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Aus Anton Reitler, »Conrad Ferdinand Meyer. Eine literarische Skizze zu des Dichters 60. Geburtstage«. Leipzig, Haessel 1885, S.6-8.
»Geboren bin ich in Zürich, den 12. October 1825. Mein Geschlecht ist seit mehr als zwei Jahrhunderten hier einheimisch. Im Jahre 1802, als Zürich von den Truppen der helvetischen Regierung bombardirt wurde, befehligte mein Großvater, Oberst Meyer, die Vertheidigung der Stadt, während mein anderer Großvater, Statthalter Ulrich, der Stellvertreter der helvetischen Regierung, sich hatte flüchten müssen. Dem Zusammenfließen des Blutes zweier sich schroff entgegenstehender politischer Gegner, eines Föderalisten und eines Unitariers schreibe ich meine Unparteilichkeit in politischen Dingen zu. Mein Vater, Regierungsrath Ferdinand Meyer, war ein Zwilling von sehr zartem Körper, ohne Leidenschaft, ein unglaublich gewissenhafter Arbeiter und ein bedeutendes organisatorisches Talent. Von durchaus makellosem Charakter war er ein überzeugter Verfechter der repräsentativen Republik und ein entschiedener Gegner der absoluten Demokratie, deren tumultarisches Wesen ihn sozusagen körperlich verletzte. Meine Mutter, Betty Ulrich, war nach dem Urtheile Aller, die sie gekannt haben, eine Frau von großer Liebenswürdigkeit und originellem, aber feinem Wesen, nicht ohne einen Anflug von Melancholie, »heiterer Geist und trauriges Herz«, wie sie sich selbst charakterisirte. Bluntschli hat in seinem Buche »Denkwürdigkeiten aus meinem Leben« (I.Th. p. 56) die Bildnisse meines Vaters und besonders meiner Mutter mit Meisterhand entworfen; ich hätte kein Wort dazu und keines davon zu thun. Meinen Vater verlor ich früh (1839), kurz nach dem durch die Berufung von David Strauß an die Zürcher Hochschule verursachten kantonalen Aufruhr. Dieses öffentliche Ereigniß ist auch meine bedeutendste Jugenderinnerung. Ich besinne mich, wie den Knaben ein antistraußisches Pamphlet mit dem biblischen Motto: »Jagt den Strauß in die Wüste zurück!« zu der Frage veranlaßte: »In der Bibel ist doch der Vogel Strauß gemeint? Ist diese Anwendung der Bibel nicht ein Volksbetrug?« und ich sehe noch, wie der Vater dazu lächelte und seufzte. Nachdem ich das Unter- und das Obergymnasium durchlaufen, wo ich mir nichts erwarb als eine gründliche Kenntniß der klassischen Sprachen, die mir geblieben ist, zog ich zu einem längeren Aufenthalte nach Lausanne und Genf. Meine Mutter war mit einer Genfer Familie eng befreundet, und mein Vater, der sich eingehend mit Geschichte beschäftigt und ein von Ranke rühmlich erwähntes Buch: »Die evangelische Gemeinde in Locarno« (1836) geschrieben, hatte mir in dem waadtländischen Historiker Ludwig Vulliemin einen intimen Freund hinterlassen. So war mir die französische Schweiz von jeher eine zweite Heimat, wohin ich mich mehr als einmal geflüchtet habe, wenn es mir zu Hause nicht nach Wunsch ging, und immer mit gutem Erfolge. Bei diesem ersten Aufenthalt gab ich mich widerstandslos den neuen Eindrücken der französischen Litteratur hin und ließ Klassiker und Zeitgenossen auf mich wirken, die klassische Komik Molière's nicht weniger als den lyrischen Taumelbecher Alfred de Musset's. So wurde mir von jung auf die französische Sprache vertraut und ich schreibe sie leidlich. Ungern von Lausanne nach Zürich zurückgekehrt, machte ich das Maturitätsexamen und immatrikulirte mich bei der juridischen Facultät. Aber dieses Studium konnte mir nicht munden, obwohl Bluntschli mit viel Güte mich für dasselbe zu stimmen suchte. Ich zog mich bald aus den Collegien zurück und begann ein einsames Leben, kein unthätiges, aber ein zersplittertes und willkürliches. Ich habe damals unendlich viel gelesen, mich leidenschaftlich aber ohne Ziel und Methode in historische Studien vertieft, manche Chronik durchstöbert und mich mit dem Geiste der verschiedenen Jahrhunderte aus den Quellen bekannt gemacht. Auch davon ist mir etwas geblieben: der historische Boden und die mäßig angewendete Localfarbe, die ich später allen meinen Dichtungen habe geben können, ohne ein Buch nachzuschlagen. Dieses zurückgezogene Leben habe ich Jahrzehnte lang weitergeführt, da meine gute Mutter mir volle Freiheit ließ und nach ihrem Tode eine liebe Schwester mit mir Haus hielt. Wir zeichneten Beide, und in jenen langen Jahren habe ich die bildenden Künste liebgewonnen. Immerhin war diese fortgesetzte, nur durch einige treue Freundschaften belebte Einsamkeit nicht geeignet, mir wohl zu thun, wenn ich ihr auch durch körperliche Uebungen, Schwimmen, Fechten und Wanderungen im Hochgebirge das Gleichgewicht zu halten suchte. Einmal hat mich die Ziellosigkeit meines Daseins fast zur Verzweiflung gebracht, und nur eine schnelle Flucht in die französische Schweiz hat mich gerettet. Was mich dann wieder neu belebt, waren wiederholte Reisen in das Ausland. Längere Zeit habe ich in Paris zugebracht und Italien mehrmals besucht (Paris 1857, Rom 1858). In Zürich fast ein Fremdling geworden, hatte ich inzwischen meinen Haushalt aus der Stadt an den See verlegt. Der Reihe nach bewohnte ich Landhäuser in Küsnach, Meilen und wieder Küsnach. Nach meiner Verehelichung mit einer Tochter des Obersten Eduard Ziegler (1875) erwarb ich schließlich den kleinen Landsitz in Kilchberg, wo ich jetzt mit Weib und Kind lebe.
