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Wir haben den freiwilligen Rückzug in das Innere des Landes als eine eigene mittelbare Widerstandsart angesehen, bei welcher der Feind nicht sowohl durch das Schwert als durch seine eigenen Anstrengungen zugrunde gehen soll. Es wird also hierbei entweder gar keine Hauptschlacht vorausgesetzt oder der Zeitpunkt derselben so spät angenommen, daß die feindlichen Kräfte schon beträchtlich geschwächt sind.
Jeder im Angriff Vorschreitende wird in seiner Streitkraft durch dieses Vorschreiten geschwächt; dies werden wir im siebenten Buche ausführlicher betrachten; hier müssen wir das Resultat antizipieren, welches wir um so eher können, als in der Kriegsgeschichte jeder Feldzug, mit welchem ein merkliches Vorschreiten verbunden gewesen ist, dies deutlich zeigt.
Diese Schwächung im Vorgehen wird gesteigert, wenn der Gegner unbesiegt ist, sich mit einer ungebrochenen frischen Streitkraft freiwillig vor ihm zurückzieht, ihn aber durch einen beständigen abgemessenen Widerstand jeden Schritt Landes blutig erkaufen läßt, so daß sein Vorschreiten ein beständiges Vordringen und nicht ein bloßes Verfolgen ist.
Von der anderen Seite werden die Verluste, welche ein zurückgehender Verteidiger erleidet, viel größer sein, wenn er nach einer verlorenen Schlacht zurückgeht, als wenn er es freiwillig tut. Denn wäre er auch imstande, dem Verfolgenden den täglichen Widerstand zu leisten, den wir bei einem freiwilligen Rückzug erwarten, so würde er wenigstens dabei eben die Verluste machen und also der Verlust in der Schlacht noch hinzukommen. Aber welche Voraussetzung gegen die Natur der Sache würde das sein! Das beste Heer von der Welt wird, wenn es nach einer verlorenen Schlacht genötigt ist, sich tief ins Innere des Landes zurückzuziehen, dabei unverhältnismäßige Verluste machen, und ist der Feind beträchtlich überlegen, wie wir es in den Fällen, wovon wir sprechen, voraussetzen, dringt er mit großer Energie nach, wie es in den neuesten Kriegen fast immer geschehen ist, so wird die höchste Wahrscheinlichkeit einer wirklichen Flucht entstehen, wodurch gewöhnlich die Streitkraft ganz zugrunde gerichtet wird.
Ein abgemessener täglicher Widerstand, d. h. einer, der jedesmal nur so lange dauert, wie das Gleichgewicht des Kampfes noch schwebend erhalten werden kann, und in welchem wir uns vor der Niederlage sichern, indem wir den Boden zur rechten Zeit aufgeben, um den man sich schlug, ein solcher Kampf wird dem Angreifenden wenigstens ebensoviel Menschen kosten als dem Verteidiger, denn was dieser beim Abzuge hin und wieder unvermeidlicherweise an Gefangenen verliert, wird der andere im Feuer mehr einbüßen, da er beständig gegen die Vorteile des Bodens ankämpfen muß. Nun gehen zwar dem Zurückgehenden die Schwerverwundeten ganz verloren, allein diese gehen dem Angreifenden vorderhand gleichfalls ab, da sie gewöhnlich mehrere Monate in den Hospitälern bleiben.
Das Resultat wird also sein, daß beide Heere sich ungefähr in gleichem Grade in dieser beständigen Reibung aneinander verzehren.
Ganz anders ist es beim Verfolgen eines geschlagenen Heeres. Hier machen die in der Schlacht verlorene Streitkraft, die zerstörte Ordnung, der gebrochene Mut, die Sorge um den Rückzug bei dem Zurückgehenden einen solchen Widerstand sehr schwer, in manchen Fällen unmöglich; und der Verfolger, der im ersten Fall höchst behutsam, ja zaghaft wie ein Blinder immer um sich her tastend vorwärtsschreitet, geht im zweiten Fall mit dem festen Schritt eines Siegers, mit dem Übermut eines Glücklichen, mit der Sicherheit eines Halbgottes immer drauf, und je toller er draufgeht, desto mehr beschleunigt er die Dinge in der Richtung, welche sie einmal genommen haben, weil hier das rechte Feld der moralischen Kräfte ist, die sich steigern und vervielfältigen, ohne an die engen Zahlen und Maße der physischen Welt gebunden zu sein.
Es ist also wohl klar, wie verschieden das Verhältnis beider Heere sein wird, je nachdem sie auf die eine oder die andere Weise den Punkt miteinander erreichen, der als das Ende der Bahn des Angreifenden betrachtet werden kann.
