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Bengele wanderte durch den Bauch des Großen Hai. Vorsichtig und langsam versuchte er einen Schritt nach dem andern. Die Richtung gab ihm der ferne Lichtschein an.
Der Weg war schrecklich. Der Hampelmann trat in der Dunkelheit auf alle möglichen Dinge und erschrak sehr oft. Einmal patschte er in etwas Weiches und Schlüpfriges. Ein starker Fischgeruch stieg ihm in die Nase. – Unwillkürlich dachte er an das Netz des grünen Fischers, in dem er mit den vielen Fischen gezappelt hatte.
Immer deutlicher konnte Bengele die Dinge unterscheiden; mehr und mehr hellte der Weg sich auf. Endlich stand er vor dem Lichte und sah ... na, was? – Nie würdet ihr es erraten. – Er sah einen gedeckten Tisch, auf ihm stand, in eine leere Weinflasche gesteckt, eine Kerze. Hinter dem Tische saß ein alter Mann. Ein langer Bart verdeckte seine Brust, das weiße Haar fiel in langen Strähnen von seinem Haupte. Er hatte ein Paar ungekochte Fischlein vor sich liegen und aß davon.
Einen Augenblick stand Bengele unbeweglich da wie eine Bildsäule. Er wollte lachen, weinen, reden; aber er brachte nichts fertig. Nur ein paar unverständliche Worte kamen über seine Lippen. – Endlich ein lauter Freudenschrei, und mit ausgebreiteten Armen flog er dem weißen Alten an den Hals. –
»O, lieber, lieber Vater! Jetzt habe ich dich doch noch gefunden, und jetzt gehe ich nie mehr von dir fort, nie, nie mehr.«
Der Alte wischte sich die Augen aus und sagte: »Ist es wahr? – Ist es keine Täuschung? – Bist du es wirklich, mein lieber Bengele?«
»Freilich bin ich's. Ich bin's, dein Bengele. – Gelt, du hast mir alles verziehen? – Lieber Vater, wie gut du bist! – Und ich ... Aber wenn du wüßtest, wie ich es büßen mußte! Ich habe immer Unglück gehabt, und es ist mir immer schlecht gegangen. – An jenem Tage, wo du deinen Kittel verkauft hast, ging ich nicht in die Schule, sondern zum Kasperletheater. – Der Direktor Feuerschlund wollte mit mir seinen Hammel braten; aber am Schluß gab er mir fünf Goldstücke. Ich solle sie dem Vater bringen, hat er gesagt. Aber da kam der Fuchs und die Katze. Wir gingen in den ›Geleimten Vogel.‹ Dort haben sie wie ausgehungerte Wölfe gefressen. Ich ging in der Nacht weiter, und die Räuber haben mich angepackt. Ich bin davongerannt, aber sie kamen immer hinter mir her. Dann henkten sie mich an der ›Großen Eiche‹. Aber das schöne Mägdlein mit dem goldenen Haar hat mir seine Kutsche geschickt und die Ärzte sagten: ›Wenn er nicht tot ist, so lebt er noch‹ – Dann habe ich ein wenig gelogen, und meine Nase ist so schrecklich lang geworden, daß ich nicht mehr zur Tür hinauskam. Und dann ging ich mit dem Fuchs und der Katze aufs Wunderfeld mit vier Goldstücken, weil ich eines dem Wirt zum ›Geleimten Vogel‹ geben mußte. – Der Papagei hat mich ausgelacht, weil ich keine zweitausend Goldstücke bekam und die vier auch nicht wieder. Deshalb hat mich der Richter ins Gefängnis werfen lassen; er hat den Dieben noch geholfen. – Dann habe ich Hunger gehabt und wollte mir ein Traubenbeerchen abrupfen, und dort ist eine Marderfalle gewesen. Deshalb hat mich der Bauer zum Hofhund gemacht; aber ich war treu, und er hat mich fortgelassen. Die Schlange, die so arg mit dem Schwanze rauchte, hat auch lachen müssen, als ich in den Schmutz fiel, und dann ist sie gestorben. Auch die gute Fee war tot; aber der große Täuber hat mich ans Meer getragen und gesagt: ›Ich habe deinen Vater gesehen, er macht einen Kahn am Meer und will dich suchen.‹ Da habe ich gesagt: ›Wenn ich nur Flügel hätte wie du‹, und er hat gesagt: ›Willst du zu deinem Vater?‹ – ›Schon!‹ habe ich gesagt, ›aber wer trägt mich zu ihm?‹ ›Ich‹, hat der Täuber gesagt; deshalb bin ich ihm auf den Rücken gesessen, und wir sind Tag und Nacht geflogen. Aber am Meer haben die Fischer gesagt: ›Dort geht ein Mann mit seinem Kahne unter.‹ Ich habe dich gleich erkannt und dir gewinkt, du sollst ans Ufer kommen.«
