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Zürcher Taschenbuch auf d.J. 1883. S. 1-18.
Das Jugendbildnis eines bedeutenden Menschen hat immer eine Anziehungskraft. Wir ergötzen uns, aus den kindlichen Zügen das endgültige Gesicht zu entwickeln und dieses hinwiederum auf seine weichen Anfänge zurückzuführen. Die Erbauerin der St. Anna-Kapelle liebte es nicht, ja es widerstrebte ihr, sich abbilden zu lassen. Aber wäre ihr ein verlegtes Jugendbildchen zufällig wieder vor die Augen gekommen, würde sie es doch wohl einen Augenblick betrachtet und dazu gelächelt haben.
Kurze Aufzeichnungen einer Nichte der Seeligen mit eingelegten authentischen Briefstellen ermöglichen es mir, ein lebenswahres Bildnis der jungen Mathilde Escher zu entwerfen, das durch die Aehnlichkeit und den Kontrast mit jener Mathilde Escher, die – wenigstens dem Rufe nach – wir Zürcher alle gekannt haben, eines gewissen Reizes nicht ermangelt. Wenn ich den ausgebildeten Kopf dann noch flüchtig daneben skizziere, so wird es mit wenig Strichen geschehen, aber nach festen persönlichen Erinnerungen. Allenfalls mitlaufendes Beiwerk betrachte der Leser als Arabeske.
Mathilde Escher (geb. den 26. August 1808) beging, wie sie sich im Scherze zu rühmen pflegte, schon in den ersten Wochen ihres Daseins eine Gewaltthat. Sie verdrängte einen heiligen oder profanen Namen aus dem Züricher Kalender. Seltsamer Weise fehlte darin der Name Mathilde, welcher doch derjenige zweier Heiligen ist, nicht zu reden von der berühmten Burgfrau auf Canossa. Herr Escher besuchte Herrn Bürkli in der Schipfe, und der nächste Jahrgang brachte den neuen Namen unter dem 26. August. So ist es gekommen, daß Mathilde Escher ihr Geburts- und ihr Namensfest an demselben Tage feierte.
Sie soll ein kränkliches, reizbares Kind gewesen sein – ich lasse die hübschen Aufzeichnungen fast wörtlich reden – das sich leidenschaftlich ein Schwesterchen wünschte, welcher Wunsch einige Jahre später in Erfüllung ging. Sie hing dann und bis zuletzt – mit ganzer Seele an ihrer Schwester Anna. Ihren ersten Unterricht empfing sie mit einem wenig älteren Bruder, der an Talent dem Vater kaum nachstand.
Dieser, Hans Caspar Escher, war ein genialer, unternehmender, feuriger Mann, welcher neben einer großen kaufmännischen und technischen Begabung auch viel Kunstsinn, besonders ein ausgebildetes Gefühl für Architektur besaß und, im Winter in seiner städtischen Wohnung zum Felsenhof, im Sommer auf seinem am Seeufer gelegenen Landsitze, der schönen Schipf, eine weite Gastfreundschaft übte.
Es ist eine Tradition der »Schipf«, daß zu Ende des letzten Jahrhunderts der fast fünfzigjährige Goethe ihr Gast gewesen sei. Den Saal des obern Hauses betretend und einen weiten Raum mit einer Orgel erblickend, habe er nach dem Ausrufe: »Hier muß man tanzen!« den ganzen Saal wie ein reigenführender Apollo im Tanzschritte durchmessen.
Ein anderes Goethe-Geschichtchen will ich doch auch hier verzeichnen, obwohl es die deutschen Freunde, denen ich es erzählte, nicht sonderlich angesprochen hat; immerhin, so unbedeutend es sein mag, ist es ein authentisches Goethe-Geschichtchen. Der greise Herr Escher selber hat es mir mit einem gewissen Behagen erzählt, und ich gebe es mit seinen eigenen, mir vollkommen erinnerlichen Worten wieder.
Goethe sei mit Escher und zwei jungen Leuten, Deutschen von Adel, wie dieser meinte, von Zürich auf die mehr als zwei Stunden entfernte Albishöhe gewandert. Der eine der Jünglinge, den er mit dem Fernrohr betraut, habe es im Albiswirthshause liegen lassen und Goethe dann erst wieder vor den Thoren der Stadt danach gefragt, um den Lässigen ohne Weiteres auf den Berg zurückzuschicken. »Es liegt auf dem Tischchen unter dem Spiegel«, so habe er ihm den Ort genau bezeichnet. Ich warf ein, Goethe selbst hätte sich wohl erst auf den Ort besinnen müssen. »Keineswegs,« versetzte der alte Escher eifrig, »sondern er wollte dem jungen Menschen eine Lehre geben. Ich fand die Lehre etwas hart,« schloß er, auf den Stockzähnen lächelnd.