Dies ist bloß das Resultat der gegenseitigen Zerstörung; an dieses Resultat knüpft sich nun die Schwächung an, welche der Vorschreitende noch sonst erleidet, und worüber wir, wie schon gesagt, an das siebente Buch verweisen, auf der anderen Seite aber die Verstärkung, welche der Zurückgehende in der großen Mehrheit der Fälle durch diejenigen Streitkräfte erhält, die später herbeikommen, sei es durch äußere Hilfe oder durch nachhaltige Anstrengungen.
Endlich besteht zwischen dem Zurückgehenden und dem Vorschreitenden ein solches Mißverhältnis in den Verpflegungsmitteln, daß der erstere nicht selten im Überfluß lebt, wenn der andere im Mangel verkommt.
Der Zurückgehende hat die Mittel, überall Vorräte aufzuhäufen, denen er entgegengeht, während der Verfolgende alles nachfahren lassen muß, welches, solange er in Bewegung bleibt, auch bei der kürzesten Verbindungslinie schwierig ist und deshalb gleich von vornherein Mangel erzeugt.
Alles, was die Gegend selbst darbietet, wird von dem Zurückgehenden zuerst benutzt und meistens erschöpft. Es bleiben nur ausgezehrte Dörfer und Städte, abgemähte und zertretene Felder, ausgeschöpfte Brunnen, getrübte Bäche zurück.
Das vorgehende Heer kämpft also nicht selten vom ersten Tag an mit den dringendsten Bedürfnissen. Auf feindliche Vorräte kann es dabei gar nicht rechnen, es wäre bloßer Zufall oder unverzeihlicher Fehler des Gegners, wenn ihm hin und wieder eines in die Hände fiele.
So ist es denn nicht zweifelhaft, daß bei beträchtlichen Dimensionen und nicht zu ungleicher Macht der Kriegführenden auf diese Weise ein Verhältnis der Streitkräfte entstehen wird, welches dem Verteidiger unendlich mehr Wahrscheinlichkeit des Erfolges verspricht, als er bei einer Entscheidung an der Grenze gehabt hätte. Aber nicht bloß die Wahrscheinlichkeit, zu siegen, wird wegen des veränderten Machtverhältnisses größer, sondern auch der Erfolg des Sieges wegen der veränderten Lage. Welch ein Unterschied besteht zwischen einer verlorenen Schlacht an der eigenen Grenze und einer mitten im feindlichen Lande! Ja, der Zustand des Angreifenden ist am Ende seiner Bahn oft von der Art, daß selbst eine gewonnene Schlacht ihn zum Rückzug bewegen kann, weil er weder Stoßkraft genug hat, seinen Sieg zu vervollständigen und zu benutzen, noch imstande ist, die verlorenen Kräfte zu ersetzen.
Es ist also ein gewaltiger Unterschied, ob die Entscheidung am Anfang oder am Ende des Angriffs gegeben wird.
Den großen Vorteilen dieser Verteidigungsart stehen zwei Gegengewichte zur Seite; das erste ist der Verlust, welchen das Land durch das Vordringen des Feindes macht, das andere der moralische Eindruck.
Das Land vor Verlust zu bewahren, kann zwar niemals als ein Zweck der gesamten Verteidigung angesehen werden, sondern dieser Zweck ist ein vorteilhafter Friede. Diesen so sicher als möglich zu erhalten, ist das Bestreben, und dazu muß kein augenblickliches Opfer zu groß geachtet werden. Allein jener Verlust, wenn er auch nicht entscheiden soll, muß doch in die Waagschale gelegt werden, denn er ist immer ein Gegenstand unseres Interesses.
Dieser Verlust trifft nicht unmittelbar unsere Streitkraft, sondern wirkt nur mit einem mehr oder weniger großen Umwege auf dieselbe, während der Rückzug selbst die Streitkraft unmittelbar verstärkt. Es ist also schwer, diesen Vorteil und jenen Nachteil aneinander abzumessen; es sind Dinge verschiedener Art, die keinen nahen gemeinschaftlichen Wirkungspunkt haben. Wir müssen also dabei stehenbleiben, zu sagen, daß dieser Verlust größer ist, wenn eine fruchtbare und bevölkerte Provinz und große Handelsstädte aufgeopfert werden sollen, daß er aber als am größten zu betrachten ist, wenn ganze oder halbfertige Streitmittel mit verloren gehen.