Die Geschichte meiner litterarischen Laufbahn ist folgende: 1868 beklagte sich einer meiner Genfer Bekannten, Ernst Naville, der jetzt Mitglied des Institut de France ist und damals in Genf populär-wissenschaftliche Vorlesungen hielt, welche in vielen Sprachen übersetzt wurden, über die Mangelhaftigkeit der deutschen Ausgabe der ersten dieser »Reden« und ersuchte meine Schwester, die nächste unter meiner Führung zu übersetzen. Das Büchlein erschien bei H. Haessel in Leipzig. Im folgenden Jahre besuchte mich dieser und wir wurden Freunde. Er verlangte von mir etwas Selbstständiges zum Druck. Schon 1864 waren bei Metzler in Stuttgart durch Verwendung Gustav Pfizers »Zwanzig Balladen« erschienen. Ich gab Haessel ein neues Bändchen, das er unter dem Titel »Romanzen und Bilder« 1870 gedruckt hat. 1870 war für mich das kritische Jahr. Der große Krieg, der bei uns in der Schweiz die Gemüther zwiespältig aufgeregt, entschied auch einen Krieg in meiner Seele. Von einem unmerklich gereiften Stammesgefühl jetzt mächtig ergriffen, that ich bei diesem weltgeschichtlichen Anlasse das französische Wesen ab, und innerlich genöthigt, dieser Sinnesänderung Ausdruck zu geben, dichtete ich »Huttens letzte Tage«. Ein zweites Moment dieser Dichtung war meine Vereinsamung in der eigenen Heimat. Die Insel Ufenau lag mir sehr nahe und ebenso nahe lag es meinem Gemüthe, den dort einsam gestorbenen Hutten als meinen Helden zu wählen. »Huttens letzte Tage« erschienen 1871 (5. Aufl. 1884) und fanden ein Publikum. 1872 folgte »Engelberg«, ein schon früher entstandenes und liegen gebliebenes Idyll. Längst hatte mich eine historische Gestalt, die größte der Bündnergeschichte, gefesselt. Bünden war mir durch wiederholte und lange Sommerfrischen sozusagen Schritt um Schritt bekannt und in seinen Chroniken war ich so heimisch als möglich. Nachdem ich mich lange spielend mit dem Stoffe beschäftigt hatte, schrieb ich unter den Kastanienbäumen meiner Wohnung in Meilen den Roman »Jürg Jenatsch« (1. Aufl. 1876, 7. Aufl. 1885). Mit dem französischen Historiker Augustin Thierry hatte ich mich schon in Lausanne viel beschäftigt und die »Récits des temps mérovingiens« ins Deutsche übersetzt (Elberfeld, Friedrichs). Aus der Histoire de la conquête de l'Angleterre war mir die räthselhafte Figur des Thomas Becket entgegengetreten, und ich habe so lange an ihr herumgebildet, bis sie mir fast quälend vor den Augen stand. Ich entledigte mich dieses Phantomes durch den »Heiligen«. Die Novelle erschien 1880 (4. Aufl. 1884). 1882 brachte die »Gedichte«, wo die meisten Balladen und Romanzen sich umgeschmolzen wiederfinden. Vier »Kleine Novellen« (Das Amulet, Der Schuß von der Kanzel, Plautus im Nonnenkloster, Gustav Adolfs Page) erschienen 1883. Meine neuesten Werke sind: »Das Leiden eines Knaben« (1883) und die »Hochzeit des Mönchs« (1884). 1880 hat mir die Universität meiner Vaterstadt den Doctor honoris causa gegeben.«