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Wenn tausendfältige Strahlen, von dem Göttlichen ausgehend, auf tausendfältige Weise von den Erscheinungen zurückgespiegelt werden – wo ist es, daß der Strahl am unmittelbarsten, am meisten als volles, ganzes Sonnenbild zurückgespiegelt wird? Wo anders als von der Erscheinung des echten, des wahrhaftigen Poeten? Nur von ihm aus strahlt wie vom Göttlichen selbst eine wahrhaftige, eine unendlich mannigfaltige, eine lebendige Welt. Ist im vollendeten Heiligen die innerste Idee des Göttlichen lebendig geworden, so ist dies doch nicht wie im echten Poeten die ganze Offenbarung – es ist eine Auswahl – ein Sublimat – ein Exzerpt. Aber im Poeten tritt die Welt selbst mit ihren Lücken und Vollkommenheiten, ihren Schönheiten und Widerlichkeiten, ihrem Guten und Bösen, wie ihre Erscheinung von Ewigkeit her im Geiste des Göttlichen selbst aufgestiegen war, hervor, – belebt – begeistert uns – und ist das höchste Dokument der eignen göttlichen Natur menschlichen Geistes.
Diese Gedanken kamen mir heute, als die Zauberwelt dieses heitersten, frischesten Pfeiles aus Shakespeares Köcher mich belebend, ja entzückend durchdrungen hatte.
O dieser Shakespeare ist selbst wie die Hermione unverloren; und von Tausenden tot geglaubt und doch lebend und beseligend, steigt er immer wieder gleich der Hermione von seinem Piedestal herab, zu allen denen, die seinem geheimnisvollen Kreise mit Liebe und Hingebung sich nahen.
Übrigens wird mir heute recht klar, warum so manche sonst glücklich begabte Naturen zum innern Verständnis dieses Dichters sich gar nicht hindurcharbeiten können. Seine Werke sind nämlich in so großartigem Zusammenhange gedacht, daß notwendig ein Standpunkt gefordert wird, das Ganze zu überblicken und die hohe Kunst des Meisters zu empfinden. Denke dir Raffaels ›Verklärung‹ in einer Handbreit Entfernung stückweise betrachtet, du siehst einzelne prächtige Köpfe, Hände, Füße, dann leere Stellen, dunkle oder helle Flächen, die dir ohne Bedeutung scheinen, und gewiß, du würdest bald ermüden, solltest du lange noch solch stückweise Betrachtungen fortsetzen. Aber nun weiter zurück – in die rechte Entfernung, in das rechte Licht –, und jetzt blitzt dir auf einmal die Macht der ganzen Konzeption des Künstlers entgegen. So mit Shakespeares Stücken! Lies dies ›Wintermärchen‹ stückweis, heute einen Akt, morgen den andern. Vieles wird dich erfreun, manches vielleicht dir unbedeutend erscheinen, anderes zerrissen und ohne Zusammenhang dir vorkommen. Nun aber das Ganze so ohne Unterbrechung rein und klar auf einmal aufgerollt, und welche Fülle des Lebens, welche hohe poetische Freiheit, welche Frischheit der Zeichnungen! – Also Heil dem Dichter, und Dank dem Lehrer!
Ich sah einst eine blank aus der Werkstatt heraufgehobne Glocke. Damit man sich überzeuge, ihr Ton zum Geläute sei genau der geforderte, brachte man die Pfeife einer Orgel und gab ebendiesen Ton auf ihr an. Sowie der Ton rein aus dem Rohr erklang, fing die Glocke an, von selbst mächtig zu dröhnen und zu erklingen, ohne daß sie berührt war. Kein andrer Ton regte ihr Klingen an. So geht es mir und am Ende wohl jedem. Nur tief Verwandtes regt Verwandtes mächtig auf.
Mir ist heute abend sonderbar zumute nach diesem ›Sommernachtstraum‹. Wie drängt sich mit Macht die ganze bunte Welt der Poesie heran! ... Und wahr ists, man muß diese Sachen doch alle auch einmal suchen auf eine würdige Weise zu verkörpern, um sie ganz und allseitig zu fassen. Solange wir sie einzig lesen oder lesen hören, bleiben sie im letzten Grunde doch immer etwas ›von des Gedankens Blässe angekränkelt‹. Sehnt sich doch alle Idee, wenn ihre Zeit gekommen ist, zu einem vollen ganzen und leiblichen Sich-Darleben. Und zumal solche Werke, die unmittelbar zum Darstellen von einem Geiste wie Shakespeare geschaffen wurden. Wir treiben vielleicht oft eine Art Metaphysik mit dem, was zu einer eigentlichen Physis bestimmt ist. Aber freilich, das schöne Wort, das auch hier so ganz beiläufig der Dichter den Theseus sagen läßt und was auch hier wieder den Schlüssel mindestens zur Darstellung des Stücks enthält, es muß nicht vergessen werden: ›Das Beste in dieser Art ist nur Schattenspiel, und das Schlechteste ist nichts Schlechteres, wenn die Einbildungskraft nachhilft.‹
Wir müssen vor die Bühne den Geist und das Verständnis des Dichters mitbringen. Auch hier bekommt nur der, der da hat, und der nicht hat, von dem wird auch noch das genommen, was er hat. Aber lebt diese ganze Wunderwelt schon in unserm Haupte, sehnt sie sich wie eingeschlossene Geister nach Befreiung und möchte lange schon heraus ins volle Leben der Menschen und eröffnen sich ihr nun so die Kreise einer seltsamen Wirklichkeit – bei buntem Lichtschimmer dringen wirklich Lebensbilder dieser Vorstellungen heran-, dann saugen auch aus dieser Wirklichkeit die Gedanken unsers Innern einen gewissen Lebenssaft an und nähren und erfreuen sich daran, decken auch darum gern die Lücken dieser Wirklichkeit zu und leben sich gewissermaßen mit jenen Erscheinungen ein. So ging mirs heute abend. Ich fühlte mich so durchwärmt von diesem Schauen und Hören, die Vorstellungswelt innern poetischen Schaffens war wie von neuem, frischem Lebenssaft durchdrungen, und der ganze frische Lebensmut, von dem das nichtige Treiben des Tages uns gern abbringen möchte, wenn es nur könnte, er flammte so recht hell wieder auf.
...Und so kann man hier noch an tausend anderes erinnert werden, zumal an das, was der Vorwurf dieses ganzen Stücks ist, nämlich die seltsam wechselnde Phantasmagorie menschlicher Neigungen und Schicksale zu zeigen und erkennen zu lassen, wie all dieser Streit und all dies Schwanken und Neigen und Beugen im Lichte des Ewigen und Einen so gar so unbedeutend erscheint, damit dann endlich die Zuschauer hier wie im Leben selbst sich sagen können:
Wenn die Schatten euch beleidigt,
O so glaubt – und wohlverteidigt
Sind sie dann –, wir alle schier
Haben nur geschlummert hier
Und geschaut in Nachtgesichten
Unsers eignen Hirnes Dichten.
Der große Kenner menschlicher Eigentümlichkeit und menschlicher Verhältnisse, Shakespeare, hat in ›Antonius und Kleopatra‹ eine merkwürdige Stelle, welche die magische Wirkung des einen Geistes über den andern im Leben treffend schildert ... Der Augur sagt zum Antonius in Beziehung auf seine Stellung gegen Cäsar:
Dein Geist, der dich beschützt, dein Dämon, ist
Hochherzig, edel, mutig, unerreichbar,
Dem Cäsar fern; doch nah ihm, wird dein Engel
Zur Furcht, wie eingeschüchtert. Darum bleibe
Raum zwischen dir und ihm.
... Versuche du mit ihm, welch Spiel du willst.
Gewiß verlierst du: sein natürlich Glück
Schlägt dich, wie schlecht er steht: dein Glanz wird trübe,
Strahlt er daneben. Noch einmal, dein Geist,
Kommt er ihm nah, verliert den Mut zu herrschen,
Doch ihm entfernt, erhebt er sich.
Und dann Antonius für sich:
Er sagte wahr.
Der Würfel selbst gehorcht ihm,
In unsern Spielen weicht vor seinem Glück
Mein beßrer Plan:
Ziehn wir
ein Los, gewinnt er.
In diesen Worten ist viel von dem ausgesprochen, was als einer der wesentlichsten Hebel der Weltbegebenheiten im Großen und Kleinen gedacht werden muß. Man folge bedeutenden Charakteren in der Geschichte, und man wird finden, ihnen allen, und dem einen mehr, dem anderen weniger, wohnt ein gewisses Prestige, ein eigentümliches, nicht weiter zu bestimmendes Etwas bei, das wir bald als günstiges oder auch, nach anderer Seite, als verderbliches Gestirn charakterisieren und was am Ende immer am bestimmtesten mit dem Worte des magischen Prinzips ausgesprochen werden wird. Der Zauber, mit dem Napoleon seine Soldaten faszinierte, die Macht, welche Friedrich den Großen in den schwersten Verhältnissen rettete und ihm den Mut gab, dem österreichischen Grenadier, der auf ihn angelegt hatte, den Befehl zuzurufen: »Du, schieß nicht!«, die Sicherheit, die den Cäsar den verzagten Führer seines Schiffs mit den Worten beruhigen ließ: »Du trägst den Cäsar und sein Glück!« – ja der Begriff des Glücks überhaupt – als einer ›Fortuna‹, einer Glücksgöttin, welche dem Starken sich zuwendet und ihn rettet und erhebt, endlich wohl aber auch übermütig mache, dies alles ist ein Beweis davon, daß man seit den ältesten Zeiten diese magische Wirkung des Genius auf wirkliches Leben empfunden und anerkannt hat.
Geht man nun diesem sonderbaren Phänomen im einzelnen schärfer nach, so kommt man noch auf manche wichtige Verhältnisse. Eins der merkwürdigsten ist folgendes: Wenn ein bedeutender Geist, mit dieser geheimen Macht über Leben und Menschheit ausgerüstet, eine Zeit lang dadurch auf das entschiedenste in seinem Entwicklungsgange gefördert worden ist, so wird man, ihn beobachtend, immer erkennen, daß er gerade dann die sichersten Erfolge zu erfahren pflegte und dann in seinen Unternehmungen am glücklichsten war, wenn er, ohne weiter an diese seine Begabung zu denken, nur eben rastlos vorschritt, nur seine Tatkraft anspannte, scharf die Gegenstände ins Auge fassend, ihnen, ohne dabei an sich selbst weiter zu denken, das Möglichste abgewann, kurz, die größte Objektivität zu seiner Richtschnur nahm. In solchen Fällen haben wir alsdann unfehlbar oft das Gefühl, als sähen wir den Nachtwandler über Dächer und Giebel steigen, dem ebenso dies Nicht-Wissen von Gefahr und Nicht-Denken über sich selbst einen Gang sichert, von welchem er unfehlbar herabstürzen würde, sobald ihm die Augen für die Abgründe unter ihm geöffnet wärm. Wie eigen ist es daher, daß schon im Altertum der Menschheit der Gedanke aufging: man müsse, ebenso etwa, wie dem Nachtwandler nicht sein Name zugerufen werden dürfe, den vom Glück Begünstigten überall hüten, daß er sich nicht dieser seiner Macht zu entschieden bewußt werde. Wer sich seines Glücks rühme und sich dadurch gerade gesichert erkläre, den treffe leicht Unglück, und es sei daher nicht gut, zu sagen: ›Ich bin glücklich‹, oder es sich zurufen zu lassen, denn gerade dadurch werde das Glück verscheucht. – Offenbar hat alles dies keine andere Bedeutung, als den Zauber des Unbewußten möglichst ungestört zu erhalten und dadurch dem Wirken des Menschen jene Unbefangenheit zu sichern, welche das Siegel aller der Handlungen sein muß, welche mit dem vollkommensten Erfolge gekrönt werden sollen. Und in Wahrheit, wieviel Beispiele zählt uns die Geschichte auf, in denen wir klärlich beobachten können, daß Menschen, denen eben jener Glücksstern von Haus aus leuchtete, Menschen, die eben dadurch und indem sie nur, wie von einer unaufhaltsamen Nötigung getrieben, ihre Bahn liefen und denen dadurch die unglaublichsten Dinge gelangen, dann, wenn sie in diesen Erfolgen zu einem gewissen Selbstbewußtsein gekommen waren, wenn sie anfingen zu glauben, es müsse ihnen von jetzt an alles Weitere unbedingt zufallen und das Glück sei jetzt wirklich ihr dienstbarer Sklave geworden, nun alsbald aufhörten, irgend bedeutende Erfolge zu haben, ja oftmals sogar von ihren erstiegenen Höhen rettungslos herabstürzten, so daß es uns dann dünken muß, als verwürfe eine höhere Hand sofort das Werkzeug, durch welches eine bedeutende Änderung in den Verhältnissen der Menschheit herbeigeführt worden war, sobald dieses Werkzeug nicht als solches mehr unbedingt sich hingibt, vielmehr sich selbst als ein Eigenmächtiges geltend zu machen die Absicht zeigt.