Das zweite Gegengewicht ist der moralische Eindruck. Es gibt Fälle, wo sich der Feldherr über ihn hinwegsetzen, seinen Plan ruhig verfolgen und sich den Nachteilen aussetzen muß, welche ein kurzsichtiger Kleinmut hervorbringt; aber darum ist dieser Eindruck doch kein Phantom, welches Geringschätzung verdient. Er ist nicht einer Kraft zu vergleichen, die auf einen Punkt wirkt, sondern einer, die mit Blitzesschnelle alle Fibern durchläuft und alle Tätigkeiten lähmt, die im Volk und Heer wirksam sein sollen. Es gibt wohl Fälle, wo der Rückzug in das Innere des Landes vom Volk und Heer schnell verstanden wird, und wo er das Vertrauen und die Erwartungen sogar steigern könnte, aber die sind sehr selten. Gewöhnlich wird Volk und Heer nicht einmal unterscheiden, ob es eine freie Bewegung oder ein Zurückstolpern ist, und noch weniger, ob der Plan aus Klugheit in Aussicht sicherer Vorteile oder aus Furcht vor dem feindlichen Schwert befolgt wird. Das Volk wird Mitleiden und Unwillen fühlen, wenn es das Schicksal der aufgeopferten Provinzen sieht, das Heer wird leicht sein Vertrauen zu seinem Führer oder gar zu sich selbst verlieren, und die beständigen Gefechte der Nachhut während des Rückzuges werden ihm eine immer erneuerte Bekräftigung seiner Befürchtungen werden. Über diese Folgen des Rückzuges darf man sich nicht täuschen. Und allerdings ist es an und für sich betrachtet natürlicher, einfacher, edler, dem moralischen Dasein des Volkes entsprechender, offen in die Schranken zu treten, damit der Angreifende die Grenzen eines Volkes nicht überschreiten könne, ohne seinem Genius zu begegnen, der ihm die blutige Rechenschaft abfordert.
Dies sind die Vorteile und Nachteile einer solchen Verteidigungsart, jetzt ein paar Worte über die Bedingungen und begünstigenden Umstände derselben.
Eine weite Oberfläche oder wenigstens eine lange Rückzugslinie ist die Haupt- und Grundbedingung; denn ein paar Märsche vorwärts werden den Feind natürlich nicht merklich schwächen. Bonapartes Zentrum im Jahre 1812 war bei Witebsk 250000 Mann, bei Smolensk 182000 Mann, und erst bei Borodino war es auf 120000 Mann heruntergekommen, d. h. mit dem russischen Zentrum ins Gleichgewicht der Zahl getreten. Borodino ist 90 Meilen von der Grenze; aber erst bei Moskau war ein entschiedenes Übergewicht für die Russen eingetreten, welches den Umschlag von selbst so sicher herbeiführte, daß der französische Sieg bei Malojaroslawetz keinen wesentlichen Unterschied darin machte.
Solche Dimensionen wie Rußland hat kein anderes europäisches Reich, und bei den wenigsten ist eine Rückzugslinie von 100 Meilen denkbar. Allein eine Macht wie die französische 1812 wird auch nicht leicht in anderen Verhältnissen vorkommen, und noch weniger ein solches Übergewicht, wie es im Anfang des Feldzuges zwischen beiden Teilen bestand, wo die Franzosen mehr als das Doppelte in der Zahl und außerdem ein entschiedenes moralisches Übergewicht hatten. Was also hier nur nach 100 Meilen erreicht wurde, kann in anderen Fällen vielleicht mit 50 oder 30 erreicht werden.
Zu den begünstigenden Umständen gehören:
1. eine wenig bebaute Gegend,
2. ein treues kriegerisches Volk,
3. die schlechte Jahreszeit.
Alle diese Dinge machen die Erhaltung des feindlichen Heeres schwieriger, nötigen zu großen Zufuhren, vielen Entsendungen, beschwerlichem Dienst, verursachen Krankheiten und erleichtern die Flankenwirkung des Verteidigers.
Endlich müssen wir noch von der absoluten Masse der Streitkräfte sprechen, welche darauf Einfluß hat.
An und für sich ist es in der Natur der Dinge, daß, abgesehen von dem Verhältnis der gegenseitigen Streitkräfte, eine kleine Streitkraft überhaupt sich früher erschöpft als eine größere, und daß ihre Bahn also nicht so lang, der Umfang ihres Kriegstheaters nicht so groß sein kann. Es findet also gewissermaßen ein konstantes Verhältnis zwischen der absoluten Größe der Macht und denjenigen Räumen statt, welche diese Macht einnehmen kann. Es kann nicht die Rede davon sein, dies Verhältnis auf eine Zahl zu bringen, auch wird es immer durch andere Umstände modifiziert werden, es ist uns aber genug, zu sagen, daß die Dinge im tiefsten Grunde ihres Wesens diesen Zusammenhang haben. Man kann mit 500000 Mann auf Moskau ziehen, aber nicht mit 50000, wenn das Verhältnis zur feindlichen Macht im letzten Fall auch viel günstiger wäre wie im ersten.
