten. Bevor er den massiven Türgriff niederdrückte, warf Peter Iwanowitsch seinem jungen Begleiter einen scharfen, halb kritischen und halb vorbereitenden Blick zu. »Niemand ist vollkommen«, murmelte er diskret. So mag vielleicht der Besitzer eines seltenen Juwels, bevor er den Schrein öffnet, einen Laien aufmerksam machen, daß keine Gemme fleckenlos ist.
Er blieb mit der Hand auf der Klinke so lange stehen, bis Herr Rasumoff mit einem mürrischen »Nein« zustimmte. »Die Vollkommenheit selbst würde nicht diese Wirkung hervorbringen«, fuhr Peter Iwanowitsch fort, »in einer Welt, die nicht dafür geschaffen ist. Doch Sie werden da einen Geist finden – nein – die Quintessenz femininer Intuitionskraft, die sich mit der unwiderstehlichen, erleuchteten Macht der Sympathie in jeden noch so verworrenen Konflikt einfühlen wird, unter dem Sie vielleicht zu leiden haben. Nichts kann dieser – dieser – vergeistigten, jawohl, vergeistigten Durchdringung verborgen bleiben, dieser strahlenden Weiblichkeit.«
Der Blick der dunklen Brille mit seiner starren Unbeweglichkeit gab seinem Gesicht den Ausdruck unerschütterlicher Überzeugung. Rasumoff fühlte einen kurzen Schauder vor dieser geschlossenen Tür.
»Durchdringung? Strahlend?« stammelte er, »Meinen Sie eine Art Gedankenlesen?«
Peter Iwanowitsch schien entrüstet.
»Ich meine etwas durchaus anderes«, gab er mit einem schwachen, mitleidigen Lächeln zurück.
Rasumoff begann sich zu ärgern. Sehr gegen seinen Wunsch. »Dies alles ist so geheimnisvoll«, murmelte er durch die Zähne.
»Sie haben doch nichts dagegen, verstanden und geleitet zu werden?« forschte der große Feminist.
Rasumoff machte seinem Ärger in einem scharfen Flüstern Luft.
»In welchem Sinn? Lassen Sie sich bitte ein für allemal sagen, daß ich ein ernster Mensch bin. Wofür halten Sie mich?«
Sie sahen einander ganz aus der Nähe ins Gesicht. Rasumoffs Erregung flaute ab unter dem undurchdringlichen Ernst der blauen Gläser, auf die sein Blick traf. Peter Iwanowitsch drückte auf die Klinke.
»Sie sollen es gleich erfahren«, sagte er und öffnete die Tür. Eine farblose, krächzende Stimme tönte aus dem Zimmer.
»Enfin! Vous voilà!«
Peter Iwanowitsch füllte mit seinem schwarz befrackten, massigen Oberkörper den Türrahmen und stöhnte in herzlichem Ton, in dem auch etwas Selbstgefälligkeit mitklang:
»Jawohl, hier bin ich.«
Er sah über die Schulter zurück nach Rasumoff, der auf sein Weitergehen wartete.
»Und ich bringe Ihnen einen erprobten Verschwörer – einen wirklichen diesmal. Un vrai celui-là –.«
Dieser kleine Aufenthalt an der Schwelle gab dem »erprobten Verschwörer« Zeit, sich zu vergewissern, daß sein Gesicht nichts von seiner ärgerlichen Neugier und seinem innerlichen Widerwillen verriet.
Diese beiden Gefühle stehen in Rasumoffs Memorandum über seine erste Unterredung mit Madame de S. verzeichnet. Dieselben Worte, die ich in meiner Erzählung gebrauchte, sind dort, wo ihre Aufrichtigkeit nicht angezweifelt werden kann, niedergeschrieben. Diese Erinnerungen, welche ja für keine anderen als seine eigenen Augen bestimmt sein konnten, waren meiner Ansicht nach nicht der Ausfluß jenes merkwürdigen Drängens nach Indiskretion, der den Leuten, die ein Doppelleben führen müssen, vertraut ist und die ständige Existenz von »kompromittierenden Dokumenten« in allen Verschwörungen und Komplotten der Geschichte erklärt. Herr Rasumoff, stelle ich mir vor, sah darauf, wie ein Mensch sich in einem Spiegel betrachtet, mit Staunen, vielleicht mit Angst, mit Ärger oder Verzweiflung, ja, wie ein bedrohter Mann ängstlich sein eigenes Gesicht im Spiegel betrachten und dabei beruhigende Erklärungen für die Merkmale suchen mag, mit denen ihn irgendein vererbtes, schleichendes Übel gezeichnet hat.
Die Egeria des »russischen Mazzini« machte auf den ersten Blick einen starken Eindruck durch die todesähnliche Unbeweglichkeit ihres aufdringlich bemalten Gesichtes. Die Augen schienen übernatürlich glänzend. Die Gestalt, in einem eng anliegenden Kleid, das wundervoll gemacht, aber durchaus nicht neu war, gefiel sich in eleganter Haltung. Die rauhe Stimme, die ihn zum Sitzen aufforderte, die Starrheit der aufrechten Stellung, einen Arm über die Rückenlehne des Sofas gestreckt; der weiße Schimmer der großen Augäpfel, aus deren vergrößerten Pupillen schwarz und unergründlich der Blick brach; dies alles machte auf Rasumoff einen tieferen Eindruck als irgend etwas, das er seit seiner hastigen und heimlichen Abreise von St. Petersburg gesehen hatte. »Eine Hexe in Pariser Kleidern«, dachte er. »Ein böses Omen.« Er zögerte weiterzugehen und verstand zunächst nicht einmal, was die krächzende Stimme zu ihm sagte.
»Setzen Sie sich, rücken Sie den Stuhl näher zu mir. Da –«
Er setzte sich. Aus der Nähe gesehen, erweckten die bemalten Backenknochen, die Runzeln, die feinen Linien zu beiden Seiten der gefärbten Lippen ein Gefühl der Bestürzung in ihm. Man gab sich Mühe, ihn liebenswürdig zu empfangen, mit einem Lächeln, das in ihm die Vorstellung eines grinsenden Totenschädels erweckte.
»Wir haben schon seit einiger Zeit von Ihnen gehört.«
Er wußte nicht, was er sagen sollte, und murmelte ein paar zusammenhanglose Worte. Darüber verging die Vorstellung des grinsenden Totenschädels.
»Und wissen Sie, daß die allgemeine Klage dahin ging, daß Sie sich überall so verschlossen gezeigt haben?«
Rasumoff schwieg eine Zeit und überdachte seine Antwort.
»Ich, sehen Sie wohl, bin ein Mann der Tat«, sagte er unbeholfen mit einem Aufblick.
Peter Iwanowitsch stand in ehrfurchtgebietendem, erwartungsvollem Schweigen neben seinem Stuhl. Rasumoff überkam ein leichtes Gefühl der Übelkeit. »Welches konnten die Beziehungen dieser beiden Leute zueinander sein? Sie wie ein galvanisierter Leichnam aus einer Hoffmannschen Erzählung, er der Prediger des Evangeliums des Weibes für die ganze Welt und außerdem ein Überrevolutionär. Diese greise, bemalte Mumie mit unergründlichen Augen und dieser stämmige, stiernackige Ergebene … Was war das? Zauberei, Berückung … Ihr Geld ist der Grund«, dachte er. »Sie hat Millionen.«
Die Wände und der Fußboden des Zimmers waren kahl wie in einer Scheune. Die wenigen Einrichtungsstücke waren auf dem Speicher entdeckt und in Gebrauch genommen worden, ohne daß man sie abgestaubt hatte. Es war der Ausschuß, den die Witwe des Bankiers zurückgelassen hatte. Die Fenster ohne Vorhänge hatten ein dürftiges und schlafloses Aussehen. Bei zweien davon waren die schmutzigen gelblich-weißen Rolladen heruntergelassen. Dies alles zeugte nicht von Armut, sondern von schmutzigem Geiz.
Die rauhe Stimme auf dem Sofa stieß ärgerlich hervor:
»Sie sehen um sich, Kyrill Sidorowitsch. Ich bin schamlos beraubt, gänzlich ruiniert worden.«
Ein rasselndes Lachen, das sie nicht zurückhalten zu können schien, unterbrach sie für einen Augenblick.
»Eine Sklavenseele würde vielleicht Trost ziehen aus der Tatsache, daß der Haupträuber eine hochstehende und fast sakrosankte Person war – ein Großfürst nämlich, verstehen Sie, Herr Rasumoff? ein Großfürst –. Nein! Sie haben keine Idee, was für Diebe diese Leute sind. Schlankweg Diebe.«
Ihr Busen wallte, aber ihr linker Arm blieb leichenstarr über die Rücklehne des Lagers hingestreckt.
»Sie werden sich nur aufregen«, hauchte eine tiefe Stimme, die Rasumoffs erstauntem Blick eher unter der starren Brille von Peter Iwanowitsch hervorzukommen schien als von seinen Lippen, welche sich kaum bewegt hatten.
»Und wenn schon! Ich sage Diebe. Voleurs! Voleurs!«
Rasumoff war ganz verwirrt über dieses unerwartete Gekreisch, das lebhaft an krächzendes Wehgeschrei erinnerte und noch lebhafter an Hysterie.
»Voleurs! Voleurs! Vol…«
»Keine Macht der Erde kann Ihnen Ihren Genius rauben«, brüllte Peter Iwanowitsch mit einem alles übertönenden Baß, doch ohne sich zu rühren, ohne die geringste Bewegung. Ein tiefes Schweigen folgte.
Rasumoff blieb äußerlich unbewegt. »Was soll nur diese Komödie?« fragte er sich. Da hörte er draußen irgendwo hinter sich eine Tür zuschlagen, und gleich darauf kam die Gesellschaftsdame in einem abgetragenen schwarzen Rock und fadenscheiniger Bluse eilig herein; sie ging auf den Absätzen und trug in beiden Händen einen großen russischen Samowar, der ihr offensichtlich viel zu schwer war. Rasumoff machte eine instinktive Bewegung, um ihr zu helfen, und erschreckte sie dadurch so sehr, daß sie fast ihre brodelnde Last fallen gelassen hätte. Sie brachte es aber doch noch fertig, damit auf dem Tisch zu landen, und sah so verstört aus, daß Rasumoff sich schleunigst wieder hinsetzte. Dann schaffte sie aus einem Nebenraum vier große Gläser, eine Teekanne und eine Zuckerdose auf einem schwarzen Blechtablett herein.
Die krächzende Stimme fragte barsch vom Sofa her:
»Les gâteaux! Haben Sie daran gedacht, die Keks zu bringen?«
Peter Iwanowitsch ging ohne ein Wort in den Vorraum hinaus und kam gleich darauf mit einem in weißes Glanzpapier gewickelten Paket zurück, das er aus dem Inneren seines Hutes gezogen haben mußte. Mit unerschütterlicher Würde löste er die Umschnürung, öffnete die Umhüllung und strich sie auf dem Tisch glatt, in Reichweite von Madame de S.s Hand. Die Gesellschaftsdame schenkte den Tee ein und zog sich dann in einen ganz abgelegenen Winkel zurück. Von Zeit zu Zeit streckte Madame de S. eine klauenartige Hand, die von kostbaren Ringen glitzerte, nach dem Papier mit Kuchen aus, nahm einen auf und verschlang ihn unter vampirhafter Entfaltung ihres riesigen falschen Gebisses. Zwischendurch sprach sie in rauhem Ton von der politischen Situation auf dem Balkan. Sie schwelgte in den kühnsten Hoffnungen darauf, daß irgendeine Verwicklung auf der Halbinsel in Rußland einen Entrüstungssturm hervorrufen würde gegen »diese Diebe, Diebe – Diebe«.
»Sie werden sich nur aufregen«, unterbrach Peter Iwanowitsch und hob seinen gläsernen Blick. Er trank Tee und rauchte Zigaretten, schweigsam und unaufhörlich. Wenn er ein Glas ausgetrunken hatte, schwenkte er seine Hand über der Schulter. Auf dieses Zeichen stürzte dann die Gesellschaftsdame, die mit runden Augen wie ein wachsames Tier in ihrer Ecke hockte, zum Tisch vor und goß ihm frisch ein. Rasumoff sah sie ein- oder zweimal an. Sie zitterte vor Aufregung, obwohl weder Madame de S. noch Peter Iwanowitsch ihr die geringste Aufmerksamkeit schenkten. »Was haben die beiden wohl mit dem unglücklichen Geschöpf angefangen?« fragte sich Rasumoff. »Haben sie sie bis zum Wahnwitz mit Geistern erschreckt, oder haben sie sie nur einfach geprügelt?« Als sie ihm das zweite Glas eingoß, bemerkte er, daß ihre Lippen zitterten wie die einer Person, die eben ihrem Schrecken in Worten Luft machen will. Natürlich aber sagte sie nichts, verschwand wieder in ihrer Ecke und schien wie ein kostbares Gut das Lächeln des Dankes mit sich zu nehmen, das er ihr gegeben hatte.
»Sie würde es vielleicht verdienen, daß man sich mit ihr beschäftigte«, dachte Rasumoff plötzlich.
Er wurde ruhiger und fühlte, wie er in den Verhältnissen, in die er geschleudert worden war, festen Fuß faßte – zum ersten Male vielleicht, seit Viktor Haldin in sein Zimmer gekommen … und wieder hinausgegangen war. Er fühlte genau, daß sich die gespenstische Liebenswürdigkeit der berüchtigten Madame de S. auf ihn konzentrierte.
Madame de S. bemerkte mit Vergnügen, daß dieser junge Mann gänzlich verschieden war von anderen Mitgliedern des revolutionären Komitees, geheimen Sendboten, ordinären und manierlosen flüchtigen Professoren, ungehobelten Studenten, gewesenen Schustern mit Apostelgesichtern, schwindsüchtigen und zerlumpten Enthusiasten, Judenjungen und wüsten Burschen aller Art, die bei Peter Iwanowitsch aus und ein zu gehen pflegten – alle durch die Bank Fanatiker, Pedanten und Proleten. Es war ihr ganz interessant, zu diesem jungen Mann von hervorragend nettem Äußeren zu sprechen, – denn Madame de S. war durchaus nicht immer mystisch gestimmt. Rasumoffs Schweigsamkeit reizte sie nur zu noch schnellerer, sprudelnderer Beredsamkeit, die sich immer noch um den Balkan drehte. Sie kannte alle Staatsmänner jener Länder, Türken, Bulgaren, Montenegriner, Rumänen, Griechen, Armenier und Unklassifizierte, junge und alte, die Lebenden und die Toten. Mit ein wenig Geld konnte man eine Intrige einleiten, die die Halbinsel in Flammen setzen und die russische Volksseele zum Kochen bringen würde. Man konnte den Weheschrei verlassener Brüder erwecken, und dann, wenn die ganze Nation auf dem Gipfelpunkt der Entrüstung war, mußten ein paar Regimenter oder so genügen, um in St. Petersburg eine Militärrevolte anzufangen und mit diesen Dieben aufzuräumen …
»Augenscheinlich habe ich nur still dazusitzen und zuzuhören«, dachte der schweigsame Rasumoff. »Dieses haarige und lasterhafte Vieh« (in solchen Ausdrücken dachte Rasumoff von dem volkstümlichen Vertreter einer Staatsidee auf feministischer Grundlage) »wird bei aller seiner List doch auch eines Tages Farbe bekennen müssen.«
Rasumoff hörte einen Augenblick lang auf zu denken. Dann formte sich in ihm eine finstere, bitter-ironische Erwägung: »Ich habe die Gabe, Vertrauen einzuflößen.« Er hörte sich selbst laut auflachen. Das war wie ein Peitschenschlag für die angemalte, glanzäugige Hexe auf dem Sofa.
»Sie haben gut lachen«, krächzte sie. »Was sonst kann einer tun! Ausgemachte Schwindler – und wie gemeine Schwindler noch dazu! Elender deutscher Adel – Holstein-Gottorps. Obwohl es ja kaum noch anständig ist, zu sagen, wie und was sie sind; eine Familie, die ein Wesen wie Katharina die Große unter ihre Ahnen zählt – Sie verstehen!«
»Sie regen sich nur auf, sagte Peter Iwanowitsch, geduldig, aber fest. Diese Mahnung hatte die übliche Wirkung auf die Egeria. Sie senkte ihre dicken farblosen Augenlider und änderte ihre Stellung auf dem Sofa. Alle ihre eckigen und leblosen Bewegungen schienen nun, wo ihre Augen geschlossen waren, völlig automatisch. Gleich darauf schlug sie die Augen wieder auf. Peter Iwanowitsch trank emsig und ohne Übereilung Tee.
»Nun, ich muß sagen«, damit wandte sie sich an Rasumoff, »die Leute, die Sie auf Ihrem Weg hierher gesehen haben, sind im Recht: Sie sind unglaublich verschlossen. Sie haben keine zwanzig Worte gesagt, seitdem Sie im Zimmer sind. Nicht einmal auf Ihrem Gesicht drücken sich irgendwelche Ihrer Gedanken aus.«
»Ich habe zugehört, Madame«, sagte Rasumoff. Es war seine erste Bemerkung auf Französisch, und sie kam etwas zögernd, weil er seines Akzentes nicht ganz sicher war. Doch schien sie einen ausgezeichneten Eindruck zu machen. Madame de S. sah bedeutsam in Peter Iwanowitschs Augengläser, als wollte sie die Vorzüge dieses jungen Menschen betont wissen. Sie nickte ihm sogar ganz leise zu, und Rasumoff hörte, wie sie halb für sich die Worte hauchte: »Später im diplomatischen Dienst«, die sich nur auf den günstigen Eindruck beziehen konnten, den er gemacht hatte. Der phantastische Widersinn, der darin lag, empörte ihn, denn es schien, als wollte man seine vernichteten Hoffnungen dadurch verhöhnen, daß man ihm die Fata Morgana einer Karriere vorgaukelte. Peter Iwanowitsch blieb so unbewegt, als wäre er taub, und trank weiter Tee. Rasumoff fühlte die Verpflichtung, irgend etwas zu sagen.
»Ja«, begann er bedächtig, als sei er im Begriff, eine wohlüberlegte Meinung zu äußern. »Ganz gewiß, selbst wenn man eine reine Militärrevolte vorbereitet, so sollte die Volksstimmung mit in Berechnung gezogen werden.«
»Sie haben mich vollkommen verstanden. Die Unzufriedenheit muß vergeistigt werden, das ist es, was die gewöhnlichen Führer der Revolutionskomitees nicht verstehen wollen. Sie sind nicht imstande dazu. So war zum Beispiel Mordatieff letzten Monat in Genf. Peter Iwanowitsch brachte ihn her. Kennen Sie Mordatieff? Ja doch, – Sie haben von ihm gehört. Sie nennen ihn einen Adler – einen Helden. Er hat nie auch nur halb so viel getan wie Sie, nie auch nur versucht – nicht halb …«
Madame de S. bewegte sich rechtwinklig auf dem Sofa.
»Wir haben natürlich mit ihm gesprochen, und wissen Sie, was er mir gesagt hat? ›Was haben wir mit Balkaninteressen zu tun? Wir müssen die Schufte einfach ausrotten.‹ Ausrotten ist gut, – aber was dann? Der Trottel! Ich schrie ihm zu: ›Aber Sie müssen die Unzufriedenheit vergeistigen, verstehen Sie nicht, vergeistigen …‹«
Sie fingerte nervös in ihrer Tasche nach einem Taschentuch und führte es an die Lippen.
»Vergeistigen?« sagte Rasumoff fragend und beobachtete ihren wogenden Busen. Die langen Enden eines alten schwarzen Spitzenschals, den sie über den Kopf trug, hingen ihr über die Schultern und umrahmten von beiden Seiten ihre gespenstisch roten Wangen.
»Ein widerlicher Kauz«, brach sie wieder los. »Stellen Sie sich einen Menschen vor, der fünf Stück Zucker in den Tee nimmt … Jawohl, ich sagte vergeistigen! Wie sonst können Sie die Unzufriedenheit wirksam verallgemeinern?«
»Merken Sie sich das, junger Mann«, ließ sich Peter Iwanowitsch feierlich vernehmen, »›wirksam verallgemeinern‹.«
Rasumoff sah ihn mißtrauisch an.
»Einige sagen, daß Hunger das tun würde«, bemerkte er.
»Ja, ich weiß. Unser Volk stirbt haufenweise. Aber Sie können die Hungersnot nicht allgemein machen. Und wir wollen ja auch keine Verzweiflung schaffen. Denn daraus ist kein moralischer Halt zu gewinnen. Es ist Entrüstung …«
Madame de S. ließ ihre dünnen, ausgestreckten Arme auf ihre Knie sinken.
»Ich bin kein Mordatieff«, hob Rasumoff an.
»Bien sûr«, murmelte Madame de S.
»Obwohl auch ich bereit bin zu sagen: Ausrotten! Ausrotten! Gestatten Sie aber meiner Unkenntnis politischer Arbeit die Frage: Eine Balkan- – nun – Intrige, würde die nicht sehr lange Zeit brauchen?«
Peter Iwanowitsch stand auf, ging leise ein paar Schritte und stellte sich mit dem Gesicht zum Fenster. Rasumoff hörte eine Tür sich schließen; er wandte den Kopf und bemerkte, daß die Gesellschaftsdame aus dem Zimmer gehuscht war.
»In politischen Fragen glaube ich ans Übernatürliche«, brach Madame de S. das Schweigen.
Peter Iwanowitsch ging vom Fenster weg und berührte Rasumoff leicht an der Schulter. Das war das Zeichen zum Aufbruch, zugleich aber wandte er sich in besonders bittendem Ton an Madame de S.
»Eleanor!«
Was er auch damit meinte, sie schien ihn nicht zu hören. Sie lehnte sich in die Sofaecke zurück wie eine holzgeschnitzte Figur. Das unbewegliche, mürrische Gesicht, von den schäbigen, verschossenen Spitzen eingerahmt, zeigte einen Ausdruck von Grausamkeit.