Und ist es doch wirklich so. Man kann die großen Bewegungen der Menschheit, wie sie uns die Geschichte aufgezeichnet hat, nie verfolgen, ohne den Charakter des Organischen, des nach einer gewissen höhern Ordnung Abgemessenen und Vorgezeichneten deutlich zu erkennen und dabei überall durchzufühlen, daß, obwohl all diese Bewegungen nur ins Leben getreten sind mittels besonderer auf dem Hintergrunde des Gewöhnlichen und Alltäglichen sich hervorhebender Persönlichkeiten, sie doch an und für sich (eben weil einer höhern Ordnung angehörig) unabhängig bleiben mußten von der Willkür dieser einzelnen Geister. Sobald also diese Willkür irgend so groß werden könnte, daß sie dieser höhern Vorzeichnung nicht mehr unbedingt unterworfen bliebe, mußte daher dem Geiste, der den Träger derselben abgab, notwendig seine Stellung entzogen werden, und so verständigt uns eine solche Betrachtung wohl über manche sonst unerklärliche Begebenheit des Lebens.
›Das Licht wird trübe‹, das ist das Wort, in dem der Grundton dieses ›namenlosen Werkes‹ am eigensten ausgesprochen ist. Wie man doch jedesmal, wenn solch ungeheures Werk auf einen neu einwirkt, es wieder irgend von einer besondern, einer neuen Seite gewahr wird und auffaßt! Mir erschien heute mehr wie sonst der eigentümliche Farbenton des Ganzen – dieses falbe Licht eines regnerischen Abends, wie es sich über alle Gruppen und Gestalten, ja Bilder und Worte verbreitet. Ich konnte mir geistig fast den Farbenton malen, in welchem, wie durch ein farbiges, etwa rauchgelbes Glas gesehen, diese ungeheure Vision erscheint. Ja, ja! Totalität zu empfinden, zu begreifen, da liegts. Das können, das wollen die Leute nicht – mäkeln und feilschen am Menschen wie an Werken. Wie schief sah nicht Schiller diesen ›Macbeth‹ an; wie wenig konnte er den Standpunkt finden, von dem gesehen allein erst alle Linien dieser titanenhaft perspektivischen Szenerie in ihrer eigensten Wahrhaftigkeit erscheinen. Doch sei auch er in seiner Totalität geehrt – nur reichte sie nicht an die Universalität Shakespeares.
Wieder einmal ist diese große Tragödie an mir vorübergegangen. Ich mußte tief und lange darüber nachdenken, warum dies Werk so unsterblich sei. Und ich antwortete mir endlich: weil es das Geschick der Liebe – aller Liebe – mehr oder weniger darstellt. Die Liebe, dieser Blitz des Himmels – dieser Feuerfunke, aus einer andern Welt auf diesen dürftigen Planeten heruntergefallen – sie kann sich nie mit dieser Welt amalgamieren. Entweder sie muß mit Not, mit Schmerz, mit ewiger Entbehrung kämpfen, oder sie verflacht sich in der Alltäglichkeit eines elenden, langweiligen gesellschaftlichen Zustandes. Dieses innere Erglühen der Seele in heißer, herrlichster Liebe – es ist in der Welt ein Fremdling; – wem es der Gott zu fühlen gegeben, in dem ruht es als ein tiefstes Geheimnis, und dadurch, daß er dieses Geheimnis in seinem Busen verwahrt, ist er einer der Auserwählten geworden; er trägt ein tiefes, mystisches Symbol an sich, was ihm nicht etwa ein heiteres, bequemes Leben, vielmehr tiefen Schmerz, grimmige Entbehrungen, schwere Kämpfe verheißt. Und doch – trotz alledem ist er ein Auserwählter! In ihm glüht eine Himmelsflamme, die ihn über tausendfältiges sonst Gepriesene und für ihn jetzt nur Nichtige und Gemeine erhebt – er ist wie einer, der sich in schwerer Zeit (zur Befreiung eines Landes etwa) im Leben dem Tode geweiht hat und der doch eine Seligkeit in sich trägt, die allen, die im gewöhnlichen Leben sich behaben, so ganz unbekannt ist und bleibt. – Dies Geheimnis der Liebe nun, diese göttliche Weise – die nicht Ruhe und der Welt Herrlichkeit, die Schmerz und Entsagung verheißt und ihre Seligkeitsfülle nur in einzelnen Blitzen ins Leben hineinleuchten läßt – dieses dem gemeinen Auge so ganz verschlossene Wunder hat Shakespeare im ›Romeo‹ erschaut, in dem Gleichnis dieser Geschichte hingestellt, – und weil zwar wenige das Wunder klar erkennen, aber doch jedes Herz eine Ahnung davon in sich trägt, wirkt gerade dieses Werk so mächtig und wird wirken, solange es Menschen gibt. Mir selbst ist in diesen Gedanken eine höhere Beruhigung aufgegangen – ich habe die Notwendigkeit von Qual und Schmerz für jeden deutlich erkannt, in dem die Seligkeit der Liebe glüht. – Der wahre Liebende ist wie der Fahnenträger in der Schlacht – er ist gewürdigt, die geheiligte Oriflamme zu tragen, und er mag sich wundern, daß nun auch alle Geschosse nach ihm zielen ...
Durch Sturm, Regen und Finsternis komme ich zurück von Tieck, wo der ›Lear‹ vorgelesen wurde.
Ein solches Lesen, wo das Stück recht mit einem Male wie ein aufgerolltes Palmenblatt sich ausbreitet, hat seine besondern Vorzüge, und zumal heute fand ich alles so zusammenstimmend: wenig Menschen, nicht zu helle Erleuchtung; draußen, wie im ›Lear‹ selbst, arges Regenwetter, zwiefach niedergießend, aus Dachrinnen und Traufen, deren Wasser vom Winde trübselig gegen das Fenster geworfen wurde, nur zuweilen vom dumpfen Rollen der Wagen übertönt.
So etwas hallt dann eine Zeit lang nach und nötigt, eben weil es die ganze Seele ergreift, nicht bloß zu einer gewissen Stimmung, sondern zugleich zu gewissen Betrachtungen. Man will auch das innere Wölbungsprinzip eines solchen ungeheuern Gebäudes erfahren, und das Bestreben, die eigentliche Entwicklungsgeschichte eines Werkes dieser Art zu ergründen, kann zu den weitesten Gedankenzügen veranlassen.
Bedenke ich aber das Samenkorn, aus welchem der gewaltige Geist Shakespeares den in alle Zeiten hineinragenden Baum der Szenen dieses ›Lear‹ gezogen hat, so muß ich es mit dem Namen Übereilung belegen. Übereilung, dieser Feldruf jeder überschäumenden Leidenschaft, dieses Irrlicht des Willens, dieser Totschlag der Vernunft, sie ist es, deren Giftzahn sich gleich anfangs ins Fleisch des Stückes verbeißt und ihr Gift rettungslos weiter durch alle Adern sich ergießen läßt, bis es dann in Wahnsinn und Tod, und nichts als Tod, sich enden muß.
Nirgends Klarheit, Überblick, Besonnenheit in diesen Menschen, im Guten wie im Bösen! Kent mit aller Bravheit nicht minder sich überstürzend als Gloster mit seinem übereilten Mißtrauen und Zorn, und Lear selbst mit einer Reihe von Übereilungen, welche zurückschließen läßt auf tausend ähnliche frühere und dadurch zugleich die Verzerrung des Charakters seiner altern Kinder verständlich macht; denn was wirkt schmählicher auf Bildung des erwachenden Menschen als Vorbilder, die von steter, leidenschaftlicher Hitze aus einer Übereilung zur andern getrieben werden! Und nun in allen diesen Übereilungen wieder ebenso viele Blößen gegeben, wo lauernder böser Wille anderer sich einhacken und den kranken Körper noch unbarmherziger zerreißen muß!
O fluchwerter Wahnsinn toller Leidenschaftlichkeit, wie hell hat deine Verderblichkeit der Dichter erschaut, daß er gerade hier das ungeheuerste Werk aufgeführt hat, was irgend gedichtet worden! Es war mir wie wohltätig beruhigendes Öl, ausgegossen auf diese sich bäumenden Wogen, als mir die edeln Worte Jean Pauls einfielen: ›Man hat so im öffentlichen wie im Privatleben nur dafür zu sorgen, daß man bei allen leidenschaftlichen Umgebungen ruhig bleibe und auf sich selbst ruhe als auf einem Berge zum Umschauen.‹
Und ist es denn etwa nicht so? Seht euch um im Leben, in der Geschichte! Was führt denn eigentlich die Hölle herauf auf die Erde? Ist nicht das Vernichten der Besonnenheit, die Umstürzung der Vernunft durch den unvorhergesehenen Vulkansausbruch der Leidenschaft, welche den Menschen übereilt, der erste Springquell des Verderbens? Gebt doch dem Menschen Zeit, stellt ein Jahrzehnt zwischen ihn und ein durch Leidenschaft gefordertes Unternehmen, macht, daß er die ganze Urteilskraft brauchen könne, die ihm verliehen war, und er wird das Törichte seines Vorhabens allmählich erkennen, er wird es unterlassen. Die Sünde ist meistens ein nicht eben starker Streiter, der den Menschen nur übermannt, weil er ihn überrascht, ihm nicht Zeit läßt, seine Waffen zu gebrauchen, und am wenigsten dann, wenn er sie beiseite gelegt hat oder einrosten ließ; gebt dem Menschen Zeit, sich in Verteidigungszustand zu setzen, und der Feind ist schon halb geschlagen! Und doch muß es so sein; denn, wie anderwärts bei Shakespeare geschrieben steht: auch ›Unternehmungen voll Mark und Nachdruck, von des Gedankens Blässe angekränkelt, verlieren so der Handlung Namen‹. Daher dringt die Natur auf rasche Entscheidung; der Mensch soll sich zusammennehmen lernen, und nur durch Besonnenheit, Gesammeltsein in jedem Punkt wird das Kunstwerk eines reinen, vernunftmäßigen Lebens erbaut werden.