Nehmen wir nun dieses Verhältnis der absoluten Macht zum Raum in zwei verschiedenen Fällen als dasselbe an, so ist nicht zu bezweifeln, daß die Wirksamkeit unseres Rückzuges in Beziehung auf die Schwächung des Feindes mit den Massen steigen wird.
1. Unterhalt und Unterkommen des Feindes werden schwieriger; denn wenn auch die Räume, welche die Heere einnehmen, gerade soviel wachsen sollten als die Heere selbst, so wird doch der Unterhalt niemals ganz aus diesem Raum bestritten, und alles, was nachgeführt werden muß, erliegt größeren Verlusten; zum Unterkommen aber wird niemals der ganze Raum benutzt, sondern nur ein sehr kleiner Teil desselben, der nicht verhältnismäßig mit den Massen wächst.
2. Das Vordringen wird in dem Maße langsamer, als die Massen größer werden, folglich dauert die Zeit, bis die Angriffsbahn durchlaufen ist, länger, und die Summe der täglich darin vorkommenden Verluste wird größer.
Dreitausend Mann, welche zweitausend vor sich hertreiben, werden ihnen in gewöhnlicher Gegend nicht erlauben, sich in kleinen Märschen von 1, 2, höchstens 3 Meilen zurückzubewegen und von Zeit zu Zeit ein paar Tage Halt zu machen. An sie kommen, sie angreifen und vertreiben ist das Werk von einigen Stunden. Multiplizieren wir aber diese Massen mit der Zahl von 100, so sieht es anders aus. Wirkungen, zu denen im ersten Fall wenige Stunden hinreichten, erfordern nun vielleicht einen ganzen Tag oder auch zwei. Beide Teile können nun nicht mehr auf einem Punkt zusammenbleiben, damit wächst also die Mannigfaltigkeit aller Bewegungen und Kombinationen und folglich die Zeit, welche sie brauchen. Der Angreifende aber ist hierbei in dem Nachteil, daß er wegen der schwierigen Verpflegung sich noch mehr ausbreiten muß als der Zurückgehende, folglich immer in einiger Gefahr ist, daß dieser mit überlegener Macht auf einen Punkt falle, wie die Russen bei Witebsk es wollten.
3. Je größer die Massen werden, um so größer wird für jeden einzelnen der Kraftaufwand, den der tägliche strategische und taktische Dienst erfordert. Hunderttausend Mann, die täglich einmal ab- und aufmarschieren, jetzt Halt machen, dann wieder in Marsch gesetzt werden, jetzt zu den Waffen greifen, dann wieder kochen oder Lebensmittel empfangen, hunderttausend Mann, die nicht eher ins Lager rücken sollen, als bis von allen Seiten die nötigen Meldungen eingegangen sind - diese brauchen zu allen diesen Nebenanstrengungen des eigentlichen Zuges in der Regel doppelt soviel Zeit als 50000 brauchen würden, der Tag aber hat für beide nur 24 Stunden. Wie sehr verschieden aber die Zeit und Anstrengung eines Marsches ist nach der Masse der Truppen, haben wir im neunten Kapitel des vorigen Buches gesagt. Diese Anstrengungen teilt nun freilich der Zurückgehende mit dem Vorrückenden, aber sie sind bei dem letzteren merklich größer:
1. Weil seine Massen größer sind, wegen der Überlegenheit, die wir voraussetzen.
2. Weil der Verteidiger, da er immer den Boden räumt, mit diesem Opfer sich das Recht erkauft, immer der Bestimmende zu bleiben, stets dem anderen das Gesetz zu geben. Er macht seinen Plan vorher, und in den meisten Fällen wird dieser durch nichts gestört, der Vorschreitende aber kann seinen Plan nur nach der feindlichen Aufstellung machen, die er immer erst zu erforschen suchen muß. Wir müssen aber daran erinnern, daß hier von dem Verfolgen eines Gegners die Rede ist, der keine Niederlage erlitten, nicht einmal eine Schlacht verloren hat, damit man nicht glaube, wir widersprächen unserem zwölften Kapitel des vierten Buches.
