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In diesem Augenblick erwachte der junge Mann.

Zwölftes Kapitel.
Ein studierter Gast.

Sein Äuß'res gleicht den andern, doch sein Geist
Ragt hoch hinaus; er hat das Herz der Mutter
Und einen reinen, frommen Kindersinn.

Der August war gekommen, und die Hundstagshitze färbte die Ähren auf dem Felde immer goldiger, die Beeren in der Heide immer röter. Magdalene war müde: sie hatte den ganzen Tag geholfen, die Vorbereitungen für morgen zu treffen: morgen sollte die Ernte beginnen, und die Bewohner der Nachbarhöfe sollten kommen, um denen von Schloß Doué hilfreiche Hand zu leisten. Da gab es viele hungrige Mäuler zu speisen; man hatte die großen Gefäße gescheuert, die gewöhnlich nicht gebraucht wurden, und im größten Raum des Hauses Holz und Reisig am Kamin aufgeschichtet, den Kohl und die Speckseiten zur Suppe, das Buchweizenmehl zu den Klößen und Kuchen zurechtgestellt. Im Milchkeller standen große Satten voll dicker Milch bereit, wovon Klaudine den größten Teil geliefert hatte. Michel, der die Sicheln geschärft und die Tenne gesäubert hatte, um für die Garben Platz zu machen, ruhte bei seinem Pfeifchen auf der steinernen Bank vor dem Hause aus, Monika hatte ihr Spinnrad vorgenommen, Katharina und Anna bereiteten die Abendmahlzeit. Magdalene setzte sich einen Augenblick im Hause nieder, aber es war dort drückend heiß, und das Bild des kleinen, grünen Gehölzes, das sie so sehr liebte, stand plötzlich verlockend vor ihrer Seele. »Dort wird sich's köstlich ruhen,« dachte sie, und ohne zu bedenken, daß sie diese Ruhe durch einen weiten Gang erkaufen müsse, machte sie sich auf den Weg.

Die Sonne war im Sinken, und rosige Abendwölkchen bedeckten den Himmel, als sie im Gehölz ankam. Sie blickte um sich und lauschte: wie still und friedlich war alles rings umher! Sie bog die Zweige zurück, drang ins Innere und suchte den moosigen Fleck, wo sie zu ruhen pflegte.

Der Platz war besetzt, und Magdalene konnte kaum einen Ruf des Erstaunens und Ärgers zurückhalten. Wer hatte es gewagt, in ihr Wäldchen zu dringen und sich auf ihren Moosteppich zu legen? betrachtete sie doch mit dem Recht des ersten Entdeckers dies grüne Nestchen, in dem sie noch nie jemand getroffen hatte, als ihr Eigentum. Sollte sie den Eindringling verjagen? Aber eigentlich hatte sie kein Recht dazu; fortgehen mochte sie auch nicht, denn sie wollte sich nach einem anstrengenden Tage die Mühe des weiten Weges nicht vergeblich gemacht haben. Sie setzte sich hinter den mächtigen Eichenstamm in das hohe Gras; von dort aus konnte sie den Schläfer beobachten und ungesehen entschlüpfen, ehe er seine Arme und Beine ausgereckt hätte, wie es die Leute zu thun pflegen, die auf platter Erde geschlafen haben.

Es war ein junger Mann von etwa neunzehn Jahren, mit lang wallendem, blondem Haar, ohne einen Anflug von Bart. Magdalene erinnerte sich nicht, dies bleiche, hohlwangige Gesicht mit den tiefliegenden Augen und der breiten Stirn schon je gesehen zu haben, und doch kam es ihr bekannt vor. Reich und vornehm war der junge Mensch sicher nicht; er trug die gewöhnliche, bäuerliche Tracht von weißer Leinwand, sein langer Körper füllte seine dürftigen Kleidungsstücke, die tadellos sauber, aber vielfach geflickt waren, nicht aus; sein alter Hut war mit wollenen Schnüren verziert, wie es hier zu Lande Sitte war, und neben ihm lag ein Sack, wie ihn die Bettler trugen. Aber sein Inhalt schien nicht in Brotstücken zu bestehen, es waren rechtwinklige Gegenstände von verschiedener Größe darin. »Sollten es Bücher sein?« dachte Magdalene; aber ein Bettler hat keine Bücher – »ein wandernder Buchhändler?« Aber der würde seine Ware nicht in einen Sack stecken, und was sollte ein solcher hier, wo niemand lesen konnte?