»Was das Ausrotten angeht«, krächzte sie dem aufmerksamen Rasumoff zu, »so gibt es nur eine Klasse in Rußland, die ausgerottet werden muß, nur eine, und diese Klasse besteht aus nur einer Familie. Sie verstehen mich? Diese eine Familie muß ausgerottet werden.«
Ihre Starrheit war erschrecklich, wie die Starre eines Leichnams, dem durch die Kraft tödlichen Hasses Sprache und Blick erhalten geblieben sind. Der Anblick faszinierte Rasumoff, – und doch fühlte er, daß er sich mehr in der Hand hatte als irgendwann zuvor, seit er dieses verwünschte kahle Zimmer betreten hatte. Sein Interesse war erwacht. Der große Feminist an seiner Seite aber ließ wieder seine Mahnung hören.
»Eleanor!«
Sie beachtete es nicht. Ihre karminroten Lippen arbeiteten mit fieberhafter Geschwindigkeit. »Der befreiende Geist würde den Arm ausstrecken, und dafür würden sich Flüsse teilen, wie der Jordan, und Wälle einstürzen, wie die von Jericho. Die Befreiung von der Knechtschaft würde durch Plagen und Zeichen, durch Wunder und durch Krieg bewirkt werden. Die Frauen …«
»Eleanor!«
Sie brach ab. Endlich hatte sie ihn gehört. Sie preßte die Hände an die Stirn.
»Was ist? Ach ja, dieses Mädchen, die Schwester von …«
Damit meinte sie Fräulein Haldin. Das junge Mädchen und seine Mutter hätten ein sehr zurückgezogenes Leben geführt. Sie kamen aus der Provinz – oder nicht? Die Mutter mußte sehr schön gewesen sein – Spuren davon waren noch da. Peter Iwanowitsch habe bei seinem ersten Besuch einen tiefen Eindruck davongetragen … Es sei nur der kalte Empfang überraschend gewesen, den sie ihm bereitet hätten.
»Er ist eine unserer nationalen Berühmtheiten«, schrie Madame de S. mit plötzlicher Heftigkeit auf. »Die ganze Welt horcht auf, wenn er spricht.«
»Ich kenne diese Damen nicht«, sagte Rasumoff laut und erhob sich.
»Was sagen Sie da, Kyrill Sidorowitsch? Ich weiß doch, daß sie hier in diesem Garten neulich erst mit Ihnen sprach.«
»Jawohl, im Garten«, sagte Rasumoff finster und fügte mit einer Anstrengung hinzu: »Sie machte sich selbst mit mir bekannt.«
»Und rannte dann von uns allen weg«, fuhr Madame de S. mit unheimlicher Lebhaftigkeit fort, »nachdem sie bis vor die Tür gekommen war! Was für ein sonderbares Benehmen! Also, ich bin auch einmal ein schüchternes kleines Landmädchen gewesen. Ja, Rasumoff« (sie gebrauchte absichtlich diese vertraute Anrede, mit einer schauerlichen Grimasse, die liebenswürdig sein sollte. Rasumoff fuhr sichtlich zusammen). »Ja, das ist mein Ursprung. Eine einfache Provinzfamilie.«
»Sie sind ein Wunder«, sagte Peter Iwanowitsch mit seiner tiefsten Stimme.
Sie aber gab Rasumoff ihr Totenkopflächeln. Ihre Stimme klang förmlich befehlend.
»Sie müssen das wilde junge Ding herbringen. Wir wollen sie sehen. Ich rechne darauf, daß es Ihnen gelingt, vergessen Sie das nicht.«
»Sie ist kein wildes junges Ding«, murmelte Rasumoff mürrisch.
»Nun gut, das ist ganz gleich. Vielleicht ist sie eine dieser jungen eingebildeten Demokratinnen. Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, sie ist Ihnen im Charakter sehr ähnlich. In Ihnen schwelt eine große Spottlust. Sie sind recht selbstgenügsam. Aber ich kann geradezu Ihre Seele sehen.«
Ihre glänzenden Augen bekamen einen trockenen, stieren Blick, der an Rasumoff vorbeiglitt und in ihm die lächerliche Vorstellung erweckte, daß sie irgend etwas ansah, was ihr hinter ihm sichtbar war. Er verfluchte sich selbst wegen dieser augenscheinlichen Empfänglichkeit für überspannte Ideen und fragte mit erzwungener Ruhe:
»Was sehen Sie da? Irgend etwas, das mir ähnlich ist?«
Sie bewegte ihr starres Gesicht verneinend von links nach rechts.
»Irgendeinen Geist in meiner Gestalt?« fuhr Rasumoff langsam fort. »Denn ich glaube, das ist die Form, in der eine Seele sichtbar wird. Ein Nichts. Es gibt Erscheinungen von Lebenden sowohl wie von Toten.«
Die Starrheit von Madame de S.s Blick hatte nachgelassen, und sie sah nun Rasumoff an, in einem Schweigen, das drückend wurde.
»Ich selbst habe da ein Erlebnis gehabt«, brachte er heraus, wie unter unwiderstehlichem Zwang. »Ich habe einmal einen Geist gesehen.«
Die unnatürlich roten Lippen öffneten sich, um eine Frage zu formen.
»Eines Toten?«
»Nein, eines Lebenden.«
»Ein Freund?«
»Nein.«
»Ein Feind?«
»Ich haßte ihn.«
»Ach, dann war es also keine Frau?«
»Eine Frau?« wiederholte Rasumoff und sah Madame de S. gerade in die Augen. »Warum hätte es eine Frau sein sollen? Und warum dieser Schluß? Warum hätte ich nicht fähig sein sollen, eine Frau zu hassen?«
Tatsächlich war ihm die Idee, eine Frau zu hassen, völlig neu. Im Augenblick haßte er Madame de S. Aber es war kein richtiger Haß. Es war ein Gefühl, das mehr dem Abscheu glich, den uns eine abstoßend häßliche Plastik aus Holz oder Gips einflößen mag. Sie rührte sich so wenig, als wäre sie eine solche Plastik. Sogar ihre Augen, deren starrer Blick sich in die seinen bohrte, wirkten trotz ihrem Glanze leblos, als wären sie künstlich wie ihre Zähne. Zum erstenmal bemerkte Rasumoff ein ganz schwaches Parfüm, doch so schwach es war, belästigte es ihn doch unsagbar. Wieder klopfte ihm Peter Iwanowitsch leicht auf die Schulter. Daraufhin verbeugte er sich und wollte sich eben zurückziehen, als ihm die unerwartete Gnade zuteil wurde, daß sich ihm eine knochige, leblose Hand entgegenstreckte, mit den zwei Worten in hartem Französisch:
»Au revoir.«
Er beugte sich über die Skeletthand und verließ das Zimmer, von dem großen Mann begleitet, der ihm den Vortritt ließ. Die Stimme vom Sofa krächzte hinter ihnen her:
»Sie bleiben hier, Pierre.«
»Gewiß, ma chère amie.«
Er verließ aber den Raum mit Rasumoff und schloß die Tür hinter sich. Der Vorraum setzte sich nach links und rechts in einen kleinen Korridor fort und bot den trostlosen Ausblick auf die Dekoration in Weiß und Gold, ohne einen Fetzen Teppich. Sogar das Licht, das ganz am Ende durch ein breites Fenster drang, schien staubig; und ein vereinzelter Farbfleck, der auf der Balustrade aus weißem Marmor erschien, der Zylinder des großen Feministen, stach aufreizend scharf umrissen von der grellen Weiße ab.
Peter Iwanowitsch begleitete den Besucher, ohne den Mund aufzutun. Sogar als sie schon das Stiegenhaus erreicht hatten, brach Peter Iwanowitsch das Schweigen nicht. Rasumoffs Wunsch, in einem Saus die Treppe hinunter und zum Hause hinaus zu eilen, ohne sich auch nur mit einem Nicken zu verabschieden, verflog plötzlich. Er blieb auf der ersten Stufe stehen und lehnte sich an die Wand. Unter ihm dehnte sich die große Halle mit ihrem schwarz-weiß gescheckten Fußboden und schien in ihrer lächerlichen Größe irgendein öffentlicher Saal, dessen schlummernde Akustik darauf wartet, von Schritten und Stimmen erprobt zu werden. Als fürchtete er sich, das laute Echo des leeren Hauses zu wecken, dämpfte Rasumoff die Stimme:
»Ich habe wirklich nicht die Absicht, in Spiritismus zu machen.«
Peter Iwanowitsch schüttelte leise, doch mit tiefem Ernst das Haupt.
»Oder meine Zeit an seherische Verzückungen oder tiefgründige Betrachtungen über den Hochglanz der Weiblichkeit zu verschwenden«, fuhr Rasumoff fort. »Ich bin hierher gekommen, um mir meinen Anteil an der Arbeit zu suchen – an Taten, hochverehrter Peter Iwanowitsch! Es war nicht der große, europäische Schriftsteller, der mich anzog, hier in dieser widerwärtigen Stadt der Freiheit. Es war jemand viel größerer. Es war die Idee des Führers. Es gibt halbverhungerte junge Menschen in Rußland, die so fest an Sie glauben, daß dieser Glaube das einzige scheint, was sie in ihrem Elend aufrecht hält. Denken Sie daran! Nein, aber denken Sie doch bloß daran!«
Der große Mann ließ diesen Ausbruch völlig regungslos und schweigsam über sich ergehen und bot ein Bild geduldiger, gleichmütiger Ehrbarkeit.
»Natürlich rede ich nicht vom Volk. Das sind Tiere«, fügte Rasumoff mit dem gleichen scharfen Flüstern hinzu. Aus dem Bart des »heldenhaften Flüchtlings« drang ein gemurmelter Widerspruch, ein Murmeln der Autorität.
»Sagen Sie – Kinder.«
»Nein, Tiere«, beharrte Rasumoff eigensinnig.
»Aber sie sind gesund, sie sind unschuldig«, gab der große Mann flüsternd zu bedenken.
»Was das anbetrifft, so ist ein Vieh gesund genug.« Rasumoff erhob die Stimme. »Und Sie können nicht die natürliche Unschuld des Viehs leugnen. Aber was nützt es, sich über Namen zu streiten. Versuchen Sie es nur, und geben Sie diesen Kindern die Macht und die Gestalt von Männern, und passen Sie auf, was aus ihnen wird. Versuchen Sie nur, und warten Sie dann … Aber einerlei. Ich sage Ihnen, Peter Iwanowitsch, daß heutzutage keine sechs jungen Leute in irgendeiner schäbigen Studentenbude zusammenkommen, ohne daß Ihr Name geflüstert wird. Nicht als der eines Lenkers der Gedanken, sondern als ein Zentrum revolutionärer Energie. Das Aktionszentrum. Was andres hat mich zu Ihnen geführt, glauben Sie? Sicher nicht das, was alle Welt von Ihnen weiß. Ich fühlte mich unwiderstehlich angezogen, oder sagen wir gedrängt, ja gedrängt – oder, noch besser, getrieben – getrieben«, wiederholte Rasumoff laut und brach ab, als habe ihn der hohle Widerhall des Wortes »getrieben« in den zwei kahlen Korridoren und der leeren großen Halle erschreckt.
Peter Iwanowitsch schien nicht im mindesten überrascht. Der junge Mann konnte ein trockenes, verlegenes Lächeln nicht unterdrücken. Der große Revolutionär blieb unbewegt, behielt unentwegt den Ausdruck banaler, gutmütiger Überlegenheit bei.
»Ein frecher Kerl«, sagte sich Rasumoff. »Er wartet hinter seiner Brille, daß ich mich aus der Hand verliere.« Dann laut, mit satanischer Freude an der plötzlichen Lust, mit der Größe des großen Mannes zu spielen:
»Oh, Peter Iwanowitsch, wenn Sie nur die Macht kennten, die mich zu Ihnen zog, nein, trieb.«
Nun fühlte er durchaus keine Lust zu lachen. Diesmal bewegte Peter Iwanowitsch leicht den Kopf, als wollte er sagen: kenne ich sie denn nicht? Diese ausdrucksvolle Bewegung war fast unmerklich. Rasumoff fuhr mit geheimer Schadenfreude fort:
»Alle diese Tage haben Sie versucht, in mir zu lesen, Peter Iwanowitsch. Das ist natürlich. Ich habe es bemerkt und war offen. Vielleicht haben Sie den Eindruck, daß ich nicht sehr mitteilsam war. Doch bei einem Mann wie Ihnen war das nicht nötig. Es hätte sogar wie Frechheit ausgesehen, und überdies neigen wir Russen ja gemeinhin dazu, zuviel zu reden. Das habe ich immer gefühlt. Und doch sind wir als Nation stumm. Ich versichere Ihnen, daß es nicht wieder vorkommen wird, daß ich zu Ihnen so viel rede.«
Rasumoff stand immer noch auf der unteren Stufe und näherte sich dem großen Mann ein wenig.
»Sie waren herablassend genug. Ich habe wohl verstanden, daß Sie es taten, um mich aus mir herauszulocken. Wenn Sie mir Gerechtigkeit widerfahren lassen wollen, so müssen Sie zugeben, daß ich nicht versuchte, zu blenden. Ich wurde zu Ihnen gedrängt, gezogen oder gesandt. Sagen wir gesandt, für eine Tat, die niemand außer mir tun kann. Sie werden das eine harmlose Selbsttäuschung nennen, eine lächerliche Selbsttäuschung, die Ihnen nur ein Lächeln abringt. Es ist töricht von mir, so zu reden, und doch sollen Sie eines Tages an diese Worte denken, hoffe ich. Genug davon. Hier stehe ich vor Ihnen und habe gebeichtet! Doch eines muß ich dieser Beichte noch hinzufügen: nie werde ich mich dazu verstehen, ein blindes Werkzeug zu sein.«
Welche Art von Zustimmung Rasumoff auch erwartet haben mochte, darauf war er nicht gefaßt, daß der große Mann seine beiden Hände packen würde. Die Raschheit der Bewegung erschreckte ihn. Der stämmige Feminist hätte nicht flinker sein können, wenn er die Absicht gehabt hätte, Rasumoff hinterrücks auf den Treppenabsatz heraufzureißen und hinter einer der zahllosen verschlossenen Türen abzutun. Dieser Gedanke kam Rasumoff plötzlich. Als der andere seine Hände nach einem beredten Druck wieder freigab, lächelte er mit hochklopfendem Herzen gerade in den Bart und die Brille hinein, die den unergründlichen Mann verbargen. Er dachte dabei (so steht es von seiner eigenen Hand geschrieben): »Ich rühre mich nicht weg von hier, bis er entweder spricht oder sich wegwendet. Dies ist ein Duell.« Viele Sekunden vergingen, ohne ein Wort oder eine Bewegung.
»Ja, ja«, sagte dann plötzlich der große Mann hastig und leise, als handelte es sich um eine verstohlene, atemlose Unterredung. »Gewiß. Kommen Sie uns in ein paar Tagen wieder hier besuchen, wir müssen das gründlich durchsprechen, Sie und ich. Bis auf den Grund, bis auf … Und nebenbei: Sie müssen auch Natalie Viktorowna mitbringen. Sie wissen ja, das Haldin-Mädel …«
»Habe ich das als meinen ersten Auftrag von Ihnen zu betrachten?« fragte Rasumoff förmlich.
Peter Iwanowitsch schien von dieser neuen Haltung verblüfft.
»Ah, hm, Sie sind allerdings der geeignete Mann – la personne indiquée. Wir brauchen jetzt jeden einzelnen. Jeden einzelnen.« Er beugte sich zu Rasumoff hinunter, der die Augen niederschlug. »Der Augenblick der Tat kommt«, murmelte er.
Rasumoff sah nicht auf. Er rührte sich nicht, bis er die Tür des Wohnzimmers hinter dem größten der Feministen zuschlagen hörte, der zu seiner bemalten Egeria zurückkehrte. Dann ging er langsam in die Halle hinunter. Die Tür stand offen, und der Schatten des Hauses lag über der Terrasse. Während er langsam hinausschritt, lüftete er den Hut, trocknete seine feuchte Stirn und stieß mit Macht den Atem aus, als wollte er die letzten Reste der Luft von sich geben, die er drinnen im Hause geatmet hatte. Er sah auf seine Handflächen und rieb sie leise an seinem Rock.
Er hatte, so lächerlich es klingen mag, das Gefühl, als könnte ein zweites Ich, das sich unabhängig von ihm in seine Seele teilte, seine ganze Erscheinung mit größter Lebhaftigkeit beobachten. Dies ist merkwürdig, dachte er. Nach einiger Zeit faßte er seine Ansicht darüber in den innerlichen Ausruf zusammen: »Verflucht!« Dann machte dieser Verdruß einer ausgesprochenen Unruhe Platz. Das ist die Folge nervöser Erschöpfung, überlegte er. Wie soll ich Tag für Tag so weitermachen, wenn ich nicht mehr Widerstandskraft – moralische Widerstandskraft habe?
Er folgte dem Weg über die Terrasse hinunter. »Moralische Widerstandskraft, moralische Widerstandskraft«, wiederholte er sich unablässig. Moralische Ausdauer. Jawohl. Dies war das erste Erfordernis der Sachlage. Einen Augenblick lang verdrängte der ungeheure Wunsch, aus diesem Park hinaus, ans andere Ende der Stadt zu kommen, sich auf sein Bett zu werfen und stundenlang zu schlafen, jeden anderen Gedanken aus seinem Kopfe. »Ist es möglich, daß ich letzten Endes doch nur ein Schwächling bin?« fragte er sich selbst in plötzlichem Erschrecken. »Oho, was ist das?«
Er fuhr zusammen, als erwachte er aus einem Traum. Er taumelte sogar ein wenig, bevor er sich ganz gefaßt hatte.
»Oh, Sie haben sich von uns weggestohlen, um hier herumzulaufen«, sagte er.
Die Gesellschaftsdame stand vor ihm, wie sie aber dahin gekommen war, davon hatte er nicht die leiseste Idee. In den gefalteten Armen barg sie liebkosend die Katze.
»Ich war geistesabwesend beim Gehen, das ist also unbestreitbare Tatsache«, sagte sich Rasumoff verblüfft. Dann zog er mit betonter Höflichkeit den Hut.
Das bleiche Mädchen errötete läppisch. Sie hatte ihren gewöhnlichen verschreckten Ausdruck, als hätte ihr irgend jemand soeben erst die schauerlichsten Neuigkeiten mitgeteilt. Dabei machte sie aber, wie Rasumoff ausdrücklich bemerkte, nicht den Eindruck der Schüchternheit. Sie ist unglaublich schäbig, dachte er. Im Sonnenschein sah ihr schwarzes Kleid grünlich aus und zeigte da und dort ein paar durchgewetzte Stellen, wo der Stoff durch den Gebrauch samtig und wollig geworden schien. Sogar ihr Haar und ihre Augen waren schäbig. Rasumoff fragte sich, ob sie wohl sechzig Jahre alt sei. Ihre Gestalt schien zwar jung genug. Er bemerkte, daß sie nicht verhungert aussah, eher so, als hätte sie sich von unbekömmlichen Brocken und Tellerresten genährt.
Rasumoff lächelte liebenswürdig und wich ihr aus. Sie drehte den Kopf, um ihren verschreckten Blick nicht von ihm zu wenden.
»Ich weiß, was man Ihnen da drin gesagt hat«, erklärte sie plötzlich ohne jede Einleitung. Ihre Sprechweise hatte im Gegensatz zu ihrer Haltung eine ganz unerwartete Sicherheit, die auch Rasumoff sofort seine Unbefangenheit wiedergab.
»Wissen Sie das? Sie müssen bei allen möglichen Gelegenheiten die verschiedensten Gespräche da drin gehört haben.«
Sie wiederholte ihren ersten Ausspruch, etwas verändert, doch mit der gleichen überraschenden Sicherheit.
»Ich weiß ganz gewiß, was man Ihnen aufgetragen hat, zu tun.«
»Wirklich?« Rasumoff zuckte leicht die Schultern. Er wollte eben mit einer kurzen Verbeugung weitergehen, da kam ihm plötzlich ein Gedanke. »Ja, gewiß! In Ihrer Vertrauensstellung müssen Sie in vieles eingeweiht sein«, murmelte er mit einem Blick auf die Katze.
Das Tier empfing von der Gesellschaftsdame eine kurze, wie konvulsivische Liebkosung. »Ich bin seit langem in alles eingeweiht«, sagte sie.
»Alles«, wiederholte Rasumoff zerstreut.
»Peter Iwanowitsch ist ein abscheulicher Despot«, stieß sie hervor.
Rasumoff fuhr fort, die Streifen auf dem grauen Fell der Katze zu studieren.
»Ein eiserner Wille ist der Hauptbestandteil eines solchen Temperaments. Wie könnte er sonst ein Führer sein? Und ich glaube, Sie irren sich –«
»Da!« schrie sie. »Sie sagen, daß ich mich irre. Und ich wiederhole Ihnen trotzdem, daß er sich um niemand kümmert.« Sie warf den Kopf hoch. »Bringen Sie das Mädchen nicht hierher. Das hat man Ihnen aufgetragen – das Mädchen herzubringen. Hören Sie mich an: Sie täten besser, ihr einen Stein um den Hals zu binden und sie in den See zu stoßen.«
Rasumoff fühlte ein Frösteln und eine fliegende Hitze, als sei eine schwere Wolke vor die Sonne gezogen.