Jenes Vorrecht aber, dem Feinde das Gesetz zu geben, macht für Zeit- und Kraftgewinn und für mancherlei Nebenvorteile einen Unterschied, der auf die Dauer sehr wesentlich wird.
3. Weil der Zurückgehende von der einen Seite alles tut, seinen Rückweg zu erleichtern, Wege und Brücken ausbessern läßt, die bequemsten Lagerplätze aussucht usw. und von der anderen Seite wieder ebensoviel tut, dem Nachfolgenden das Vorgehen zu erschweren, indem er die Brücken zerstört, schon durch seinen bloßen Marsch schlechte Wege noch mehr verdirbt, dem Feinde die besten Lager- und Wasserplätze entzieht, indem er sie selbst einnimmt.
Endlich müssen wir noch als einen besonders begünstigenden Umstand den Volkskrieg anführen. Dies bedarf hier um so weniger einer weiteren Auseinandersetzung, als wir von demselben noch in einem eigenen Kapitel sprechen werden.
Wir haben bisher von den Vorteilen gesprochen, die ein solcher Rückzug gewährt, von den Opfern, die er fordert, von den Bedingungen, die vorhanden sein müssen; jetzt wollen wir noch etwas über die Ausführung sagen.
Die erste Frage, welche wir zu tun haben, ist über die Richtung des Rückzuges.
Er soll in das Innere des Landes geschehen, also womöglich auf einen Punkt führen, wo der Feind auf beiden Seiten von unseren Provinzen umgeben ist; dann wird er ihrer Einwirkung ausgesetzt sein und wir nicht in Gefahr, von der Hauptmasse unseres Landes abgedrängt zu werden, welches geschehen könnte, wenn wir eine Rückzugslinie wählen, die zu nahe an der Grenze hinliefe, wie die Russen im Jahr 1812, wenn sie südlich statt östlich hätten zurückgehen wollen. Dies ist die Bedingung, welche in dem Zweck der Maßregel selbst liegt. Welcher Punkt des Landes der beste ist, wieweit sich damit die Absicht verbinden läßt, die Hauptstadt oder einen anderen wichtigen Punkt unmittelbar zu decken oder den Feind von der Richtung dahin abzuziehen, hängt von den Verhältnissen ab.
Hätten die Russen 1812 den Rückzug vorher überlegt gehabt und also vollkommen planmäßig gemacht, so konnten sie füglich von Smolensk die Richtung auf Kaluga nehmen, die sie erst von Moskau aus einschlugen; es ist sehr möglich, daß unter diesen Umständen Moskau ganz verschont geblieben wäre.
Die Franzosen waren nämlich bei Borodino etwa 130000 Mann stark; es ist kein Grund vorhanden, daß sie, wenn diese Schlacht von den Russen auf dem halben Weg von Kaluga angenommen worden wäre, dort hätten stärker sein sollen; wieviel hätten sie aber von dieser Macht entbehren können, um es auf Moskau zu schicken? Offenbar sehr wenig; mit wenig Truppen aber kann man nicht auf 50 Meilen (dies ist die Entfernung von Smolensk nach Moskau) eine Entsendung gegen einen Ort wie Moskau machen.
Gesetzt, Bonaparte hätte bei Smolensk, wo er nach den Gefechten etwa 160000 Mann stark war, geglaubt, eine Entsendung auf Moskau wagen zu dürfen, ehe noch eine Hauptschlacht erfolgt war, und dazu 40000 Mann genommen, während 120000 Mann der russischen Hauptarmee gegenüber geblieben wären, so würden diese 120000 Mann in der Schlacht etwa nur 90000 gewesen sein, nämlich 40000 schwächer als bei Borodino; die Russen würden also ein Übergewicht von 30000 Mann gehabt haben. Wenn man den Verlauf der Schlacht von Borodino als Maßstab nimmt, so ist wohl zu glauben, daß sie damit Sieger geblieben wären. In jedem Fall wäre das Resultat dieses Kalküls ein viel besseres gewesen als das Verhältnis bei Borodino. Aber der Rückzug der Russen war kein Werk überdachten Planes; man ging so weit zurück, weil man in jedem Augenblick, wo man die Schlacht annehmen wollte, sich noch nicht stark genug dazu fand; alle Erhaltungs- und Verstärkungsmittel waren auf die Straße von Moskau auf Smolensk gerichtet, und es konnte in Smolensk niemand einfallen, diese Straße zu verlassen. Außerdem aber würde ein Sieg zwischen Smolensk und Kaluga in den Augen der Russen das Unrecht niemals gutgemacht haben, Moskau nicht zu decken und einer möglichen Besitznahme preiszugeben.