Doch davon wäre viel zu sagen. Mir war es nur heute abend merkwürdig, wie durch das verschlungene Szenenwerk dieses Stücks mir diese Gedanken immer, wie Morgenlicht durch dunkles Rankengewebe, vorschwebten und wie sich nun gegen das Ende in einem großen, nur beiläufig ausgesprochenen Worte: ›Reif sein ist alles!‹ das Rätsel dieser Bewegungen aufklärte. Es war mir eigentlich heute zum ersten Male die Bedeutung dieser Stelle recht hell aufgegangen, und doch gab es mir gleich wieder neuen Stoff zu Betrachtungen, wie der Genius des Dichters dergleichen große Worte nur so eben mit ausgeschüttet: sie tönen, ihm selbst oft im höhern poetischen Wahnsinn entfallen, unter dem Chor verschiedenartiger Stimmen mit und stiegen wie Sibyllinische Blätter dahin, von vielen unbeachtet, von einigen gehört, von wenigen verstanden und von niemand in ihrer ganzen Ausdehnung ergründet.
Diesen Aufsatz teilte ich einmal Tieck selbst mit; er hatte solchen Gefallen daran, daß er ihn in seinen ›Dramaturgischen Blättern‹ bei der ehemaligen Dresdner Morgenzeitung mit abdrucken ließ. Er fügte folgendes Nachwort hinzu:
Ist in dieser Hinsicht nicht der ›Hamlet‹ der Gegensatz des ›Lear‹? Und ist dieses Schwanken, diese krampfhafte, überreizte Unentschlossenheit, die die Tat nicht finden kann, weil sie zu geistreich, zu poetisch und grübelnd tiefsinnig über alles Tun hinwegsieht und in zu großer Anstrengung der Kräfte [sie] zum Vollbringen lahm macht, eben besser, edler und vernünftiger als jene Übereilung in den verschiedenen Personen des ›Lear‹, die das ungeheure Elend hervorbringt? Diese beiden unsterblichen Werke ergänzen sich gewissermaßen; – und wie Hamlet sagt: ›Rasch – und Dank der Raschheit‹ – usw. (Akt V), das lehre uns, daß eine höhere Weisheit unsre Absichten ausbildet, vollendet, wie wir unsere Pläne auch roh skizzieren mögen – so ist damit (ohne daß Hamlet es so versteht oder verstehen kann) der tiefste Sinn des ›Hamlet‹, ›Lear‹, ›Macbeth‹ und auch der alten griechischen Tragödie ausgesprochen. – Wie lehrreich ist es, einem verständigen Geiste wie im obigen Aufsatze zuzuhören, dem es leicht wird, gerade an eine Betrachtung, an ein Wort das Höchste zu knüpfen, die nur allzuoft von der Menge alltäglich und trivial gescholten werden. Nicht das Ergrübelte, Ferne, Seltsame ist es, was Shakespeare charakterisiert, nicht dies erklärt ihn, sondern das Nächste und Einfachste, über das der Unbedachtsame auch oft stolpert, ohne es zu bemerken. Und ist es mit dem Sophokles anders?
L.T.
Eine so merkwürdige Erscheinung wie der ›Hamlet‹ sollte man nie an sich vorübergehen lassen, ohne auszusagen und aufzuzeichnen, wie sie auf uns gewirkt hat; denn bleibt auch die Erscheinung an sich stets dieselbe, so bleiben wir nicht dieselben, und die Art, wie wir gerade ein Werk solcher Natur angeschaut haben, wird uns immer gewissermaßen ein Zeichen und Dokument unsres damaligen Entwicklungs- und Bildungszustandes sein können. Für diesmal hat mich besonders der große organische Gang des Ganzen erfaßt und beschäftigt. Gewiß, es liegt eine höchst klare Naturnotwendigkeit in dem Fortschreiten dieser Ereignisse. Wie an der aufschießenden Pflanze das erste, unscheinbare Samenkorn die dunkle Erde birgt, so daß wir nur durch das Hervortreten der Keimblätter von ihm erfahren, so liegt die Handlung, welche den Keim des Stücks enthält, der Mord von Hamlets Vater, außerhalb der Grenzen des Stücks, und wie das Samenkorn auch längere Zeit in der Erde ruhen muß, ehe der Keim hervordringt, so ist seit jenem Morde schon ein Monat vergangen, bevor die Handlung des Stücks beginnt. Da öffnet nun wirklich die Gruft ihre Marmorkiefern, der Geist des Ermordeten dringt als der Keim der dramatischen Pflanze herauf, immer reicher entfalten sich Szenen und Charaktere bis zur Darstellung des Schauspiels im Schauspiel, welche Epoche man ganz eigentlich die Blütenzeit des Stücks nennen darf. Wirklich, wie in der Blüte die Idee der gesamten Pflanze sich wiederholt und wie, wenn die Blüte sich entwickelt hat, das Absterben der Pflanze oder mindestens der zur Blüte gehörigen Pflanzenteile notwendig und unmittelbar erfolgen muß, so auch hier. Das von Hamlet veranstaltete Schauspiel führt noch einmal den grimmigen Mord, welchen wir das Samenkorn des Stücks genannt haben, herauf; ganz so wiederholt und erzeugt in der Blüte sich wieder das Samenkorn, aus welchem die ganze Pflanze hervorging. Der Geist des Ermordeten schreitet, wie am Beginn des Stücks nach dem wirklichen Mord, so hier nach dem künstlich widergespiegelten, über die Bühne, und nun erst ist alles klar und erkannt, damit aber auch gerichtet und unrettbar einer frühern oder spätern Vergeltung und Vollstreckung anheimgegeben. Die aufsprühende Kraft des höchsten Blütenlebens verkörpert sich hier im Hamlet; feurig, scharf und entschieden tritt er selbst als Richter seiner Mutter hervor, und nirgends erscheint er wie auf dieser Stelle in solcher Macht und Entschlossenheit. Nicht wie gewöhnlich, ›von des Gedankens Blässe angekränkelt‹, verliert er sich in Worten, sondern er redet, wie er selbst sagt, Dolche, und sein Benehmen ist ›voll Mark und Nachdruck‹. Sogleich aber und ganz so, wie die Blume schon bei ihrem vollen ersten Erschließen auch gewisse Hüllen (so etwa der Mohn die Kelchschuppen) abstößt, fällt auch in dieser Szene das erste abgelebte Blatt der dramatischen Blüte – der Polonius. Ihm folgt bald nach das zarteste Blumenblatt – Ophelia – so fallen wirklich bei fast allen Blüten die Blumenblätter vor den Staubfäden –, bis denn endlich auch die wichtigsten innern Teile der dramatischen Blüte, die ersten handelnden Personen, der König, die Königin, Hamlet und Laertes, ihre Häupter senken und sterben.
Fragt man nun endlich, inwiefern ein solcher Vergleich nützen könne, und frage ich mich selbst, warum er mir beim Überhören des Stücks so ganz ungesucht gekommen sei, so muß ich nur aussprechen, daß es deshalb sei, weil er mir aufs neue bewährt, daß das organische Bildungsprinzip, welches in der Schöpfung organischer Naturen durch den Weltgeist herrscht, ewig kein anderes sein könne als das, was auch in den Schöpfungen echter poetischer Werke durch den menschlichen Genius sich bewährt, und immer werden wir uns daher gefördert finden, wenn wir auch in dem Kunstwerke wie im Naturwerke das Gesetz seiner Bildung uns möglichst deutlich vergegenwärtigen können. Hat doch das Bestreben, ein solches Entwicklungsgesetz genauer zu erkennen und immer lebendiger in mich aufzunehmen, seit langem ein wesentliches Ziel meiner Bestrebungen ausgemacht, und muß ich es doch eben darum mit Freude erfassen, wenn auch im Kunstwerk ein solches Gesetz mir mehr und mehr vernehmbar geworden ist.
Es wird vielleicht dem Leser nicht uninteressant sein, wenn er mit der hier gegebenen Betrachtung des ›Hamlet‹ die Worte vergleichen will, welche Tieck einst über dasselbe Stück bei Gelegenheit meines Aufsatzes über den ›Lear‹ mitgeteilt hat [siehe Seite 16]. Tieck hält sich dort besonders an den retardierenden Charakter des ganzen Stücks, so wie ich beim ›Lear‹ gezeigt hatte, daß da alles auf Übereilung beruhe. Gewiß, die Stücke Shakespeares eignen sich ganz besonders dazu, sie von diesem organischen Standpunkt aus zu betrachten. Und so habe ich denn schon früher auch nicht umhin gekonnt, bei dem ›Macbeth‹ zuweilen an den eigentlichen Gang einer Krankheitsentwicklung zu denken. Ist es nicht, als ob man dort die Einimpfung eines Pestgiftes vor sich hätte? Der zweideutige Ruf der Schicksalsweiber fällt in die brütende Seele des Kriegers wie ein eitermachendes Gift in den von Säften strotzenden Organismus; gleich darauf entsteht die Gärung im Gemüt wie die Entzündung auf die Einimpfung, die Gärung erzeugt die Unglückstat, wie die Entzündung die Eiterbeule hervorruft, und von da an gießt sich nun das Fieber durch alle kurz zuvor noch so gesunden Säfte, immer weiter raset die Krankheit, bis in Wahnsinn und Tod alles endigt. Ein trauriges Bild eines unzulänglichen, einer schweren Versuchung leicht erliegenden Geistes.
Hat man einmal wieder ein so gewaltiges Werk im Ganzen und im Einzelnen überblickt und ist so recht aufs neue von dem Außerordentlichen einer Größe dieser Art durchdrungen, so versuche man doch um des Himmels willen nicht, etwas wie eine Lobpreisung aussprechen zu wollen. Ich hörte solches Lallen wohl, und es klang immer unmittelbar nach dergleichen einigermaßen absurd. Eher mag man wohl mit Freunden über Bedeutung der einzelnen Charaktere und namentlich über die Art und Weise, wie ein solches Werk entsteht, seine Gedanken austauschen. Einem, der da meinte, ob nicht dieser ›Tasso‹ auf ein ganz besonderes Erlebnis Goethes sich gründen möge, sagte ich ungefähr: ›Ein Geist wie Goethe erfährt im Leben ja ganz notwendig alle diese Regungen, die im ›Tasso‹ zur Sprache kommen, und viele andere mit. Dergleichen sammelt sich im Dichter auf und wird in einem feinen Herzen gehegt und gepflegt. Wird er nun zu guter Stunde und, wie man gemeinhin sagt, zufällig eine Begebenheit oder einen Charakter gewahr, der dem Aufgesammelten und der innern Stimmung homogen ist, so drängen alle vorhandenen Gedanken der gleichnamigen Reihe mit Macht sich auf und um jene Auffassung herum, und das höhere organische Kunstwerk entsteht. So sieht der Chemiker eine Flüssigkeit, wenn sie als gesättigte Auflösung eines Salzes schon ganz zum Kristallisieren gestimmt ist, nur das Hineinwerfen eines gleichnamigen Kristalls erwarten, und alsbald schießen die Atome des Salzes um diesen Bildungspunkt an, und schnell wird die glänzende Kristalldruse vollendet.‹
Ist denn eigentlich wohl jemals ein herzzerschneidenderes Schauspiel geschrieben worden und dabei ein herrlicheres als dieser ›Tasso‹! Muß es nicht vorkommen, wenn wir es so im ganzen auffassen, als stürbe in allen andern Tragödien nur der Leib, wenn dagegen hier die zartesten, empfindlichsten Gewebe der Seele eins nach dem andern in seinen Fäden getrennt und scharf zerschnitten werden! Und welche Seelen sind es, die hier, ihren zartesten geistigen Ichor ausblutend, zugrunde gehen! Sind es nicht selbst die zartesten, hochgebildetsten, reichbegabtesten! Und nun bei all dieser erschütternden Qual, bei diesem quetschenden Unglück, welches eben (und das ist das Grausame!) für die gemeine Natur gar kein Unglück sein würde, welche Fülle von Schönheit, welcher Zauber südlicher Welt und reichen innern Lebens! Gewiß, wer den ›Tasso‹ einmal innig erkannt und durchdrungen hat, wird ihn für das in sich vollendetste Werk Goethes zu halten kein Bedenken tragen ...