Neugierig glitt sie aus ihrem Versteck hervor und näherte sich dem Schläfer. Es waren wirklich Bücher, die er bei sich hatte, und er mußte vor dem Einschlafen gelesen haben, denn ein kleines, sehr abgenutztes Buch lag neben seiner geöffneten Hand. Sie beugte sich vor, um den Titel zu lesen – er war lateinisch!

In demselben Augenblick erwachte der junge Mann, richtete sich halb auf und stützte sich auf seine Ellbogen; sie war so erschrocken, daß sie stehen blieb und gar nicht daran dachte, zu entfliehen. Er wurde bei ihrem Anblick sehr verlegen, stammelte einen Gruß und erklärte ihr, er habe einen weiten Weg gemacht und sich ein wenig ausruhen wollen, ehe er nach Schloß Doué wandere. Damit stand er auf, warf seinen Sack über die Schulter und steckte das Buch in die Tasche.

»Nach dem Schloß?« sagte Magdalene, »von dorther komme ich eben.« Er blieb stehen, sah sie aufmerksam an und nahm seinen großen Hut ab. »Sie sind Fräulein Garay, nicht wahr?« fragte er höflich.

»Jawohl,« versetzte sie erstaunt, »aber woher wissen Sie meinen Namen?«

»Ich kenne sowohl Ihren Namen, als Ihre Geschichte, und das ist kein Wunder, denn ich bin Lorenz Tregan. Haben Sie mich noch nicht nennen hören?«

»O doch!« sagte Magdalene sehr beruhigt. »Es ist ja wahr, die Ferien fangen um diese Zeit an, und Sie kommen vom Seminar. Aber wie konnten Sie mich erkennen? Hat Ihnen jemand geschrieben …«

Lorenz lächelte. »Nein, bei uns kann niemand schreiben, aber es giebt noch andere Mittel, um etwas zu erfahren. Kennen Sie vielleicht den alten Kerlo?«

»Ach, er hat Ihnen von mir erzählt!«

»Jawohl, er besucht mich jedesmal, wenn er durch Pontivy kommt, um mir Nachrichten aus der Heimat zu bringen. Er hat mir erzählt, daß Sie hier sind, aber Ihre Geschichte hatte ich schon in der Zeitung gelesen und habe mir alles verschafft, was darüber in die Öffentlichkeit drang.«

»Es interessierte Sie also?«

»Können Sie das noch fragen nach dem, was Sie und Ihr Vater für uns gethan haben? Ich war tief betrübt über Ihr trauriges Schicksal, und als ich später von Jean Kerlo hörte, daß Sie im Schlosse wären, habe ich Gott gedankt, daß er uns einen Weg zeigte, um Ihnen unsere Dankbarkeit zu beweisen – ich sage nicht unsere Schuld abzutragen, o nein! solche Schulden lassen sich nie bezahlen, und die Dankbarkeit ist ein Gefühl, das man gern bewahrt. Möchte es Ihnen nur nicht zu schlecht bei uns gefallen!«