Noch gewisser hätte Bonaparte 1813 Paris vor einem Anfall schützen können, wenn er seine Aufstellung merklich seitwärts, etwa hinter dem Kanal von Bourgogne, genommen und in Paris nur einige tausend Mann mit seinen zahlreichen Nationalgarden gelassen hätte. Niemals hätten die Verbündeten den Mut gehabt, ein Korps von 50 bis 60000 Mann auf Paris gehen zu lassen, während sie Bonaparte mit 100000 Mann bei Auxerre wußten. Umgekehrt würde wohl niemand einem verbündeten Heer in Bonapartes Lage geraten haben, den Weg zur eigenen Hauptstadt zu verlassen, wenn er der Gegner war. Mit solcher Überlegenheit würde er nicht einen Augenblick angestanden haben, auf die Hauptstadt loszugehen. So verschieden wird sogar unter denselben Umständen, aber bei anderen moralischen Verhältnissen das Resultat sein.
Wir wollen nur noch bemerken, daß bei einer solchen Seitenrichtung in jedem Fall die Hauptstadt oder der Ort, welchen man dadurch außer Spiel bringen will, einige Widerstandsfähigkeit haben muß, um nicht von jedem Streifer besetzt und gebrandschatzt zu werden, und dann diesen Gegenstand hier fallen lassen, weil wir in der Folge bei dem Kriegsplan doch noch einmal darauf zurückkommen werden,
Aber noch eine andere Eigentümlichkeit in der Richtung einer solchen Rückzugslinie müssen wir betrachten, nämlich die einer plötzlichen Wendung. Nachdem die Russen bei Moskau dieselbe Richtung behalten hatten, verließen sie diese, die sie nach Wladimir geführt haben würde, gingen zuerst in der auf Rjazanj weiter und dann in die von Kaluga über. Hätten sie ihren Rückzug fortsetzen müssen, so konnte solcher füglich in dieser neuen Richtung geschehen, welche sie nach Kiew geführt haben würde, also der feindlichen Grenze wieder viel näher. Daß die Franzosen, wenn sie den Russen in dieser Zeit auch noch merklich überlegen gewesen wären, das ungeheure Knie ihrer Verbindungslinie über Moskau nicht hätten behaupten können, ist wohl an sich klar; sie hätten nicht allein Moskau, sondern höchstwahrscheinlich auch Smolensk aufgeben, also die mühsam gemachten Eroberungen wieder verlassen und sich mit dem Kriegstheater diesseits der Beresina begnügen müssen.
Nun wäre freilich das russische Heer in denselben Nachteil getreten, dem es sich ausgesetzt hätte, wenn es gleich anfangs die Richtung auf Kiew hätte einschlagen wollen, nämlich von der Hauptmasse seiner Staaten getrennt zu sein; aber dieser Nachteil wurde nun fast illusorisch, denn in welcher ganz anderen Verfassung würde das feindliche Heer bei Kiew angekommen sein, wenn es nicht die Reise über Moskau gemacht hätte!
Es ist klar, daß eine solche plötzliche Wendung der Rückzugslinie, die bei großen Dimensionen sehr tunlich ist, eminente Vorteile gewährt:
1. Die Wendung macht es dem Gegner unmöglich, seine alten Verbindungslinien beizubehalten; die Einrichtung von neuen ist aber immer eine schwierige Sache, wozu noch kommt, daß er seine Richtung nur nach und nach verändert, also wahrscheinlich mehr als einmal eine neue Verbindungslinie suchen muß.
2. Beide Teile nähern sich auf diese Weise der Grenze wieder; der Angreifende deckt seine gemachten Eroberungen nicht mehr durch seine Stellung und muß sie höchstwahrscheinlich aufgeben. Rußland mit seinen ungeheuren Dimensionen ist ein Reich, worin sich zwei Heere auf diese Weise förmlich Zeck jagen können.
Aber auch bei kleineren Oberflächen bleibt eine solche Wendung möglich, wenn die übrigen Umstände sie begünstigen, welches nur aus allen Verhältnissen des einzelnen Falles entnommen werden kann. Ist die Richtung einmal bestimmt, in welcher der Feind ins Land hineingezogen werden soll, so folgt von selbst, daß unsere Hauptmacht diese Richtung hatte, denn sonst würde der Feind die seinige nicht dahin vorgehen lassen, und täte er es auch, so würden wir nicht imstande sein, ihm dabei alle die Bedingungen aufzulegen, die wir oben vorausgesetzt haben. Es kann also nur die Frage sein, ob man mit der ungeteilten Macht diese Richtung halten oder mit bedeutenden Teilen derselben nach der Seite hin ausweichen und also seinen Rückzug exzentrisch machen soll.