Und noch ein Drittes sei erwähnt. Professor Mousson, der das Leben Escher's sehr hübsch erzählt hat, fragt sich, ob dieser, der nicht lang nach dem Besuche Goethes in der Schipf durch die der helvetischen Revolution folgende Geschäftslosigkeit vorübergehend nach Deutschland getrieben wurde, Goethe seinen Besuch in Weimar zurückgegeben habe? Allerdings. Ich erinnere mich noch der Stelle – es war das in den See vorspringende Gartenstück der Schipf, und Herr Escher wurde eben von dem Kapitän eines vorüberfahrenden, in seinen Werkstätten gebauten Bootes begrüßt – wo er es mir bejaht hat: Goethe habe ihm schöne Kunstsachen gewiesen und sie hätten dann zu Dreien gespeist, sie Beide mit einem Frauenzimmer, das die Wirthin gemacht, der er aber nicht vorgestellt und aus welcher er nicht klug geworden sei. (Christiane Vulpius.)
Dieser Wechsel von Stadt und Land bot viel für die geistige und körperliche Entwicklung der Kinder. Der Umgang aber mit mannigfaltigen Menschengesichtern und zahlreichen Gästen war für sie eine Schule sichern Betragens und bildete ihre Zunge. So sprach denn auch Mathilde Escher immerdar klar und bündig, ohne je den Ausdruck zu suchen oder sich in demselben zu vergreifen.
Ein großer Verstand scheint sich frühe bei dem jungen Mädchen entwickelt zu haben neben einer gewissen Strenge, dergestalt, daß sie von ihren Jüngern Vettern und Basen (wie später von ihren Gespielen) ein bischen gefürchtet wurde. Darüber sind die Zeugnisse einstimmig. Wahrscheinlich besaß sie schon damals jenen großen Zug und Schnitt, jenes strenge Wesen, das sie zu einer unter uns ungewöhnlichen Erscheinung machte, sich aber anfangs nicht immer ohne Härte, nicht immer ganz liebenswürdig geäußert haben mag. Ein nichtiges Geschichtchen bezeichnet das am besten. Das junge Mädchen erzählte einmal seinen Gespielen: In einen Kaufladen ohne Geld eingetreten, hätte sie eben einfach gesagt: »Ich bin die Jungfer Escher im Felsenhof« und damit sei es gut gewesen. Nun, nicht diese natürliche Rede, sondern der Ton derselben ist einer überlebenden Gespielin durchaus unvergeßlich geblieben. Und dieselbe Mathilde Escher wurde dann so herzlich demüthig! Wenn nicht, daß dieses von einem starken Naturell, wie mir scheint, unzertrennliche Selbstbewußtsein zuweilen unwillkürlich hervortrat, freilich in sehr gemilderter Form.
»Mathilde« – berichtet unser Msc. – »wurde von einem Herrn Pfarrer Wirz konfirmirt, einem trockenen Rationalisten. Auf den sittlich fein angelegten Charakter des Mädchens machte dieser Unterricht doch einen gewissen Eindruck und sie hing mit aufrichtiger Liebe und Verehrung an ihrem Lehrer. Die Gebildeten huldigten damals dem Rationalismus der Zeit in seinen verschiedenen Färbungen. Nur auf dem Lande fand man noch einfachen Bibelglauben. So erzählte Tante, daß in ihrer Jugendzeit die Lehnsleute in der Schipf den Sonntag still mit Bibellesen zubrachten, was man ganz natürlich, wenn auch nicht nachahmenswert fand.«
Da der Vater und der Bruder fast jedes Jahr große Geschäftsreisen unternahmen, und die Weltbreite offen vor ihnen lag, entwickelte sich auch in dem Mädchen, dem es keineswegs an Unternehmungsgeist fehlte, eine frühe Wanderlust, die Sehnsucht nach einem Blick über die Wälle Zürichs hinweg in die weite Welt hinaus.
Dieser Mädchenwunsch fand seine Erfüllung. Mit zwanzig Jahren sah sich Mathilde Wien und Prag an. Mit zweiundzwanzig hielt sie sich länger als ein Jahr in Frankreich auf und kehrte über Paris heim. Die Fünfundzwanzigjährige folgt dann einer Einladung nach England, wo sie fast heimisch wird und sich mit der englischen Sprache auch etwas von der englischen Sitte aneignet. Über alle diese Wanderfahrten sind Tagebücher und aus den zwei letztern Briefe vorhanden, die uns die Thatkraft und Frische dieser Natur vor das Auge stellen und auch die Anfänge einer religiösen Entwicklung vergegenwärtigen.