»Das Mädchen«, sagte er, »was habe ich mit dem Mädchen zu tun?«
»Man hat Ihnen aber gesagt, Natalie Haldin herzubringen. Habe ich nicht recht? Natürlich habe ich recht. Ich war nicht im Zimmer, aber ich weiß. Ich kenne Peter Iwanowitsch gut genug. Er ist ein großer Mann. Große Männer sind furchtbar. Machen Sie sich nichts mit ihr zu tun. Das ist doch das beste, was Sie tun können, wenn Sie nicht wollen, daß sie wird wie ich – enttäuscht! Enttäuscht!«
»Wie Sie?« wiederholte Rasumoff und starrte ihr ins Gesicht, das so ganz aller Anmut entbehrte wie der kümmerlichste Bettler des Geldes. Er lächelte und fühlte noch immer das Frösteln: eine ganz eigenartige Sensation, die ihn ärgerte. »Enttäuscht, von Peter Iwanowitsch! Ist das alles, was Sie verloren haben?«
Sie bemerkte, etwas ängstlich, doch mit ungeheurer Überzeugung: »Peter Iwanowitsch ist alles.« Dann fügte sie in verändertem Ton hinzu: »Halten Sie das Mädchen weg von diesem Haus.«
»Und Sie wollen mich um jeden Preis dazu bringen, Peter Iwanowitsch nicht zu gehorchen, nur weil Sie – weil Sie enttäuscht sind?«
Sie begann mit den Augen zu zwinkern.
»Sobald ich Sie zum erstenmal gesehen hatte, fühlte ich mich getröstet. Sie haben den Hut vor mir abgenommen. Sie sehen aus, als könnte man sich auf Sie verlassen. Oh!«
Sie schrak zurück vor Rasumoffs barsch hervorgestoßenem: »So etwas Ähnliches habe ich schon einmal gehört.«
Sie war so verwirrt, daß sie eine lange Zeit nichts konnte als weiter zwinkern.
»Es war Ihre menschenfreundliche Art«, erklärte sie wimmernd. »Ich habe gelechzt, ich will nicht sagen, nach Güte, sondern nur nach ein wenig Höflichkeit – ich weiß gar nicht wie lange. Und nun sind Sie ärgerlich …«
»Aber nein, im Gegenteil«, widersprach er. »Ich freue mich sehr, daß Sie mir vertrauen. Es ist möglich, daß ich später einmal …«
»Ja, wenn Sie einmal krank werden«, fiel sie lebhaft ein, »oder irgend etwas sehr Trauriges erleben, dann werden Sie sehen, daß ich keine unnütze Närrin bin. Sie brauchen es mich nur wissen zu lassen. Ich werde zu Ihnen kommen. Wirklich, ich will. Und bei Ihnen bleiben. Das Elend und ich sind alte Bekannte – aber dieses Leben hier ist schlimmer als Verhungern.« Sie schwieg ängstlich abwartend und fügte dann mit einer Stimme, die zum erstenmal wirklich schüchtern klang, hinzu:
»Oder wenn man Ihnen eine wirklich gefährliche Arbeit gäbe. Manchmal kann ein anspruchsloser Helfer – ich würde gar nichts wissen wollen. Ich würde Ihnen mit Freuden folgen. Ich könnte Aufträge ausführen. Ich habe den Mut.«
Rasumoff sah aufmerksam auf die verschreckten runden Augen, auf die runzligen, bleichen, runden Wangen; um die Mundwinkel spielte ein Zittern.
Sie will fort von hier, dachte er.
»Gesetzt den Fall, ich sagte Ihnen, daß ich in eine gefährliche Arbeit verwickelt bin?« sagte er langsam.
Sie preßte die Katze an ihren fadenscheinigen Busen mit dem atemlosen Ausruf: »Ah!« Dann, kaum geflüstert: »Unter Peter Iwanowitsch?«
»Nein, nicht unter Peter Iwanowitsch.«
Er sah Bewunderung in ihren Augen und strengte sich an, nicht zu lächeln.
»Dann also – allein?«
Er hielt die geschlossene Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger hoch: »Wie dieser Finger«, sagte er.
Sie zitterte leicht. Da fiel es Rasumoff ein, daß sie vielleicht vom Hause her beobachtet werden konnten, und er fühlte den dringenden Wunsch, fortzukommen. Sie zwinkerte und wandte ihr zerstörtes Gesicht zu ihm, scheinbar mit der stummen Bitte, er möchte ihr noch etwas mehr sagen, ihrer hungernden, grotesken, pathetischen Ergebenheit noch ein Wort der Ermutigung schenken.
»Können wir vom Haus aus gesehen werden?« fragte Rasumoff vertraulich.
Sie antwortete, ohne die leiseste Überraschung über diese Frage zu verraten:
»Nein, das Eck des Stalles springt vor.« Dann fügte sie aber mit einer Verschmitztheit, die Rasumoff überraschte, hinzu: »Wenn aber jemand aus dem Fenster des Oberstockes heraussähe, dann würde er sofort merken, daß Sie noch nicht durch die Tore sind.«
»Wer sollte wohl bei dem Fenster spionieren?« fragte Rasumoff. »Peter Iwanowitsch?«
Sie nickte.
»Warum sollte er sich damit abgeben?«
»Er erwartet heute nachmittag jemand.«
»Kennen Sie die Person?«
»Es ist mehr als eine.«
Sie hatte die Augen wieder gesenkt. Rasumoff sah sie neugierig an. »Natürlich, Sie hören ja alles, was sie sagen.«
Sie sagte, ohne alle Feindseligkeit:
»Das tun auch die Tische und Stühle.«
Er begriff, daß die Bitterkeit, die sich in dem Herzen dieses hilflosen Geschöpfes angesammelt hatte, ihr wie ein feines Gift in die Adern gedrungen war und ihre Treue für jenes hassenswerte Paar zersetzt hatte. Für ihn war das ein äußerst glücklicher Zufall, überlegte er; denn Frauen sind sehr selten käuflich wie Männer, die meist für materielle Vorteile zu haben sind. Sie würde eine gute Verbündete abgeben, obwohl es nicht wahrscheinlich war, daß sie so viel zu hören bekam wie die Stühle und Tische des Château Borel. Das war nicht zu erwarten. Aber doch … und auf alle Fälle konnte man sie zum Sprechen bringen.
Als sie aufsah, bemerkte sie Rasumoffs Blick, der fest auf sie gerichtet war. Rasumoff begann zu sprechen.
»Nun gut, meine Liebe … aber meiner Treu, ich habe noch nicht das Vergnügen, Ihren Namen zu kennen. Ist das nicht merkwürdig?«
Zum ersten Male machte sie eine Bewegung mit den Schultern.
»Ist das merkwürdig? Niemand wird mein Name genannt. Keiner kümmert sich darum. Niemand spricht mit mir, niemand schreibt mir. Meine Eltern wissen nicht einmal, ob ich lebe. Ich brauche keinen Namen und habe ihn fast schon selbst vergessen.«
Rasumoff murmelte ernst: »Ja, aber doch …«
Sie fuhr langsamer und gleichgültig fort:
»Sie können mich also Thekla nennen. Mein armer Andrej nannte mich so. Ich war ihm zugetan. Er lebte in Kümmernis und Leiden und starb im Elend. Das ist das Los von uns Russen allen, uns namenlosen Russen. Nichts anderes gibt es für uns und keine Hoffnung irgendwo, wenn nicht …«
»Wenn nicht, was?«
»Wenn nicht alle diese Leute mit Namen aus dem Weg geräumt werden«, schloß sie, zwinkerte und warf die Lippen auf.
»Es wird mir leichter fallen, Sie Thekla zu nennen, wie Sie es wünschen«, sagte Rasumoff, »wenn Sie einwilligen, mich Kyrill zu nennen – sobald wir uns wie jetzt sprechen, ungestört, nur Sie und ich.«
Und dabei dachte er: das Geschöpf da muß sich unglaublich vor der Welt fürchten, sonst wäre sie aus dieser Stellung schon längst davongelaufen. Dann überlegte er, daß die bloße Tatsache, daß sie den großen Mann plötzlich verließ, sie verdächtig machen mußte. Sie konnte von niemand Hilfe oder Rückhalt erwarten. Diese Revolutionärin war für eine unabhängige Existenz nicht geschaffen.
Sie ging ein paar Schritte neben ihm, zwinkerte und liebkoste die Katze, indem sie sie leicht in den Armen schaukelte.
»Jawohl, nur Sie und ich. So war ich auch mit meinem armen Andrej, nur lag er im Sterben. Diese Bestien von Beamten hatten ihn umgebracht – während Sie! Sie sind stark, Sie töten die Ungeheuer. Sie haben eine große Tat vollbracht. Peter Iwanowitsch selbst muß Sie schätzen. Nun gut – vergessen Sie mich nicht, – besonders wenn Sie jemals nach Rußland zur Arbeit zurückkehren. Ich könnte Ihnen folgen und alles, was irgendwie gebraucht würde, tragen. Ganz weit, wissen Sie, oder ich könnte für Sie gefährliche Dokumente schreiben, Listen von Namen oder Instruktionen, so daß Sie im Falle eines Unglückes die Handschrift nicht belasten könnte. Sie brauchten sich auch dann nicht zu fürchten, wenn ich gefangen würde. Ich wüßte wohl, stumm zu bleiben. Wir Frauen sind durch Schmerz nicht so leicht zu besiegen. Ich hörte Peter Iwanowitsch sagen, daß es an unseren stumpfen Nerven oder so etwas liege. Wir können es besser aushalten. Und es ist wahr; ich kann mir ganz gut vorstellen, daß ich mir die Zunge abbisse und sie den Kerlen hinspuckte. Was nützt mir die Sprache? Wer würde jemals wünschen, zu hören, was ich sage? Seitdem ich meinem armen Andrej die Augen geschlossen habe, habe ich keinen Mann getroffen, dem am Klang meiner Stimme etwas zu liegen schien. Auch zu Ihnen hätte ich nie gesprochen, wenn Sie nicht gleich, als Sie das erstemal hierherkamen, so liebenswürdig von mir Notiz genommen hätten. Ich konnte nicht anders, als zu Ihnen von dem entzückenden jungen Mädchen sprechen. Oh, das süße Geschöpf! Und stark! Das sieht man gleich. Wenn Sie ein Herz in der Brust haben, dann erlauben Sie nicht, daß sie den Fuß hierher setzt. Leben Sie wohl!«
Rasumoff faßte sie am Arm. In der ersten Bestürzung über die unerwartete Berührung versuchte sie sich freizumachen, blieb aber dann ruhig stehen, ohne ihn anzusehen.
»Können Sie mir aber sagen«, fragte er hart an ihrem Ohr, »warum sie – diese Leute hier im Haus – so darauf aus sind, sie in die Hand zu bekommen?«
Sie machte sich frei und wandte sich nach ihm um, als ärgerte sie sich über die Frage.
»Verstehen Sie nicht, daß Peter Iwanowitsch lenken, beeinflussen, dirigieren muß? Das gehört zu seinem Leben. Er kann nie zu viele Schüler haben. Er verträgt den Gedanken nicht, daß irgend jemand ihm auskommen könnte. Und eine Frau noch dazu! Ohne Frauen kann man nichts machen, sagt er. Er hat es auch geschrieben. Er –«
Der junge Mann hörte diesen Ausbruch überrascht an, als sie plötzlich verstummte und hinter den Stall lief.
Rasumoff, so sich selbst überlassen, schlug die Richtung nach dem Tor ein. Bald aber überzeugte er sich, daß dieser Tag der vielen Gespräche nicht zu Ende gehen sollte, ohne daß er ein weiteres zu führen haben würde.
Hinter dem Pförtnerhäuschen hervor kamen die erwarteten Besucher von Peter Iwanowitsch in Sicht: eine kleine Gruppe, bestehend aus zwei Männern und einer Frau. Sie bemerkten ihn ebenfalls und blieben kurz stehen, wie um sich zu beraten. Im Augenblick aber trat die Frau beiseite und winkte den beiden Männern mit dem Arm. Daraufhin verließen diese den Fahrweg und gingen quer über den großen vernachlässigten Rasenplatz oder vielmehr die Wiese, gerade auf das Haus zu. Die Frau blieb auf dem Fahrweg stehen und erwartete Rasumoffs Näherkommen. Sie hatte ihn erkannt. Auch er hatte sie auf den ersten Blick erkannt. Er hatte sie in Zürich kennengelernt, wo er seine Reise von Dresden her unterbrochen hatte. Während der zwei Tage seines Aufenthaltes waren sie viel zusammengewesen.
Sie trug genau dasselbe Kostüm, in dem er sie zuerst gesehen hatte. Ein Bluse von roter Seide machte sie auf große Entfernung kenntlich. Dazu trug sie einen kurzen, braunen Rock und einen Ledergürtel. Ihre Hautfarbe war die von Milchkaffee, doch sehr klar; ihre Augen schwarz und flackernd, ihre Gestalt aufrecht. Ein dichter Schopf fast weißen Haares war lose unter einem staubigen und ziemlich ramponierten Tirolerhut aus braunem Loden aufgenommen. Der Ausdruck ihres Gesichtes war ernst und gespannt; so ernst, daß sich Rasumoff, nachdem er nahe zu ihr gekommen war, zu einem Lächeln verpflichtet fühlte. Sie begrüßte ihn mit einem kollegialen Händedruck.
»Was, Sie gehen?« rief sie aus. »Wie ist das, Rasumoff?«
»Ich gehe weg, weil mich niemand aufgefordert hat, zu bleiben«, antwortete Rasumoff und gab ihren Händedruck, doch weit schwächer, zurück. Sie neigte den Kopf wie jemand, der versteht. Inzwischen hatte Rasumoff den beiden Männern nachgesehen. Sie gingen quer über die Wiese. Der Kleinere von den beiden trug einen engen Überrock aus irgendeinem grauen Stoff, der ihm fast bis zu den Fersen niederhing. Sein Begleiter, der weit größer und massiger war, trug eine kurze, enganliegende Jacke und enge Hosen, in schäbige Röhrenstiefel gesteckt. Die Frau, die die beiden augenscheinlich Rasumoff aus dem Weg gehalten hatte, begann in sachlichem Ton:
»Ich mußte eiligst von Zürich hierherkommen, um die beiden da am Zug abzuholen und sie zu Peter Iwanowitsch zu führen. Das habe ich eben getan.«
»Oh, wirklich«, sagte Rasumoff kurz und sehr verdrießlich darüber, daß sie ihn anscheinend in ein Gespräch zu verwickeln gedachte. »Von Zürich – ja natürlich. Und diese beiden kommen von …«
Sie unterbrach ihn mit gewollter Harmlosigkeit: »Aus einer ganz anderen Richtung. Ziemlich weit her. Sehr weit sogar.«
Rasumoff zuckte die Schultern. Die beiden Männer von weit her waren nun bei der Terrasse angekommen und verschwanden plötzlich, als hätte sie die Erde verschluckt.
»Ach, nun – sie kommen einfach aus Amerika.« Die Frau in der roten Bluse zuckte ebenfalls leicht die Schultern, bevor sie diese Erklärung abgab. »Die Zeit ist nahe«, fuhr sie fort, wie für sich selbst. »Ich sagte ihnen nicht, wer Sie sind. Jakowlitsch hätte Sie gewiß gern umarmt.«
»Ist das der mit dem dünnen Knebelbart und dem langen Rock?«
»Sie haben recht geraten, das ist Jakowlitsch.«
»Und sie hätten den Weg vom Bahnhof hierher nicht allein finden können, ohne daß Sie von Zürich gekommen wären, um sie zu führen? Wirklich wahr, ohne Frauen können wir nichts tun. So steht es geschrieben, und so ist es offenbar auch.«
Er fühlte unter seinem erzwungenen Sarkasmus eine unendliche Müdigkeit und konnte leicht feststellen, daß auch sie sie mit ihren festen, glänzendschwarzen Augen entdeckt hatte.
»Was ist mit Ihnen?«
»Ich weiß nicht. Nichts. Ich habe einen verteufelten Tag gehabt.«
Sie wartete und hielt die schwarzen Augen auf sein Gesicht geheftet. Dann sagte sie:
»Was ist damit? Ihr Männer seid so empfindlich und egozentrisch. Ein Tag ist wie der andere, hart, hart – und damit Schluß, bis der eine große Tag kommt. Ich kam aus einem sehr triftigen Grund heute hierher. Sie haben geschrieben, um Peter Iwanowitsch von ihrem Kommen zu verständigen. Doch woher? Nur aus Cherbourg, auf dem Briefpapier des Schiffes. Jeder hätte das tun können. Jakowlitsch hat lange Jahre in Amerika gelebt. Ich bin hier in der Nähe die einzige, die ihn in den alten Tagen gut gekannt hat. Ich habe ihn wirklich gut gekannt. So telegraphierte mir Peter Iwanowitsch, ich sollte herkommen. Das ist doch ganz natürlich, nicht?«
»Sie kamen, um ihn zu identifizieren?« forschte Rasumoff.
»Ja, etwas der Art. Fünfzehn Jahre eines Lebens, wie er es geführt hat, ändern einen Mann; einsam wie eine Krähe in einem fernen Land. Wenn ich an Jakowlitsch denke, bevor er nach Amerika ging –«
Der weiche Klang der letzten Worte veranlaßte Rasumoff, sie von der Seite anzusehen. Sie seufzte. Ihre schwarzen Augen waren abgewendet. Sie hatte die Finger ihrer rechten Hand tief in den Wust ihres weißen Haares vergraben und wühlte zerstreut darin. Als sie die Hand zurückzog, blieb der kleine Tirolerhut leicht verschoben im Genick sitzen und machte einen unternehmenden Eindruck, der seltsam genug von ihren leicht sentimentalen Worten abstach.
»Wir waren auch da nicht mehr in unserer ersten Jugend; aber ein Mann ist immer ein Kind.«
Rasumoff dachte plötzlich: »Sie haben zusammen gelebt«, und sagte dann laut:
»Warum sind Sie ihm nicht nach Amerika gefolgt?«
Sie sah ihn verwirrt an.
»Erinnern Sie sich nicht mehr, was vor fünfzehn Jahren im Gange war? Es war eine Zeit der Tätigkeit. Die Revolution hatte zu jener Zeit ihre Geschichte. Sie sind mit darin und scheinen doch nichts davon zu wissen. Jakowlitsch ging damals einer Mission nach. Ich kehrte nach Rußland zurück. Es mußte sein. Späterhin gab es nichts für ihn, wohin er hätte zurückkommen können.«
»Was, wirklich?« murmelte Rasumoff mit gespielter Überraschung. »Nichts!«
»Worauf wollen Sie anspielen?« rief sie hastig aus. »Gut, und was weiter, wenn er ein wenig entmutigt gewesen wäre …
»Er sieht wie ein Yankee aus mit seinem Knebelbart. Ein richtiger Uncle Sam«, brummte Rasumoff. »Nun, und Sie? Sie, die nach Rußland zurückkehrte? Sie wurden nicht entmutigt?«
»Das macht nichts. Jakowlitsch ist ein Mann, an dem man nicht zweifeln darf. Er ist einmal sicher vom rechten Schlag.«
Ihr schwarzer durchdringender Blick blieb unter dem Sprechen auf Rasumoff gerichtet und noch eine kurze Zeit nachher.
»Verzeihen Sie«, fragte Rasumoff kalt zurück, »aber wollen Sie damit sagen, daß zum Beispiel Sie nicht glauben, daß ich vom rechten Schlag bin?«
Sie widersprach nicht und ließ sich nicht merken, daß sie die Frage gehört habe; sie fuhr fort, ihn anzusehen, in einer Weise, die er nicht für unbedingt unfreundlich hielt. Auf der Durchreise in Zürich hatte sie ihn unter ihre Fittiche genommen, sozusagen, und war während der zwei Tage seines Aufenthaltes vom Morgen bis zum Abend mit ihm zusammengewesen. Sie hatte ihn verschiedenen Leuten vorgeführt. Zunächst hatte sie viel und ziemlich rückhaltlos mit ihm gesprochen, dabei aber jeden Bezug auf sich selbst vermieden; gegen die Mitte des zweiten Tages wurde sie schweigsam, erwies ihm aber alle Aufmerksamkeiten wie zuvor, begleitete ihn sogar zum Bahnhof, wo sie ihm durch das herabgelassene Coupéfenster kräftig die Hand drückte, dann ohne ein Wort zurücktrat und wartete, bis der Zug aus der Halle war. Er hatte bemerkt, daß man ihr mit stummer Hochachtung begegnete. Er wußte nichts von ihrer Verwandtschaft, nichts von ihrer privaten Geschichte oder ihrem politischen Vorleben. Er beurteilte sie nur von seinem eigensten Gesichtspunkt aus, und zwar als eine böse Gefahr auf seinem Wege. »Beurteilte« ist vielleicht nicht das richtige Wort. Es war mehr gefühlsmäßig, das Endergebnis verschiedener geringfügiger Eindrücke, die noch durch die Erkenntnis gestützt wurden, daß er sie nicht verachten konnte, wie er alle anderen verachtete. Er hatte nicht erwartet, sie so bald wiederzusehen.
Nein, ihr Ausdruck war ganz entschieden nicht unfreundlich, und doch merkte er, wie sein Herz schneller schlug. Das Gespräch konnte nicht auf diesem Punkt abgebrochen werden. Er fuhr mit anscheinend eifrigem Interesse fort zu fragen: »Ist es vielleicht, weil ich nicht blindlings jede neue Entwicklung der allgemeinen Lehre hinnehme – so zum Beispiel den Feminismus unseres großen Peter Iwanowitsch? Wenn es das ist, was mich verdächtigt, dann kann ich nur sagen, daß ich es nie ertragen würde, der Sklave selbst einer Idee zu sein.«
Sie hatte ihn die ganze Zeit über angesehen. Nicht wie eine Zuhörerin, sondern als ob die Worte, die er wählte, nur in zweiter Linie in Betracht kämen. Als er geendet hatte, schob sie ihm mit einer kurzen und entschlossenen Bewegung die Hand unter den Arm und drückte ihn leicht dem Parktor zu. Er fühlte ihre Festigkeit und gehorchte dem Druck ohne weiteres, ganz ebenso wie die beiden anderen Männer einen Augenblick zuvor widerspruchslos ihrem Handwink gefolgt waren.
So gingen sie ein paar Schritte.