Auf diese Frage müssen wir antworten, daß diese Form an sich verwerflich ist:
1. weil die Kräfte dadurch mehr verteilt werden, das Zusammenhäufen derselben auf einen Punkt aber gerade eine Hauptschwierigkeit für den Angreifenden ist;
2. weil der Gegner in den Vorteil der inneren Linie kommt, mehr als wir vereinigt ist und folglich auf einzelnen Punkten um so überlegener sein kann. Nun ist freilich diese Überlegenheit bei einem System weniger zu fürchten, was vorderhand immer im Ausweichen besteht, allein immer ist die Bedingung dieses Ausweichens, dem Gegner furchtbar zu bleiben, nicht von ihm zu Paaren getrieben zu werden; das könnte aber eintreten. Ferner ist die Bedingung dieses Rückzuges, nach und nach bei der Hauptmacht zu einer Überlegenheit zu kommen, um die Entscheidung geben zu können, welches aber bei der Teilung der Kräfte ungewiß bleiben würde.
3. Weil überhaupt das konzentrische Wirken auf den Feind dem Schwächeren nicht ziemt;
4. weil durch eine solche Stellung der Kräfte ein Teil der feindlichen Schwäche ganz eliminiert wird.
Die Hauptschwächen eines weit vorgehenden Angriffs sind nämlich: die langen Verbindungslinien, die offenen strategischen Flanken. Durch die exzentrische Form des Rückzuges wird der Angreifende genötigt, einen Teil seiner Macht nach der Seite Fronte machen zu lassen, und dieser Teil, welcher eigentlich nur bestimmt sein sollte, unsere ihm entgegenstehende Streitkraft zu neutralisieren, tut gewissermaßen nebenher noch etwas anderes, nämlich einen Teil der Verbindungslinie zu schützen.
Für die bloße strategische Wirkung des Rückzuges also ist die exzentrische Form nicht vorteilhaft; soll sie aber eine spätere Wirkung auf die feindliche Rückzugslinie vorbereiten, so müssen wir an das im vorigen Kapitel Gesagte erinnern.
Nur ein Zweck kann zu einem exzentrischen Rückzug veranlassen: wenn wir nämlich dadurch Provinzen sichern können, die der Feind sonst besetzt haben würde.
Welche Landstriche rechts und links der Vorgehende besetzen wird, läßt sich meistens mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit aus der Sammlung und Richtung seiner Kräfte, aus der Lage seiner Provinzen, Festungen usw. gegen die unserigen vorhersehen; diejenigen Landstriche, welche er wahrscheinlich intakt lassen wird, mit Streitkräften zu versehen, wäre eine gefährliche Kraftverschwendung. Ob man aber in denjenigen Landstrichen, welche der Angreifende, wahrscheinlich besetzen wird, imstande sein wird, ihn durch eine aufgestellte Streitkraft daran zu verhindern, ist schon schwieriger zu übersehen, und es hängt also dabei viel von dem Takt des Urteils ab.
Als die Russen 1812 zurückgingen, ließen sie unter Tormassow 30000 Mann in Wolhynien gegen die österreichische Macht, die in diese Provinz einbrechen sollte. Die Größe der Provinz, die mancherlei Schwierigkeiten des Bodens, welche sie darbietet, die nicht überlegene Macht, mit welcher sie angegriffen werden sollte, berechtigen zu der Hoffnung, daß die Russen auf dieser Seite ihrer Grenze die Oberhand behalten oder sich wenigstens in der Nähe der Grenze behaupten würden. Aus dieser Behauptung konnten in der Folge sehr wichtige Vorteile hervorgehen, bei denen wir uns hier nicht aufhalten wollen; außerdem war es fast unmöglich, diese Truppen noch zur rechten Zeit an das Hauptheer heranzuziehen, wenn man es auch gewollt hätte. Alle diese Dinge mußten auf die genügendste Weise dazu bestimmen, das Heer in Wolhynien zu lassen, um dort seinen eigenen Krieg zu führen. Wenn dagegen in dem Plan, welchen der General Phull zum Feldzug entworfen hatte, bloß das Heer von Barclay (80000 Mann) nach Drissa zurückgehen und das Heer von Bagration (40000 Mann) den Franzosen in der rechten Flanke bleiben sollte, um ihnen dann in den Rücken zu fallen, so sieht man auf den ersten Blick, daß dieses Heer nicht daran denken konnte, sich im südlichen Litauen zu behaupten, also einen Landstrich mehr, und der näher gelegen war, im Rücken der Franzosen zu erhalten. Dies Heer würde durch die überwältigenden Massen zugrunde gerichtet worden sein.