»Es geht mir hier sehr gut,« erwiderte Magdalene lebhaft – sie hätte um alles in der Welt Lorenz nichts von ihrer Unzufriedenheit mit vielen Dingen ahnen lassen mögen. Sie begab sich mit ihm zusammen auf den Heimweg, doch sprach er nicht mehr, sondern sah sich nur mit heiterem Gesicht nach allen Seiten um, als ob er die Bäume und Abhänge, die Hütten und Fußpfade begrüßen wollte. Die Abendglocke ertönte: Lorenz nahm seinen Hut ab und blieb stehen, bis die letzten Klänge des Geläutes verstummt waren. Auch Magdalene hemmte ihren Schritt und betrachtete ihn heimlich: er war sehr verschieden von den übrigen Hausgenossen und erschien ihr jetzt viel weniger häßlich als zuerst, da sie ihn schlafend gefunden; die flatternden, blonden Haare, die großen, blauen Augen, welche in ihren tiefen Höhlen wunderbar glänzten, gaben seiner Erscheinung einen Hauch von Poesie, den sie noch bei keinem der Bauernburschen gefunden hatte, die sie in der Kirche sah. Ein seltsamer Mensch! er sprach ein reines, gutes Französisch, und seine Redeweise bildete einen auffallenden Kontrast gegen seine ärmliche Kleidung. Er selbst schien dadurch nicht im mindesten bedrückt, er sprach und bewegte sich vollkommen frei und ungezwungen, und sein fester, gelenkiger Gang hatte nichts von dem ungraziösen Wiegen der übrigen Landleute. Einmal hielt er noch still und blickte von einer kleinen Anhöhe auf den klaren, glänzenden Spiegel des Doué herab, hinter dem sich das Haus mit den beiden Türmchen zwischen schattigen Bäumen erhob.

»Dies ist ein hübscher Anblick,« sagte Magdalene, »und gewiß sind Sie froh, hierher zurückzukehren.«

»Von Herzen froh! Doch erinnere ich mich sehr wohl, daß es mir früher nie einfiel, dies schön zu finden; man muß es erst lernen, die Dinge mit rechten Augen anzusehen. Sie verstanden es wohl gleich, Ihre Augen zu gebrauchen?«

»Zuerst nicht, ich war zu traurig dazu, aber es ist nachher schnell gekommen. Es giebt hier Plätze, deren ich nie überdrüssig werde: das kleine Gehölz, in dem ich Sie fand …«

Ein Freudenschrei unterbrach sie, Katharina, welche ihre abendliche Runde um den Hof machte, hatte ihren Sohn von weitem gesehen und kam mit dem lauten Ruf: »Lorenz, mein Lorenz!« auf ihn zu. Er lief ihr entgegen, und Magdalene sagte sich, als sie die zärtliche Begrüßung mit ansah: dies ist ihr Liebling, denn so innig küßt sie weder Anna, noch den kleinen Ludwig!

Mutter und Sohn traten ins Haus, und das junge Mädchen folgte ihnen. Sie sah, wie Lorenz seinen Vater umarmte und vor Jakob und Monika das Knie beugte: von den alten Großeltern begehrte der Enkel einen Segen, nicht eine Liebkosung. Anna erschien ebenfalls; Ludwig erkannte den Bruder anfangs nicht wieder, wurde aber bald zutraulich und erinnerte sich sogar seines Namens. Er setzte sich auf das Knie des Ankömmlings und blieb dort unbeweglich sitzen, indem er kein Auge von ihm verwandte und seinen Worten aufmerksam lauschte. Plötzlich gewahrte er ein Sträußchen Feldblumen in des Bruders Westentasche, er zog es heraus, und von dem Wunsche beseelt, seine Kenntnisse zu zeigen, rief er: »Lorenz, das ist eine Kornblume!«

»Sieh, mein kleiner Ludwig,« sagte Lorenz sehr überrascht, »du bist seit dem vorigen Jahre ja sehr gescheit geworden. Und weißt du auch den Namen dieser Blume?«

»Das ist Heidekraut,« rief der Knabe triumphierend, »und das ist ein Maßliebchen, das ist eine Glockenblume und das eine Königskerze …«

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Ludwig setzte sich auf das Knie des Ankömmlings.

»Sehr brav, Ludwig, sehr brav. Wer hat dich alle diese Namen gelehrt?«

»Sie!« sagte er und zeigte auf Magdalene. »Sie hat mich auch gelehrt, ein Feld ausjäten.«

»Das heißt, sie macht einen nützlichen Menschen aus dir, mein Kleiner, das ist eine große Wohlthat, die sie dir erweist. Bist du ihr auch recht dankbar dafür?«

Dies waren für den Knaben schon zu hohe Worte, die er nicht begreifen konnte; er sah Lorenz und Magdalene mit großen Augen an, dann glitt er vom Knie des Bruders herab und warf sich dem jungen Mädchen in die Arme.