»Ich habe dich auch erkannt«, sagte Seppel, »und wäre gern zurückgefahren; aber das Meer war wild, und eine große Welle hat mir den Kahn umgeschlagen. Es kam der schauerliche Große Hai und verschlang mich.«
»Wie lang bist du jetzt schon hier?« fragte Bengele. – »Heute sind es genau zwei Jahre – zwei Jahre, so lang wie die Ewigkeit.«
»Wie hast du leben können? Wo hast du die Kerze her und die Streichhölzer?«
»Das will ich dir alles erzählen. – In dem schrecklichen Unwetter ging auch ein großes Segelschiff unter. Die Seeleute retteten sich alle, als das Schiff sank. – Der Große Hai hatte gerade an diesem Tage einen Riesenhunger und verschlang das ganze Schiff.«
»Was! – Und hat es auf einmal hinuntergeschluckt?«
»Jawohl! – Nur der große Mastbaum blieb ihm wie ein Zahnstocher in den Zähnen hängen, er lockerte ihn mit der Zunge und spuckte ihn wieder aus. – Das Schiff war mein Glück. Ich fand darin Fleisch in Konservenbüchsen, Brot, Zwieback, Rosinen, Wein, Käse, Zucker, Kaffee und Kerzen. Auch einige Pakete Streichhölzer habe ich gefunden. Zwei Jahre lang hat mir dieser Vorrat ausgereicht; aber jetzt ist alles verbraucht und aufgezehrt. Die Kerze, die hier brennt, ist die letzte.«
»Und dann?«
»Dann, mein lieber Sohn, müssen wir im Dunkeln leben.«
»Nein, Vater! Jetzt ist keine Zeit zu verlieren; wir müssen uns retten.«
»Retten? – Unmöglich! – Wie?«
»Durch das Maul des Ungeheuers gehen wir zurück und springen ins Meer.«
»Du hast gut reden, Bengele; ich kann nicht schwimmen.«
»Macht nichts. Ich nehme dich auf den Rücken. Wir sind nah am Lande.«
»Es geht nicht, Bengele«, sagte Seppel und schüttelte traurig den Kopf. – »Du bist nicht stark genug, um mich zu tragen.«
»Den Mutigen hilft Gott. Wir wollen die Rettung wagen. Sollte es bestimmt sein, daß wir umkommen, so sterben wir miteinander.«
Bengele nahm die Kerze und leuchtete voran. Sie gingen durch den Magen des Fisches und kamen an den weiten Schlund. Hier wollten sie den günstigen Augenblick zur Flucht abwarten.
Der Große Hai war sehr alt und schlief wegen seiner Atemnot stets mit weit geöffnetem Maule. Auch jetzt streckte er seinen Kopf über das Wasser und die beiden Flüchtlinge sahen vom Schlunde aus durch das offene Riesenmaul. Vom Himmel blickten freundlich helle die Sterne und der Mond; das Wasser mußte ganz ruhig sein, kein Rauschen war zu vernehmen.
»Wir haben es gut erraten«, lispelte Bengele dem Vater zu; »der Große Hai schläft wie ein Sack. Vorwärts mit Gott!«
Sie schlüpften durch den Schlund und traten auf die Zunge des Ungeheuers. Sie war so breit wie die Kieswege in den Anlagen. – Auf den Zehenspitzen gingen die beiden bis an die Zähne. – O weh! – Das Trippeln hatte den Großen Hai auf der Zunge gekitzelt, er nieste und schüttelte den Kopf so heftig aufwärts, daß Seppel und Bengele mit einem Ruck in den Magen zurückgeschleudert wurden.
Die Kerze ging bei dem Luftzuge aus und es war dunkler wie zuvor.
»Und jetzt?« fragte Bengele nachdenklich.
»Jetzt sind wir für immer verloren.«
»Ich gebe die Hoffnung nicht auf. – Gib mir die Hand, Vater! – Sieh zu, daß du nicht ausgleitest; wir versuchen es noch einmal.«
Ohne daß der Große Hai es merkte, kamen sie diesmal über die lange Zunge. Bengele half dem Vater über die drei Reihen Zähne; jetzt standen die zwei am Rande des Riesenmaules. Das Wasser spielte leise um ihre Füße, vor ihnen lag das weite, freie Meer.
»Setze dich auf meinen Rücken, Vater, und halte dich fest!« flüsterte Bengele.
Sanft glitt der Hampelmann ins Wasser und schwamm mit dem teuern Vater davon.
Der Große Hai schlief weiter und merkte nicht, was vorgefallen war.