»Nein, Rasumoff, Ihre Ideen sind wahrscheinlich ganz richtig«, sagte sie. »Sie mögen wertvoll sein – sehr wertvoll. Was bei Ihnen auffällt, ist, daß Sie uns nicht mögen.«
Dabei ließ sie ihn los. Er zeigte ein frostiges Lächeln.
»Erwartet man von mir, daß ich Liebe in gleichem Maße habe wie Überzeugung?«
»Sie wissen sehr wohl, was ich meine. Es hat Leute gegeben, die der Ansicht waren, Sie seien nicht mit dem Herzen dabei. Ich habe dieses Urteil von mehreren Seiten gehört, doch habe ich Sie am Ende des ersten Tages verstanden …«
Rasumoff unterbrach sie in ruhigem Ton:
»Ich versichere Ihnen, daß Ihr Scharfblick sich hier irrt.«
»Was für Phrasen er macht!« rief sie dazwischen. »Oh, Kyrill Sidorowitsch, Sie sind wie andere Männer, heikel und übertrieben selbstgefällig. Überdies haben Sie keine Schulung. Was Ihnen fehlt, das ist, daß Sie irgendeine Frau in die Hand bekommt. Es tut mir leid, daß ich nicht ein paar Tage bleiben kann. Ich gehe morgen nach Zürich zurück und werde Jakowlitsch höchstwahrscheinlich mit mir nehmen.«
Diese Nachricht beruhigte Rasumoff. »Mir tut es auch leid«, sagte er, »trotzdem glaube ich nicht, daß Sie mich verstehen.«
Er atmete freier; sie widersprach nicht, fragte aber: »Und wie sind Sie mit Peter Iwanowitsch ausgekommen? Sie haben einander ziemlich viel gesehen. Wie steht es zwischen Ihnen?«
Da er nicht wußte, was er antworten sollte, neigte der junge Mann langsam den Kopf. Sie hatte erwartungsvoll die Lippen geöffnet, preßte sie jetzt zusammen und schien zu überlegen.
»Also gut.«
Das klang nach Schluß, doch verließ sie ihn nicht. Es war unmöglich, zu erraten, woran sie dachte. Rasumoff murmelte: »Nicht mir hätten Sie diese Frage vorlegen sollen. Im nächsten Augenblick werden Sie Peter Iwanowitsch selbst sehen, und das Thema wird natürlich zur Sprache kommen. Er wird wissen wollen, was Sie so lange im Garten aufgehalten hat.«
»Zweifellos wird mir Peter Iwanowitsch etwas zu sagen haben. Verschiedenes sogar. Vielleicht wird er sogar von Ihnen sprechen – mich ausfragen. Peter Iwanowitsch neigt dazu, mir im allgemeinen zu vertrauen.«
»Sie ausfragen? Das ist wahrscheinlich.«
Sie lächelte halb ernst.
»Nun gut – und was soll ich ihm sagen?«
»Ich weiß nicht. Sie können ihm von Ihrer Entdeckung erzählen.«
»Was ist das?«
»Nun, mein Mangel an Liebe für –«
»Was, das bleibt zwischen uns«, unterbrach sie, man wußte nicht recht, ob im Scherz oder im Ernst.
»Ich sehe, daß Sie Peter Iwanowitsch irgend etwas zu meinen Gunsten zu sagen wünschten«, sagte Rasumoff in grimmigem Scherz. »Nun, dann können Sie ihm sagen, daß es mir mit meiner Mission verdammt ernst ist. Ich bin fest entschlossen, sie erfolgreich durchzuhalten.«
»Man hat Ihnen eine Mission gegeben?« rief sie hastig aus.
»Es kommt darauf hinaus. Ich bin beauftragt, ein gewisses Ereignis herbeizuführen.«
Sie sah ihn forschend an.
»Eine Mission«, wiederholte sie sehr ernst und mit plötzlichem Interesse. »Welche Art von Mission?«
»Etwas in der Art von Propaganda.«
»Oh! Weit weg von hier?«
»Nein, nicht sehr weit«, sagte Rasumoff und unterdrückte mühsam eine plötzliche Lachlust, obwohl er sich nicht im geringsten heiter fühlte.
»So«, sagte sie nachdenklich. »Nun, ich will nicht weiter fragen. Es genügt, wenn nur Peter Iwanowitsch weiß, was jeder von uns tut. Schließlich muß ja doch alles gut enden.«
»Denken Sie das?«
»Ich denke es nicht, junger Mann, ich glaube es einfach!«
»Und verdanken Sie diesen Glauben Peter Iwanowitsch?«
Sie beantwortete die Frage nicht, und sie standen einander schweigend gegenüber, als könnten sie sich nicht entschließen, sich zu trennen.
»Das ist rechte Männerart«, murmelte sie endlich. »Als ob es möglich wäre, zu sagen, wie man zu einem Glauben kommt.«
Ihre dünnen, mephistophelischen Augenbrauen zuckten leicht. »Gewiß gibt es Millionen von Leuten in Rußland, die den Hunden hier ihr Leben neiden würden. Es ist ein Grauen und eine Schmach, dies zuzugeben, sogar zwischen uns beiden. Man muß glauben, aus blankem Mitleid. Dies kann nicht weiterdauern. Nein. Es kann nicht dauern. Zwanzig Jahre lang bin ich gekommen, gegangen, habe nicht rechts und links gesehen … Warum lachen Sie vor sich hin? Sie sind erst am Anfang. Sie haben gut angefangen. Aber warten Sie, bis Sie jedes einzelne Fetzchen Ihrer selbst unter die Füße getreten haben, bei Ihrem Kommen und Gehen. Denn das ist es, wozu es kommt. Sie müssen jedes Fetzchen Ihrer eigenen Gefühle unter die Füße treten. Denn haltmachen können Sie nicht, dürfen Sie nicht. Auch ich bin jung gewesen, aber vielleicht denken Sie, daß ich mich beklage – he?«
»Ich denke nichts der Art«, wehrte Rasumoff gleichgültig ab.
»Das glaube ich wohl, Sie lieber, blasierter Mensch. Es kümmert Sie nicht.«
Sie wühlte mit den Fingern in dem Haarschopf an der linken Seite, und diese brüske Bewegung brachte den Tiroler Hut wieder gerade zu sitzen. Sie blickte ohne Feindseligkeit, mit der Miene eines Untersuchungsrichters darunter hervor. Rasumoff kehrte nachlässig das Gesicht ab.
»Ihr Männer seid alle gleich. Ihr nehmt Glück für Verdienst. Noch dazu in gutem Glauben! Ich möchte nicht zu hart mit euch sein. Es ist die männliche Natur. Ihr Männer seid so lächerlich erbarmungswürdig mit eurem Geschick, kindliche Illusionen bis zum Grabe hin mit euch zu schleppen. Eine ganze Reihe unter uns waren fünfzehn Jahre an der Arbeit. Ich meine ununterbrochen – haben einen Weg um den anderen versucht, unter und über der Erde, haben nicht rechts und links gesehen! Ich kann dabei mitreden. Ich bin eine von denen gewesen, die nie rasten … Da! Was soll das Reden … Sehen Sie auf meine grauen Haare! Und da kommen jetzt zwei Babys daher, ich meine Sie und Haldin. Ihr kommt daher, und es gelingt euch beim ersten Ausholen, einen Streich zu führen.«
Als der Name Haldin kurz und hastig von den Lippen der Frau fiel, kam Rasumoff, wie gewöhnlich, mit einem Ruck das Unabänderliche zum Bewußtsein. In den vielen Monaten aber, die darüber weggegangen waren, hatte er sich dagegen abgehärtet. Das Bewußtsein war nicht mehr von dem peinigenden Schmerz und der blinden Wut der ersten Tage begleitet. Er hatte sich in einen neuen Glauben hineingeredet und hatte um sich eine geistige Atmosphäre von dumpfer Negation geschaffen. Ein trübes Medium, durch das das Ereignis wie ein verschwommener Schatten erschien, der kaum noch die Umrisse eines Mannes aufwies. Eine durchaus vertraute Erscheinung, doch gänzlich ausdruckslos, bis auf sein verstohlenes Lauern im Dunkeln. Es störte nicht weiter.
»Wie sah er aus, Er?« fragte die Revolutionärin unerwartet.
»Wie sah er aus, Er?« echote Rasumoff und hielt sich mit größter Mühe zurück, sie grob anzufahren. Er befreite sich aber durch ein kurzes Lachen, während er sie verstohlen aus den Augenwinkeln beobachtete. Sie schien überrascht von der Art, in der ihre Frage aufgenommen wurde.
»Das ist rechte Frauenart«, fuhr er fort. »Was brauchen Sie sich über sein Aussehen den Kopf zu zerbrechen? Wie es auch gewesen sein mag, er ist nun jedem weiblichen Einfluß entrückt.«
In einem Stirnrunzeln, das drei scharfe Falten an der Nasenwurzel bildete, zeichnete sich der mephistophelische Schwung ihrer Augenbrauen deutlicher ab.
»Sie leiden, Rasumoff«, sagte sie mit ihrer leisen, innigen Stimme.
»Unsinn!« Rasumoff sah die Frau fest an. »Wenn ich es aber jetzt so überlege, dann finde ich, daß es wenigstens eine Frau gibt, aus deren Machtbereich er noch nicht ist; die eine da oben, Madame de S., Sie kennen Sie ja. Früher einmal war den Toten Ruhe vergönnt. Doch nun scheint es, als müßten sie des Rufes irgendeiner verrückten alten Schachtel gewärtig sein. Wir Revolutionäre machen wunderbare Erfahrungen. Es ist wahr, daß sie nicht ganz uns gehören. Wir haben überhaupt nichts Eigenes. Könnte aber nicht die Freundin von Peter Iwanowitsch Ihre Neugierde befriedigen? Könnte sie ihn nicht für Sie erscheinen lassen?« fragte er in gequält scherzhaftem Ton.
Ihr scharfes Stirnrunzeln ließ nach, und sie sagte ein wenig verdrossen: »Hoffen wir, daß sie sich anstrengen und ein wenig Tee für uns erscheinen lassen wird. Das ist aber keineswegs gewiß. Ich bin müde, Rasumoff.«
»Sie müde! Was für ein Geständnis! Es hat Tee da oben gegeben. Ich habe welchen getrunken. Wenn Sie schleunigst Jakowlitsch nachlaufen, anstatt Ihre Zeit mit einer so unergötzlichen skeptischen Person, wie ich es bin, zu vergeuden, so können Sie vielleicht noch den Geist davon – den kalten Geist davon – im Tempel finden. Daß Sie aber müde sind, das kann ich kaum glauben. Wir sollen nicht müde sein, wir dürfen es nicht, wir können es nicht. Neulich einmal habe ich in irgendeiner Zeitung einen Artikel über die unermüdliche Tätigkeit der revolutionären Partei gelesen. Das macht Eindruck auf die Welt. Es ist unser Prestige.«
»Fortwährend wirft er mit diesen giftigen Bemerkungen herum«, sagte die Frau in der roten Bluse, als spräche sie zu einem Dritten; dabei verließen aber ihre schwarzen Augen Rasumoffs Gesicht nicht. »Und warum? Einfach weil er sich in einigen seiner konventionellen Anschauungen getroffen fühlt, in seiner männlichen Eitelkeit vielleicht auch zum Teil. Man möchte ihn leicht für einen dieser nervösen Weichlinge halten, die übel enden. Und doch«, fuhr sie nach einer kurzen, nachdenklichen Pause fort und wechselte die Anrede, »und doch habe ich eben etwas erfahren, was mich glauben läßt, daß Sie trotzdem ein Mann von Charakter sind, Kyrill Sidorowitsch. Ja, tatsächlich, das sind Sie.«
Die geheimnisvolle Bestimmtheit dieser Behauptung erschreckte Rasumoff. Ihre Augen trafen sich. Er sah weg und durch die Stäbe des riesigen Gittertores hinaus auf die breite, reingefegte Straße, die im Schatten der dichtbelaubten Bäume lag. Eine Elektrische fuhr ganz leer und mit Eisengerassel die Straße hinauf. Er hatte das Gefühl, als könnte er alles darum geben, wenn er ganz allein darin sitzen könnte. Er war unsagbar müde, müde in jeder Fiber seines Körpers. Und doch hatte er Gründe dafür, nicht als erster die Unterhaltung abzubrechen. Jeden Augenblick konnte aus dem überspannten oder verbrecherischen Geschwätz der Revolutionären heraus irgendein hingeworfenes Wort sein Ohr treffen. Von ihren oder sonst jemandes Lippen. Solange er es fertigbrachte, den Kopf klar zu halten und seine Reizbarkeit zu bezwingen, hatte er nichts zu fürchten. Die einzige Bedingung für Erfolg und Sicherheit war unbändige Willenskraft, das hielt er sich immer wieder vor.
Er sehnte sich danach, auf der anderen Seite des Gitters zu sein, als wäre er gefangen in dem Park dieses Verschwörernestes, dieses Hauses, wo Irrsinn, Blindheit, Niedertracht und Verbrechen wohnten. Stillschweigend brachte er seine wunde Seele in einen Zustand unendlicher moralischer und geistiger Entrücktheit. Er lächelte nicht einmal, als er sie die Worte wiederholen hörte –:
»Jawohl, ein starker Charakter.«
Er fuhr fort, durch die Gitterstäbe zu starren, wie ein trauriger Gefangener, der nicht an Flucht denkt, sondern nur die verschwommenen Erinnerungen an die Freiheit zu erwecken sucht.
»Wenn Sie nicht zusehen«, murmelte er, immer noch mit abgewandtem Blick, »so werden Sie wirklich nicht einmal mehr den Geist jenes Tees zu Gesicht bekommen.«
Sie war nicht in solcher Weise abzuschütteln. Übrigens hatte er auch nicht erwartet, daß es ihm gelingen würde.
»Macht nichts, der Verlust wird nicht groß sein. Ich meine, wenn ich keinen Tee mehr bekomme. Sie sollen aber nicht vergessen, daß die Frau selbst ihre entschiedenen Vorzüge hat. Sehen Sie, so, Rasumoff.«
Bei diesem befehlenden Anruf wandte er den Kopf und sah, wie die Frau in der flachen Hand die Bewegung des Geldzählens machte. »Das ist es, sehen Sie.«
Rasumoff brachte ein zögerndes »Ich sehe« hervor und fuhr wieder fort, wie ein Sträfling auf die reine und schattige Straße hinaus zu starren.
»Geldmittel müssen auf irgendeine Art aufgebracht werden, und so ist es leichter, als wenn man in Banken einbrechen müßte. Und auch sicherer. Da! Ich scherze … Was murmelt er nur jetzt wieder in seinen Bart«, rief sie halblaut aus.
»Meine Bewunderung für Peter Iwanowitschs selbstlose Aufopferung, sonst nichts. Es ist genug, einen krank zu machen.«
»Oh, Sie zartbesaitetes männliches Wesen! Krank! Macht ihn krank! Und was wissen Sie denn von der wahren Lage? Es ist unmöglich, in Herzensgeheimnisse einzudringen. Peter Iwanowitsch hat sie vor Jahren gekannt, in seiner weltlichen Zeit, als er noch ein junger Gardeoffizier war. Nicht uns steht es an, über einen Erleuchteten zu richten. Da habt ihr Männer einen Vorteil. Ihr seid manchmal in Gedanken und in Taten erleuchtet. Ich habe immer zugegeben, daß, wenn einmal der Geist über euch kommt, wenn ihr es fertigbringt, eure männliche Feigheit und Ziererei abzutun, daß ihr dann von uns nicht mehr zu erreichen seid. Nur, nur, wie selten … während man aus der dümmsten Frau immer noch irgendeinen Nutzen ziehen kann. Und warum? Weil wir Leidenschaft haben, unersättliche Leidenschaft … Ich möchte nur wissen, worüber er jetzt wieder grinst.«
»Ich grinse nicht«, wehrte Rasumoff finster ab.
»Nun, wie soll man es nennen? Sie haben irgendein Gesicht geschnitten. Ja, ich weiß! Ihr Männer könnt hier lieben, dort hassen, das oder jenes ersehnen – und macht ein großes Aufheben davon und nennt es dann Leidenschaft! Jawohl! – Solange es dauert. Wir Frauen aber lieben die Liebe und den Haß, diese Gefühle an sich, sage ich Ihnen, und noch die Sehnsucht lieben wir. Darum sind wir um so viel unbestechlicher als ihr Männer. Sehen Sie, im Leben bleibt einem keine große Wahl. Man muß entweder verfaulen oder verbrennen, und unter uns ist keiner, sei er nun echt oder falsch, der nicht lieber verbrennen als verfaulen würde.«
Sie sprach energisch, doch sachlich. Rasumoffs Gedanken waren ihre eigenen Wege gegangen bis über die Gitterstäbe hinaus, doch nicht außer Hörweite. Er steckte die Hände in die Rocktaschen. »Verfaulen oder verbrennen! Schön gesagt. Echt oder falsch. Sehr stark. Echt oder … Sagen Sie mir, sie ist wohl verteufelt eifersüchtig auf ihn, nicht?«
»Wer, was? Die Baronin? Eleanor Maximowna eifersüchtig auf Peter Iwanowitsch? Himmel! Das also sind die Fragen, für die sich dieser Mensch interessiert? Daran ist doch nicht zu denken.«
»Warum? Kann eine reiche alte Frau nicht eifersüchtig sein? Oder sind Sie alle zusammen nur reine Geister?«
»Aber wie kommt es Ihnen nur in den Kopf, solche Fragen zu stellen?« fragte sie.
»Ich weiß nicht. Ich habe einfach gefragt. Männliche Frivolität, wenn Sie wollen.«
»Ich liebe das nicht«, gab sie sofort zurück. »Es ist jetzt nicht die Zeit, frivol zu sein. Wogegen rennen Sie denn unaufhörlich an? Oder vielleicht spielen Sie nur eine Rolle?«
Rasumoff hatte den beobachtenden Blick der Frau wie eine körperliche Berührung auf sich gefühlt, wie eine Hand, die leicht auf seiner Schulter ruhte. In diesem Augenblick hatte er das merkwürdige Gefühl, daß sie sich entschlossen habe, fester zuzupacken. Er straffte sich innerlich, um es aushalten zu können, ohne sich zu verraten.
»Eine Rolle spielen«, wiederholte er mit abgewandtem Gesicht. »Es muß wohl sehr schlecht geschehen, da Sie es gleich durchschauen.«
Sie beobachtete ihn weiter. Ihre Stirn war in kleine gerade Fältchen gezogen, die dünnen schwarzen Augenbrauen ragten auseinander wie die Fühler eines Insekts. Er fügte kaum hörbar hinzu:
»Sie irren sich. Ich tue es nicht mehr als ihr andern alle.«
»Wer? – Jeder einzelne«, sagte er ungeduldig. »Sie sind Materialistin, oder nicht?«
»Ah, mein Lieber, ich habe diesen ganzen Unsinn überlebt.«
»Erinnern Sie sich an die Definition von Cabanis: Der Mensch ist ein Verdauungsapparat. Ich stelle mir nun vor …«
»Ich pfeife auf ihn.«
»Was? Auf Cabanis? Ganz recht. Aber Sie können nicht die Wichtigkeit einer guten Verdauung leugnen. Die Lebensfreude – kennen Sie die Lebensfreude? – hängt von einem gesunden Magen ab, während eine schlechte Verdauung einen zum Skeptizismus drängt, zu schwarzen Stimmungen und Todesgedanken. Das sind Tatsachen, die von Physiologen bestätigt werden. Nun, ich versichere Ihnen, daß ich mich, seitdem ich Rußland verlassen habe, mit unverdaulichem ausländischen Fraß der schlimmsten Sorte vollgepfropft habe – püh!«
»Sie scherzen«, murmelte sie ungläubig. Er stimmte zerstreut zu.
»Ja, es ist alles Scherz. Es lohnt kaum der Mühe, mit einem Menschen wie mir zu sprechen. Und doch weiß man von Leuten, die sich aus ebendiesem Grunde das Leben genommen haben.«
»Im Gegenteil, ich glaube, es ist der Mühe wert, mit Ihnen zu sprechen.«
Er belauerte sie aus dem Augenwinkel. Sie schien noch über eine weitere schlagende Entgegnung nachzudenken, zuckte aber dann nur leicht die Schultern.
»Leeres Geschwätz! Ich glaube, man muß Ihnen diese Schwäche verzeihen«, sagte sie mit merkwürdiger Betonung. Es lag etwas wie Angst in dem nachsichtigen Schlußsatz.
Rasumoff verfolgte die leisesten Nuancen dieser Unterhaltung, die er nicht erwartet hatte und für die er nicht vorbereitet gewesen war. Das war es. »Ich war nicht vorbereitet«, sagte er sich. »Ich wurde überrumpelt.« Es schien ihm, daß dieser Druck weichen würde, wenn man es ihm erlauben würde, eine Zeitlang wie ein Hund zu keuchen. »Ich werde nie vorbereitet sein«, dachte er verzweifelt. Dann lachte er kurz auf, sagte so leichthin, wie er konnte:
»Danke. Ich verlange keine Nachsicht«, und fügte mit gemachter Besorgnis hinzu: »Aber fürchten Sie nicht, daß Peter Iwanowitsch auf uns beide den Verdacht werfen könnte, wir machten hier beim Tor ein nicht autorisiertes Komplott aus?«
»Nein, das fürchte ich nicht. Sie sind ganz sicher vor jedem Verdacht, solange Sie bei mir sind, mein lieber junger Mann.« Der lustige Glanz in ihren schwarzen Augen erstarb. »Peter Iwanowitsch vertraut mir«, sagte sie mit großem Nachdruck. »Er nimmt meinen Rat an. Ich bin sozusagen seine rechte Hand in sehr wichtigen Fragen … Das macht Ihnen Spaß, was? Glauben Sie, ich schneide auf?«
»Gott behüte, ich dachte nur eben, daß Peter Iwanowitsch die Frauenfrage ziemlich gründlich gelöst zu haben scheint.«
Noch während des Sprechens machte er sich wegen dieser Worte und wegen seines Tones Vorwürfe. Den ganzen Tag über hatte er verkehrte Sachen gesagt. Es war Wahnwitz, schlimmer als Wahnwitz. Es war Schwäche. Es war eine merkwürdige Perversität, die über seinen Willen die Oberhand gewann. War das die Art, eine Aussprache hinzunehmen, die möglicherweise die Grundlage für künftige vertrauliche Mitteilungen bilden konnte, von Seiten einer Frau, die zweifellos um viele Geheimnisse wußte und großen Einfluß hatte?