Ja, und da tritt nun wohl der Philister hervor (ich hatte zufällig bei der Lektüre nicht weit danach zu suchen) und redet von Goethe und ärgert sich, daß es dem bequemen Menschen doch so gar wohl geworden, während ein verdienter Mann im schweren Staatsdienst sich plagen müsse; – und weiß nicht – und fühlt nicht – daß nur, wenn ein Genius solcher Art, gehegt, gepflegt vom gütigsten Geschick, ein Werk wie den ›Tasso‹ im freisten, heitersten Leben, unter Italiens glücklichstem Himmel, er selbst ein liebes Schoßkind der Götter, lange mit sich herumtragen durfte, stets bereit und frei, der Muse zu gehorchen, wenn ihre goldne Wolke sich zur Erde niederließ, daß nur dann, sage ich, und nur so begünstigt dieses Werk das Siegel wahrer Unvergänglichkeit erhalten konnte.
Er fühlt nicht, daß die, so das Werk schauen und in diesem Schauen selig sind, nur ebendiesem Glücke des Dichters ihre eigne Seligkeit danken, ganz, wie Schiller sagt: ›Weil er der Glückliche ist, darfst du der Selige sein.‹ Aber ein solcher Mann ahnet auch nicht einmal, daß der Dichter wirklich gar nicht der Glückliche ist, für den er ihn hält, daß dieser vielmehr die tausend innern Schmerzen und Leiden alle selbst erfahren haben muß, um so sie schildern zu können, daß es in dieser Beziehung ja ebenso wie in Beziehung auf seligstes Empfinden von ihm heißen muß: ›Eh der Dichter singt und eh er aufhört, muß er leben!‹ und daß es ihm bei alledem gar wohl gehen kann wie der hohen blauen Luft, von welcher Goethe einmal sagt:
Durchsichtig scheint die Luft und rein
Und trägt im Busen Stahl und Stein.
Das heißt, daß man seinen feinen, weichen Zügen oft nicht ansehen wird, welche Stürme darunter in der Brust gewütet haben. Wir also beneiden ihn nicht, aber wir lieben – wir verehren den Dichter.
Zweiter Weihnachtsfeiertag 1834, abend
Es ist heute abend eine wunderbare Stille um mich her. Ich finde mich fast einsam in meinem geräumigen, bequemen Hause; eine ruhige, dunkle Nacht liegt über dem Garten vor meinem Fenster ausgebreitet, und kaum ein schwacher Schimmer des hochstehenden Jupiter dringt durch das Nebelgewölk, welches den Himmel umzieht. Im Zimmer rührt sich nichts als der leise Schlag der Uhr und einzelnes Knistern des eine anmutig gleiche Erwärmung verbreitenden Feuers; und wie denn nun in solchen Momenten uns gern mannigfaltige Gedankenzüge über Erlebtes und Durchdachtes vorüberzugehen pflegen, so ging es auch mir: in immer tieferes, stilleres Sinnen über das Geheimnis meines eigenen Lebens schien ich mich zu verlieren, und nur damit ein solcher Zug nicht ins Unbegrenzte sich ausdehnte, fühlte ich mich endlich getrieben, ihm ein bestimmtes Ziel, einen festern Halt anzuweisen. Da kam es mir denn zu guter Stunde ins Gedächtnis, wie ich Ihnen versprochen hatte, mitzuteilen und, gleichsam der Freund dem Freunde, Rechenschaft zu geben von den Gedanken, die in mir rege geworden sind, seit ich den ›Faust‹ von Goethe vollendet gelesen, wiedergelesen, ja in mich eingelebt hatte. Goethe hat uns ja in seine geistigen Mysterien manchen Blick tun lassen, zumal dann, wenn er seine Werke geradezu Konfessionen nennt und, weit entfernt, damit zu meinen, daß er in ihnen seine ganze Individualität niedergelegt habe, vielmehr andeutet, wie er gewöhnlich durch dieselben irgendeiner seinem eigensten Wesen fremdartigen Richtung Luft gemacht, ein dieses selbst störendes Bestreben dadurch ausgesprochen, aus sich heraus gegeben und abgeschüttelt habe. So setzt er dies namentlich beim ›Werther‹ trefflich auseinander. Und war nicht allerdings etwas Wertherhaftes in dem noch jungen Goethe? Freilich war es das; aber dieses Wertherhafte war so wenig der echte, eigentliche Goethe, daß vielmehr dieser erst recht gesundete, als der ›Werther‹ geschrieben war.
Dergleichen Dinge sind gewiß höchst merkwürdig, und Ihnen kann ich es wohl bekennen, daß mir gar manche ähnliche Erfahrung in meinem Leben zu Händen gekommen ist. Glauben Sie, es hat in mir Zeiten gegeben, wo mich in meinem innern rechten Sein nur dies erhielt, daß ich mir durch ein malerisches Kunstwerk Luft machte. Manche trübe Wolke über meinem Seelenleben löste sich auf, wenn ich ihr im Bilde ein freies Hervortreten hatte geben können, und wer sich die schwermütige Stimmung meiner Bilder nicht mit der frischen Tätigkeit meines Lebens zu reimen verstand, der zeigte mir alsbald an, wie wenig er von meinem innern Leben entziffert hatte. Gerade in diesem Verhältnis des inneren Menschen zu seiner Produktivität nach außen liegt ja ganz besonders das Geheimnis der Entwicklung der Seele während ihres Sich-Darlebens auf Erden; wie sie so ein Werk nach dem andern, eine Tat nach der andern äußert und von sich tut und wie sie, indem erst das gröbere Fremdartige, dann aber auch das feinere Ungemäße ausgestoßen und abgesondert wird, so zu immer reinerer, höherer Entwicklung hinaufstrebt, möchte ich sie vollkommen der sich metamorphosierenden Pflanze vergleichen, welche, je weiter und weiter sie in ihrem Leben zur Vollendung hinaufsteigt, immer mehr sich läutert, erst die gröberen Kotyledonen und Wurzelblätter, dann die zartern Stengel und Kelchblätter hervorbildet, bis endlich innerhalb der Blüte durch befruchtende Verstäubung des Geschlechtlichen das höchste Ziel der Pflanze, das Samenkorn, in seiner Darbildung zustande kommt.
Dergleichen Ansichten, Gleichnisse, Vorstellungen darf man nun überhaupt, wie mir scheint, nirgends weniger unbeachtet lassen, als wenn man über den ›Faust‹ nachdenkt, über den ›Faust‹, der auf das lebendigste Gefühl vielfältiger Entwicklungsvorgänge und Metamorphosen des innern Menschen durch und durch gegründet ist. Denn wollen wir auch freudig anerkennen, daß es einzelne lichtvollste menschliche Naturen gegeben hat und gibt, welche in reiner Stetigkeit zum Göttlichen, gleichsam geradlinig, sich entwickeln, so ist es doch für die meisten andern und für die an einen vom Streit der Elemente bewegten Planeten gebundene Menschheit überhaupt bei weitem die eigentümlichste Aufgabe, sich durch die Spirallinie, das heißt mit stetigen Seitenabweichungen, vorwärts zu bewegen; und wenn die alten Mystiker deshalb der Sünde des Menschen die Bedeutung gaben, durch sie für ein höheres Ziel geläutert zu werden, und wenn sogar der Erhabene, welcher das Prinzip höchster Liebe in die Menschheit einführte, den wiedergekehrten Verlornen höher stellte als den nie Verirrten, so deutet alles dieses wieder auf jenes Gleichnis der Pflanze, welche erst in rohern und dann in immer feinern Bildungen, gleichsam stets ausstoßend und absondernd, das Ungemäße abwerfend, sich bis zu reinster Darstellung ihres eigentlichen und ursprünglichen Keimes hinauf läutert.
Ich wiederhole es also nochmals: sowenig ich zugeben kann, daß Goethe Werther, daß er Tasso, daß er Wilhelm Meister war, so wenig ist er Faust; aber daß von allem diesen ein Element in ihm lag, daß die Idee einer besondern Menschheit-Entwicklung, wie sie im ›Faust‹ lebt, ihn vor allen andern beschäftigt, daß sie nachhaltig sein Leben bis ins hohe Alter begleitet hat, daß er in diesem Werke und durch dessen Schöpfung mannigfaltigste Gemütszustände und Geistesrichtungen geläutert oder in sich bezwungen hat, wer, dem der innere organische Bau dieses Werkes klar geworden ist, könnte hiervon nicht die lebendigste Anerkennung haben?
4. Februar 1835, abend
Es ist heute wohl wieder solch ein Abend, daß seine Ruhe einladen könnte, weiteren Gedanken über die nächste Aufgabe meiner Briefe an Sie Raum zu geben. Wenig Wochen sind nur verstrichen, seit ich den ersten dieser Faustischen Briefe an Sie geschrieben habe; es ist kaum Zeit gewesen, um mir ein billigendes, von Herzen zu Herzen gehendes Freundeswort von Ihnen darüber zu erwerben, und doch, wenn ich auf den im Innern seitdem wieder zurückgelegten Lebensweg mit der Flut seiner Gedanken, mit seinem Fliehen und Ziehen, seinem Sinnen und Streben, mit seinem Leiden und seinem glänzend, oft unerwartet herantretenden Glück zurückblicke, so scheint mir schon wieder ein gewaltiger Zeitraum verstrichen; ja wenn ich manche so ganz in stiller Tiefe der Seele durchlebte Begebenheiten bedenke, so kommt mir die Stelle aus Goethe in die Gedanken, wo es heißt:
Seltsam ist Prophetenlied,
Doppelt seltsam, was geschieht!
Gewahre ich aber dann in allen diesen schwankenden Erscheinungen den Strahl des Göttlichen, welcher sich wie sanft einfallendes Mondlicht durch alles hindurchzieht, so fühle ich mich so wunderbar beruhigt, so beschwichtigt und erheitert, daß das Gefühl inniger Dankbarkeit mich durch und durch erfüllt und eine Calma in mir verbreitet, welche mir immer am geeignetsten schien, wenn irgendein Gegenstand so recht in voller Eigentümlichkeit in der Seele sich spiegeln soll. Wende ich mich nun mit solchem Sinne wieder zu jenem gewaltigen Werke unsers großen Meisters, so fühle ich mich gern angeregt, nachdem ich früher über das Verhältnis des Dichters zum Werke mich ausgesprochen, nunmehr die Grundfrage des Kunstwerks selbst mit Ihnen etwas ausführlicher zu betrachten, und ich bin überzeugt, daß, nachdem Sie Ihre Billigung meiner Gedanken über den Entwicklungsgang des Menschen und die Bedeutung des in diesem Gange hervortretenden Sündhaften ausdrücklich erklärt haben, wir uns auch hierüber gar wohl verständigen mögen.
