Lena Christ
Mathias Bichler
Lena Christ

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Die Wallfahrt

Zu meiner Kinderzeit hat man in Sonnenreuth den Schulzwang noch nicht gekannt; daher auch der Weidhofer, mein Kostvater, seine Pfleglinge, um an Schulgeld zu sparen, kaum sie ein paar Tafeln zerschlagen hatten, wieder von dieser gelehrten Stätte hinwegholte und an die Arbeit spannte. Da mußte denn ein jedes, sei es nun im Stall oder draußen in Feld und Wald gewesen, aus sich selber die Bildung des Verstandes und der Seele vollenden. Zum besseren Gedeihen dieses Werkes gab mir die Ziehmutter eine zerschlissene Fibel, eine alte Legende und das Evangeliumbuch mit auf die Alm, daraus ich dann oftmals meinen hölzernen Freunden in der Höhle vorgelesen und gepredigt habe.

Da geschah es wohl bisweilen, daß das Vieh, während ich in dem Verstecke mit mir selber Jahrmarkt oder Christenlehre hielt, auf und davon ging, so daß ich großen Fleiß brauchen mußte, es wieder zusammenzubringen.

Dabei ist es auch einmal geschehen, daß sich eine Kalbin, die vielleicht aus irgendwelchen Ursache erschreckt geflüchtet war, so sehr verstiegen hatte, daß ich nimmer glaubte, sie lebend wieder zu erlangen. Sie stand blökend auf einem kaum armbreiten Felsvorsprung des Schwarzenbergs und konnte nicht vor noch zurück; ich weiß beim Himmel nicht, wie sie dahin gekommen.

In meiner Not fiel mir ein, ich könnte mich zu unserer lieben Frau vom Birkenstein verloben, und ich versprach ihr sechs von meinen alten Silbergroschen, wenn ich meine Kalbin heil und unverletzt herunterbrächte. Ich weiß aber nicht wie es kam, oder ob sie half: In diesem Augenblick kamen ein paar fremde Gesellen aus einer Felsenrinne hervor und halfen mir das Vieh herunterschaffen.

Es waren aber Pascher oder Schmuggler, die das Revier auskundschafteten; und sie fragten mich des langen und breiten um alle Weg und Steg. Gern und willig gab ich ihnen über alles Aufschluß, froh, daß ich die Kalbin wieder hatte; denn mein Ziehvater, der Meßmer, war ein strenger, jäher Mann, der in der ersten Hitze oft manches tat, was ihn nachher gereute.

Also hatte unsere liebe Frau von mir ein Gelöbnis erhalten, und mich dünkte, daß ich es nun auch alsobald ausführen müsse, wenn ich ihr gefällig sein wollte.

Und ich begann alsbald, mein Felsloch auszuräumen und die Schätze im Sonnenlicht auszubreiten; es war ein gerechtes Häuflein. Aber es wurde mir nicht leicht, mich so ohne weiteres von den schönen, funkelnden Silberstücken zu trennen; immer wieder drehte ich sie zwischen den Fingern, legte sechs in die linke Hand, wog sie, schüttelte sie und schob sie endlich schnell wieder in den Sack, indem ich halblaut vor mich hin sagte: »Nein, diese nicht! Ich suche andere aus!«

Doch auch mit diesen ging es mir nicht besser, bis ich endlich unvermittelt das ganze Häuflein zusammenraffte und wieder in die Höhle steckte.

So trieb ich es acht Tage lang; da kam das Fest Mariä Himmelfahrt. Für diesen Tag hatte ich mir von der Weidhoferin Urlaub zur Wallfahrt erbeten, und sie schickte mir den langen Ambros, daß er für mich zwei Tage den Viehhüter mache.

Der brachte mir in einem Bündel ein Stück Käse, Brot und die Nagelschuhe, dazu mein gutes Jöpplein und den Rosenkranz. Auch ein Wachs und eine dicke Silberkette legte er mir hin und sagte: »Das sollst unserer lieben Frau mitnehmen von der Weidhoferin. Und du sollst ein paar Vaterunser für sie beten und die Meinung machen, daß dies nur grad eine Drangab ist zu der Verlöbnis, die sie getan hat. Und sie kommt schon noch selber, dies Jahr, und tut ihren Dankgott!«

Da gab es mir einen Riß. Meine Kostmutter hatte mir hier ihren kostbarsten Schmuck, ihre Brautkette, für die liebe Frau geschickt, weil sie kurz zuvor bei dem scharfen Hagelschauer ihre Felder wunderbar beschützt hatte; wie durfte ihr nun ich, dem sie nicht weniger wunderbar geholfen hatte, meine paar Silbergroschen verweigern!

