Carlo Collodi
Pinocchio - Die Geschichte vom hölzernen Bengele
Carlo Collodi

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Sechsunddreißigstes Stück.

Der Große Hai.

Ohne ein bestimmtes Ziel schwamm Bengele dahin. Da zeigte sich seinem Blicke ein blendend weißer Marmorfelsen, der weit über den Wasserspiegel emporragte. Auf der Spitze stand eine wunderhübsche Ziege; der Hampelmann hörte sie meckern und sah, wie sie ihm mit dem rechten Vorderfuße winkte. Er schwamm näher und erkannte deutlich, daß das Fell der Ziege so golden glänzte wie das Haar der Mutter Fee.

Dem Hampelmann pochte das Herz laut. Mit verdoppelter Kraft schwamm er dem Felsen zu. Schon war er nahe am Ziel, da erblickte er von der Seite den Kopf eines riesigen Tieres. Dreireihig blinkten die Zähne aus dem weitaufgerissenen Maule. Den Mutigsten hätte die Angst erfaßt.

Kennt ihr dieses Ungeheuer? – Das war der Große Hai, von dem ihr schon gehört habt.

Bengele entsetzte sich in der tiefsten Seele. Näher und näher kam der grausige Rachen und gähnte ihm entgegen wie ein todbringender Abgrund.

»Schnell, schnell, Bengele«, meckerte die Ziege auf dem Felsen. Der Hampelmann strampelte mit Händen und Füßen.

»Rasch, Bengele, das Untier kommt! – Rasch, oder du bist verloren.«

Bengele schwamm so schnell er konnte; wie ein Pfeil schoß er durchs Wasser; schon hatte er die Hand am Felsen; die Ziege streckte ihm einen Fuß entgegen, um ihm herauszuhelfen, da ...

Es war zu spät. Das Ungetüm hatte ihn erschnappt. Es zog den Atem ein und der arme Bengele zappelte mit dem Wasser in den Rachen des Großen Hais. Das ging so rasch, wie man ein rohes Ei austrinkt. Bengele rutschte mit solcher Geschwindigkeit durch den Schlund des Ungeheuers, daß er wie ein Sack in eine Ecke des Magens fiel. Ohnmächtig lag er über eine Viertelstunde da.

Als der Hampelmann wieder zu sich kam, begriff er lange nicht, wo er war. Um ihn herum lagerte eine Dunkelheit, so undurchdringlich wie in einem Tintenfaß. Nebenan ließ sich ein gleichmäßiges Brausen hören. Es dröhnte wie ein ferner Wasserfall. Nach einiger Zeit erfaßte Bengele die Ursache des Getöses. – Der Große Hai litt an Atemnot. Sein Schnaufen brauste wie ein Wintersturm in den gewaltigen Kiemen.

Bengele war kein Hasenfuß. – Aber je mehr er darüber nachdachte, daß er im Bauche des Seeungeheuers lebendig begraben sei, desto banger wurde ihm ums Herz.

»O ich Unglückseliger!« jammerte er; »nun ist alles verloren. Hier kann niemand mehr helfen – niemand!«

»Das scheint mir auch der Fall«, ließ sich aus der Dunkelheit eine heisere Summe vernehmen.

»Wer spricht da?« fragte Bengele und zitterte noch mehr.

»Ich, ein armer Delphin. Der Große Hai hat uns zusammen verschluckt. – Was für ein Fisch bist du?«

»Ich bin kein Fisch, sondern ein Hampelmann.«

»Warum hast du dich dann verschlucken lassen, wenn du kein Fisch bist?«

»Ich habe mich doch nicht verschlucken lassen, sondern das Ungetüm hat mich verschluckt. Was sollen wir jetzt machen in diesem dunklen Loch?«

»Abwarten, bis wir zusammen verdaut werden.«

»Aber ich will nicht verdaut werden«, heulte Bengele.

»Ich habe auch kein besonderes Verlangen danach«, meinte der Delphin; »aber ich ergebe mich in alles. – Ich bin ein Delphin; im Wasser ward ich geboren und, wenn es sein muß, will ich auch im Wasser sterben. – Was ist schlimmer für mich: vom Großen Hai im blauen Meer verdaut zu werden, oder daß mich die tückischen Menschen fangen und auf der Erde verzehren?«

»Dumme Redensarten!« versetzte Bengele dem weisen Fische.

»Das ist nun einmal meine Auffassung«, sagte dieser gelassen, »und eine Weltanschauung sollte man immerhin respektieren.«

Bengele dachte an andere Dinge und sprach: »Überhaupt will ich da wieder hinauskommen; ich werde fliehen.«

»Fliehe nur, wenn du kannst!«

»Ist dieser Große Hai sehr groß?«

»Ohne Schwanz mißt er ein Kilometer; nun mache dir ein Bild!«

Bengele glaubte auf einmal von weitem ein Licht zu sehen.

»Was mag das dort für ein Licht sein?« fragte er den Delphin.

»Wohl auch ein armer Verschluckter, der mit uns aufs Verdautwerden wartet.«

»Ich werde ihn aufsuchen. Vielleicht ist es ein alter, kluger Fisch, der sagen kann, wie wir uns am besten davonmachen.«

»Ja gehe, liebes Hampelchen, Gott schütze dich auf dem Wege.«

»Adieu, Delphin!«

»Adieu, Hampelchen, viel Glück!«

»Wo treffen wir uns wieder?«

»Das weiß der Himmel; es ist besser, gar nicht darüber nachzudenken.«


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