Daß der Verteidiger an sich das Interesse habe, dem Angreifenden so wenig Provinzen als möglich zu überlassen, versteht sich von selbst, aber dies bleibt immer ein sehr untergeordneter Zweck; daß der Angriff auch um so schwieriger wird, je kleiner oder vielmehr schmaler das Kriegstheater ist, auf dem wir den Feind einschränken können, ist gleichfalls an sich klar; aber dies alles unterliegt doch der Bedingung, daß man bei diesem Beginnen die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges für sich habe, und daß man dadurch nicht bei der Hauptmacht zu sehr geschwächt werde; denn hier muß vorzugsweise die endliche Entscheidung gesucht werden, weil die Verlegenheiten, die bei der feindlichen Hauptmacht entstehen, den Entschluß zum Rückzuge am ersten hervorrufen und den damit verbundenen Verlust physischer und moralischer Kräfte am meisten steigern.
Der Rückzug in das Innere des Landes soll also in der Regel mit unbesiegter und ungeteilter Macht geschehen, und soll gerade vor der feindlichen Hauptmacht hergehen, so langsam als möglich, und durch einen beständigen Widerstand den Gegner zu einer beständigen Schlachtfertigkeit, zu einem gewissen verderblichen Luxus taktischer und strategischer Vorsichtsmaßregeln zwingen.
Sind beide Teile so am Ende der Angriffsbahn angelangt, so wird der Verteidiger seine Aufstellung, wenn es irgend sein kann, schief gegen die Richtung dieser Bahn nehmen und nun durch alle Mittel, die ihm zu Gebote stehen, auf den Rücken des Feindes wirken.
Der Feldzug 1812 in Rußland zeigt alle diese Erscheinungen, und zwar in einem hohen Grade, und die Wirkungen derselben wie im Vergrößerungsspiegel, und ob er gleich nicht ein freiwilliger Rückzug war, so kann er doch füglich unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden, und es ist wohl keine Frage, daß, wenn die Russen ihn mit der Kenntnis des Erfolges, die sie jetzt davon haben, noch einmal genau unter denselben Verhältnissen zu führen hätten, sie freiwillig und mit Plan tun würden, was 1812 größtenteils absichtslos geschehen ist. Allein man würde sehr unrecht haben, zu glauben, daß es sonst kein Beispiel von solcher Wirkungsart gebe, und daß es keines geben könne, wo die russischen Dimensionen fehlen.
Überall, wo ein strategischer Angriff ohne Schlachtentscheidung an den bloßen Schwierigkeiten des Daseins gescheitert und der Vorgedrungene zu einem bald mehr, bald weniger zerstörenden Rückzug gezwungen gewesen ist, hat die Hauptbedingung und Hauptwirkung dieser Widerstandsart stattgefunden, von welchen modifizierenden Umständen sie auch sonst begleitet gewesen sein mag. Friedrichs des Großen Feldzug von 1742 in Mähren, von 1744 in Böhmen, der französische Feldzug von 1743 in Österreich und Böhmen, des Herzogs von Braunschweig Feldzug von 1792 in Frankreich, Massénas Winterfeldzug von 1810 auf 1811 in Portugal sind Beispiele, die ähnliche Fälle, aber in viel geringeren Dimensionen und Verhältnissen zeigen; außerdem aber gibt es noch eine Unzahl fragmentarischer Wirkungen der Art, wo nicht der ganze Erfolg, aber wohl ein Teil desselben dem Prinzip, welches wir hier geltend machen, zugeschrieben werden muß, die wir aber nicht anführen, weil eine Entwicklung der Verhältnisse dabei nötig wäre, die uns hier zu weit führen würde.
In Rußland und den anderen angeführten Fällen ist der Umschwung erfolgt, ohne daß eine glückliche Schlacht am Kulminationspunkt die Entscheidung gegeben; aber wo eine solche Wirkung auch nicht zu erwarten ist, bleibt es schon ein Gegenstand von hinreichender Wichtigkeit, durch diese Widerstandsart ein Machtverhältnis herbeizuführen, welches den Sieg möglich macht, und durch diesen Sieg wie durch einen ersten Stoß eine Bewegung zu veranlassen, die sich dann in ihren verderblichen Wirkungen nach den Gesetzen des Falles zu vergrößern pflegt.