So eilte ich denn in die Höhle, steckte eine Hand voll Münzen in meine lederne Hose, schob die übrigen in die dunkelste Ecke und dachte, daß die Himmelmutter wohl mächtig genug sei, mir das Opfer, welches ich ihr hiedurch brachte, hundertfach zu vergelten.

In diesen Gedanken legte ich die Schuhe an, hing die Joppe über die Achsel und sagte: »Ambros, jetzt geh i halt in Gotts Nam. Pfüate Gott!«

Und zum Vieh sagte ich noch, daß ich ihnen einen besonders großen, kräftigen Segen mitbringen wolle und daß ich sie schon einschließen würde in die Andacht.

Dann nahm ich das bunte Sacktuch, in welches das Opfer der Meßmerin eingewickelt war, hing es an meinen Stecken, lupfte mein Hütl und machte mich auf den Weg.

Obgleich ich erst etwa zwölf Jahre zählte und noch nicht über unsere Alm hinausgekommen war, fehlte es mir nicht an Schneid; es war mir genug, daß die Nandl, unsere Schwaigerin, einmal mit der Hand gegen den Wendelstein gewiesen und dabei gesagt hatte: »Siehst Mathiasl, dort hint is unsa liebe Frau vom Birknstoa. Grad unterhalb vom Wendlstoa!«

Darum wandte ich mich sogleich gegen diesen, suchte mir einen Weg, der in der Richtung führte, und trabte frisch dahin, indem ich wohlgemut ein Frauenlied ums andere hinaussang.

Dabei schaute ich immer wieder hinter mich, ob mir keine Kuh oder Geiß nachkämen und horchte auf das immer ferner klingende Geläute des Viehs. Doch bald lag alles weit hinter mir in bläulichen Dunst und Nebel eingehüllt, und ich stieg langsam auf einem einsamen Waldweg, zu dessen Seiten ein kleines Wasser talab floß, bergan.

Eine große Stille war rings um mich her; nur der Schrei des Hähers, das Singen der Waldvögel und das Summen der Hummeln und Wespen tönte an mein Ohr. Kein Mensch begegnete mir; nur ein paar Rehe sprangen erschreckt davon, als sie mich so unvermerkt vor sich sahen. So stieg ich weiter, bis ich, den Wald hinter mir lassend, über eine Almwiese wanderte, mit großen, erstaunten Augen hinabschauend auf eine weite Welt, von deren Größe ich mir keine Vorstellung machen konnte. Wohl an die zehn Kirchtürme erblickte ich da, die bald spitzig wie ein Griffel, bald rund wie unsere Edelbirnen oder sonst wunderlich geformt im Sonnenlicht glänzten.

Ich blieb stehen, stützte das Kinn auf den Stock und sah unverwandt hinab und dachte, was das wohl schöne Orte sein möchten, und ich wäre gern einmal in jedem gewesen. Da erhielt ich plötzlich einen heftigen Stoß von rückwärts, daß ich rittlings über meinen Stecken fiel; und da ich aufsah, stand ein Bauer zürnend und greinend hinter mir und schrie, daß es mir durch alle Glieder fuhr, ich solle schauen, daß ich aus seinem Grund und Boden hinauskäme; und wenn er noch einmal so einen verdammten Ellbacher Lumpen in seinem Rain fände, könnt schon sein...!

Ich erwiderte ihm zwischen Zorn und Schreck, daß ich gar kein Ellbacher sei, ja, daß ich diesen Ort gar nicht wisse. »I bin doch der Weidhoferbalg von Sonnenreuth!« sagte ich; »und ich geh nur grad wallfahrten auf Birkenstein!«

Da schaute er mich erst zweifelnd, dann lachend an und meinte: »Wie sagst? Vom Weidhofer z'Sonnenreuth?«

Und als ich, wieder aufstehend, nickte, sagte er, dann solle ich nur da weitergehen: »Gleich da hinten bei dem Zwiefiturm ist Fischbachau; balst dich a weni schleunst, nachher gehst es leicht in zwo Stund!«

Ich nickte wieder, und nachdem ich ihm noch mürrisch »Pfüa Gott« gesagt, lief ich davon.