»Warum sie mutwillig kopfscheu machen?« Und doch schien sie nicht feindselig. In ihrer Stimme lag kein Ärger. Sie klang nur nachdenklich.
»Man weiß nicht, was man denken soll, Rasumoff. Sie müssen in der Wiege einen bitteren Schnuller gehabt haben.«
Rasumoff sah sie von der Seite an.
»Hm, bitter, das wäre eine Erklärung«, murmelte er. »Nur war es viel später. Und glauben Sie nicht, Sofia Antonowna, daß Sie und ich aus derselben Wiege kommen?«
Die Frau, deren Namen er sich schließlich auszusprechen gezwungen hatte (er hatte einen merkwürdigen Widerwillen empfunden, ihn über die Lippen zubringen), die Revolutionärin, sagte nach einer Weile leise:
»Sie meinen – Rußland?«
Er konnte sich nicht einmal zu einem Nicken entschließen. Sie schien besänftigt. Ihre schwarzen Augen waren ganz ruhig, als überdächte sie das Verwandte in ihren Gedanken bis in die zartesten Beziehungen. Doch plötzlich zog sie die Brauen wieder satanisch zusammen.
»Ja. Vielleicht ist es dann kein Wunder. Ja. Man lebt da mitten im Unkraut unter der Hut von Wesen, die schlimmer sind als Menschenfresser, Hexen und Vampire. Sie müssen vertrieben, gänzlich ausgerottet werden. Das ist eine Aufgabe, zu der es sonst nichts braucht, als daß Männer und Frauen entschlossen und treugläubig sind. Zu dieser Erkenntnis bin ich letzten Endes gekommen. Die große Aufgabe ist nicht die, daß wir uns untereinander über allen möglichen konventionellen Formenkram zerstreiten, denken Sie daran, Rasumoff!«
Rasumoff hörte nicht zu. In einer Art schwerer Ruhe war ihm sogar das Bewußtsein abhanden gekommen, daß er beobachtet wurde. Seine Verlegenheit, seine Verzweiflung, seine Verachtung hatten sich im Laufe aller dieser anstrengenden Stunden abgestumpft, wie ihm schien für immer. Ich bin ihnen allen gewachsen, dachte er. Doch war seine Überzeugung zu fest, als daß er darüber hätte jubeln können. Die Frau hatte aufgehört zu sprechen. Er sah sie nicht an. Auf der Straße war niemand zu sehen. Er vergaß beinahe, daß er nicht allein war. Wieder hörte er ihre Stimme, kurz und geschäftlich; und doch verriet sich ein Zögern darin, das der wahre Grund ihres Schweigens gewesen war.
»Sagen Sie, Rasumoff …«
Rasumoff, der das Gesicht abgewandt hielt, machte eine Grimasse wie ein Mensch, der einen falschen Ton hört.
»Sagen Sie mir: Ist es wahr, daß Sie am Morgen der Tat wirklich die Vorlesungen in der Universität besuchten?«
Ein beträchtlicher Bruchteil einer Sekunde verging, bevor ihm die wahre Tragweite dieser Frage zum Bewußtsein kam, wie eine Kugel, die geraume Zeit nach dem Blitz des Schusses einschlägt. Glücklicherweise hatte er die Hand frei und konnte einen der Gitterstäbe umklammern. Er tat es mit furchtbarer Kraft, doch seine Geistesgegenwart war dahin. Er konnte nur einen gurgelnden knurrenden Laut hervorbringen.
»Kommen Sie, Kyrill Sidorowitsch«, drängte sie ihn. »Ich weiß, Sie sind kein Prahler, das muß man Ihnen lassen. Sie sind ein schweigsamer Mensch. Zu schweigsam vielleicht. Sie nähren irgendeine Bitterkeit in sich. Sie sind kein Enthusiast. Vielleicht sind Sie darum nur um so stärker. Aber Sie könnten es mir sagen. Man möchte Sie gern ein bißchen besser verstehen; ich war so maßlos überrascht … Haben Sie es wirklich getan?«
Er fand die Sprache wieder. Der Schuß hatte ihn verfehlt. Und doch war er aus nächster Nähe abgefeuert worden, fast wie ein Signal für den entscheidenden Angriff. Es war einfach ein Kampf um die Selbsterhaltung, und sie war eine gefährliche Gegnerin, doch war er bereit für den Kampf. Er war so ganz bereit, daß, als er sich ihr zuwandte, kein Muskel seines Gesichtes zitterte.
»Gewiß«, sagte er ohne Erregung, innerlich auf das höchste gespannt, doch seiner selbst vollkommen sicher. »Vorlesungen – gewiß. Aber warum fragen Sie?«
Nun war sie es, die erregt wurde.
»Ich erfuhr davon in einem Briefe, den mir ein junger Mann aus St. Petersburg schrieb. Einer der Unseren, versteht sich. Sie wurden gesehen – beobachtet mit Ihrem Notizbuch, wie Sie sich gleichmütig Anmerkungen machten …«
Er umfaßte sie mit seinem starken Blick. »Und was weiter?«
»Ich nenne diese Kaltblütigkeit prächtig. Das ist alles. Es ist ein Zeichen von ungewöhnlicher Charakterstärke. Der junge Mann schrieb, daß niemand aus Ihrem Gesicht oder Ihrer Haltung die Rolle hätte entnehmen können, die Sie nur etwa zwei Stunden zuvor gespielt hatten, – die erhabene, glorreiche Rolle …«
»O nein, niemand hätte das entnehmen können«, stimmte Rasumoff ernst bei, »weil, müssen Sie wissen, zu jener Zeit niemand …«
»Ja, ja. Aber trotz allem sind Sie doch ein Mann von außerordentlicher Stärke, wie es scheint. Sie sahen ganz wie immer aus. Man erinnerte sich später mit Staunen daran …«
»Das kostete mich keine Anstrengung«, erklärte Rasumoff mit dem gleichen starrblickenden Ernst.
»Dann ist es fast noch wunderbarer«, rief sie aus und schwieg, während Rasumoff sich fragte, ob er da nicht etwas gänzlich Überflüssiges gesagt hatte.
»Hatten Sie die Absicht, in Rußland zu bleiben? Sie hatten vor …«
»Nein«, unterbrach sie Rasumoff bedächtig. »Ich hatte durchaus keine Pläne gemacht.«
»Sie sind einfach weggegangen«, warf sie ein. Er neigte in zögernder Zustimmung den Kopf. »Einfach – ja.« Er hatte allmählich den Griff, mit dem er den Gitterstab umklammert hielt, gelockert, als wäre er zu der Überzeugung gekommen, daß ihn nun kein Nahschuß mehr umwerfen könne. Und plötzlich kam ihm wie vom Geist eingegeben der Gedanke, hinzuzufügen: »Der Schnee fiel sehr dicht, wissen Sie.«
Sie machte eine leicht zustimmende Kopfbewegung, als wäre sie in derartigen Unternehmungen wohl erfahren, stark interessiert und imstande, jeden einzelnen Punkt sachverständig zu werten. Rasumoff erinnerte sich an etwas, was er gehört hatte.
»Ich bog in eine enge Seitengasse ein, verstehen Sie«, fuhr er nachlässig fort und brach ab, als sei es nicht der Mühe wert, weiter darüber zu sprechen. Dann fiel ihm eine andere Einzelheit ein, und er warf sie ihr hin wie einen Brocken für ihre Neugierde.
»Ich fühlte mich versucht, mich hinzulegen und auf dem Fleck zu schlafen.«
Sie schnalzte mit der Zunge und schien auf das äußerste überrascht. Dann:
»Aber das Notizbuch! Dieses ganz verblüffende Notizbuch, Mensch! Sie werden doch nicht sagen wollen, daß Sie es vorher schon in die Tasche gesteckt hatten?« rief sie.
Rasumoff fuhr zusammen. Es konnte ein Zeichen von Ungeduld sein.
»Ich ging nach Hause, geradeswegs nach Hause in meine Wohnung«, sagte er deutlich.
»Die Kaltblütigkeit des Menschen! Sie wagten das?«
»Warum nicht. Ich versichere Ihnen, daß ich gänzlich ruhig war. Ha! Ruhiger vielleicht, als ich es jetzt bin.«
»Sie gefallen mir besser so, wie Sie jetzt sind, als wenn Sie Ihrer Bitterkeit nachgeben, Rasumoff. Und niemand im Hause sah Sie heimkommen – was? Das hätte auffallen können.«
»Niemand«, sagte Rasumoff. »Dvornik, Hausfrau, Mädchen, alle waren weg. Ich ging hinauf wie ein Schatten. Es war ein trüber Morgen. Das Stiegenhaus war finster. Ich glitt hinauf wie ein Gespenst. Schicksal? Glück? Was glauben Sie?«
»Ich sehe es förmlich.« Die Augen der Frau sprühten Funken. »Ja – und dann überlegten Sie …«
Rasumoff hatte schon alles fertig im Kopf.
»Nein, ich sah nach meiner Uhr, wenn Sie es wissen wollen. Es war eben Zeit. Ich nahm das Notizbuch und lief auf den Zehenspitzen die Stiege hinunter. Haben Sie jemals dem Trampeln eines Mannes gelauscht, der immer im Kreise den Schacht eines tiefen Treppenhauses hinunterläuft? Ganz unten ist eine Gasflamme, die Tag und Nacht brennt. Ich glaube, sie brennt eben auch jetzt … Der Schall erstirbt – die Flamme zuckt …«
Er bemerkte, wie ein überraschtes Glitzern in die starke Neugier der schwarzen Augen kam, die auf ihn gerichtet waren, als wollte die Frau den Klang seiner Stimme mit den Pupillen statt mit den Ohren aufnehmen. Er unterbrach sich, strich sich mit der Hand über die Stirne und schien verwirrt wie ein Mann, der laut geträumt hat.
»Wo sollte ein Student am Morgen hingehen, wenn nicht in seine Vorlesungen? Bei Nacht ist es etwas anderes. Es hätte mir nichts ausgemacht, wenn das ganze Haus dagewesen wäre und mir zugesehen hätte. Aber ich glaube nicht, daß irgend jemand da war. Am besten ist es ja, man wird weder gesehen noch gehört! Ach ja! Die Leute, die weder gesehen noch gehört werden, sind die Glücklichen – in Rußland. Bewundern Sie mein Glück nicht?«
»Erstaunlich«, sagte sie. »Wenn Sie so viel Glück haben wie Entschlußkraft, dann werden Sie wohl wirklich ein unschätzbarer Zuwachs für unser Werk sein.« Ihr Ton klang ernst, und Rasumoff hörte auch etwas wie Berechnung heraus, als wollte sie ihm im Geiste schon seinen Teil an der Arbeit zuschanzen. Ihre Augen waren niedergeschlagen. Er wartete zwar nicht sehr gespannt, aber doch mit einer Art von aufmerksamem Ernst, den der Druck der ständig drohenden Gefahren in ihm erzeugte. Wer hatte wohl über ihn diesen Brief aus St. Petersburg schreiben können? Ein Mitstudent, zweifellos – irgendein blödes Opfer der revolutionären Propaganda, ein willenloser Sklave ausländischer, verlogener Ideale. Vor seinem geistigen Auge tauchte eine lange, verknöcherte, rotnasige Gestalt auf. Das mußte der Bursche sein!
Er lächelte innerlich über die gänzliche Verkehrtheit der ganzen Geschichte. Die Selbsttäuschung eines verbrecherischen Idealisten, die wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel seine Existenz zerschmettert hatte und nun unter den Trümmern, im Irrwahn jener anderen Narren, einen Widerhall weckte. War es nicht grotesk, daß der verhungerte, erbärmliche Narr der Neugier der revolutionären Flüchtlinge diese ganz und gar phantastischen Details auftischte? Er schloß, daß es keinerlei Gefahr bedeutete. Im Gegenteil. Wie die Dinge lagen, war es für ihn eher ein Vorteil, ein glücklicher Zufall, der nur mit der gehörigen Vorsicht ausgenützt werden mußte.
»Und doch, Rasumoff«, hörte er wieder die nachdenkliche Stimme der Frau, »und doch haben Sie nicht das Gesicht eines glücklichen Menschen.« Sie hob mit wiedererwachtem Interesse den Blick. »So hat sich das also zugetragen. Nachdem Sie Ihre Tat getan hatten, gingen Sie einfach fort in Ihre Wohnung. Solche Sachen kommen mitunter vor. Ich denke mir, daß es vorher ausgemacht war, daß nachher jeder seinen eigenen Weg gehen sollte.«
Rasumoff behielt den ernsten Gesichtsausdruck und die überlegte Sprechweise bei.
»War es nicht das beste so?« fragte er leidenschaftslos. »Und übrigens«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, »machten wir uns nicht viel Gedanken über das Nachher. Wir hatten uns eigentlich auf gar keine Verhaltungsmaßregeln geeinigt. Es war ein stillschweigendes Einverständnis, glaube ich.«
Sie stimmte seinen Worten mit kurzem Nicken zu.
»Sie wünschten natürlich in Rußland zu bleiben?«
»In St. Petersburg selbst«, sagte Rasumoff mit Nachdruck. »Dort war ich am sichersten, und übrigens hätte ich nirgends anders hingehen können.«
»Ja, ja, ich weiß. Gewiß. Und der andere – dieser wundervolle Haldin, der nur aufgetaucht ist, um beklagt zu werden –, Sie wissen nicht, was er beabsichtigt hatte?«
Rasumoff hatte vorhergesehen, daß man ihn früher oder später vor diese Frage stellen würde. Er hob die Hand ein wenig und ließ sie hilflos wieder sinken. Nichts mehr.
Die weißhaarige Frau war die erste, die das Schweigen brach.
»Sehr merkwürdig«, sagte sie langsam. »Und dachten Sie nicht, Kyrill Sidorowitsch, daß er vielleicht den Wunsch haben konnte, wieder mit Ihnen in Fühlung zu kommen?«
Rasumoff bemerkte, daß er das Zittern seiner Lippen nicht unterdrücken konnte, doch glaubte er es sich schuldig zu sein, zu sprechen. Eine verneinende Handbewegung würde nicht wieder ausreichen, sprechen mußte er, und wäre es nur, um dem Inhalt jenes St. Petersburger Briefes auf den Grund zu kommen.
»Ich blieb den nächsten Tag zu Hause«, sagte er, beugte sich leicht vor und tauchte seinen Blick in die schwarzen Augen der Frau, damit sie das Zittern seiner Lippen nicht merken sollte. »Ja, ich blieb zu Hause. Da meine Handlungen bemerkt und aufgezeichnet wurden, so wissen Sie ja vielleicht auch schon, daß ich am nächsten Tage nicht in den Vorlesungen war, ha? Sie wissen es nicht? Nun gut, ich blieb zu Hause, den ganzen langen Tag.«
Wie gerührt von seinem aufgeregten Ton murmelte sie ein teilnehmendes: »Ich höre. Es muß hart genug gewesen sein.«
»Sie scheinen das zu verstehen«, sagte Rasumoff langsam. »Es war hart. Es war furchtbar. Es war ein grausamer Tag. Es war nicht der letzte.«
»Ja, ich verstehe. Nachher, als Sie hörten, daß man ihn ergriffen hatte. Weiß ich denn nicht, was man empfindet, wenn man einen Kameraden in dem guten Kampf verloren hat? Man schämt sich, übriggeblieben zu sein, und ich kann mich an so viele erinnern. Es macht nichts. Bald werden sie gerächt sein. Und was ist Tod? Keinesfalls eine so schändliche Sache wie manche Art von Leben.«
Rasumoff fühlte, wie sich in seiner Brust etwas regte, ein schwaches und lästiges Zittern.
»Manche Art von Leben«, wiederholte er und sah sie forschend an.
»Das sklavische unterwürfige Leben. Leben? Nein! Das Vegetieren auf dem Misthaufen der Ungerechtigkeit, der das Leben ist. Das Leben, Rasumoff, muß, um nicht schmählich zu sein, Revolte sein, ein erbarmungsloser Protest – ohne Aufhören.«
Sie wurde ruhig, der Schimmer unterdrückter Tränen in ihren Augen verdorrte im Augenblick unter der Glut ihrer Leidenschaft, und in ihrer klaren sachlichen Art fuhr sie fort:
»Sie verstehen mich, Rasumoff. Sie sind kein Enthusiast, aber in Ihnen liegt die Kraft zu unerhörter Auflehnung. Ich habe es vom ersten Augenblick an gefühlt, sofort, nachdem ich Sie zum ersten Male gesehen hatte, Sie erinnern sich, in Zürich. Oh! Sie sind voll bitterer Auflehnung. Das ist gut. Entrüstung läßt manchmal nach, Rachsucht mag in Müdigkeit umschlagen. Der unerbittliche Sinn für das Nötige und Gerechte aber, der Ihnen und Haldin die Waffen in die Hand drückte, um jenes reißende Tier niederzuschlagen … denn das war es – nichts als das! Ich habe darüber nachgedacht. Es hätte nichts anderes sein können als das.«
Rasumoff machte eine leichte Verbeugung, deren Ironie sich hinter der fast düsteren Unbeweglichkeit seines Gesichtes verbarg.
»Ich vermag nicht für den Toten zu sprechen. Was mich selbst anlangt, so kann ich Ihnen versichern, daß meine Handlungsweise durch die Notwendigkeit bestimmt war, durch den Sinn für – nun, für ausgleichende Gerechtigkeit.«
»Das war gut«, sagte er sich selbst, während ihre Augen auf ihm ruhten, schwarz und unergründlich, wie zwei Höhlen, in denen der revolutionäre Gedanke hockte und über den gewaltsamen Mitteln brütete, um den geträumten Umschwung herbeizuführen. Als ob irgend etwas zu ändern gewesen wäre! In dieser Welt voll Menschen ist nichts zu ändern, weder Glück noch Elend. Sie können nur verschoben werden auf Kosten verderbter Gewissen und zerbrochener Leben – ein flüchtiges Spiel für arrogante Philosophen und blutdürstige Nichtstuer. Diese Gedanken schossen Rasumoff durch den Kopf, während er dastand und die alte revolutionäre Streiterin ansah, die geehrte, geachtete und einflußreiche Sofia Antonowna, deren Wort bei der aktiven Sektion in der Partei so schwer in die Waagschale fiel. Sie wirkte viel revolutionärer als der große Peter Iwanowitsch. Ohne jedes rhetorische, mystische und theoretische Beiwerk verkörperte sie den wahren Geist der zerstörenden Revolution. Und sie war der persönliche Gegner, mit dem er es zu tun hatte. Er empfand etwas wie jubelnden Triumph bei dem Gedanken, sie mit ihren eigenen Waffen schlagen zu können. Das alte Sprichwort, daß uns die Sprache gegeben wurde, damit wir unsere Gedanken verbergen können, fiel ihm ein. Hier bot sich eine besonders feine Gelegenheit, jene zynische Theorie in die Tat umzusetzen, indem er in seinen eigenen Worten die innerste Idee der rücksichtslosen Revolution verhöhnte, der Revolution, wie sie in dieser Frau verkörpert schien, mit dem weißen Haar und den schwarzen Augenbrauen, die wie mit feiner chinesischer Tusche gezogen und durch die geraden Stirnfalten vereint waren.
»Das ist es. Ausgleichen! Kein Erbarmen!« Damit brach sie das Schweigen und fuhr in kurzen abgerissenen Sätzen hastig fort:
»Hören Sie meine Geschichte, Rasumoff …« Ihr Vater war ein geschickter Handwerker, hatte aber kein Glück. Keine Freude hatte seine arbeitsreichen Tage erhellt. Er starb mit fünfzig. Die ganzen Jahre seines Lebens hatte er unter der Gewalt von Meistern geseufzt, deren Habgier aus ihm den Preis des Wassers, des Salzes, der Luft sogar, die er atmete, herausgeschunden hatte, die ihm den letzten Schweißtropfen erpreßt und das Blut seiner Söhne von ihm verlangt hatten. Kein Schützer, kein Fürsprecher! Was war ihm die Gesellschaft? Sei unterwürfig und ehrlich. Wenn du dich auflehnst, werde ich dich töten. Wenn du stiehlst, werfe ich dich ins Gefängnis. Leidest du aber, dann habe ich nichts für dich – nichts als vielleicht eine hingeworfene Brotkruste –, aber keinen Trost für deinen Schmerz, keine Achtung vor deiner Menschlichkeit, kein Mitleid für den Kummer deines elenden Lebens.
Und so arbeitete er, litt und starb. Er starb im Spital. Als sie vor dem Armengrabe stand, da dachte sie an sein elendes Leben – sah es ganz vor sich. Sie überdachte die einfachen Freuden des Lebens, die Rechte, die den Niedrigsten angeboren werden und deren sein armes Herz beraubt worden war, durch das Verbrechen einer Gesellschaft, die nie freizusprechen ist.