Als Grundfrage des Werkes, wie es nun in seiner Vollendung vor uns liegt, betrachte ich aber: Ist es menschlicher und poetischer Wahrheit gemäß, daß Faust höherer Gottinnigkeit und Seligkeit zuzureifen noch fähig sei, nachdem er dem Bösen sich verbunden und, bis in höheres Alter vom Zuge innerer Leidenschaftlichkeit getrieben, unter manchem Tüchtigen auch das Unrechte, ja das unbedingt Verwerfliche auf sich geladen?
Keine Frage ist so gemacht, um die Grundfarbe des Antwortenden sogleich hervortreten zu lassen, als diese, und ich erinnere mich, die wunderlichsten Diskussionen darüber gehört zu haben. Doch dies auf sich beruhen lassend, will ich Ihnen jetzt treulich berichten, welcher Gedankenzug sich mir über diese Frage ergeben hat und wie ich darüber gleich anfangs, sowie das Werk mir vollendet entgegentrat, mich gestimmt fühlte.
Die Seele wird durch alle Metamorphosen und durch die wunderlichsten Ablenkungen hindurch zur höhern Beseligung gelangen, sobald sie nur Tatkraft, Elastizität und ein lebendiges, rastloses Streben sich erhält, um von nichts ihrer innerlich Unwürdigem sich dergestalt fesseln zu lassen, daß sie im Trägen, dabei verharrend und gleichsam darauf ruhend, ihre höhere Bedeutung vergißt und dem Zuge jenes ihr eingebornen Magnetes entsagt, welcher gegen ihren Urquell, durch alle Lebensstürme und Ablenkungen hindurch, sie fortwährend zu leiten, ja zu treiben bestimmt ist.
Nehmen wir nun eine Feuer-Seele, gleich der des Faust, ihrer innersten Eigentümlichkeit nach von unbedingtem Streben gegen echtes Freisein in Läuterung von allem Ungemäßen gerichtet, denken wir aber in dieser Seele zugleich eine heftige Anziehung gegen das Drängen der Erscheinungswelt und überdies sie in eines jener dissonierenden Verhältnisse des Lebens verwiesen, dessen Druck uns nur gerechtfertigt wird, wenn wir daran gedenken, daß ohne dissonierende Akkorde im Einzelnen keine befriedigende Fortschreitung höherer Harmonie im Ganzen möglich wäre, und es wird uns begreiflich, wie schmerzlich, krankhaft und stürmisch die Entwicklung einer solchen Seele durch tausendfältig bindende, lösende und wieder bindende Vorgänge zu endlicher Freiheit sich hindurchwinden müsse, wie ängstlich suchend die arme, oft durch tausendfältige zu Leiden sich wandelnde Freuden, aufstreben müsse, um zu höherer gottinniger Freiheit zu gelangen. Dante vergleicht in seinem ›Convivio‹ die Seele des durch das Irrsal des Lebens ihrer Bestimmung zustrebenden Menschen dem Wanderer, welchem das Finden seiner beseligenden Heimat verheißen ist und welcher nun auf solchem Wege bald diesen, bald jenen von weitem gesehenen Ort für die Heimat hält, ihm ängstlich zueilt und, mit schmerzlicher Täuschung belehrt, zu immer weiterer Wanderung sich genötigt sieht. Gewiß, dieses Bild eignet sich nun auch besonders, um den innern Zustand einer faustischen Natur zu bezeichnen, nur lassen Sie mich noch insbesondere hinzufügen, daß ich mich ausdrücklich dagegen erklären muß, wenn man jenes gegen das höchste Göttliche in einer solchen Seele lebende, unaufhaltsame Anstreben fortwährend als ein sich seiner selbst klar Bewußtes denken möchte. Nein! Wie die weit von ihrer Brutstätte im verschlossenen Raume hinweggeführte Brieftaube durch einen unbewußten magnetischen Zug gegen ihre Heimat getrieben wird, so daß Sturm und Wolken sie zwar vielleicht mitunter ablenken können, sie aber doch immer durch ihr innerstes, bewußtloses Wissen jenen ihr gemäßen Weg wiederfindet, so auch eine solche Seele, in welcher der Ewige jenen Zug gnädig entzündete, deren er sich, wie der Apostel sagt, ›erbarmen wollte‹; – auch sie findet, ohne zu wissen, warum, an keinem andern Orte Ruhe; das Ersehnteste, wenn es ihr im Innern nicht gemäß ist, wird ihr zur Qual, und rastlos weiter getrieben, kann oft eine einzige Erscheinungsform, ein einziges ›Leben‹, wie wir zu sagen pflegen, nicht ausreichen, um die Entwicklung zu ihrem endlichen Ziele zu leiten. Das eben ist es ja, wenn der Herr sagt:
Wenn er mir jetzt auch nur verworren dient,
So werd ich ihn bald in die Klarheit führen.
Und so muß ichs denn nun geradezu aussprechen: Goethes ›Faust‹ wäre ein gemeines, nie zu so hoher Bedeutung und vielfacher Betrachtung gekommenes Werk, hätte er nicht gerade die große Idee als Grundgedanken enthalten, die Menschenseele in ihrer innern Göttlichkeit, wie sie mit bewußtlosem Zuge durch Tausende von Scheinwesen und Irrsale hindurch ihrer höchsten, göttlichen Befriedigung entgegenstrebt oder entgegen gezogen wird, zu lebenvoller, begeistigender Darstellung zu bringen, eine Aufgabe, die freilich so ungeheuer ist, daß ich weit davon entfernt bin, alles, was im und an dem Werke Erscheinung seiner Form genannt werden kann, unbedingt zu billigen und zu bewundern; es ist Außerordentliches geleistet, es ist ein Werk, welches, solang Sinn für Poesie im Menschengeschlecht leben wird, nicht untergehen kann; aber wie die alten gewaltigen Dome unsrer Vorfahren, Bauwerke, mit denen der ›Faust‹ bis auf ihre phantastische Verzierung mit Naturwerken so viel Verwandtes hat, gewöhnlich nie ihre vollkommne Beendigung und räumliche Vollendung erfuhren, so ist auch der ›Faust‹ mehr beendet als vollendet; aber vor allem fordere ich, daß jemand, der den ›Faust‹ überhaupt anerkennen will, seine Grundidee anerkenne, daß er das darin ausgesprochene genetische Prinzip alles echten Seelenlebens achte und daß er deutlich empfinde, wie das Begeistigende, ewig Anregende, ich möchte sagen, Frühlingsmäßige dieses ›Faust‹ auf der lebenvollen Grundanschauung von dem zwar tief zu beugenden, aber an sich schlechthin unverwüstlichen göttlichen Prinzip der Seele durch und durch gegründet sei. – Hatte ich daher früher einmal unsers vielgetreuen Albrecht Dürer ›Melancholia‹ dem Faust von einer Seite, nämlich hinsichtlich ihrer tief schmerzlichen, von trüben, dämonischen Gedanken umschwebten Sehnsucht, verglichen, so möchte ich nun auch ein andres Blatt desselben Meisters Ihnen ins Gedächtnis rufen, von welchem ich weiß, daß es unter dem Namen des ›Ritters zwischen Tod und Teufel‹ auch Ihnen bekannt genug ist, und möchte auch dieses dem Faust vergleichen, inwiefern hier in dem wohlgerüsteten, von allem Spuk unaufgehaltenen Ritter jene andre Seite dieses Werkes deutlich erkannt werden könnte, von welcher der Herr sagt:
Ein guter Mensch, in seinem dunklen Drange,
Ist sich des rechten Weges wohl bewußt.
Was aber soll man denen sagen, welche, als Schergen der himmlischen Justiz, verlangen, daß Faust wegen begangener Übeltaten sofort nach seinem Abscheiden der oder jener Höllenmarter von Rechts wegen übergeben werde? Am besten wohl – nichts!
Den 5. April 1835, abends
Wenn ich in meinem vorigen Briefe die eine der Grundfragen des ganzen Werkes in Betrachtung gezogen habe, so möchte ich zum Thema des heutigen eine andere stellen, und zwar die Frage nach der innern Wahrhaftigkeit der Bedeutung, welche Goethe dem Einflusse höhern weiblichen Wesens auf Entwicklung, auf Reifung, ja auf Verklärung nicht nur des Faust, sondern des Menschen überhaupt zugesprochen hat.
Überlasse ich mich nun einem tiefern Nachsinnen über diese Gegenstände, so kommt mir unwillkürlich zunächst jener edle Geist in die Gedanken, welcher mehr und entschiedener als vielleicht irgend einer durch ein hohes weibliches Wesen in seinem Entwicklungsgange gefördert worden ist, – Dante. – Wie merkwürdig sind nicht jene Worte über das erste Erkennen der Beatrice im Anfange seiner ›Vita nuova‹: ›...Der Geist meines Lebens, welcher in der geheimsten Kammer des Herzens wohnt, fing an zu zittern und sagte: Ecce deus fortior me, veniens dominabitur mihi (Siehe da, ein Gott, mächtiger denn ich, welcher kommt, um über mich zu herrschen).‹ – Und wie deutlich spricht sich nicht im ganzen Ideengange seiner gewaltigen Werke es aus, daß sie entstanden sind aus jenem geheimnisvollen Zuge, welchen Goethe einmal unübertrefflich mit Worten bezeichnet, indem er sagt:
In unsres Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,
Enträtselnd sich den ewig Ungenannten;
Wir heißens: fromm sein!
Aber eben dieses ›Frommsein‹, diese innere Klarheit und Ruhe und dieses heitere Genügen, fragen wir nach, ob sie, wenn wir die Geschlechter in ihrer tiefsten Bedeutung erfassen, nicht ganz eigentlich die Bestimmung des weiblichen sind.
Ich kann nicht umhin, Ihnen einige Worte aus dem Büchlein von Deycks Ferdinand Deycks: Goethes Faust. Andeutungen über Sinn und Zusammenhang des ersten und zweiten Teiles der Tragödie. 1834. als vollkommen hierher gehörig auszuheben, und zwar die, wo er sagt: Das, was der Mensch beizutragen vermöge zu dem Wunder der Vereinigung der Seele mit Gott, sei eben jenes reine Gefühl der Abhängigkeit, der Demütigung des stolzen Sinnes unter das Höhere, das ist die Zuversicht und Hoffnung, Glaubenskraft und Liebe, deren höchstes Sinnbild Maria genannt wird; – denn wie solle sich für die reine Hingebung an das Göttliche eine geeignetere Bezeichnung finden als eben die des Ewig-Weiblichen? Ist es denn nicht aber auch hier merkwürdig, daß gerade die rauhesten Zeiten, die aufgeregtesten Zustände und noch jetzt die Länder, wo ein heißeres Klima den Menschen heftiger erregt, die Bedingungen sind, welche die Verehrung jener Himmelskönigin begünstigen und begünstigt haben? Sehen wir nicht den kühnsten spanischen Guerilla und den verwegensten Räuber der Abruzzen noch die Ehrfurcht gegen die Madonna als einzigen Lichtstrahl in der dunklen Nacht einer von wilden Leidenschaften verfinsterten Seele bewahren? Kurz, auch hier macht sich das Recht des Gegensatzes gültig. Die [männliche,] von Stürmen bewegte Seele, ja schon die von Fülle der Tatkraft gespornte wird mächtig angezogen von der im tiefen Frieden eines gottergebenen Sinnes ruhenden, und nicht minder notwendig ist es, daß in dieser hinwiederum die liebevollste Hinneigung rege werde gegen das durch Wunden und Kampf zu ihr aufstrebende Gemüt eines tatkräftigen Mannes. Ich weiß nicht, ob es Ihnen im Leben jemals möglich geworden ist, eine Frau solcher höheren, reineren, großartigeren Sinnesart etwas näher beobachten zu können, wahrzunehmen, mit welcher ruhigen Entschiedenheit Wesen dieser Art nicht nur auf Männer, sondern selbst auf andere, minder entwickelte weibliche Wesen eben bloß durch ihre ruhige, leidenschaftlose Erscheinung einzuwirken pflegten. Mir ist manchmal bei solchen Beobachtungen der Spruch aus dem ›Epimenides‹ eingefallen:
Die gelinde Macht ist groß.