Der schmale Wiesenpfad führte wieder in einen Wald, und ich eilte nun, ohne zu rasten, dahin, bis ich auf eine breite Straße kam, an der ein Wegweiser nach Ellbach und Durham zeigte. Indem ich nun bald auf den Weg, bald auf die Tafel blickte, donnerte ein Schuß durch die Berge und gleich darauf noch mehrere. Ich dachte, daß es gewiß Böller sein möchten, und hörte aufmerksam auf die Richtung, woher sie kamen. Da drang plötzlich, erst verworren, dann immer deutlicher, lautes Beten an mein Ohr, ich blickte mich um, da sah ich eine große Schar Männer und Frauen die Straße heraufkommen, Fahnen und Kreuze tragend und den glorreichen Rosenkranz betend. Voran gingen zwei Priester im Chorhemd; etliche Ministranten mit roten, goldverzierten Schulterkrägen folgten ihnen und trugen kranzgeschmückte Statuetten der Heiligen auf langen Stangen, und dahinter reihten sich die Beter. Sie schritten alle gebeugt, und der Schweiß stand vielen auf dem Gesicht, doch hielten sie eine schöne Ordnung; und es gingen auf der rechten Straßenseite die Frauen und auf der linken die Männer hintereinander, also daß die ganze Straßenbreite leer zwischen ihnen blieb. Ein Mann im Chorrock lief mit einem langen, silbernen Stab beständig den Zug entlang und schrie mit großem Nachdruck immer die ersten Worte eines jeden Ave Maria hinter sich, worauf die Beter alle zu gleicher Zeit einfielen; und es war die Ordnung also, daß die Männer den Gruß vorbeteten, die Frauen aber mit der Bitte nachkamen.

Ich zog mein Hütlein, ließ sie an mir vorüber und folgte ihnen, überzeugt, daß es Wallfahrer seien, die gleich mir die Mutter vom Birkenstein heimsuchten.

So war es auch; und wir zogen unter dem Geläute der Glocken durch die Orte, und es kam mir vor, als trabte eine große Schafherde vor mir her, der ich als ein junges Hündlein oder wie ein krummgehendes Lamm folgte. Doch zog ich auch meinen Rosenkranz aus dem Sack und schrie mit vieler Kraft mein »Gegrüßt seist du, Maria« hinter den Betern, so daß sich endlich die letzten umsahen und mir ganz freundlich und ermunternd zunickten.

Immer noch krachten die Böller; und ich dachte, daß es nun nicht mehr weit sein könne bis zu dem Ort, wo sie abgefeuert wurden; denn sie donnerten hart, und ihr Schall brach sich unmittelbar an allen Wänden.

Langsam bewegte sich der Zug bergan, vorüber an kranzgeschmückten Häusern, und von allen Seiten strömten Pilger herbei und schlossen sich ihm an. Und während ich, neugierig einen vollbesetzten Wirtsgarten betrachtend, gedankenlos noch meine Ave Maria schrie, verschwanden droben allmählich die Fahnen und Statuetten hinter den Birken eines von Menschen dichtumlagerten Felsens, von dem das Geläute silberner Glocken tönte, der Glocken der Kapelle unserer lieben Frau vom Birkenstein.

Allmählich zerteilte und löste sich der Zug in Gruppen, und ich schob mich behende durch die Versammlung vor dem Kirchlein; denn ich wollte meine Aufgabe vollbracht haben. Darum stieg ich sogleich die schmale Holztreppe hinauf, die zu einem Wandelgang führte; der zog sich rings um das Kirchlein und war an Decke und Wänden mit Votivtafeln und Gemälden dicht behangen. Ein niederes Tor stand weit geöffnet, und der Duft von Weihrauch und Kerzen drang heraus. Ich zwängte mich durch einen dichten Knäuel von Bäuerinnen und schlüpfte ungeachtet ihrer erzürnten Mienen und Reden hinein in die Kirche.


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