»Er weiß nicht, was danken heißt,« sagte Lorenz, »aber er liebt Sie, das ist alles, was er versteht, der arme Junge.«

»Sein Geist klärt sich etwas auf,« versetzte sie. »vielleicht wird doch noch einmal etwas Rechtes aus ihm werden.«

»Bah,« sagte die alte Monika achselzuckend, »er wird wohl nicht über das Jäten hinauskommen, und vielleicht wäre es besser, er bliebe lieber ganz einfältig, dann würde er weniger Mühe haben, sich sein Brot zu erwerben.«

Monika war diesen Abend nicht in guter Laune; vielleicht war sie eifersüchtig, weil sich Lorenz hauptsächlich mit Ludwig und Magdalene beschäftigte. Jedenfalls war dies nicht die rechte Art, ihn für sich zu gewinnen, denn er biß sich auf die Lippen und verschluckte eine Entgegnung, die ihm vielleicht nicht respektvoll erschien. Man trennte sich früh, denn die Arbeit sollte morgen vor Sonnenaufgang beginnen. –

Der Erntetag erschien Magdalenen nicht lang, obgleich sie weder an ihre Bücher kam, noch einen Augenblick Ruhe fand. Es gab mehrere Felder zu mähen, die nicht aneinander grenzten; ein Teil lag nahe am Hofe, ein anderer an der entlegensten Ecke der Besitzung. Die Mäher, denen die letztere Arbeit zufiel, würden zu viel Zeit verloren haben, wenn sie mittags nach dem Schlosse zurückgekehrt wären, daher wollte man ihnen ihr Mittagsbrot aufs Feld hinausbringen. Dies würde nicht allen zugesagt haben, und gemietete Arbeiter hätten vielleicht laut gemurrt und ihre Ruhestunde im Hause verlangt wie die anderen, aber Michel und Lorenz arbeiteten selbst dort, und wenn die Herren keine Mühe scheuen, so folgen die Untergebenen ihnen gern. Außerdem hatten sie die Burschen, die ihnen dort halfen, gut gewählt: die hübsche Anna gefiel ihnen, und sie wußten, daß sie nicht mit leeren Händen in das Haus ihres zukünftigen Gatten treten würde. Dies war ihre Art, ihr den Hof zu machen: so diente Jakob dem Laban sieben Jahre und noch einmal sieben Jahre um die Hand der Rahel.

Als die alte Kuckucksuhr im Schlosse die Mittagsstunde verkündete, nahm Katharina den schweren Kessel mit der Kohlsuppe vom Haken, schnitt soviele Stücke Speck hinein, wie Ernteleute auf dem entfernten Felde waren, füllte einen Henkeltopf mit Milch und Klößen und setzte in einen Korb einen großen Krug mit Apfelwein, Schüsseln und Löffel. Anna sollte den Korb tragen, sie selbst wollte die Töpfe nehmen. Aber die alte Monika fragte unwillig, ob sie allein all die Leute im Hause versorgen sollte. Sie sei alt und schwach, sie würde nie damit fertig werden, das Mittagsessen würde zwei Stunden dauern, und all diese Zeit würde für die Arbeit verloren gehen. Katharina mußte also zu Hause bleiben, und Anna sollte noch einmal wieder kommen; sie machte ein böses Gesicht dazu, aber Magdalene hatte schon den Korb ergriffen, und obgleich Katharina es nicht zugeben wollte, so eilte sie doch damit aus der Thür und hörte noch im Fortgehen Mutter Tregan sagen: »Laß sie doch, sie ist ja kein Zuckerpüppchen, das in der Sonne zerschmelzen könnte; sie ist groß genug, um zu arbeiten, statt immer bei ihren Büchern müßig zu sitzen.« Monika konnte es einmal nicht begreifen, daß Lesen und Schreiben auch eine Arbeit sei.

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