»Ja, Rasumoff«, fuhr sie fort, mit eindrucksvoller leiser Stimme: »Mir war, als wäre Blutlicht rings um mich. Ich war fast noch ein Kind, und doch fluchte ich nicht der Arbeit, nicht dem Elend, die sein Los gewesen waren, sondern der großen sozialen Ungerechtigkeit des Systems, die auf unvergoltener Arbeit und auf unberücksichtigten Leiden aufgebaut ist. Von dem Augenblick an war ich Revolutionärin.«
Rasumoff hatte sich bemüht, der gefährlichen Schwächen von Geringschätzung oder Mitleid Herr zu bleiben, und es war ihm auch gelungen, eine gleichmütige Haltung zu bewahren. Zum erstenmal, seitdem er mit der Frau zusammengekommen war, bemerkte er an ihr einen Anflug von tiefer Bitterkeit, als sie fortfuhr:
»Da ich nicht in die Kirche gehen konnte, wo rechtgläubige Priester so namenloses Gewürm, wie ich es war, zur Ergebung ermahnten, so ging ich in die geheimen Gesellschaften, sobald ich meinen Weg zu finden wußte. Ich war damals sechzehn Jahre alt – nicht mehr, Rasumoff! Und – sehen Sie mein weißes Haar.«
In diesen Worten klang weder Stolz noch Trauer mit. Auch die Bitterkeit war verflogen.
»Es ist eine ganze Menge. Ich hatte immer reiches Haar, schon als ganz kleines Mädchen. Nur pflegten wir es zu jener Zeit kurz zu scheren und glaubten, damit sei der erste Schritt getan, um die soziale Schande auszutilgen. Die Schande austilgen! Ein feines Schlagwort! Ich möchte es an die Wände von Gefängnissen und Plätzen hinschreiben, in harte Felsen graben, in Feuerbuchstaben in den leeren Himmel heben als ein Zeichen der Hoffnung und des Grauens – ein Anzeichen des Endes …«
»Sie sind beredt, Sofia Antonowna«, fiel Rasumoff plötzlich ein, »nur scheint es mir, als hätten Sie es bisher ins Wasser geschrieben.«
Sie war überrascht, doch nicht beleidigt. »Wer weiß das? Sehr bald vielleicht wird es in Taten über unser ganzes großes Land hingeschrieben sein«, meinte sie bedeutungsvoll, »und dann hätte man lange genug gelebt. Dann wäre weißes Haar überflüssig.«
Rasumoff sah nach ihrem weißen Haar. Und dieses Merkmal so vieler sorgenvoller Jahre schien doch nur von neuem Zeugnis abzulegen für die unbesiegbare Kraft einer Nation. Es stand in erstaunlichem Gegensatz zu dem runzelfreien Gesicht, dem glänzenden schwarzen Blick, der aufrechten, gedrungenen Gestalt, der ganz schlichten, selbstbeherrschten Haltung der gereiften Persönlichkeit – als hätte sie auf ihren revolutionären Irrfahrten das Geheimnis nicht der ewigen Jugend, sondern ewiger Ausdauer entdeckt.
Wie so gar nicht russisch sie aussah, dachte Rasumoff. Ihre Mutter mochte eine Jüdin gewesen sein oder eine Armenierin oder weiß der Teufel was. Er überlegte, daß ein Revolutionär selten in den Rahmen eines Rassentypus zu zwängen ist. Jede Auflehnung ist der Ausdruck einer starken Individualität – dachte er verschwommen weiter. Man erkannte sie meilenweit aus jeder Gesellschaft und jeder Umgebung heraus. Es war verwunderlich, daß die Polizei …
»Wir werden uns nicht so bald wiedersehen«, sagte sie eben. »Ich reise morgen ab.«
»Nach Zürich?« fragte Rasumoff und fühlte eine merkwürdige Erleichterung. Nicht aus einer bestimmten Überlegung heraus, sondern mehr aus dem Gefühl der Entspannung nach einem erbitterten Kampf.
»Jawohl, nach Zürich – und weiter. Vielleicht viel weiter. Noch eine Reise. Wenn ich an alle meine Reisen denke! Eines Tages muß die letzte kommen. Macht nichts, Rasumoff. Es war notwendig, daß wir uns richtig aussprachen. Ich hätte sicher versucht, mit Ihnen zusammenzukommen, wenn wir uns nicht getroffen hätten. Weiß Peter Iwanowitsch, wo Sie wohnen? Ja? Ich dachte ihn zu fragen, aber es ist besser so. Sie müssen wissen, daß wir noch zwei Leute erwarten, und ich wollte viel lieber hier unten im Gespräch mit Ihnen warten als da oben im Haus mit …« Sie warf einen Blick nach dem Tor und unterbrach sich. »Hier sind sie«, sagte sie hastig. »Nun, Kyrill Sidorowitsch, dann müssen wir uns Lebewohl sagen.«
Rasumoff fühlte sich verwirrt, weil er des Grundes nicht sicher war, auf dem er stand. Er wandte rasch den Kopf und sah auf der entgegengesetzten Straßenseite zwei Männer. Da diese sich von Sofia Antonowna bemerkt sahen, kamen sie sofort herüber und gingen hintereinander durch die kleine Tür neben dem leeren Pförtnerhaus. Sie sahen den Fremden scharf, doch ohne Mißtrauen an, da die rote Bluse eine hinlängliche Legitimation war. Der erste, mit großem haarlosen Gesicht und Doppelkinn, einem vorspringenden Bauch, den er bedächtig in einem straff gespannten Überrock vor sich herzutragen schien, nickte nur kurz und wandte rasch die Augen weg; sein Begleiter – mager, gerötete Backenknochen, ein militärisch gestutzter roter Schnurrbart unter einer scharf vorspringenden Nase – trat ohne weiteres auf Sofia Antonowna zu und begrüßte sie herzlich. Seine Stimme war sehr stark, doch undeutlich. Sie klang wie ein tiefes Summen. Die Frau zeigte eine ruhige Freundlichkeit … »Dies ist Rasumoff«, sagte sie mit klarer Stimme.
Der magere Ankömmling fuhr hastig herum.
»Er wird mich umarmen wollen«, dachte unser junger Mann mit einem tiefen Zurückbeben seines ganzen Wesens, während seine Glieder zu schwer schienen, um sich rühren zu können. Aber der Schreck war unnötig. Er hatte es nun mit einer Generation von Verschwörern zu tun, die einander nicht auf beide Wangen küßt. Er hob einen Arm, der wie von Blei schien, und ließ seine Hand in eine weit ausgestreckte Pranke fallen, fleischlos und heiß, wie vom Fieber ausgedörrt, die ihm in einem knochigen Druck zu sagen schien: »Zwischen uns braucht es keine Worte.«
Der Mann hatte große, weit offene Augen. Rasumoff glaubte hinter ihrer Trauer ein Lächeln zu entdecken.
»Dies ist Rasumoff«, wiederholte Sofia Antonowna laut, um auch von dem fetten Mann gehört zu werden, der aus einiger Entfernung die Wucht seines Bauches wirken ließ.
Niemand rührte sich. Alle die Worte, die Stellungen, die Bewegungen und die Reglosigkeit schienen Phasen eines Experiments, dessen Ergebnis darin gipfelte, daß eine dünne Stimme mit komischer Verdrießlichkeit hauchte:
»O ja, Rasumoff. Wir haben monatelang von nichts als von Herrn Rasumoff gehört. Ich für mein Teil gestehe, daß ich lieber Haldin auf diesem Fleck gesehen hätte als Herrn Rasumoff.«
Der kreischende Nachdruck, den er auf den Namen Rasumoff – Herr Rasumoff – legte, fuhr schrill ins Ohr wie das Falsett irgendeines Zirkusclowns, der einen Trick beginnt. Rasumoffs erste Antwort war Staunen, das plötzlich in Entrüstung überging.
»Was soll das?« fragte er in hartem Ton.
»Zut! Dummheiten! Er ist immer so.« Sofia Antonowna ärgerte sich offenbar. Dabei ließ sie aber zur Erklärung das Wort »Necator« fallen, eben laut genug, um von Rasumoff verstanden zu werden. Das abgerissene Kreischen des dicken Mannes schien aus der Art Ballon herzukommen, den er unter seinem Überrock trug. Das Massige seiner Erscheinung, die großen Füße, die leblos herabhängenden Hände, die ungeheuren, blutleeren Wangen, die dünnen Haarsträhne, die über dem fetten Nacken lagen, dies alles brachte Rasumoff auf die Kippe zwischen Grauen und Lachen.
Nikita mit dem Beinamen »Necator«. Rasumoff hatte von ihm gehört. Er hatte, seitdem er die Grenze gekreuzt hatte, so viel von diesen Größen unter den revolutionären Streitern gehört. Die Legenden, Geschichten und authentischen Berichte, die dann und wann bruchstückweise einer halb ungläubigen Welt vor Augen kommen. Rasumoff hatte von ihm gehört. Man sagte von ihm, er habe mehr Gendarmen und Polizeiagenten getötet als irgendein anderer lebender Revolutionär. Er war mit Hinrichtungen betraut worden.
Ein Zettel mit den Buchstaben N. N. war sein Handwerkszeichen. Dies wahrhafte Pseudonym des Mordes hatte man an die durchbohrte Brust eines gewissen bekannten Spitzels angeheftet gefunden; das pittoreske Detail »Im Auftrag des Komitees – N. N.« Ein Zipfel des Vorhanges war gelüpft, um die Einbildungskraft der gaffenden Welt zu verblüffen. Man erzählte sich, daß er ungezählte Male in Rußland ein- und ausgegangen sei, der Necator von Bürokraten, von Provinzgouverneuren, von unbekannten Spitzeln. Zwischendurch lebte er, wie Rasumoff gehört hatte, an den Ufern des Comersees mit einer entzückenden jungen Frau, die der Sache ergeben war, und zwei kleinen Kindern. Aber wie konnte nur dieses Geschöpf, das so grotesk war, daß Stadthunde bei seinem bloßen Anblick zu kläffen anfangen mußten, auf diesen todbringenden Irrfahrten herumziehen und den Fangnetzen der Polizei entgehen?
»Was nun, was nun?« krähte die Stimme. »Ich bin nur aufrichtig. Es wird nicht bestritten, daß der andere der führende Geist war. Nun gut, es wäre besser gewesen, wenn er uns erhalten geblieben wäre. Nützlicher. Ich bin kein Sentimentalist. Sag', was ich denke … nur natürlich.«
Bei all diesem Krähen, Quieken, Kreischen keine Geste, keine Regung – das schauerlich burleske Schauspiel beruflicher Eifersucht. Der Mann mit dem düster anlautenden Spitznamen, dieser Vollstrecker revolutionärer Urteile, der furchtbare N. N., regte sich wie ein fashionabler Tenor über die Aufmerksamkeit auf, die ein unbekannter Amateur mit seiner Leistung erweckte. Sofia Antonowna zuckte die Schultern. Der Kamerad mit dem kriegerischen roten Schnurrbart eilte auf Rasumoff zu, und aus seiner tief summenden Stimme klangen die versöhnlichsten Absichten.
»Hol ihn der Teufel! Und hier noch dazu, auf der Straße sozusagen. Aber Sie sehen selbst, wie es ist. Eine seiner phantastischen Schrullen, ganz ohne jede Bedeutung.«
»Bitte, bemühen Sie sich nicht«, rief Rasumoff und schlug eine endlose Lache auf. »Reden wir nicht davon.« Dem anderen flammte die hektische Röte wie ein Brandmal auf den Wangen; er stand einen Augenblick starr und begann dann ebenfalls zu lachen. Rasumoffs Heiterkeit erstarb mit einemmal, und er trat einen Schritt vor.
»Genug davon«, begann er mit klarer schneidender Stimme, obwohl er kaum das Zittern seiner Knie meistern konnte. »Ich will nichts weiter davon hören. Ich werde niemand erlauben … Ich sehe sehr gut, wo Sie mit diesen Anspielungen hinauswollen. Verhören Sie mich, stellen Sie mich auf die Probe! Darauf lasse ich es ankommen, aber ich lasse nicht mit mir spielen.«
Er hatte schon früher solche Worte gesprochen. Er war gezwungen worden, sie anderen Verdächtigungen entgegenzuschreien. Es war ein höllischer Kreislauf, der diesen Protest immer wieder wie eine leidige Notwendigkeit seiner Existenz herbeiführte. Aber es hatte keinen Wert. Man würde immer mit ihm spielen. Glücklicherweise dauerte das Leben nicht ewig.
»Ich will es nicht haben«, brüllte er und schlug mit der Faust in die hohle Hand.
»Kyrill Sidorowitsch, was kommt über Sie?« mischte sich die Revolutionärin mit Autorität ein. Alle sahen auf Rasumoff. Der Gendarmentöter hatte sich umgewendet und präsentierte seinen ungeheuren Bauch en face, wie einen Schild.
»Schreien Sie nicht, es gehen Leute vorüber.« Sofia Antonowna fürchtete einen neuen Ausbruch. Ein Dampfboot von Monrepos hatte an dem Landungssteg gegenüber dem Tore angelegt, ohne daß sein Pfeifen und das Klatschen der Schaufeln bemerkt worden wäre; es setzte eine kleine Schar von Passagieren an Land, die nun ihre verschiedenen Wege gingen. Nur ein Typ in Kniehosen, der wie ein verfrühter Tourist aussah und von weitem durch ein quietschneues ledernes Feldstecherfutteral auffiel, zögerte einen Augenblick. Er schien in den vier Leuten, die da hinter dem rostigen Eisentor in dem scheinbar verwilderten Privatgarten standen, etwas Ungewöhnliches zu wittern. Oh, hätte er nur gewußt, was ihm der gemeine Reisezufall da in den Weg geführt hatte! Aber er war ein gut erzogener Mensch; er wandte den Blick ab, ging mit kurzen Schritten die Avenue hinunter und schien nach einer Straßenbahn auszuspähen.
Auf eine Handbewegung Sofia Antonownas – »überlaßt ihn mir« – waren die beiden Männer verschwunden; das Summen der undeutlichen Stimme wurde schwächer und schwächer, und das hell gekrähte »Oh, nun? was ist dabei?« klang in der Entfernung wie das Quietschen eines Spielzeugs. Sie hatten ihn der Frau überlassen. Es gab so viele Dinge, die man beruhigt der Erfahrung Sofia Antonownas überlassen konnte. Auf einmal wandten sich ihre schwarzen Augen Rasumoff zu, und ihr Verstand versuchte, jenem Ausbruch auf den Grund zu kommen. Er hatte etwas zu bedeuten. Niemand kommt als aktiver Revolutionär zur Welt. Der Umschwung vollzieht sich stürmisch mit der Gewalt einer plötzlichen Berufung, bringt hinsterbende Zweifel mit sich, bejahende Gewaltakte, eine Erschütterung des gesamten seelischen Gleichgewichtes, bis der Bekehrte endlich in der starren Festigkeit der Überzeugung zur Ruhe kommt. Sie hatte gesehen – oft nur erraten –, wie Scharen dieser jungen Männer und Frauen seelische Krisen durchmachten. Dieser junge Mann sah aus wie ein verdrossener Egotist. Und überdies war das hier ein besonderer, ein einzig dastehender Fall. Nie war ihr eine Individualität vorgekommen, die sie so stark interessiert und überrascht hätte.
»Nehmen Sie sich in acht, Herr Rasumoff, mein lieber Freund. Wenn Sie so fortmachen, werden Sie verrückt. Sie sind wütend auf jedermann und verbittert gegen sich selbst und ewig auf der Suche nach etwas, womit Sie sich quälen können.«
»Es ist unerträglich!« Rasumoff konnte nur keuchend sprechen. »Sie müssen zugeben, daß mir keine Illusionen über die Einstellung bleiben, die … es ist nicht klar … oder vielmehr … nur zu klar …«
Er machte eine Geste der Verzweiflung. Nicht der Mut fehlte ihm. Die erstickenden Dämpfe der Lüge würgten ihn in der Kehle – der Gedanke, dazu verdammt zu sein, fort und fort in dieser vergifteten Atmosphäre weiterzuleben, ohne die Hoffnung, jemals seine Kräfte durch einen Atemzug frischer Luft erneuern zu können.
»Sie brauchen ein Glas kaltes Wasser.« Sofia Antonowna sah über den Park nach dem Hause hin, schüttelte den Kopf und sah dann zum Tor hinaus auf den friedlich erstrahlenden See. Mit einem halb komischen Achselzucken verzichtete sie angesichts dieses Überschusses auf das Gegenmittel.
»Sie sind es, liebe Seele, der sich immer gegen etwas wirft, das nicht existiert. Was ist es? Selbstvorwurf oder was? Es ist töricht. Sie hätten nicht hingehen und sich selbst anzeigen können, weil Ihr Kamerad gefangen wurde.«
Sie versuchte es längere Zeit hindurch mit vernünftigen Vorstellungen. Über seinen Empfang habe er sich nicht zu beklagen. Über jeden Neuangekommenen wurde mehr oder weniger diskutiert. Jeder einzelne mußte erst völlig erkannt sein, bevor er zugelassen wurde. Niemand, so weit sie denken konnte, war vom ersten Augenblick an so viel Vertrauen entgegengebracht worden. Bald, sehr bald, eher vielleicht, als er erwartete, würde man ihm die Möglichkeit geben, seine Ergebenheit für die heilige Aufgabe, die Schande auszulöschen, in Taten zu beweisen.
Rasumoff hörte schweigend zu und dachte: »Vielleicht versucht sie, meine Gedanken einzuschläfern. Andererseits liegt es ja wieder auf der Hand, daß die Mehrzahl von ihnen Narren sind.«
Er trat ein paar Schritte zurück, kreuzte die Arme über der Brust und lehnte sich gegen den Steinpfeiler des Tores.
»Was bei dem Schicksal dieses armen Haldin unaufgeklärt bleibt« – Sofia Antonowna verfiel in eine derartig langsame Sprechweise, daß Rasumoff sie wie das tropfenweise Fallen geschmolzenen Bleies empfand –, »was das anlangt – obwohl niemals auch nur angedeutet wurde, daß Ihr Benehmen aus Angst oder Nachlässigkeit nicht ganz so gewesen sei, wie es zu wünschen gewesen wäre –, da habe ich eine Ahnung …«
Rasumoff konnte sich nicht enthalten, den Kopf zu heben, und Sofia Antonowna nickte leicht.
»Die habe ich. Erinnern Sie sich an den Brief aus St. Petersburg, den ich Ihnen kurz vorher erwähnte?«
»Den Brief? Gewiß. Irgendein Wichtigkeitskrämer hat Ihnen mein Benehmen an einem gewissen Tage geschildert. Das ist recht widerwärtig. Ich stelle mir vor, daß unsere Polizei höchlich erbaut ist, wenn sie diese interessanten und – und – überflüssigen Briefe öffnet.«
»Lieber Gott, nein. Die Polizei bekommt unsere Briefe nicht so leicht in die Hände, wie Sie glauben. Der Brief, von dem wir sprachen, kam nicht aus St. Petersburg vor dem Eisgang. Er ging mit dem ersten englischen Dampfer, der in diesem Frühjahr aus der Newa auslief. Der hatte einen Heizer an Bord – einen der Unseren. Der Brief ist mir von Hull aus zugekommen …« Sie unterbrach sich, wie überrascht von Rasumoffs finsterem, starrem Blick, fuhr aber gleich fort und viel rascher:
»Wir haben da ein paar unserer Leute, die … aber das tut nichts zur Sache. Der Briefschreiber erwähnte einen Vorfall, der seiner Ansicht nach vielleicht mit Haldins Verhaftung in Bezug stehen könnte. Ich wollte Ihnen eben davon erzählen, als die beiden Leute ankamen.«
»Das war auch ein Vorfall«, murmelte Rasumoff, »der angenehmsten Art – für mich.«
»Lassen Sie das«, rief Sofia Antonowna aus. »Niemand kümmert sich um Nikitas Kläffen. Er ist nicht bösartig. Hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe. Vielleicht können Sie mir etwas aufklären. Es gab in St. Petersburg eine Art Stadtbauern – einen Mann, der Pferde besaß. Er kam vor Jahren in die Stadt, um bei irgendeinem Verwandten als Kutscher zu dienen, und brachte es schließlich zu einem oder zwei Gespannen.«
Sie hätte sich die leichte Anstrengung der Geste »Warten Sie« gern ersparen können. Rasumoff dachte nicht daran, zu sprechen. Er hätte sie jetzt nicht unterbrechen können. Nicht ums Leben. Die Zusammenziehung seiner Gesichtsmuskeln war unwillkürlich gewesen, rein oberflächlich, und ließ seine gespannte Aufmerksamkeit unberührt.
»Er war kein gewöhnlicher Mann seiner Klasse, scheint es«, fuhr sie fort. »Die Leute aus dem Hause – mein Berichterstatter hat mit vielen von ihnen gesprochen –, Sie wissen ja, eines jener ungeheuren Häuser voll Schande und Elend …«
Sofia Antonowna hätte sich über den Charakter des Hauses nicht weiter zu verbreiten brauchen. Rasumoff sah deutlich, wie sich hinter ihr ein dunkles Bauwerk auftürmte, in Schneeflocken gehüllt, mit der langen Fensterreihe des Speisehauses, die nahe am Boden durch das Dunkel glänzte. Die Bilder jener Nacht verfolgten ihn. Er hielt ihnen wütend und doch müde stand.
»Hat der arme Haldin zufällig jemals mit Ihnen von jenem Haus gesprochen?« wollte Sofia Antonowna wissen.
»Ja.« Während Rasumoff diese Antwort gab, fragte er sich, ob er damit wohl in die Falle geraten sei. Es war so erniedrigend, diese Leute anzulügen, daß er wahrscheinlich nicht die Kraft gehabt hätte, nein zu sagen. »Er erwähnte mir einmal«, fuhr er fort, als dächte er angestrengt nach, »ein Haus dieser Art. Er pflegte ein paar Arbeiter dort zu besuchen.«
Sofia Antonowna triumphierte. Ihr Korrespondent hatte diese Tatsache ganz zufällig aus dem Gespräch der Hausleute erfahren, nachdem er sich mit dem Arbeiter angefreundet hatte, der dort wohnte. Sie beschrieben Haldin vollständig richtig. Er habe tröstende hoffnungsvolle Worte in ihr Elend gebracht. Er sei unregelmäßig gekommen, aber sehr oft, und wie ihr Korrespondent schrieb, habe er mitunter eine Nacht in dem Hause zugebracht und in einem Stall geschlafen, der auf den Innenhof ging. – »Beachten Sie das, Rasumoff! In einem Stall!«
Rasumoff hatte mit einer Art grausamen Vergnügens zugehört.