Wenn ich unternehme, Ihnen, dem Freunde, in Worte zu fassen, was bisher der Seele zum Teil nur noch in dämmernden Gedanken vorgeschwebt hat, so muß ich freilich etwas tiefer eintauchen und zunächst darauf kommen, was wohl eigentlich den innern Unfrieden, die tiefe Zerrissenheit des Faust bedingt, jenen verzweifelten Zustand, wie wir ihn eben in dem lebenskräftigsten Anfange des Gedichtes uns vorgeführt finden, und allerdings wird auch hier wieder unwillkürlich die Darstellung zur Allegorie werden, indem wir bald empfinden müssen, daß dasselbe, was hier einen reich begabten Geist peinigt, auch als die tiefste Quelle unendlicher Zerwürfnis im Menschheitleben erscheine. Soll ich also hierüber auf die kürzeste Weise mich aussprechen, so muß ich geradezu jene herrlichen Worte an die Spitze stellen, die mir schon in mannigfaltigen Lagen ein strahlendes Licht gewesen sind, die Worte: ›Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, also, daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen und hätte der Liebe nicht, so wäre es mir nichts nütze. Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibet nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht. Sie stellt sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das Ihre, sie lasset sich nicht erbittern.‹ Und diese Liebe, dieser höchste Quell innern Friedens und innern Glücks, diese – bei unendlich vielem, was er besitzet –, sie fehlt dem Faust, und daß sie ihm fehlet, bedingt sein Elend. Faust, wie man sich ihn, seinem frühem Leben nach, denken muß, ausgerüstet mit feurigem, in mancher Hinsicht produktivem Geist, ist aufgewachsen unter Buchstaben und Pergamenten anstatt unter lebenden, ihn liebenden Menschen; für die Wirkung des Abstrakten, ja Abstrusen der Schule auf den Kopf fehlte ihm das Gegengewicht der Wirkung des Konkreten und Erfrischenden echt menschlichen Lebens auf das Herz; – eine ungeheure Masse von Erkenntnissen, Empfindungen und Gestalten hat sein Geist um ihn gebannt, aber die Erkenntnisse gewähren ihm keine freudige Anwendung, die Empfindungen neigen zur Verzweiflung, und die Gestalten sind ohne lebendigen Pulsschlag und Wärme; er selbst ist noch, wie der Apostel sagt, erbittert; – da bricht er aus:
Und fragst du noch, warum dein Herz
Sich bang in deinem Busen klemmt?
Warum ein unerklärter Schmerz
Dir alle Lebensregung hemmt?
Statt der lebendigen Natur,
Da Gott die Menschen schuf hinein,
Umgibt in Rauch und Moder nur
Dich Tiergeripp und Totenbein!
Aber eben, daß sich in solchen Schmerzenslauten beurkundet, er fühle tief diese Lücke seines Daseins, daß eine Sehnsucht in ihm lebt nach einem Zustande, den er noch nicht kennt, das ist die Bürgschaft seiner eignen höhern Natur. Denn das Gemeine kann sich im Gemeinen gefallen, es kann ihm wohl darin sein, ohne alles Streben nach einem Höhern; aber die edlere Natur läßt sich nicht genügen in der Mangelhaftigkeit des Daseins, sie fühlt die Qual ihres unvollkommenen Zustandes, und eben darin, daß sie sie fühlt, liegt die Hoffnung, aus diesem ungemäßen zu einem reinem, gemäßem Zustande hindurchzudringen. Dem Faust jedoch, da, wo das Drama beginnt, liegt diese Hoffnung noch fern; es ist ein unbestimmtes Umhertreiben, was ihn bewegt:
Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne
Und von der Erde jede höchste Lust,
Und alle Näh und alle Ferne
Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust.
Ist nun aber jene innige und hohe Liebe zu Gott und den Menschen der einzige Hafen, wo die Irrfahrten eines solchen verzweifelnd Umhergetriebenen endigen können, so fragt sich: Was kann ihm das Steuer lenken und die Segel richten, diesen Hafen zu erreichen? Hierüber kamen mir folgende Gedanken, welche, ich kann es nicht leugnen, besonders wieder durch die Erinnerung an die für alle Zeiten höchst merkwürdigen Offenbarungen geheimster Vorgänge des menschlichen Gemütes, wie sie in Dantes ›Vita nuova‹ vorliegen, bedingt worden sind. Beachten wir es nämlich recht, so ist jene Liebe der vollkommenste Gegensatz alles Egoismus, und wenn es dem Menschen schwer wird, zu dieser Liebe zu gelangen, so ist die Selbstigkeit das schwerste Hindernis; – er soll aber aus sich, aus dieser Selbstigkeit heraus – er soll gewissermaßen außer sich gesetzt werden, damit er sich selbst im höhern Sinne wiederfinde – er soll los von dem Bande, welches ihn an sich selbst gekettet hält und höhere Anschauungen ihm verschließt. Aber dazu braucht es einer bestimmten Einwirkung; wie die Hülle der Knospe in einem Moment reißen und aufbersten muß, damit die Blüte sich entfalten könne, so auch hier. Die mächtige Einwirkung einer einzigen bestimmten, das Selbstgefühl überwältigenden Erscheinung, gleich der, von welcher Dante sagte: ›Siehe da, ein Gott, mächtiger denn ich, welcher kommt, über mich zu herrschen‹, ist hierzu unfehlbar am meisten geeignet, und nur die Art, wie sich nun die erschütterte, in ihren Grundfesten bewegte und gleichsam von sich selbst gelöste Seele weiter entfaltet, wird nach verschiedener Individualität unendlich verschieden sein. Die Entwicklung der Idee der Liebe, wenn sie vollkommen menschlich erscheint und so, wie sie wohl auch Goethe im ›Faust‹ vorgeschwebt hat, möchte ich aber am liebsten eine vollkommen organische nennen; ich möchte sie vergleichen, und wäre ich Arabeskenzeichner, ich würde sie zeichnen als einen wundersamen Baum, welcher auf geheimnisvolle Weise aus einem unscheinbaren Samenkorn sich hervorgebildet; das Samenkorn teilt sich zuerst in die ins finstre Reich der Erde hinabgesenkte Wurzel und in die massigen Wurzelblätter; zwischen letztern waltet anfänglich in größter Zartheit der Keim des aufstrebenden Stammes und der Stengelblätter; – immer frischer, mannigfaltiger und höher treiben dann diese Gebilde herauf, Zweige entwickeln sich mit zierlichstem Laube, dann treiben Blüten hervor, welche Früchte ansetzen, zuhöchst aber bildet sich die geheimnisvolle Rose, die Blüte ohne Staubfäden, und über ihr schwebt, gleich dem von Linnés Tochter zuerst gesehenen Flammenleuchten der Feuerlilien und ähnlicher Blumen, ein strahlender Stern als Symbol der über dem ewig bewegten Leben leuchtenden und ewig beharrenden Idee. Und gewiß, auf solche Weise ist auch die Liebe zu einer die mannigfaltigsten Metamorphosen durchlaufenden Entwicklung bestimmt, und gleich jenem Baume wird sie dann, vollkommen ausgebildet, Himmel und Erde verbinden durch die im Irdischen festhaftende nährende Wurzel und den glänzenden Stern jener höhern Liebe zu Gott, welche den tiefsten Geheimnissen der Seele angehörig ist.
Dieses alles nun, wie ist es so wahr und so merkwürdig im ›Faust‹ aufgefaßt! Das böse Prinzip selbst muß ihm, indem es ihn verderben zu wollen scheint, unwillkürlich zum Heile gereichen und zuerst das Samenkorn höherer liebevoller Gesinnung in die Brust werfen; in Gretchens Atmosphäre ergreift den Unsteten, den überall nur die ›Pein des engen Erdenlebens‹ Fühlenden, zum ersten Mal die Empfindung des unendlichen Glückes der Beschränkung. Dorthin gehört die Stelle in Gretchens Zimmer:
Willkommen, süßer Dämmerschein,
Der du dies Heiligtum durchwebst!
Ergreif mein Herz, du süße Liebespein,
Die du vom Tau der Hoffnung schmachtend lebst!
Wie atmet rings Gefühl der Stille,
Der Ordnung, der Zufriedenheit!
In dieser Armut welche Fülle!
In diesem Kerker welche Seligkeit!
Aber dies Gefühl gleicht den ersten warmen, sonnigen Tagen im frühen Frühlinge. Noch ist die Luft nicht der höhern Wärmespannung gewohnt; die aufgehobenen Dünste vereinigen sich zu gewitterhaften Explosionen, und Kälte und Schnee bringen bald wieder ein winterliches Gefühl zuwege. So auch Faust! Die Einwirkung eines so stillen, kindlichen Wesens, eines Wesens, welches an Reichtum innern Gemüts freilich unendlich den Faust überwiegt, aber in geistiger Entwicklung so weit unter seiner Sphäre zurückbleibt, konnte nicht mächtig genug erscheinen, eine vollkommene Metamorphose zu veranlassen. Ein Blick auf eine neue, bis dahin ihm fremde Region hat sich ihm erschlossen; aber er ist dem einzelnen Blicke zu vergleichen, den der Wanderer von einer hohen Bergspitze durch ein wogendes, hie und da zerreißendes Wolkenmeer in schön blühende Täler wirft; sogleich wird er vom finstern Gewölk wieder verdeckt. – Und so wird er bald von dem wüsten, unsteten Treiben seiner innern Zustände weitergerissen; die liebliche, ihrer innersten Idee nach unzerstörbare Erscheinung wird von seinem eignen Unheil erfaßt und mindestens zeitlich zertrümmert; er fühlt, es kann nicht anders sein, verzweifelnd ruft er aus:
Mag ihr Geschick auf mich zusammenstürzen
Und sie mit mir zugrunde gehn!
Und so geschieht es! Vergeblich versucht er, auf seine Art zu retten, wo nichts mehr zu retten ist; der Schlag fällt; von dem ungeheuren Jammer furchtbar ergriffen, fühlt er zuerst einen echten Seelenschmerz, und wie im Physischen oft wichtige Entwicklungsvorgänge des organischen Lebens an schwere Krankheitsstürme geknüpft sind, so wirft ihn betäubend ein geistiges Leiden zu Boden.
Wieviel wäre darüber und über die spätere Verbindung Faustens mit Helena noch zu schreiben, was wohl zum Thema dieses schon zu langen Briefes noch gehören möchte, in welchem ich Ihnen nur noch schließlich einige flüchtige Gedanken mitteilen wollte über die letzte und höchste Entwicklung des Faust, wie wir dieselbe, dem Willen des Dichters gemäß, noch in der Zeit nach seiner Todes-Metamorphose vorahnen sollen; denn gerade hier tritt abermals ein Moment hervor, in welchem die Einwirkung höchsten weiblichen Prinzips unmöglich fehlen konnte.