Die erste Fahrt war eine Badereise nach Karlsbad mit Vater und Mutter. Man fuhr in eigenem Wagen. Nachdem das Mädchen in München 4 Tage lang das Weiträumige und die Kunstschätze der ersten »großen Stadt«, die sie sah, »Mund und Augen aufsperrend« – so scherzt sie selbst – bestaunt hatte, langte man am zehnten Tage in Karlsbad an. Mathilde schreibt: »Ohne die Gunst einer Empfehlung würde ich von hier weggehen und hätte keinen Menschen kennen gelernt, dessen Andenken nur einen kleinen Winkel in meiner Erinnerung behauptete, oder dessen weitern Schicksalen ich auch nur ein Fünkchen Theilnahme schenken möchte. Das habe ich nicht erwartet. Das ist mir sehr unangenehm. Mich an Menschen anzuschließen, ist mir Bedürfniß. Wie aber soll ich das?«
Die glückliche Empfehlung lautete an die damals sechsundsiebenzigjährige Elise von der Recke, welche in jener Zeit mit ihrem nur um ein Jahr jüngern treuen Begleiter Tiedge ihre Sommer abwechselnd in Karlsbad und Teplitz zubrachte. »Die feine gesuchte Frau, die sonst ziemlich exklusiv war, hatte Freude an den schlichten Schweizern und sah sie gerne bei sich. Gegen Tante war sie sehr liebenswürdig und diese brachte ihr eine schwärmerische Verehrung entgegen.« Auch die Schwiegertochter Goethe's, die heitere Ottilie fand sie in Karlsbad. Hätte sie nur auch ihn dort gefunden! Das Bildnis des Dichters der Urania, des »Canonicus von Tiedge,« hing dann als Karlsbader Erinnerung bis an ihr Lebensende in ihrem Zimmer in der Schipf.
Darauf ging es nach dem schönen Prag und nach Wien, wo Mathilde mit den Eltern einen Besuch bei Karoline Pichler, der Verfasserin des »Agathokles« und der »Frauenwürde« machte. »Wie Tante dazu kam«, schreibt die Nichte »ist mir rätselhaft. Ging ihr doch in späteren Jahren der Sinn für das Romantische so sehr ab, daß wir – wohl mit Unrecht – uns einbildeten, sie habe dergleichen nie gekannt.« Es ist nicht leicht anzunehmen, daß Herr Escher ein Bewunderer der Frau Pichler gewesen sei, welche übrigens damals in Zürich wie anderwärts für eine große Schriftstellerin galt, und ich glaube, daß der Gedanke dieses Besuches in Mathildens Kopf gekeimt hat.
Ernsterer Natur war der Aufenthalt in Frankreich, welcher vierzehn Monate dauerte. Es handelte sich darum, für ein »zunehmendes Schiefwerden« Heilung zu suchen in einer orthopädischen Anstalt, Morlay bei Ligny (Département de la Meuse), wo Mathilde Escher mit ihrer gewohnten Tapferkeit und Ausdauer sich einem mühsamen und langwierigen Heilverfahren unterzog, ohne das Uebel völlig los zu werden, »wie sie so sehr gewünscht hatte.«
Man sagt mir, daß diese körperliche Benachtheiligung »früher wenig auffiel,« aber auch in späteren Jahren war dieselbe weit entfernt, den Eindruck einer Mißbildung zu machen. Sie wurde verwischt durch den bedeutenden Kopf, die edle Haltung, und, einfach und stylvoll, wie Mathilde Escher sich kleidete, mußte man sie schon darauf ansehen um den Fehler zu bemerken. Daß er aber der jungen Dame zu schaffen machte, versteht sich von selbst.
Zu Morlay, auf fremdem Boden, unter unbekannten Menschen, lebte Mathilde in einer »katholischen, zum Teil frivolen« Umgebung. Drei jüngere Mädchen, Schweizerinnen, waren ihrer Obhut anvertraut. »Sie ergreift diese Aufgabe mit dem ganzen Ernst ihres Wesens«. Daneben ist sie fröhlich mit den Fröhlichen. »Les trois glorieuses«, die Julitage 1830, fallen dazwischen. Es geht die Sage, Mathilde Escher habe damals einen Freiheitsbaum umtanzt, und wenn ich mich in meine Erinnerungen vertiefe, will mir scheinen, sie selbst habe mir einmal mit großem Gaudium etwas dergleichen erzählt. Dem sei wie ihm wolle, geschichtlich ist, daß unter ihren Jugendreliquien dreifarbige Bänder sich gefunden haben.
Dann aber kommt eine schwere Zeit. Das Nervenfieber bricht in der Anstalt aus und der Tod hält Einkehr. Eine ihrer Schutzbefohlenen erkrankt und sie hilft dieselbe pflegen. Die Mutter der Darniederliegenden langt an, erkrankt gleichfalls und Mathilde sitzt auch an diesem Krankenlager »alle Sorge für die eigene Gesundheit und für das Ergebnis ihrer Kur hintansetzend«. »Ihre Ruhe und Geistesgegenwart verlassen sie keinen Augenblick.« Auch die erste englische Bekanntschaft wird hier gemacht. Mathilde Escher wohnt zum erstenmal in ihrem Leben einer Hausandacht bei. Das Niederknieen befremdet die Zürcherin, die anglikanische Liturgie dauert ihr zu lange, macht aber Eindruck und das »God bless you« des Abschiedes ergreift sie.