»Ja, in der Streu. Das war wahrscheinlich der reinlichste Fleck im ganzen Hause.«
»Ohne Zweifel«, stimmte die Frau zu, mit dem starken Stirnrunzeln, das ihre schwarzen Augen noch näher zusammenzuziehen schien. »Kein vierfüßiges Tier könnte den Schmutz und das Elend ertragen, zu denen so viele Leute in Rußland verdammt sind. Das wichtige an dieser Entdeckung war der Beweis, daß Haldin mit jenem demokratischen Fuhrmann bekannt gewesen war – einem rücksichtslosen, unabhängig frei lebenden Burschen, den die anderen Anwohner nicht sonderlich liebten. Man glaubte von ihm, daß er das Mitglied einer Einbrecherbande gewesen sei. Einige davon waren verhaftet worden. Nicht gerade während er sie fuhr, doch immerhin bestand ein Verdacht gegen den Burschen, daß er der Polizei einen Wink gegeben habe und …«
Die Frau brach plötzlich ab.
»Und Sie? Haben Sie Ihren Freund niemals einen gewissen Siemianitsch erwähnen hören?«
Rasumoff war auf den Namen gefaßt. Er hatte die Frage erwartet. »Wenn sie kommt, werde ich alles gestehen«, hatte er sich gesagt; dennoch hielt er sich zurück.
»Sicher«, begann er langsam, »Siemianitsch. Ein Bauer mit einem Pferdegespann. Ja. Bei einer Gelegenheit. Siemianitsch. Gewiß! Siemianitsch mit den Pferden … Wie konnte mir das nur so gänzlich entfallen? Eines der letzten Gespräche, das wir zusammen hatten.«
»Heißt das« – Sofia Antonowna sah sehr ernst aus –, »heißt das, Rasumoff, daß es kurz zuvor war …?«
»Vor was?« brüllte Rasumoff und ging auf die Frau los, die überrascht schien, aber nicht zurückwich. »Bevor … o natürlich. Es war zuvor. Wie hätte es nachher sein können? Nur wenige Stunden zuvor.«
»Und sprach er günstig von ihm?«
»Mit Enthusiasmus! Die Pferde von Siemianitsch! Die freie Seele von Siemianitsch!«
Rasumoff fand eine wilde Freude darin, den Namen laut auszusprechen, der nie zuvor hörbar über seine Lippen gekommen war. Er richtete seine flammenden Augen auf die Frau, bis endlich ihr maßlos erstaunter Ausdruck ihn zu sich selbst zurückrief.
»Der arme Haldin«, sagte er mit niedergeschlagenen Augen und dem krampfhaften Versuch, sich zu beherrschen. »Der arme Haldin neigte dazu, eine plötzliche Vorliebe für Leute zu fassen, aus – aus – wie soll ich sagen – unzureichenden Gründen.«
»Da!« Sofia Antonowna schlug die Hände zusammen. »Damit ist es für mich erledigt. Mein Korrespondent hatte schon einen Verdacht …«
»Aha, Ihr Korrespondent«, sagte Rasumoff mit fast unverhohlenem Spott. »Was für einen Verdacht? Wie kam er dazu? Durch Siemianitsch? Wahrscheinlich irgendwo ein betrunkenes Geschwätz …«
»Sie sprechen, als hätten Sie ihn gekannt.«
Rasumoff sah auf. »Nein, aber ich kannte Haldin.«
Sofia Antonowna nickte ernst.
»Ich verstehe. Jedes Ihrer Worte bestärkt mich in dem Verdacht, der mir in jenem überaus interessanten Briefe mitgeteilt wurde. Dieser Siemianitsch wurde eines Morgens an einem Haken in seinem Stall erhängt aufgefunden. Tot.«
Rasumoff fühlte sich tief verwirrt. Er mußte es auch gezeigt haben, da Sofia Antonowna lebhaft bemerkte:
»Aha! Sie beginnen zu verstehen.«
Er sah es klar genug –: im Lichte einer Laterne, die Schattenflecke in dem kellerähnlichen Stall tanzen ließ, hing der Körper in einem Schafpelz und langen Stiefeln an der Wand. Eine spitze Kapuze mit umgeschlagenen Ecken verhüllte das Gesicht. »Aber das geht mich nichts an«, überlegte er. »Es berührt meine Stellung in keiner Weise. Er hat nie erfahren, wer ihn geprügelt hat. Er konnte es nicht wissen.« Rasumoff fühlte eine tiefe Trauer für den alten Verehrer der Flasche und der Frauen.
»Ja, einige unter ihnen enden so«, murmelte er. »Was denken Sie, Sofia Antonowna?«
Eigentlich war es die Idee ihres Korrespondenten, doch Sofia Antonowna hatte sie sich gänzlich zu eigen gemacht. Sie drückte sie in einem Wort aus – »Reue«. Rasumoff riß dabei die Augen weit auf. Sofia Antonownas Berichterstatter hatte die Gespräche im Hause belauscht, dies und jenes zusammengefügt und war dabei den wahren Beziehungen zwischen Haldin und Siemianitsch ziemlich auf die Spur gekommen.
»Ich kann Ihnen etwas sagen, was Sie nicht genau wußten – nämlich, daß Ihr Freund die Absicht hatte, sich nachher zu retten oder jedenfalls aus St. Petersburg hinauszukommen. Vielleicht nur das und nicht mehr; für später vertraute er dem Glück. Und die Pferde jenes Burschen hat er mit in die Berechnung gezogen.«
»Nun hat sie doch die Wahrheit herausgebracht«, sagte sich Rasumoff erstaunt, während er nachdenklich mit dem Kopfe nickte. »Ja, das ist möglich, durchaus möglich.« Die Frau aber schien durchaus sicher, daß es so gewesen sei. Zunächst einmal war ein Gespräch zwischen Haldin und Siemianitsch, das sich um Pferde drehte, zum Teil belauscht worden. Dann sprachen dafür die Vermutungen, die unter den Leuten im Hause auftauchten, als ihr »junger Herr« (sie kannten Haldin nicht bei Namen) sich im Hause nicht mehr zeigte. Einige unter ihnen warfen Siemianitsch vor, daß er den Grund dieser Abwesenheit kennen müsse. Er verneinte es verzweifelt; Tatsache aber war, daß er seit Haldins Verschwinden nicht mehr er selbst war, mürrisch und mager wurde. Schließlich wurde Siemianitsch bei einem Streit mit einer Frau, der er den Hof machte und an dem augenscheinlich die Mehrzahl der Hausbewohner sich beteiligte, von seinem Hauptgegner, einem hünenhaften Hausierer, öffentlich »Spitzel« geschimpft und weiter beschuldigt, er habe »unsern jungen Herrn« nach Sibirien gebracht, ebenso wie er es schon vorher mit den jungen Burschen getan hatte, die in Häuser eingebrochen waren. Im Anschluß daran gab es eine Rauferei, und Siemianitsch wurde über eine Treppe hinabgeworfen. Dann trank er und brütete eine Woche lang und erhängte sich schließlich.
Sofia Antonowna zog aus der Erzählung ihre Schlüsse. Sie vermutete, daß Siemianitsch entweder in der Trunkenheit von einer Fuhre geschwätzt habe, die er für einen bestimmten Tag vorhabe, und dabei von irgendeinem Spitzel in einer Schnapsschenke belauscht worden sei – vielleicht sogar in dem Kosthaus im Erdgeschoß des Hauses –, oder aber, daß er geradezu die Anzeige erstattet und sie später bereut habe. Ein Mann wie er sei zu allem imstande. Die Leute sagten, er sei ein leichtsinniger alter Bursche gewesen. Und hatte er je zuvor mit der Polizei zu tun gehabt – was ja so gut wie erwiesen war, trotzdem er es immer leugnete –, in Verbindung mit jenen Dieben, so war er sicher mit ein paar Polizeiagenten bekannt, die auf der Suche nach irgendwelchen Anzeigen waren. Vielleicht hatte man zunächst sein Geschwätz gar nicht ernst genommen bis zu dem Tag, wo der Schuft von P. seinen Lohn bekam. Dann allerdings würde man sich wohl an jede noch so geringfügige Angabe geklammert haben und mußte unglückseligerweise auf Haldin kommen.
Sofia Antonowna breitete die Arme aus. »Unglückseligerweise.«
Unglück – Glück! Rasumoff überdachte in schweigender Verwunderung die auffallende Wahrscheinlichkeit dieser Vermutungen. Sie waren offenbar von Vorteil für ihn.
»Es ist nun an der Zeit, dieses abschließende Urteil allgemein bekannt zu machen.«
Sofia Antonowna war wieder ganz ruhig und überlegte. Sie hatte den Brief vor drei Tagen bekommen, aber nicht gleich an Peter Iwanowitsch weitergegeben. Sie wußte damals schon, daß sie in kurzem Gelegenheit haben würde, mit mehreren führenden Männern in einer wichtigen Angelegenheit zusammenzukommen.
»Ich dachte, es würde besser wirken, wenn ich den Brief selbst offen herumzeigte. Ich habe ihn jetzt in der Tasche. Sie begreifen, wie sehr ich mich freute, Sie zu treffen.«
Rasumoff sagte sich: »Mir will sie den Brief nicht zeigen. Augenscheinlich nicht. Hat sie mir alles gesagt, was ihr Korrespondent herausgebracht hat?« Er fühlte den Wunsch, den Brief zu sehen, wagte aber nicht, darum zu bitten.
»Sagen Sie mir, bitte, ob die Nachforschungen in dieser Angelegenheit auf Befehl geschehen sind, sozusagen?«
»Nein, nein«, wehrte sie ab. »Da kommen Sie wieder mit Ihrer Empfindlichkeit. Die macht Sie ganz blind. Bedenken Sie doch, es gab hier keinen Ausgangspunkt für eine Nachforschung, selbst wenn jemand daran gedacht hätte. Absolutes Dunkel. Das hoben mir auch mehrere Leute hervor als Grund dafür, daß man Sie mit Vorsicht aufnehmen solle. Alles ist reiner Zufall; mein Berichterstatter machte nämlich die Bekanntschaft eines intelligenten Kürschners, der in ebenjenem Massenquartier wohnte. Ein wunderbares Zusammentreffen.«
»Ein frommer Mensch«, bemerkte Rasumoff mit bleichem Lächeln, »würde sagen, daß Gottes Finger alles getan habe.«
»Mein armer Vater hätte so gesagt.« Sofia Antonowna lächelte nicht. Sie schlug die Augen nieder. »Nicht als ob sein Gott ihm je geholfen hätte. Es ist lange her, daß Gott irgend etwas für das Volk getan hat. Aber sei es wie immer, es ist geschehen.«
»Dies alles wäre von abschließender Bedeutung«, sagte Rasumoff mit dem vollen Anschein objektiver Überlegung, »wenn es irgendeine Gewißheit dafür gäbe, daß der »junge Herr« jener Leute Viktor Haldin war. Steht das einwandfrei fest?«
»Ja. Darüber gibt es keinen Zweifel. Mein Korrespondent war mit Haldins persönlicher Erscheinung ebensowohl vertraut wie mit der Ihrigen«, versicherte die Frau bestimmt.
»Es ist ganz ohne Zweifel der rotnasige Bursche«, sagte sich Rasumoff mit neu erwachter Verlegenheit. War sein eigener Besuch in jenem verfluchten Hause unbemerkt geblieben? An und für sich war das möglich, doch kaum wahrscheinlich. Denn dieser Besuch war doch das rechte Futter für ein Pöbelgeschwätz, wie es jener verhungerte Wichtigkeitskrämer aufgelesen hatte. Der Brief schien aber keinerlei Anspielung darauf zu enthalten. Außer sie hatte sie unterdrückt. Und wenn das, warum? Wenn die Tatsache der Spürnase dieses Windhundes von Demokraten mit seinem verdammten Genie, Leute nach bloßer Beschreibung wiederzuerkennen, entgangen war, so konnte es nur für eine Zeit sein. Er würde jedenfalls bald dahinterkommen und sich beeilen, einen zweiten Brief zu schreiben – und dann!
Bei all der Rücksichtslosigkeit, zu der sich Rasumoff in Haß und Verachtung erzogen hatte, schauderte er doch bei diesem Gedanken zusammen. Er fühlte sich erhaben über gemeine Angst, doch nicht über den Ekel, der ihn bei der Möglichkeit erfaßte, diesen Leuten zu willkürlicher Behandlung preisgegeben zu sein. Es war eine Art abergläubischer Furcht. Nun, da seine Stellung durch ihre eigene Narrheit auf Kosten von Siemianitsch noch sicherer geworden war, fühlte er den dringenden Wunsch nach unbedingter Sicherheit. Er wollte nicht länger mehr zu direkten Lügen verpflichtet sein, wollte schweigsam lauschend, undurchdringlich wie das Schicksal unter ihnen herumgehen können. War er schon so weit? Oder noch nicht? Oder würde er nie so weit kommen?
»Nun gut, Sofia Antonowna.« Sein zögerndes Nachgeben war insofern echt, als es ihm wirklich schwer ankam, von ihr zu scheiden, ohne ihre Aufrichtigkeit auf die Probe gestellt zu haben, mit einer letzten Frage, die er aber, wie er genau fühlte, unterdrücken mußte. »Nun, Sofia Antonowna, wenn das so ist, dann –«
»Der Kerl hat sich selbst gerichtet«, sagte die Frau.
»Was? O ja! Reue!« murmelte Rasumoff mit zweideutiger Verachtung.
»Sind Sie nicht gar zu hart, Kyrill Sidorowitsch, wenn Sie auch einen Freund verloren haben.« In ihrer Stimme klang keine Sanftheit, nur ihre schwarzen Augen schienen einen Moment lang abgewandt von Visionen der Rache. »Er war ein Mann aus dem Volk. Die einfache russische Seele ist nie ganz und gar unbußfertig. Es ist immer etwas, wenn man das weiß.«
»Tröstlich?« fragte Rasumoff.
»Lassen Sie den Spott!« fuhr sie ihn an. »Denken Sie daran, Rasumoff, daß Frauen, Kinder und Revolutionäre die Ironie hassen, weil sie alle rettenden Instinkte verneint. Jeden Glauben, jede Hingabe, jede Tat. Spotten Sie nicht! Lassen Sie das … Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es gibt Augenblicke, wo Sie mir widerwärtig sind …«
Sie wandte das Gesicht ab. Eine Zeitlang herrschte ein leeres Schweigen, als hätte sich die ganze elektrische Spannung der Situation in diesem Aufflammen von Leidenschaft entladen. Rasumoff hatte sich nicht gerührt. Plötzlich legte sie die Fingerspitzen auf seinen Arm.
»Machen Sie sich nichts draus!«
»Ich mache mir nichts draus«, sagte er ganz ruhig. Er war stolz in dem Bewußtsein, daß sie nichts an seinem Gesicht ablesen konnte. Er fühlte sich tatsächlich besänftigt und, wenn auch nur für einen Augenblick, von einem dunklen Druck befreit. Und plötzlich fragte er sich: »Warum zum Teufel bin ich nur damals in jenes Haus gegangen? Es war eine unglaubliche Dummheit.«
Ein tiefer Ekel überkam ihn. Sofia Antonowna zögerte noch zu gehen und sprach ihm freundlich zu, in augenscheinlich versöhnlicher Absicht. Es handelte sich immer noch um den famosen Brief und um verschiedene unbedeutende Einzelheiten, die sie von ihrem Berichterstatter, der Siemianitsch nie gesehen, erfahren hatte. Das »Opfer der Reue« war mehrere Wochen, bevor ihr Korrespondent in dem Haus zu verkehren begann, beerdigt worden. Das Haus barg äußerst schätzenswertes revolutionäres Material. Der Geist des heldenhaften Haldin war durch diese schwarzen Elendshöhlen geschritten und hatte ihnen das Versprechen einer allgemeinen Erlösung von allem Jammer gebracht, der die Menschheit bedrückt. Rasumoff gab sich den Anschein, als hörte er zu, in Wahrheit aber nagte an ihm der neu entstandene Wunsch nach Sicherheit und nach der Unabhängigkeit von jenem schmählichen Zwang zur direkten Lüge, dem er sich oft schon nur mit Mühe hatte fügen können.
Nein. Der eine Punkt, über den er Näheres wissen wollte, konnte in dieser Unterhaltung nie berührt werden. Es gab keine Möglichkeit, ihn zur Sprache zu bringen. Er bedauerte es, daß er sich nicht eine vollständige Geschichte zum Gebrauch im Ausland zurechtgelegt hatte, in der er auch seine fatale Beziehung zu dem Hause hätte erwähnen können. Bei seiner Abreise aus Rußland hatte er aber nicht gewußt, daß Siemianitsch sich erhängt hatte, und wer hätte übrigens auch voraussehen können, daß der »Berichterstatter« dieser Frau gerade in jene besondere Spelunke geraten würde, unter den zahllosen anderen Spelunken, die ihrer Zerstörung durch die reinigenden Flammen der sozialen Revolution entgegensahen? Wer hätte das vorhersehen können? Niemand. »Es ist eine ganz verteufelte Überraschung«, dachte Rasumoff, wie immer mit ruhigem, unbewegtem Gesicht, und nickte dabei Sofia Antonownas Bemerkungen über die Psychologie »des Volkes« Beifall.
»O ja, gewiß«, meinte er kühl und fühlte ein nervöses Jucken in den Fingern, als hätte er ihr am liebsten ein Geständnis aus der Kehle gerissen.
Und dann, ganz zuletzt, während der Abschiedsworte, als die unklare Spannung in ihm bereits nachzulassen begann, hörte er Sofia Antonowna auf den Gegenstand seiner Verlegenheit anspielen. Er wußte nicht genau, wie es dazu gekommen war, da er eben an andere Dinge gedacht hatte; es mußte sich aber wohl im Anschluß an Sofia Antonownas Klagen über die unlogische Torheit des Volkes ergeben haben. So zum Beispiel sei jener Siemianitsch notorisch irreligiös gewesen, und doch habe er in den letzten Wochen seines Lebens unter der Vorstellung gelitten, vom Teufel geprügelt worden zu sein.
»Vom Teufel?« wiederholte er, als habe er nicht recht gehört.
»Vom leibhaften Teufel. Vom Teufel in Person. Sie können leicht erstaunt sein, Kyrill Sidorowitsch. In den frühen Abendstunden des Tages, an dem der arme Haldin gefaßt wurde, erschien ein ganz fremder Mensch und verabreichte Siemianitsch eine furchtbare Tracht Prügel, während er volltrunken im Stall lag. Der Körper des armen Kerls war über und über von blutigen Schwielen bedeckt. Er zeigte sie den Leuten vom Hause.«
»Aber Sie, Sofia Antonowna, Sie glauben doch nicht an den leibhaften Teufel?«
»Tun Sie es?« gab die Frau kurz zurück. »Ich glaube nur das eine, daß es eine Menge Leute gibt, die schlimmer sind als Teufel und diese Welt zur Hölle machen.«
Rasumoff betrachtete sie, wie sie rüstig und weißhaarig dastand, mit der tiefen Falte zwischen ihren dünnen Augenbrauen, die schwarzen Augen abgewandt. Es lag auf der Hand, daß sie auf die letzte Geschichte nicht viel gab –, oder aber es war der Gipfelpunkt der Verstellung. »Ein brünetter, junger Mann«, erklärte sie weiter, »nie zuvor dort gesehen, niemals nachher. Warum lächeln Sie, Rasumoff?«
»Weil der Teufel nach so viel Weltaltern noch jung sein soll«, antwortete er gefaßt. »Aber wer konnte ihn beschreiben, da doch das Opfer stockbetrunken war?«
»Oh, der Wirt des Speisehauses hat ihn beschrieben. Ein hochfahrender, dunkelbrauner, junger Mann in einem Studentenrock, der hereingestürzt kam, nach Siemianitsch fragte, ihn grauenhaft prügelte und dann ohne ein Wort wieder davonstürzte und den Wirt starr vor Staunen zurückließ.«
»Glaubt er auch, daß es der Teufel war?«
»Das kann ich nicht sagen. Ich höre, daß er in diesem Punkt sehr zurückhaltend ist. Diese Schnapsverkäufer sind gemeinhin große Schurken. Ich möchte glauben, daß er mehr von der Sache weiß als irgend jemand sonst.«
»Nun, und Sie, Sofia Antonowna, zu welcher Ansicht haben Sie sich entschlossen?« fragte Rasumoff, scheinbar stark interessiert. »Sie und Ihr Berichterstatter, der ja an Ort und Stelle weilt?«
»Ich stimme mit ihm überein. Irgendein verkleideter Polizeihund. Wer sonst könnte einen hilflosen Mann so unbarmherzig prügeln? Im übrigen ist es ja wahrscheinlich genug, daß sie an jenem Tag, wo sie hinter allen Fährten, alten und neuen, her waren, auch auf die Idee gekommen sein könnten, es wäre vorteilhaft, Siemianitsch bei der Hand zu haben, damit er Angaben machen oder jemand identifizieren könne oder sonst was. Irgendein verdammter Spitzel wurde ausgesandt, um ihn herbeizuholen, ärgerte sich, weil er ihn so betrunken vorfand, und zerdrosch an ihm einen Mistgabelstiel. Später, als sie das große Wild glücklich eingefangen hatten, zerbrachen sie sich über jenen Bauern nicht weiter den Kopf.«
Dies waren die letzten Worte der Revolutionärin in dieser Unterhaltung. Sie kam damit der Wahrheit so nahe und wich auch wieder so weit davon ab, in der bloßen Wahrscheinlichkeitsrechnung von Gedanken und Schlüssen, daß man daraus ein treffliches Bild des menschlichen Irrtums gewinnen und einen Blick in die tiefsten Tiefen der Selbsttäuschung tun konnte. Rasumoff schüttelte Sofia Antonowna die Hand, verließ den Park, schritt auf den kleinen Dampferpier hinaus und lehnte sich über das Geländer.
Seine Seele war heiter, so heiter, wie sie es viele Tage lang nicht mehr gewesen war, nicht mehr seit jener Nacht … der Nacht. Die Unterredung mit der Revolutionärin hatte ihm die ganze Größe der Gefahr enthüllt im selben Augenblick, wo, merkwürdig genug, diese Gefahr schwand. »Ich hätte die Zweifel, die in diesen Leuten entstehen würden, voraussehen müssen«, dachte er. Dann wurde seine Aufmerksamkeit von einem Stein von eigenartiger Form in Anspruch genommen, den er deutlich auf dem Seegrunde liegen sah, und er begann über die Tiefe des Wassers an dieser Stelle nachzudenken. Sehr rasch aber kehrte er mit einem erschreckten Auffahren über diese ganz außerordentliche und übel angebrachte Zerstreutheit zu seinem ursprünglichen Gedankengang zurück. »Ich hätte gleich von Anfang an sehr weitschweifige Lügen erzählen müssen«, sagte er sich und fühlte bei dem bloßen Gedanken einen tödlichen Ekel, der sein Denkvermögen für eine geraume Zeit unterband. »Zum Glück ist jetzt alles in Ordnung«, überlegte er weiter und sagte nach einer Weile mit einem abgerissenen Auflachen halblaut vor sich hin: »Dank dem Teufel!«
Dann blieben seine irrenden Gedanken wieder an Siemianitschs Ende haften. Die Auslegung, die er eben gehört hatte, machte ihm nicht geradezu Spaß, doch schien sie ihm einer gewissen Pikanterie nicht zu entbehren. Er mußte sich eingestehen, daß er, wenn ihm dieser Selbstmord vor seiner Abreise aus Rußland bekannt geworden wäre, keinen so ausgezeichneten Gebrauch davon für seine eigenen Zwecke hätte machen können. Er mußte tatsächlich dem Burschen mit der roten Nase für seine Geduld und Naivität unendlich dankbar sein. »Augenscheinlich ein wunderbar feiner Psychologe«, sagte er sich sarkastisch. »Wirklich, Reue!« Es war ein packendes Beispiel für die Verblendung der Verschwörer, für die dumme Tüftelei der Leute mit einer einzigen Idee. Dies war ein Liebes-, nicht ein Gewissensdrama, spottete Rasumoff stillschweigend weiter. Eine Frau, der der alte Bursche den Hof machte! Ein robuster Hausierer, offenbar ein Rivale, der ihn über eine Treppe hinunterwarf … Das war keine Sache, über die ein lebenslanger Don Juan mit sechzig Jahren leicht hinwegkommen konnte. Der war ein Feminist von anderem Schlage als Peter Iwanowitsch. Es war sogar begreiflich, daß ihm nicht einmal die Flasche über diese letzte Krise weghelfen konnte. In solchem Alter konnte nur mehr der Strick dem Wüten einer unersättlichen Leidenschaft ein Ende setzen. Zu diesen einfachen und bitteren Schmerzen kam noch die wilde Verzweiflung über die falschen Gerüchte und die Verachtung der Hausbewohner und die völlige Unmöglichkeit, jene geheimnisvolle Züchtigung aufzuklären. »Teufel, was?« rief Rasumoff erregt aus, als hätte er eine interessante Entdeckung gemacht; »so ist Siemianitsch schließlich noch in Mystizismus verfallen. So viele unserer wahren russischen Seelen enden da. Sehr charakteristisch.« Er fühlte Mitleid für Siemianitsch, ein großes, neutrales Mitleid, wie man es für eine unbewußte Vielheit empfinden mag, für ein großes Volk, das man aus der Vogelperspektive sieht – wie eine krabbelnde Ameisengemeinde, die ihrem Schicksal zuarbeitet. Es war, als ob dieser Siemianitsch unmöglich anders hätte handeln können. Und auch Sofia Antonownas verächtliche und selbstsichere Bemerkung »irgendein Polizeihund« war typisch russisch. In alledem aber lag keine Tragik. Es war eine Komödie der Irrungen. Es war, als ob der Teufel selbst mit ihnen allen der Reihe nach sein Spiel spielte. Zuerst mit ihm, dann mit Siemianitsch, dann mit diesen Revolutionären. Ein Spiel des Teufels … Er unterbrach sich in seinem ernsthaften Selbstgespräch mit dem ironischen Ausruf: »Hallo, ich verfalle scheint's auch in Mystizismus.«
Seine Seele war heiterer als je. Er wandte sich um und lehnte sich bequem mit dem Rücken gegen das Geländer. »Dies alles paßt wunderbar«, fuhr er fort zudenken. »Die Glorie meiner großen Tat ist nicht länger durch das Geschick meines angeblichen Genossen verdüstert. Dafür hat der mystische Siemianitsch gesorgt. Ein unglaublicher Glücksfall ist mir zuhilfe gekommen. Nun sind keine Lügen mehr nötig. Ich brauche nur noch zu hören und aufzupassen, daß meine Verachtung nicht über meine Vorsicht die Überhand gewinnt.«
Er seufzte, kreuzte die Arme, ließ das Kinn auf die Brust sinken und verharrte lange in dieser Stellung, bis er sich endlich zum Weggehen entschloß, aus dem dunklen Gefühl heraus, daß er für diesen Tag etwas besonders Wichtiges vorhabe. Was es war, daran konnte er sich augenblicklich nicht erinnern und strengte sein Gedächtnis auch nicht weiter an, denn er fühlte, daß es ihm ohnedies jeden Augenblick einfallen mußte.
Er war keine hundert Schritte gegen die Stadt zugegangen, als er plötzlich stehen blieb, beim Anblick einer Gestalt, die ihm entgegenkam, in einen Mantel und einen weichen, breitrandigen Hut gekleidet, malerisch, aber so winzig, als sähe er sie durch das verkehrte Ende eines Opernglases. Es war unmöglich, dem kleinen Mann auszuweichen, da ihm jeder Rückzug abgeschnitten war.
»Wieder einer, der zu der geheimnisvollen Versammlung geht«, dachte Rasumoff. Er hatte mit seiner Vermutung recht. Nur war dieser eine im Gegensatz zu den anderen, die von weither kamen, ihm persönlich bekannt. Er hoffte noch mit einem stummen Gruß vorbeizukommen, doch war es unmöglich, die kleine magere Hand mit haarigen Gelenken und Knöcheln zu übersehen, die sich mit freundlichem Schwung aus den Falten des Mantels heraus ihm entgegenstreckte. Dieser Mantel wurde trotz des ziemlich warmen Tages nach spanischer Art getragen, ein Zipfel über die Schulter geworfen.
»Und wie geht es, Herr Rasumoff?« fragte der andere deutsch und machte sich schon dadurch bei dem Gegenstand seiner höflichen Aufmerksamkeit noch unbeliebter. Aus der Nähe gesehen, erschien die kleine Persönlichkeit wie die Miniaturausgabe eines normalen Menschen mit hoher Stirn und einem großen pfeffer- und salzfarbenen Vollbart, der über die verhältnismäßig breite Brust herunterhing; eine feingeschnittene Nase sprang über den schmallippigen Mund vor, der unter dem dünnen Haar verborgen war. Die scharfen Züge, die gedrungenen Gliedmaßen sahen bei ihrer Kleinheit zart, aber durchaus nicht schwächlich aus. Nur die mandelförmigen braunen Augen waren zu groß und leicht blutunterlaufen, vom vielen Schreiben bei Lampenlicht. Die geheime Berühmtheit des kleinen Mannes war Rasumoff wohl bekannt. Ein Polyglott von unbekannter Herkunft und unbestimmter Nationalität, ein Anarchist von pedantischem und wildem Temperament, der die Macht hinreißendster Beredsamkeit in hohem Grade besaß und sich dabei immer im Hintergrund hielt, ein wütender Pamphletist –: das war Julius Laspara, der Herausgeber des »Lebenden Wortes«, der Vertraute von Verschwörern, der Urheber blutiger Drohungen und Manifeste, der im Verdacht stand, in jedes Komplott eingeweiht zu sein. Laspara lebte in der alten Stadt in einem finsteren, engen Haus, das ihm ein naiver Verehrer seiner menschenfreundlichen Beredsamkeit geschenkt hatte. Mit ihm lebten seine beiden Töchter, die ihn um mehr als Kopfeshöhe überragten, und ein blasser, schwächlicher Junge von sechs Jahren, der in den dunklen Räumen hinsiechte und vielleicht einer der beiden Töchter gehören mochte oder vielleicht auch nicht. Kein Fremder konnte das sagen. Julius Laspara wußte zweifellos, welches seiner Mädchen es war, die wie zufällig für ein paar Jahre verschwunden und ebenso zufällig einmal mit jenem Kinde zurückgekehrt war; doch hatte er sich mit bewundernswerter Pedanterie enthalten, sie nach irgendwelchen Einzelheiten zu fragen – nicht einmal nach dem Namen des Vaters, da die Mutterschaft eine anarchische Funktion sein sollte. Rasumoff war zu wiederholten Malen in den paar kleinen dunklen Zimmern im Dachgeschoß gewesen: verstaubte Fensterscheiben, Abfälle und Papierschnitzel, in unglaublicher Menge verstreut herumliegend, halbvolle Teegläser auf jedem Tisch, dazu die Laspara-Töchter, die in rätselhaftem Schweigen herumlungerten, mit verschlafenen Augen, ohne Korsett, und dabei gewöhnlich mit ihrem vernachlässigten Äußern und in der unordentlichen Umgebung alten Puppen glichen; der große und doch unbekannte Julius Laspara hielt mit den Füßen seinen dreibeinigen Stuhl umschlungen und schien immer im Begriff, die Feder wegzuwerfen und mit einem kühnen Schwung des Dreisessels herumzufahren, um Besuche zu empfangen. Wenn er von seinem Sessel herunterkam, dann sah es aus, als sei er von den Höhen des Olymps herabgestiegen. Er wurde von seinen Töchtern, von den Möbelstücken, von jedem Besucher von Durchschnittsgröße überragt. Er stieg aber sehr selten herunter und wurde noch seltener bei hellem Tage auf der Straße gesehen.
Es mußte eine wirklich wichtige Angelegenheit sein, die ihn an jenem Nachmittag da hinausgeführt hatte. Augenblicklich bemühte er sich, dem jungen Mann mit besonderer Liebenswürdigkeit zu begegnen, dessen Ankunft in den Kreisen der politischen Flüchtlinge einiges Aufsehen erregt hatte. Er erkundigte sich auf Russisch – das er sprach, so wie er vier oder fünf andere europäische Sprachen sprach und schrieb, ohne Unterschied und ohne Kraft –, ob Rasumoff schon an der Universität inskribiert habe, und als der junge Mann verneinend den Kopf schüttelte, fuhr er fort:
»Dazu bleibt Ihnen ja auch Zeit genug. Möchten Sie, bitte, inzwischen etwas für uns schreiben?«
Er konnte es nicht verstehen, wie irgend jemand es fertigbrachte, nicht über irgend etwas zu schreiben, über soziale, ökonomische, historische oder irgendwelche anderen Themen. Jedes Thema konnte vom richtigen Standpunkt aus im Sinne der sozialen Revolution behandelt werden. Zufällig sei ein Freund von ihm in London zu einer fortschrittlichen Revue in Beziehung getreten. »Wir müssen erziehen, alle Welt erziehen – den großen Gedanken der unbedingten Freiheit und der revolutionären Gerechtigkeit entwickeln helfen.«
Rasumoff murmelte ziemlich mürrisch, daß er nicht einmal Englisch könne.
»Dann schreiben Sie russisch. Wir werden es übersetzen lassen. Das hat nichts auf sich. Was! Da wäre ja Fräulein Haldin, ohne erst weiter zu suchen! Meine Töchter gehen sie mitunter besuchen.« Er nickte bedeutsam. »Sie tut nichts, hat nie in ihrem Leben etwas getan. Sie wäre mit ein wenig Nachhilfe gerade die richtige. Schreiben Sie nur. Sie müssen einfach. Und jetzt leben Sie wohl!«
Er winkte mit dem Arm und ging. Rasumoff lehnte sich gegen die niedrige Mauer, sah ihm nach, spuckte heftig aus und ging dann seines Weges mit einem wütend hervorgestoßenen:
»Verfluchter Jude!«
Er wußte es nicht genau. Julius Laspara hätte ebensogut ein Transsylvanier sein können – ein Türke, ein Andalusier oder ein Bürger einer der Hansastädte. Aber diese Geschichte spielt nicht in Westeuropa, und der Ausruf muß angeführt werden mit dem Bemerk, daß er lediglich einen Ausdruck des Hasses und der Verachtung darstellte, von denen Rasumoff zu jener Zeit erfüllt war. Er kochte vor Wut, als hätte man ihn gröblich beschimpft. Er rannte wie blind dahin und folgte instinktiv dem Ufer des kleinen Hafens den Kai entlang durch einen geschmacklosen, kleinen Garten, wo ebenso geschmacklose Leute auf Stühlen unter den Bäumen saßen. Als seine Wut nachgelassen hatte, fand er sich auf der Mitte einer langen breiten Brücke wieder. Er hielt sofort an. Zu seiner Rechten sah er hinter den spielzeugartigen Hafendämmen die grünen Hänge, die den Petit Lac einfaßten, mit der entzückenden Kitschigkeit bunten Glanzpapieres, und dahinter die Wasserfläche, glatt und glänzend wie Zinnblech.
Er wandte den Kopf von dieser Touristenaussicht ab und ging langsam weiter, die Augen zu Boden geschlagen. Ein oder zwei Leute mußten ausweichen und wandten sich nachher nochmals um, da ihnen seine Geistesabwesenheit aufgefallen war. Die Beharrlichkeit des gefeierten anarchistischen Journalisten wirkte merkwürdig in ihm nach. Schreiben! Schreiben müssen! Er! Schreiben!
Plötzlich ging ihm ein Licht auf. Eben an diesem Tag hatte er sich vorgenommen, zu schreiben. Er hatte sich unwiderruflich dazu entschlossen und hatte es dann wieder völlig vergessen. Diese unverbesserliche Sucht, sich den Notwendigkeiten der Situation zu entziehen, konnte ihn in ernstliche Gefahr bringen. Er verachtete sich deswegen. Was war es? Leichtsinn oder tiefsitzende Schwäche? Oder unbewußte Angst?
»Fürchte ich mich denn? Das kann nicht sein! Es ist unmöglich! Jetzt zurückzuschrecken, wäre schlimmer als moralischer Selbstmord; es wäre eine moralische Verdammung«, dachte er. »Ist es möglich, daß ich ein konventionelles Gewissen habe?«
Er verwarf diese Vermutung geringschätzig, machte an der Ecke des Bürgersteiges halt und schickte sich an, den Fahrdamm zu überqueren, auf die breite Straße hinunterzugehen, die auf die Brücke führt; aus keinem andern Grund, als weil sie gerade vor ihm lag. Im selben Augenblick aber kamen ihm ein paar Wagen und ein langsam fahrender Karren in den Weg, und er bog scharf nach links ab und folgte wieder dem Kai, doch diesmal vom See weg.
»Vielleicht bin ich körperlich nicht wohl«, dachte er und gestattete sich dabei einen ungewohnten Zweifel an seiner Gesundheit. Denn mit Ausnahme von ein oder zwei geringfügigen Kinderübeln war er in seinem Leben nie krank gewesen. Doch auch das war eine Gefahr. Es schien, als bekümmere man sich um ihn besonders sorgfältig. »Wenn ich an eine tätige Vorsehung glaubte«, sagte sich Rasumoff mit grimmigem Spott, »so würde ich hierin das Walten eines ironischen Gottesfingers sehen. Daß mir ein Julius Laspara in den Weg laufen muß, als sollte er mich ausdrücklich an mein Vorhaben erinnern, das ist … Schreiben, hat er gesagt. Ich muß schreiben, – ich muß wirklich! Ich werde schreiben – keine Angst – gewiß. Dazu bin ich ja hier. Und in Hinkunft werde ich auch etwas zu schreiben haben.«
Er spornte sich in seinem Selbstgespräch weiter an. Der Gedanke an das Schreiben brachte ihn aber auf den andern, daß er dazu einen Platz haben müsse. Einen ungestörten Unterschlupf; dabei fiel ihm natürlich seine Wohnung ein, und er empfand einigen Verdruß bei dem Gedanken, dahinzugehen, und ein leichtes Mißtrauen, als erwarte ihn in jenen verhaßten vier Wänden irgendein feindlicher Einfluß.
»Gesetzt den Fall«, fragte er sich, »einer dieser Revolutionäre käme auf die Idee, bei mir vorzusprechen, während ich schreibe?« Bei der bloßen Vorstellung einer solchen Unterbrechung schauderte er zusammen. Man konnte seine Türe versperren oder den Tabakhändler im Erdgeschoß (der selbst eine Art Flüchtling war) anweisen, er sollte allen etwaigen Besuchern sagen, Herr Rasumoff sei nicht zu Hause. Doch dies alles waren keine sehr wirksamen Schutzmaßregeln. Er fühlte, daß er sein Leben von jedem leisesten Anhaltspunkt für Verdacht oder sogar für Staunen frei halten mußte bis hinab zu so geringfügigen Anlässen, wie es das verzögerte Öffnen einer versperrten Tür sein konnte.
»Ich wünschte, ich wäre mitten in irgendeiner Steppe, meilenweit von allem entfernt«, dachte er.
Er war unbewußt nochmals nach links abgebogen und fand sich nun wieder auf einer Brücke. Diese war viel enger als die erste und nicht gerade, sondern machte einen Bogen oder Winkel. Am Scheitelpunkt dieses Winkels führte ein kleiner Weg zu einem sechseckigen Inselchen, dessen Boden mit Kies bestreut und dessen Ufer mit behauenen Steinen eingefaßt waren. Ein paar schlanke Pappeln und andere Bäume ragten aus dem sauberen, dunklen Kies, zu ihren Füßen standen ein paar Gartenbänke und eine Bronzebüste von Jean-Jacques Rousseau auf einem Piedestal.
Rasumoff trat näher und bemerkte sofort, daß er auf dem Eiland bis auf die Frau in der Erfrischungsbude allein sein würde. Es lag eine naive und abstoßende, alberne Einfalt über der unbesuchten winzigen Erdscholle, die nach Jean-Jacques Rousseau genannt war. Auch etwas wie prätentiöse Dürftigkeit. Er verlangte ein Glas Milch, trank es stehend in einem Zug aus (seit dem Morgen hatte er nichts als Tee über die Lippen gebracht) und wollte eben mit müden schleppenden Schritten weitergehen, als ihn ein plötzlicher Gedanke innehalten ließ. Er hatte genau das gefunden, was er suchte. Wenn Einsamkeit im Freien mitten in einer Stadt überhaupt zu erreichen war, dann mußte er sie auf diesem lächerlichen Eiland finden können, zugleich mit der Möglichkeit, den einzigen Zugangsweg zu überblicken.
Er ging zu einer der Gartenbänke und ließ sich schwerfällig darauf nieder. Das war der rechte Ort, mit dem Schriftstück zu beginnen, das er vollenden mußte. Das Material dazu hatte er bei sich. »Ich werde immer hierher kommen«, sagte er sich und saß dann eine ganze Weile reglos, ohne zu denken, zu sehen, zu hören, fast ohne Leben. Die Sonne verschwand hinter den Dächern der Stadt in seinem Rücken und warf die Schatten der Häuser auf den Seespiegel vor der Insel, bevor er endlich eine Feder aus der Tasche zog, ein kleines Notizbuch auf dem Knie aufschlug und rasch zu schreiben begann; hin und wieder warf er einen spähenden Blick auf den Zugang von der Brücke her. Diese Blicke waren überflüssig; die Leute, die in der Ferne vorübergingen, schienen nicht einmal einen Blick auf die Insel zu werfen, wo das verbannte Standbild des Autors des »Contrat social« in düsterer, bronzener Unbeweglichkeit sich über Rasumoffs gesenktem Kopf erhob. Nachdem er seine Schreiberei beendet hatte, versorgte Rasumoff mit fiebriger Hast die Feder und stopfte das Notizbuch in seine Tasche, nicht ohne zuerst die beschriebenen Seiten mit einer fast konvulsivischen Bewegung herausgerissen zu haben. Die losen Blätter aber glättete er nachdenklich und säuberlich auf seinem Knie, lehnte sich dann zurück und verharrte regungslos mit den Papieren in der linken Hand. Die Dämmerung war tiefer geworden. Er stand auf und begann langsam unter den Bäumen auf und ab zu gehen.
»Es gibt gar keinen Zweifel darüber, daß ich nun sicher bin.« Sein scharfes Ohr konnte das schwache Rauschen des Stroms vernehmen, der sich an der Spitze der Insel brach. Er hörte gespannt darauf hin und vergaß darüber sich selbst. Der Schall aber war so schwach, daß er sich selbst seinem feinen Gehörsinn schließlich entzog.
»Eine ganz außergewöhnliche Beschäftigung, der ich mich da hingebe«, murmelte er, und es fiel ihm ein, daß dies so ziemlich der einzige Laut war, dem er harmlos und zu seinem eigenen Vergnügen lauschen konnte. Jawohl, das Rauschen des Wassers, die Stimme des Windes … die den menschlichen Leidenschaften so ganz fremd waren; alle anderen Geräusche dieser Erde beschmutzten die Einsamkeit einer Seele.
Dies waren Herrn Rasumoffs Gedanken; mit der Seele war seine eigene gemeint, wobei er das Wort aber nicht im theologischen Sinne gebrauchte, sondern vielmehr, soviel ich sehen kann, als Bezeichnung für jenen Teil seines Ichs, der nicht sein Körper war und den die Flammen dieser Welt besonders bedrohten. Es muß zugegeben werden, daß in Herrn Rasumoffs Fall die Bitterkeit der Einsamkeit, unter der er litt, nicht auf durchaus krankhafter Einbildung beruhte.