Der letzte Abschnitt des Werkes ist ein hohes und höchst eigentümlich gedachtes Mysterium, und ich muß Ihnen sagen, daß er mir ganz vorkommt wie eins jener alten Choralbücher für Orgelspiel, wo nur der Hauptgang der Melodie in einzelnen ganzen Noten angezeichnet ist und vom Orgelspieler verlangt wird, daß er nach gutem Kunstvermögen und in ihm lebendig gegenwärtigen kontrapunktischen Regeln die Harmonie und die wohl dazu sich eignenden Ausbildungen und Verzierungen selbst auszuführen und frei vorzutragen imstande sei. Wem nicht die heiligen Anachoreten in ihrem wunderbaren Felsgeklüft noch lebendiger als in den Gemälden des Campo santo von Pisa vor das geistige Auge treten, wem die einmal im Weltgeist aufgestiegne Idee einer Persönlichkeit nicht in ihren ewigen Fortbildungen faßlich werden kann, wem es unverständlich ist, wie dieselbe Idee, dieselbe Monas, nach abgeworfenen zufälligen Formen, aus der dem Tode entflohenen Aureole gar wohl ein neues Lebensgebilde sich entwickeln kann, ein Gebilde, dem die Erfahrungen des vorigen Lebens selbst nach abgestreiftem früheren Bewußtsein zu innerer Förderung zugute kommen, dem wird diese ganze außerordentliche Konzeption, welche mir seit Dantes Paradies als das geistig Erhabenste der Dichtung erschienen ist, stets ein Gewirr willkürlicher, abstruser Formen bleiben und zu keiner erhebenden Klarheit der Vorstellung gedeihen können.
Wer nun aber dem Leitsterne des Dichtergeistes freudig zu folgen versteht, wer im eignen Geiste die Harmonieen kontrapunktisch nachklingen läßt zu den armen schwarzen Lettern, welche Goethe uns hierüber einzig hinterlassen konnte, dem geht dort eine ganz eigentümlich verfeinerte, ätherische Welt auf, und dem erscheint es höchst bedeutungsvoll und sinnige, wenn unter seligen Knaben das Unsterbliche Faustens, die eigentümlich sein Erscheinen bedingende Idee, eine neue, feinere Gestaltung gewinnt. Wir hören die Knaben:
Freudig empfangen wir
Diesen im Puppenstand;
Also erlangen wir
Englisches Unterpfand.
Löset die Flocken los,
Die ihn umgeben;
Schon ist er schön und groß
Von heiligem Leben.
Noch aber fehlt ein höheres und doch ihm innig verwandtes Prinzip, welches zu eigentümlicher, reinerer, selbsttätiger Entwicklung ihn bestimmen und anregen könnte – da beginnt eine neue Vision:
Dort ziehen Fraun vorbei,
Schwebend nach oben.
Die Herrliche mitteninn,
Im Sternenkranze,
Die Himmelskönigin,
Ich sehs am Glanze.
Und hier schwebt denn auch das in höhere Regionen verklärt gerettete Wesen, dessen reines, tiefes, in sich vollkommen befriedigtes Gemüt dem Faust zuerst die Ahnung innerer Seligkeit erweckte – das Wesen, das, wo es fehlte, nur durch Liebe fehlte und diesen Fehl durch Liebe selbst und den nie versiegenden Quell vollkommenster Treue ausglich. Wie notwendig fühlten wir nun alsbald, daß gerade dieses Wesen – sonst Gretchen genannt –, das Wesen, das eigentlich schon im irdischen Leben ein tieferes und gewisseres Wissen besaß als Faust mit aller wirrer Gelehrsamkeit – daß dieses am meisten imstande sei, die sich verklärt entwickelnde Persönlichkeit des Faust nun auch zur Erkenntnis höchster, göttlicher Wahrheit, gleichwie Beatrice den Dante, hinan zu entwickeln und zu leiten, deshalb ihn zu leiten, weil sie selbst als ein rein Weibliches durch und durch das Symbol der Liebe ist. Wie schön ist daher nicht, wenn sie in Beziehung auf Faust zur Maria, ihrem eigenen hell strahlenden, leitenden Gestirn, sagt:
Vom edlen Geisterchor umgeben,
Wird sich der Neue kaum gewahr,
Er ahnet kaum das frische Leben,
So gleicht er schon der heiligen Schar.
Sieh! wie er jedem Erdenbande
Der alten Hülle sich entrafft
Und aus ätherischem Gewande
Hervortritt erste Jugendkraft!
Vergönne mir, ihn zu belehren,
Noch blendet ihn der neue Tag.
– und wenn ihr dann die Mater gloriosa erwidert:
Komm, hebe dich zu höhern Sphären;
Wenn er dich ahnet, folgt er nach.
Und so stände ich denn am Schlußpunkte dieser mannigfaltigen Gedankenzüge, welche sich in mir entsponnen hatten, um Ihnen, teurer Freund, alles das auseinanderzusetzen und auszusprechen, was über die Bedeutung höheren weiblichen Wesens für Entwicklung der Menschheit mir nach und nach beim Studium dieses wunderbaren Werkes aufgegangen und deutlich geworden war.
Wie weit mir diese schwierige Aufgabe gelungen ist, inwieweit Sie mir beistimmen oder gegenüberstehen, darüber erwarte ich nun Ihre fernere Mitteilung, nur erlauben Sie mir, ›all dies Vergängliche‹ noch einmal ›als Gleichnis‹ geltend zu machen, und zwar als Gleichnis, welches den Satz bestätigen soll: daß nur jene Liebe, welche eben in echter, vollkommener Weiblichkeit ihr höchstes Symbol findet, das alleinige Mittel sei, den Menschen zu allem Hohen und insbesondere zu lebendiger Erfassung der beseligenden Ideen der Schönheit, Güte und Wahrheit zu geleiten, und so scheint es mir denn, daß erst alsdann, wenn wir die Welt, als ihrer innersten, göttlichen Anlage nach, in solcher Fortbildung und in einem solchen Entwicklungsgange erfassen, sie jenes heilige Schauspiel, jene ›Divina Commedia‹, wirklich darbietet, von welcher ›der Herr‹ im Eingange sagt:
Doch ihr, die echten Göttersöhne,
Erfreut euch der lebendig-reichen Schöne!
Das Werdende, das ewig wirkt und lebt,
Umfaß euch mit der Liebe holden Schranken,
Und was in schwankender Erscheinung schwebt,
Befestiget mit dauernden Gedanken!
Es ist mir schon oft sehr merkwürdig gewesen, was man von Fra Beato Angelico da Fiesole erzählt – nämlich daß, wenn seine Seele von einem Bilde erfüllt und er unter Gebet an dessen Ausführung gegangen war, es ihm nicht möglich wurde, auf irgend andere, wenn auch sichtlich verbessernde Ratschläge für sein Werk einzugehen; – nur so, wie es ihm innerlich erschienen war, mußte er es, unbekümmert um etwaige Verzeichnungen, zur Ausführung bringen, und wer bedeutende Sachen von ihm gesehen hat, wird eingestehen, daß Fiesole nicht mehr Fiesole bliebe, wenn seine Gestalten auf den schulgemäßen Typus zurückgeführt und von allen Fehlern gegen Zeichnung und Perspektive befreit worden wären. Gerade dieser Fiesole aber mit seinem stillen, gottinnigen Sinne ist doch eben das in seinen Werken uns allein Liebe und Verehrungswürdige. – Ähnlich ist es dann auch mit Goethe! Seine Arbeiten lieben wir hauptsächlich, weil wir zuletzt durch sie hindurch immer wieder bald mehr, bald weniger deutlich seine Individualität, seine eigentümlich große und gesunde Natur, und diese immer in jedem Werke wieder von einer neuen und eigentümlichen Seite, gewahr werden. Eben darum nun, weil es bei ihm wesentlich auf die Ausbildung seines ganz eigensten Seins ankam und er darum befähigt und berechtigt war, das ihm nicht Gemäße abzulehnen, selbst auf die Gefahr hin, daß hie und da hierdurch seine Schöpfungen an Korrektheit etwas verlieren möchten, fühle ich mich hier an jenes bekannte Wort erinnert:
... Gemeine Naturen
Zahlen mit dem, was sie tun, edle mit dem, was sie sind. Es gibt Arbeiten, bei welchen es uns gar nicht einfällt, nach der Individualität dessen zu fragen, dem wir sie verdanken; die Sache ist uns hier alles! Ein Wörterbuch, eine sorgfältige deskriptive Arbeit über Menschen- oder Naturwerke und dergleichen lassen uns über die innere Individualität des Verfassers ganz unbekümmert, dahingegen in einer höheren philosophischen Betrachtung, in einem größeren poetischen Werke, in einer tiefern historischen Forschung wir notwendig durch die Individualität des Geistes, von welchem diese Werke ausgehen, in unsrem Interesse wesentlich bestimmt werden; es sind, könnte man sagen, durchlauchtige, das heißt durchleuchtende Werke; der Geist, aus dem sie fließen, leuchtet durch sie hindurch wie der Schein festlicher Kerzen durch die Fenster eines Palastes, und nicht sowohl um des Dargestellten willen, sondern darum, daß uns daran die Individualität des Urhebers, seine eigentümlich großartige Gesinnung, sein weitschauender Heller Geist, seine poetische, schöpferische Kraft durch und durch fühlbar werde, ja daß sie gleichsam magnetisch uns dann ebenfalls durchdringe, fördere und innerlich selbst entwickle, das ist es, worauf es hier ankommt, und darum werden diese Werke immer um so mächtiger wirken, je mächtiger der Genius ist, aus dem sie hervorgegangen sind. Goethes Werke gehören hierher im vollen Sinne des Wortes ... Fremdartiges nicht anzunehmen, Widerspruch entschieden abzulehnen, Erwiderung auf Entgegengesetztes zu vermeiden, mußte somit ein unausweichbares Bedürfnis für ihn bleiben, eben um in dieser Entwicklung auf keine Weise gestört zu werden. Wer ihm sonach dergleichen verdenken will und wer diesen Zug aus seinem Leben wegwünscht, ist weit entfernt, in das Verständnis seiner Natur wirklich näher eingedrungen zu sein. Er hielt sich und mußte aus innerer Notwendigkeit sich halten an seine eigenen Worte:
Laß dich nur zu keiner Zeit
Zum Widerspruch verleiten,
Weise fallen in Unwissenheit,
Wenn sie mit Unwissenden streiten.