Ein freudiges Nachspiel dieser strengen und charakterbildenden Tage erwartet sie in Paris, wo sie nach langer Trennung die nahenden Schritte ihres Vaters vernimmt und sich ihm in die Arme wirft. Obenan in ihren Pariser-Erinnerungen steht eine Sitzung der Deputirten-Kammer. Sie hört »einen gewissen Thiers« vor einer lautlos lauschenden Versammlung für die Erblichkeit der Pairie sprechen, »mit Geschicklichkeit, Schönheit und Richtigkeit.« »Kein Bühnenspiel, das schönste nicht, nähme ich für diesen Nachmittag.«
Das dritte Wanderjahr, der Aufenthalt bei ihren englischen Freunden, war offenbar das glücklichste ihrer Jugend. Das britische Wesen ist durch seine Ganzheit dem ihrigen congenial. Nach einem längeren Aufenthalt in Manchester und einem kurzen im Norden von Yorkshire reist sie mit Bekannten nach London und läßt sich unterwegs nichts entgehen, die Fabriken so wenig als die berühmten adeligen Landsitze. In Newstead-Abbey schwärmt sie förmlich: »Wie ich das alterthümliche Gebäude erblickte, hob meine noch nicht verrostete Phantasie sich kräftig. Ich konnte wieder wachend träumen. Immer wäre dieser Ort ein fesselnder Rest alter Zeit. Aber den größten Reiz giebt ihm der Gedanke, daß Byron hier gelebt und gedichtet hat. Hier liebte er das erste Mal mit noch unverdorbenem Herzen! Ich hätte gerne geweint, gerne auch mit Worten geschwärmt, aber unverzeihlich wurden diese von den trockenen Manchesterseelen verhöhnt!« Sie meint dann mit einem schönen Mädchenirrthum: »Hätte Byron's erste Liebe Erwiderung gefunden, er wäre nie so tief gesunken,« schließt aber ganz determinirt: »Doch ist es beinahe undenkbar, daß ein solcher Geist je auf ebener Bahn hätte wandeln können. Je stärker das Licht, je schwärzer der Schatten.«
In London bewegte sich Mathilde Escher während der Saison (Frühjahr 1834) nach englischer Weise ganz frei. Mit ihrer »wenig sympathischen« Reisegefährtin miethet sie eine bescheidene Wohnung im Mittelpunkte des Weltverkehrs. Dann wandert sie zu Fuß, zu Wagen, im Boot, selbst zu Esel, mit ihrer Begleiterin, mit andern Bekannten, oft allein, auch mit einem »Hupen« fabrizirenden jungen Schweizer, für dessen Backwerk sie gelegentlich Propaganda macht. »Sie sieht, was nur immer zu sehen ist: Sammlungen, Parlamentshäuser, Spitäler, Schulen, Tower, Docks, die Münze, das Volkstreiben, und schildert es in ihren Briefen genau und lebendig. »Ich bin so weit herumgekommen«, schreibt sie, »als wäre die Welt seit meinem letzten Briefe um einige Schritte gerückt.« Sie schließt dann das Schreiben an ihre Eltern mit der lustigen Unterschrift: »Eure Euch liebende, glückliche, unruhige, kaltblütige, schwindelköpfige Mathilde.«
Bei einem Herrn Knolys sieht sie eine Sammlung von Gemälden Heinrich Füßli's, des sog. Londoner Füßli, darunter auch ein Selbstbildnis. »Ich bemerkte sogleich ein sehr feuriges Auge,« sagt sie, und Herr Knolys betheuert, ihr berühmter Landsmann habe die schönsten, feurigsten, blauen Augen gehabt, die man sehen konnte. Auch Mathilde Escher hatte von ihrem Vater schöne ausdrucksvolle Augen geerbt.
Ein Wiedersehen mit einer in Morlay gemachten Bekanntschaft, Miß Shireff, läßt sie einen Blick in Londons High Life thun. Dann macht sie die Entdeckung, daß »auch diese Gute, Herrliche nicht glücklich ist.«
Nach Manchester, ihrem Standort, zurückgekehrt, unternimmt sie noch eine sehr fröhliche Fahrt mit einer jungen Freundin und deren Bruder, einem Studenten, nach dem »grünen Erin.« »Das eigenthümliche Völkchen der Iren mit seinen witzigen Einfällen und seinem malerischen Schmutze macht ihr viel Spaß, und sie tröstet sich leicht über die Mühsale der Reise in schlechtem Wagen auf noch schlechteren Wegen.« Man sieht: sie hat keine Ahnung von den diesem unglücklichen Volke bevorstehenden Prüfungen.
Über Schottland kehrt sie zurück und nimmt Abschied. »Sorge Dich nicht«, schreibt sie den letzten Brief an ihre Mutter, »daß es mir bei Euch nicht mehr gefalle! Ich freue mich auf unsern häuslichen Herd und meine Freundinnen. Auf die Gesellschaft aber keineswegs. Große Gesellschaft war mir auch in England unsympathisch und ich tauge nicht dafür. Ich nehme und gebe Alles auf Treu und Glauben und werde mich nie an eine gewisse Tändelei gewöhnen, ohne welche man in der großen Welt den Menschen Langeweile macht und hinwiederum von ihnen zum Gähnen gebracht wird.« Der Charakter beginnt sich zu zeichnen.
Eine Posse schloß diese dritte Wanderfahrt. Die Reisende langte mit dem Postwagen um drei Uhr Nachts in Ligny an, fand im Gasthause das vorausbestellte Nachtlager von dem nach Paris reisenden türkischen Gesandten oder einem Türken aus seinem Gefolge usurpirt und setzte sich in der Küche an ein flackerndes Kaminfeuer mit vier Moslim, die ihren Mokka aus Miniaturtäßchen schlürften, während Mathilde den ihrigen aus einer Schale von ungeheurem Umfang trank. Mimisch gaben ihr die Orientalen zu verstehen, daß dieser Größenkontrast auch sie belustige.
Für die nächsten Jahre fehlen die Aufzeichnungen. Dann (1836) beginnt ein Tagebuch, das durch zehn Jahre geführt wird.
Zugleich aber beginnt auch jene konsequente Entwicklung, die uns die Stifterin von St. Anna gegeben hat und die wir hier nur in kurzen Zügen skizziren, denn das Beste davon entzieht sich der Beobachtung und jedenfalls dem Rahmen dieses Portraits.
Von der Sinnesänderung Mathildens läßt sich mit Gewißheit sagen, daß dieselbe eine allmälige war, ohne einen schroffen Bruch mit der Vergangenheit, ohne jene scharfe Wendung, welche Alexander Vinet mit dem rechten Winkel des Rheines bei Basel vergleicht.
Diese Sinnesänderung selbst aber vollzog sich innerhalb des Kirchenglaubens, wie denn Mathilden Escher jede kritische oder spekulative Ader fehlte. Was in ihr vorging, war eine Vertiefung ihrer ethischen Natur. Sie that einen Blick in das Elend der Endlichkeit, und da wußte ihr rationalistischer Optimismus keinen Rath – wahrhaftig, indem ich dieses schreibe, dünkt mich, sie stehe neben mir und sage: Wozu das Alles? Schreiben Sie einfach: In diesen Jahren fand Mathilde Escher ihren Heiland.
Es ist rührend und ergötzlich zugleich, wie sich die Zürcherin noch in ihren Briefen aus England gegen diesen tieferen Menschen sträubt. Zuerst geht sie mit Unitariern um; das konnte sie zu Hause auch haben. Dann hört und spricht sie einen Geistlichen der Independentenkirche, der sie »auf die Bibel, nur auf die Bibel« verweist. Sie möchte um keinen Preis »in ein schwärmerisches Christenthum gerathen.« Sie beunruhigt sich, wie »Herr Fäsi« in den wesentlichen Punkten denke und wird nicht völlig klug daraus. Die Bigotterie erscheint ihr »wie immer gleich abgeschmackt und bedauernswürdig«; ja, als sie nach Zürich zurückgekehrt und, schon halb gewonnen, zum ersten Mal im Hause des Antistes Geßner mit den »Frommen« in Berührung kommt, die dort »in großer Abgeschlossenheit und Verborgenheit« einen festen Kern bildeten, wird sie »mit etwas Mißtrauen« aufgenommen und schreibt dann ganz unbefangen: »Lächeln mußte ich über die Begriffe, welche sich diese Leutchen von uns Weltkindern machen.«
Zwei neue Bekanntschaften wirkten dann entscheidend: die mit einem Buch und die mit einem Menschen.
Wir dürfen annehmen, daß Mathilde Escher die Bibel nicht kannte. Irgend eine Sittenlehre, gewiß eine vorzügliche, hatte wohl »Herr Wirz« mit Bibelsprüchen belegt, oder wenn sie ein Buch, einen Brief der heiligen Schrift im Zusammenhange las, wurde ihr diese wohl voraus durch irgend eine doktrinäre Einleitung, einen schalen Kommentar, wie dergleichen damals in allgemeinem Gebrauche war, in ein unwahres oder wenigstens mattes Licht gerückt. Folgte aber Mathilde dem Rathe des Doktor M.'All (so hieß ihr Bekannter, der Geistliche der Independent Church) und vertiefte sich voraussetzungslos z.B. in den Römerbrief, als ob ihn der Apostel gerade aus seiner Tasche verloren und sie ihn aufgehoben hätte, so war sie mit ihrer großen Natur und ihrer exacten Einbildungskraft die Person dazu, den Apostel sich lebenswahr vor das Auge zu stellen.
Ferner lernte Mathilde Escher die Quäkerin Elisabeth Fry kennen, welche auf einer Reise durch den Kontinent Propaganda machte für ihren Lebensgedanken: die sittliche Pflege der Sträflinge. Der Aufenthalt der Quäkerin in Zürich – schon vorher war ihr Mathilde im Berneroberlande flüchtig begegnet – wirkte entscheidend: er gab der Zürcherin ein Beispiel und eine Bahn. Diese findet keine Worte zu sagen, welchen Eindruck »die hehre Gestalt, die herrliche Frau« auf sie gemacht habe. Das mit weicher Stimme gesprochene »I am pleased to see thee« blieb ihr in unverlöschlichem Andenken.
Mit jener ernsten Tapferkeit, welche der Grundzug ihres Wesens war, entschloß sie sich dann, nach langem innern Kampfe, in die verehrten Stapfen zu treten. Sie war dabei, als sich in Zürich ein Verein für sittliche Pflege der Sträflinge bildete. Ein unerhörtes Unternehmen, eine damals unter uns höchst ungewöhnliche Sache: ein Heraustreten der Frau aus den Schranken des Hauses! Ja, die Zürcherin ging sogar darüber hinweg, daß »Herr Fäsi« sich mit ihr nicht völlig einverstanden erklären konnte.
Nun gab es kein Stillestehen. Über diesen Rest oder diesen Anfang ihres Lebens trete ich, wie es sich gebührt, der Nichte das Wort ab. »Je tiefer Tante in das Elend des Lebens hineinblickte, desto größer wurde ihr Drang, es zu mildern. Schritt um Schritt zog sie sich von den Weltfreuden zurück, um jedes Theilchen ihrer Kraft in den Dienst der Barmherzigkeit zu stellen. Ihr klarer Verstand und ihre Leichtigkeit im Umgang (sagen wir ihr ererbtes Organisationstalent) befähigte sie, rings Arbeitskräfte zu sammeln und zu verwerten. So entstand 1842 ganz in der Stille der Amalienverein in Nachahmung des in Hamburg von Amalie Sieveking gestifteten weiblichen Armenvereins. Sie half die erste Suppenanstalt gründen und noch manches Andere. Am liebsten half sie im Stillen. Mit der Arbeit wuchsen die Kräfte. Gesundheit und Zeiteinteilung ließen sie Vieles bewältigen. Darüber versäumte Tante nie die Ihrigen. Da war ihre erste Lebensaufgabe. Sie wußte Alles wegzuräumen, was sie daran hätte hindern können. Mit großer Liebe pflegte sie ihre Eltern bis in ein hohes Alter.
Strenge gegen sich selbst, war sie es auch gegen die Andern. Es galt mit dem Alten zu brechen. Manche Schroffheit lief mit unter. Mit jedem Lebensjahre aber wurde sie milder und weicher.
Nur selten gönnte sie sich eine Rast. Aber wie fröhlich war sie im Familienkreis und unter den Kleinen! Sah man sie da, die heiterste von Allen, so vergaß man, ein wie ernstes und strenges Leben sie führte.
Mitten in der Arbeit überraschte sie ihre letzte Erkrankung. Gerne hätte sie noch gelebt, aber »wie Gott will!« Ruhig konnte sie Alles weglegen.«
Sie starb den 29. Mai 1875, siebenundsechzig Jahre alt.
Wir dürfen aber nicht bei dem Tode einer Persönlichkeit, die über den Tod hinausglaubte, stehen bleiben. Wir wollen sie uns doch noch einmal recht heiter und lebendig vorstellen, die etwa Fünfzigjährige, mit dem Hintergrunde der schönen Schipf.
Mathilde Escher war eine angenehme edle Erscheinung mit dunklen Haaren, lichtgrauen, geistvollen Augen, schmaler Kopfbildung, fadenschmaler weißer Scheitel und energischer Linie des Profils. Ich sehe sie vor mir, wie sie auf der Veranda ihrem aus der Stadt heimgekehrten Vater den wohlverdienten Thee bereitet, während der Greis ganz patriarchalisch für das Kätzchen Brot in eine Schale Milch brockt und das sich Zierende mit den Worten vermahnt: »Nimm oder ich gebe es den Hühnchen.«
Dieser Greis war aber noch heftigen Fühlens fähig. Ich erinnere mich, daß mir mein Oheim (Stadtseckelmeister Wilhelm Meyer) erzählt hat, ihrer Drei oder Vier, Militärs oder Militärfreunde, hätten sie einst bei dem neunzigjährigen General Ziegler mit Escher zusammengesessen, die Möglichkeit eines Krieges zwischen Preußen und der Schweiz (wegen Neuenburg) etwas prahlerisch nach Soldatenart besprechend, vielleicht auch, um den großen Fabrikherrn ein Bischen zu pikiren. Da sei dieser in jugendlichem Feuer aufgeflammt: »Wie, Herren? Mit einem so sträflichen Leichtsinn sprecht ihr von einer Möglichkeit, die tausende brodlos macht?« Es war immer noch viel Glut unter der Asche. Dabei war der Mann eine hübsche Mischung von großer Klugheit und großer Herzensgüte. Wann er in seinem schnellen Wagen zur Stadt fuhr, hieß er wohl eine mit Körben oder Seidenwuppern belastete Frau, die ebenfalls nach der Stadt pilgerte, neben sich sitzen. Jedermann grüßte ihn, und auch er kannte die Meisten mit dem in seinen volksreichen Werkstätten an die Unterscheidung von Menschengesichtern gewöhnten Auge.
Die strenge Mathilde Escher konnte sich an einem Sommerabende in der Schipf ganz gemüthlich gehen lassen. Sie besaß in hohem Grade, was der Franzose »de la bonne gaîté« nennt. Sie wußte die drolligsten Geschichten, z. B. aus ihrer Jugend, wie sie und die Schwester dem Grafen Erich (dem Jüngern ihres Landhausnachbars Graf Bentzel-Sternau) jeden ferneren Umgang mit ihnen untersagt hätten, bevor er in den Besitz eines Taschentuches gelange. Der Graf sei dann fortgerannt, u., nach einer guten Weile wieder erscheinend, habe er einen baumwollenen rothen Fetzen, welchen er sich bei der Köchin erobert, im Triumph aus der Tasche gezogen.
Was mochte wohl Mathilde Escher von dem alten Bentzel denken? Gewiß, wenn er ihr eine Schale Thee bot mit einem seiner Wortspiele wie z. B. »Sind Sie eine Theïstin, Gnädige?« klassifizirte ihn die Gnädige sofort, aber nicht unter die Weisen. Dieser Graf, – sein Hausmeister war ein Thurgauer und hieß ebenfalls »Herr Graf – ist trotz seines Geistes einer der vergessensten Schriftsteller, weil es ihm unmöglich war, irgend etwas einfach und natürlich auszudrücken. Wer liest heute noch die »Märchen am Kamin,« das »goldene Kalb,« den »steinernen Gast« etc.? Doch behalten einige seiner Schriften kulturgeschichtlichen Werth. Nirgends sonst, meines Wissens, ist die Wirthschaft eines geistlichen Kurstaates – der Graf war ein Kurmainzer – mit solchem Humor und solcher Sachkenntniß geschildert.
Dem Umgange mit diesem übergeistreichen Manne zog Mathilde Escher weit denjenigen ihrer schwäbischen Geistlichen vor, welche schlichtere Leute und zuweilen eben so originelle Köpfe waren.
Ein Mathilden aus ihrer Jugend gebliebener Zug war ihr Sinn für landschaftliche Schönheit. Und es brauchte eben nichts Außerordentliches zu sein. Eine Waldgegend, wie sie oberhalb der Schipf liegen, mit einem Durchblick auf die Seebläue und ihre Segel genügte. Doch war es das Großartig-Einsame der Alpen, was sie vor Allem anzog. Sie mochte dabei an ihren Gott denken. Sie hat mir erzählt, daß sie einmal bei einem Aufenthalt in Tirol, mit ihrer erkrankten Mutter allein, von einer Gebirgslandschaft bis zu strömenden Thränen ergriffen wurde, womit sie wahrlich nicht freigebig war.
Auch für Kunst, wenigstens für die große Kunst, mangelte ihr der Sinn keineswegs. Als sie von ihrer letzten längern Reise (nach Dresden) zurückkam, war sie voller Bewunderung – »sie schwärmte förmlich« – für die beiden Madonnen der Galerie und für die sixtinische insbesondere.
Im Genuß von Speise und Trank war sie sehr mäßig, ohne im Geringsten ein Ascetin zu sein. Einmal nach einem Familienessen, scherzte sie: »Heute habe ich ein Glas alten Rheinweins geleert. Er hat mir gemundet und mich gestärkt. Meine Mittel würden mir täglich diese Labung erlauben, aber ich erlaube sie mir nicht.«
Das Prompte und Entschlossene ihrer Natur trat zuweilen, besonders fackelnden und säumigen Menschen gegenüber, in komischer Weise hervor. Ich erinnere mich einer Fahrt auf das Land, wo Mathilde in einem Dorf mit dem Pfarrer eine Armensache zu bereden hatte. Der Mann wurde aus seiner »Unterweisung« weggerufen. Mathilde machte das Geschäft kurz und deutlich ab. Als dann der Geistliche nicht fertig werden konnte, unterbrach sie ihn mehrmals mit dem Zuruf: »Herr Pfarrer, die Kinder warten«, und schickte ihn, der des Scharwenzens kein Ende fand, schließlich einfach in seine Pfarre zurück.
Oft bediente sie sich drastischer Wendungen, die sie wohl mit einer nachdrücklichen Handgeberde begleitete. Unter Hunderten will ich auf Gerathewohl ein paar erwähnen, wie sie mir gerade im Gedächtnisse obenauf liegen.
Da sie einmal in den Fall kam, sich statt der Pferde ihres Vaters einer Droschke zu bedienen, um in die Schipf zu fahren, trabte der lebensmüde Gaul im langsamsten Tempo auf der Seestraße. »Jeden Augenblick«, erzählte Mathilde Escher ihre Fahrt, »hatte ich Lust, hinauszuspringen und Droschke, Kutscher und Gaul selber zu ziehen.«
Eines Tages von Bittstellern bis auf das Blut geplagt, meinte sie abends: »Wie will ich lachen, wann ich im Sarge liege, und ausrufen: Da, Leute, nehmt den Mammon!«
Als der Schreiber dieser Zeilen einst ein Bischen vor Mathilde philosophirte, sagte sie, mit ihren blendend weißen Zähnen lachend: »Diese Theoreme gleichen einem Netze mit großen Maschen, zwischen welchen die Thatsachen wie Fischlein lustig durchschwimmen.«
Ein anderes Mal war von der Lüge und ihrer weiten Herrschaft die Rede. Jemand behauptete, der Beste komme zuweilen, wo nicht für sich selbst, doch für Andere, die ihm nahe stehen, in den Fall einer Verheimlichung oder eines Verschweigens. Mathilde, die gerade einen kleinen Zweig gebrochen und spielend geschält hatte, bog denselben. »In diesem Falle«, sagte sie, »kehrt ein lauterer Sinn, so bald der Zwang weicht« – und sie ließ die Gerte schnellen. – »von selbst in seine natürliche Lage, d.h. in die Wahrheit zurück.«
Entschlossen, wie gesagt, war sie in einem hohen Grade, und wo sie mitzureden hatte, gab sie zuweilen Räthe, die nahe an das »Biegen oder Brechen«, an das »Lieber handeln und bereuen, als nicht handeln und bereuen« grenzten. Sie beklagte sich dann wohl über die »Halbheit der Männer«.
Ob sie die Menschen kannte? Den Menschen kannte sie gründlich, d. h. in seinen allgemeinen Zügen. Ihr fehlte das Gefühl der Nuance. Sie urtheilte nach dem Maßstabe ihrer eigenen Natur und sah Gute und Böse, wo die Kraft zum Guten und zum Bösen mangelte. So wußte sie auch unter den weiblichen Sträflingen, welche sie zurechtzubringen suchte, mit den sentimentalen Naturen nichts anzufangen. Diese »langweilten« sie und sie sagte wohl, »auf dem Schlamme sei nicht Fuß zu fassen«, während eine rohe, wildwüchsige Kindsmörderin sie beschäftigen und interessiren konnte.
Wo sie aber einmal eine Zuneigung gefaßt hatte oder eine Zuneigung zu ihr gefaßt worden war, blieb sie unverbrüchlich treu. Man hatte in ihrer Nähe das Gefühl des Stetigen, ich hätte fast gesagt des Ewigen.
Was mir diese Sommer und Herbste, in welchen meine Schwester und ich die treue Freundin unserer seeligen Mutter in der Schipf besuchen durften, so reizend erscheinen läßt, ist wohl die zeitweilige Muße, zu der das Landleben von selbst nöthigt. Später, nach dem Tode ihres Vaters, da sie ihren bleibenden Sitz im Felsenhof hatte, war sie immer ein Bischen gejagt, trat stürmisch ein und schied viel zu früh. Sie selbst freilich hat sich je älter, je glücklicher und in ihren letzten Jahren am glücklichsten gefühlt. Das ist eine Thatsache, sei es weil sie Manches erreicht hatte und das Alter überhaupt ein entschiedenerer Zustand ist, als die späteren Mitteljahre, sei es weil das von ihr geglaubte Jenseits ihr seinen ersten Schimmer entgegenwarf.
In jenen Schipf-Jahren litt sie sogar an einem wunderlichen Konflikt, über den sie sich einmal mit der ihr eigenthümlichen Offenheit äußerte, und welcher mir wegen seiner ethischen Berechtigung fest im Gedächtnisse geblieben ist.
Sie hatte ihren Vater so lieb, daß sie gewiß ihr Leben für ihn geopfert hätte. So pflegte sie sein Alter mit der vollsten Hingebung. Auf der andern Seite zerrannen ihr ihre besten Jahre sozusagen zwischen den Fingern. Längst trug sie sich mit dem im Laufe der Zeit wachsenden und drängenden, ja ängstigenden Wunsch, etwas zu »stiften« eine Privatkapelle (bei den damaligen Zerwürfnissen in der Landeskirche), ein Asyl, was weiß ich. Das gestaltete sich in ihrem regen Kopfe bald so, bald anders. Sie wollte doch auch auf ihre Weise das Leben genießen und ihre soziale Stellung. Dazu bedenke man die vom Vater ererbte Unternehmungslust. Bei Lebzeiten desselben war die Sache in ihrem ganzen Umfange nicht wohl zu verwirklichen. Und wenn Mathilde inzwischen selbst starb, so ging sie hinweg unverrichteter Dinge.
Das war eine quälende Lage. Mathilde fühlte das so sehr, daß sie nach dem Hinschiede ihres Vaters den Bau ihres Asyls noch eine geraume Weile hinausschob, um sich nicht in unkindlicher Weise, auf die Erfüllung ihres Wunsches zu stürzen und an dem Andenken ihres Vaters sich zu versündigen.
Die Einweihung des Stiftes von St. Anna war dann ihr Ehrentag, wo sie überlegte, wie unerklärlich bevorzugt diejenigen sind, denen es gelingt, etwas Ganzes zu gründen und kein Stückwerk zu hinterlassen, wo so mancher Tüchtige auf halbem Wege verschwindet.