Überhaupt kann in der Beziehung einer reinen, zum großen Teil unbewußten Lebensphilosophie jeder von Goethe Vielfältiges lernen. Wie viele Menschen gewahren wir nicht, die das Kunstwerk ihres Lebens verderben oder unvollkommen ausführen, weil sie nicht zu unterscheiden vermögen, was das ihnen wahrhaft Gemäße sei und was nicht! Bald aus einer irrigen Meinung, für sich selbst irgendeinen Vorteil zu erreichen, bald in der falsch verstandenen Absicht, dadurch, daß sie ihrem eigensten Wesen untreu werden, andern einen besondern Nutzen zu gewähren, verlassen sie das, was Goethe einmal sehr hübsch die Fortifikationslinien unsres besondern Daseins nennt, und stören dadurch ihre eigne Weiterbildung ebensosehr, als sie es sich unmöglich machen, in Zukunft auch andern das zu sein, was sie ihnen hätten sein können, wäre ihre eigne Entwicklung zu ihrem naturgemäßen Ziele gelangt. Es hat mir in Assisi die alte, naive Darstellung des Giotto immer viel zu denken gegeben, wo man die reine Seele in einer Art von Burg wohnen sieht, nur mit umschwebenden Engeln Gemeinschaft pflegend, während die verdorbene Seele aus ihrem Schlosse, durch Dämonen verlockt, in den Höllenabgrund sich verliert. Man kann dabei an gar vieles und insbesondere an die innere Selbstläuterung der Seele erinnert werden; aber auch die Burg, welche die schönere Seele umfängt, ist nicht ohne tiefe Bedeutung: sie stellt eben die symbolische Bedeutung dar von dem, was Goethe die Fortifikationslinien unsres Daseins nennt, und es ist damit teils die Selbstbeschränkung, teils aber auch die entschiedene Abhaltung des uns nicht Gemäßen, des unser Wesen Beeinträchtigenden bestimmt genug bezeichnet. Will man Goethes Leben im einzelnen verfolgen, so werden wir eine Menge Züge finden, welche Belege zu diesen Betrachtungen geben. Schon das oben erwähnte Festhalten an dem kleinen weimarschen Kreise, in welchem er allerdings seiner Fortifikationslinien vollkommen Herr blieb, früher schon das Abbrechen verschiedener Verhältnisse, von welchen er voraus empfand, daß sie ihn allmählich nötigen würden, aus der ihm eigentümlichen Richtung herauszugehen, endlich selbst seine entschiedene monarchische Gesinnung, dieweil nur mit dieser und mit entschiedener Ablehnung alles revolutionären Wesens die Durchführung eigentümlichen Lebensganges möglich blieb, werden uns, wenn wir sie in diesem Lichte betrachten, vollkommen deutlich. Dabei hat es mir überall so herrlich an Goethe geschienen, daß er nie und nirgends es so etwa besonders darauf angelegt hat, ein großer Dichter zu werden – daß im Gegenteil er (wie es in einem seiner früheren Briefe heißt) ›weder rechts noch links fragt, was von dem gehalten werde, was er machte, weil er arbeitend immer gleich eine Stufe höher steigt, weil er nach keinem Ideal springen, sondern seine Gefühle sich zu Fähigkeiten, kämpfend und spielend, entwickeln lassen will‹.
In diesem Entwicklungsgange hat es mir immer von unberechenbarem Einflüsse geschienen, daß ihm zeitig und selbst wiederholt das Glück zuteil wurde, einen – man erlaube mir die Bezeichnung – wohlgesinnten Widersacher – einen feindlichen Freund oder freundlichen Feind anzutreffen, welcher, indem er wahres Interesse an ihm nehmen mußte, mit Witz und Schärfe ihm aufregend, erfrischend, erweckend entgegentrat.
Mehr, als man glauben sollte, bedarf auch der Höherbegabte des Widerspruchs und der widerstrebenden Wirkung, wenn er mit Energie vorwärts dringen soll, und in Goethes Leben ist darum früherhin der Mephistopheles Merck und der wunderliche Behrisch und späterhin der oft ironisch bitter ihm entgegentretende Herder von der höchsten Bedeutung. Es ist nicht zu sagen, wieviel dem Menschen entgeht, wenn eine frische, scharfe Gegenwirkung ihm fehlt. Kaum eine Einrichtung des alten römischen öffentlichen Lebens hat mir daher so tiefsinnig und bedeutungsvoll geschienen, als daß den Triumphatoren, wenn sie im höchsten Ruhmesglanz zu den Toren der Weltstadt einzogen und indem ihnen die größten Ehren zuteil wurden, zugleich Spottlieder entgegengesungen werden durften und daß sie den Witzworten der Soldaten sich vollkommen preisgegeben fanden. Ebenso war es ein gesundes, natürliches Gefühl, welches den Fürsten des Mittelalters die Schalksnarren beigesellte, damit die Geißel der Satire und des Spottes auch dem gekrönten Haupte nicht fehle und damit eine kernige Individualität unter solcher Einwirkung zu voller Reife gelangen könne ... Kopf und Herz erstarken unter Gegenwirkungen dieser Art, wie leibliche Bildung und Gesundheit sich stählen muß, wenn der Mensch nicht allein hinter dem warmen Ofen und unter weichen Bedeckungen schonend gehalten, sondern wenn er zeitig im Kampf gegen oft unfreundlich andringende Elemente geführt und geübt wird ... Wie gesagt, Goethe vermißte glücklicherweise nicht in seinem Leben eine Einwirkung dieser Art; und was ihm für den Augenblick zuweilen widerwärtige, ja schmerzhafte Empfindungen hervorgebracht haben mag, erkannte er späterhin selbst ganz entschieden als fördernd und heilsam für Entfaltung seines geistigen Lebens.
Wir wollen hier nicht in das Einzelne der Schilderung dieser verschiednen feindlich-freundlichen Einwirkungen eingehen; in Goethes Werken, namentlich in seinem ›Leben‹ und in seinen Tages- und Jahresheften, findet sich alles, was hierhin gehört, aufs deutlichste vor. Man gewahrt nämlich, zumal in dem noch jungen Goethe, eine gewisse Weichheit, eine bei den lebendigsten Flügelschlägen des Genius oft mancherlei Unvollkommenheiten und Schwächen darbietende Eigentümlichkeit. Dieses mitunter molluskenartig schwankende, unreife Wesen, aus dem doch wiederum hie und da die hellsten Strahlen des Genius aufleuchten – so etwa geben gerade die weichsten, fast formlosen Geschöpfe des Meeres das hellste Meeresleuchten –, hat den Tadlern Goethes immer ein breites Feld gegeben. Dergleichen Leute bedenken nicht, daß der Kristall, der zu schnell erhärtet, sich nicht weiter fortbilden kann und daß eben eine gewisse jugendliche Formlosigkeit, Unstetigkeit und Weichheit allein es möglich macht, daß eine lange fortgehende Entwicklung die höhere Vollendung des Ganzen endlich herbeiführt. Aber bleibend durfte freilich sich jenes Weichliche und Unreife nicht erhalten, fortgedrängt mußte der Geist werden von Stufe zu Stufe, immer weiter hinan gegen seine höhere und höchste Entfaltung, und dazu bedurfte es zwar tausend günstiger, wohlwollender Einwirkungen, aber auch mancher scharfer und reizender Berührungen; so etwa hat man in neuerer Zeit gefunden, daß ein junger Baum, wenn er rasch und kräftig emporwachsen soll, zwar der Wohltat geeigneten Bodens und Klimas wie günstiger Pflege und Witterung bedarf, daß er aber fast um das Sechsfache seiner Entwicklung gefördert werden kann, wenn ihm statt reinen Wassers ein Wasser zugeführt wird, dem die Schärfe des Chlors in rechtem Maße beigemischt worden war.
Bei alledem darf man nicht verkennen, daß auch auf spätere Zeiten in Goethes Leben hinaus dieser Kampf einer innern Weichheit gegen äußere antagonistische Einwirkungen sich behauptet hat; für das Verständnis jenes ablehnenden, förmlichen, ministeriellen Wesens, welches gerade dem Dichter so oft verargt worden ist und welches nicht nur als Notwehr gegen unbedeutende Überlästige gebraucht wurde, sondern oft auch ganz tüchtige, aber etwas heterogene Naturen (man denke an Bürger) widerwärtig berührte, mag diese Betrachtung sehr wichtig genannt werden. Oft drehte sich sogar hier das Verhältnis um; Goethe, im Gefühl der innern Weichheit, verbarg sich unter der härtern Schale der Förmlichkeit und drückte und reizte dadurch die, welche an ihn sich anzuschließen bereit waren. Schillers innerlich festere Natur mochte wohl dieser Rüstung nicht bedürfen, und dessenungeachtet hat Goethes Wirkung wie im Leben so in der Poesie auf so außerordentlich viel weitere Regionen sich ausgedehnt – wohl eben nur darum, weil allemal das Weichere nicht bloß das mehr Verletzbare, sondern auch das mehr Lebendige sein wird.
Es führt zu den weitgreifendsten Betrachtungen, wenn man auf diesem Wege bei Goethe weitergeht und gewahr wird, daß allerdings überall hervorleuchtet, wie die rechte Ausbildung seines Lebens – die Lebenskunst – ihn eigentlich viel tiefer beschäftigte als alles andere, ja wie dieses andere vielmehr durchaus Blüten waren, welche frei und leicht von selbst hervortrieben, während jenes ernste Werk unaufhaltsam, mit Mühe und Aufopferung und rein absichtlich fortgeführt wurde. Folgende Stelle, obwohl zunächst in anderer Beziehung mitgeteilt, werden wir ganz hierher ziehen dürfen; sie heißt: ›In meiner besten Zeit sagten mir öfters Freunde, die mich freilich kennen mußten: was ich lebte, sei besser, als was ich spreche, dieses besser, als was ich schreibe, und das Geschriebene besser als das Gedruckte.‹ Er rechnet diese Äußerung zu den Bemerkungen gelassen beobachtender Freunde, welche, weil sie das innerste mystische Leben berühren, oftmals gefährlich werden könnten, indem sie mitunter zu wirken pflegen wie der Namensruf auf den über Höhen hinsteigenden Nachtwandler. Gewiß abermals ein merkwürdiges und beziehungsreiches Wort! – ein Wort, welches wieder dadurch eine eigentümliche Seite des Lebens und der Lebenskunst anspricht, daß wir in ihm ein wichtiges, rein menschliches Verhältnis angedeutet finden, welches wir vielleicht am kürzesten als ›Gesetz des Geheimnisses‹ bezeichnen dürfen und welches für Goethe wie für jede tiefere Natur stets ein sehr wichtiges gewesen ist. Wie nämlich auch in der physiologischen Geschichte der Organismen erkannt werden kann, daß die wichtigsten Lebensverhältnisse derselben, das heißt die wunderbaren Vorgänge, durch welche sie entstehen, sich fortbilden und vermehren, dergestalt ins Verborgene gebracht sind, daß nur mit dem ausdauerndsten Fleiße, mit Anwendung größten Scharfsinnes und mit Hilfe mannigfaltiger künstlicher Apparate es dem Forscher gelingen konnte, nach und nach einiges davon zu enthüllen, während das Ganze derselben zu jenem Verborgenen gehört, welches schon im Altertum als die nie zu entschleiernde Isis verehrt wurde, so liegt auch im spirituellen Organismus, in der Seele des Menschen, eine Region des Mysteriums, welche einen eigenen geheimen Tempeldienst, eine stille innere Weihe fordert, wenn von ihr aus so das äußere weltliche Leben durchdrungen und erwärmt werden soll wie von der verborgenen innern Glut des Planeten das Leben an seiner Außenfläche. Wehe dem, der diese Mysterien verkennt – wer sie entweder vergißt und völlig ins Unbewußtsein versinken läßt oder wer sie mit frevelnder Hand berührt und in das gewöhnliche Treiben des Tages dahingibt. Um das, was die höchste Aufgabe des Sich-Darlebens der Idee unsers Daseins ist, um das Wachstum der Energie dieser Idee, wird er sich unbedingt gebracht haben.
Folgt man der Lebensentwicklung von Goethe, so findet man überall die deutlichsten Spuren einer gewissen Ehrfurcht gegen das innere Mysterium und auch darin ein Dokument seiner Lebenskunst. Schon als Knabe, wenn er dem unbekannten Gott den Altar erbaut, entsteht in ihm eine stille Freudigkeit dadurch, daß jeder andere in diesem Altar nur eine wohlgeordnete Mineraliensammlung erblickt; und auch späterhin sagt er manches schöne, bald ernste, bald humoristische Wort darüber. Man könnte zu den letzteren die Stelle rechnen, wo es heißt: ›Die Geheimnisse der Lebenspfade darf und kann man nicht offenbaren, es gibt Steine des Anstoßes, über die ein jeder Wanderer stolpern muß. Der Poet aber deutet auf die Stelle hin.‹ Überall durchdringt Goethe mächtig eine gewisse Ehrfurcht gegen das,
Was, von Menschen nicht gewußt
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht!