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Die Zeit der deutschen Klassik und Romantik faßte ihre Kraft auf einer Stufe später Bewußtheit noch einmal zusammen, um in Besinnung und Wissenschaft ihr Gesetz zu Ende zu leben. Von Humboldt und Grimm bis zu Jakob Burckhardt reicht ein edles Geschlecht universal gerichteter Gelehrter und Denker, das eine von Goethe und der Romantik begründete Lebensidee so still wie reich dargelebt und die nachhaltende Kraft der Epoche in später Stunde unter einem schon fremden Tage noch bewährt hat. Carl Gustav Carus, der Arzt, Maler und Forscher, war unter ihnen im treuesten Sinne ein Vollender des Erbes, das er in seiner ersten Lebenshälfte noch persönlich zu empfangen begünstigt war in der Freundschaft mit Goethe, Tieck und Caspar David Friedrich. Diesem so zarten wie bewußten, treuen wie klugen Geiste schien wirklich die Bestimmung zugefallen, in wissenschaftlicher Kristallisation das Erbe aus Klassik und Romantik zu einer abendklaren Bewußtheit und Versöhnung zu führen – womit denn freilich auch ein so zukunftsreiches Werk geschaffen war, daß es uns heute als das am meisten gegenwärtige seiner Zeit erscheint und wie eine alterslose, der Zeit entzogene Einsicht in das Natur- und Seelenreich entgegentritt.
Der Forscher Carus mutet uns oft an wie die Manifestation des Forschers Goethe in einem neuen, zweiten Menschen. Daß dies ohne Vergewaltigung möglich war, zeigt die Kraft der Goetheschen Idee sowie die Innerlichkeit der unternommenen Nachfolge. Als noch zu Goethes Lebzeiten morphologische Werke von Carus erschienen, sprach sie Goethe, bewegt und beglückt, als die Fortsetzung und Vollendung der eigenen naturforschenden Bemühungen an. Goethisch ist ferner die Allseitigkeit und Mühelosigkeit seines Schaffens: Carus, Direktor der Klinik und Dozent, späterhin Leibarzt am sächsischen Hof, einer der gesuchtesten Arzte seiner Zeit – schon bald in glücklicher familiärer Bindung stehend, gesellschaftlich vielseitig verpflichtet und immer zahlreichen Freunden zugetan –, dieser Mann schafft (neben seinem malerischen Opus) ein Werk, dessen Bände, eine Bibliothek füllend, alle Zweige der Naturwissenschaft sowie Philosophie, Psychologie, Kunstbetrachtungen umfassen, ein Werk, das in seinen medizinischen Teilen, zum Beispiel der Gynäkologie, bahnbrechend gewesen ist und in seinen psychologischen Teilen uns heute Heller als je leuchtet. Diese Allseitigkeit entsprang durchaus nicht nur vielseitigem Eifer und bloßer Wissenslust. In seinem Werk mußte sich vielmehr das Ganze spiegeln, weil es für ihn nur das Ganze gab und nichts Einzelnes – weil eben, ganz goethisch, die Grundkraft seines Schaffens eine Art von Liebe war, eine dem Ganzen gewidmete Welt-Liebe, ein immer aufnehmendes, zart beglücktes Hingegebensein an das große Wundergewebe des Natur- und Geistesreiches, dessen sich der Verstand bis in jede einzelne Kostbarkeit zärtlich zu bemächtigen und schließlich, aufzeichnend, auch den anderen davon zu vermitteln nicht müde werden konnte. In allem empfand er den Hauch des Ganzen; und immer weiter zu forschen war ihm nichts anderes, als immer tiefer in das Wunder einzutauchen. ›Betrachtet, forscht, die Einzelnheiten sammelt, Naturgeheimnis werde nachgestammelt!‹ (Goethe, Marienbader Elegie). Die Ausdehnung zum Allseitigen war schließlich nur der weiteste Ausdruck dieser forschenden Liebe.
Er vermochte die großen, geheimnisvollen Analogieen zu fühlen, welche das Naturreich (in seinen Farben, in den Gesetzen der Organismen usw.) dem Reiche des Geistes verbinden. Soweit dies Einheitsgefühl ihm rational und aussprechbar werden konnte, hat er es ausgesprochen, – und auch der Leser unserer Auswahl wird dies bei den Gleichnissen der Faust-Deutung empfunden haben. So kommt es, daß Carus oftmals einen Eindruck hinterläßt wie sonst nur Dichtung: wir fühlen die Welt als Ganzes gegenwärtig.
Sein Eigentümlichstes lag in der Erfühlung ›des genauen Bezuges von Leiblichem und Seelischem‹. Was heute die Forschung zu ›Körperbau und Charakter‹, was die Physiognomik, was ferner die Lehre von psychogenen Krankheitsursachen oder umgekehrt von der Färbung des Seelenlebens durch Organerkrankungen kurz, was alle die heute neu belebten Bemühungen um den Bezug des Leiblichen zum Seelischen uns vermitteln, das ist von Carus angeregt worden und sieht sich immer wieder zu seiner vorbildlichen Feinfühligkeit zurückverwiesen. Seinem Auge, künstlerischem und wissenschaftlichem Organ zugleich, wird die Schädelform sprechend, wie etwa seine Beschreibung im Goethebuch zeigt; ihm ist die menschliche Hand ein immer verräterisches ›Symbol‹; er erkennt in der Erneuerungskraft und den Rhythmen der Goetheschen Natur einen leiblich-seelischen Gesamtausdruck, den er zu beschreiben vermag. Seinem ›diagnostischen‹ Blick war alles körperliche ›bedeutend‹ und Durchsicht gebend auf ein dahinterliegendes Gestaltendes. Überall schwingt dabei die Problematik der Bewußtheit mit, wie sie seit Kleists ›Marionettentheater‹ wirksam geworden ist, und macht uns den Ton der Forschung merkwürdig gegenwartsnah. – Am Rande dieses Forschungskreises hat Carus, als Erbe der Romantik, auch den ›Lebensmagnetismus‹ und die ›magischen Wirkungen‹ eingehenden Betrachtungen unterzogen.
Mit der Ausdruckswissenschaft nähern wir uns dem Gebiet, auf dem Carus sein gültigstes Werk schuf, der Seelenkunde. Wenn Goethe einmal sagt: ›Der Mensch kann nicht lange im bewußten Zustande verharren; er muß sich wieder ins Unbewußtsein flüchten, denn darin lebt seine Wurzel‹, so hat er damit das Leitmotiv angegeben, dem neben vielen anderen Motiven eine ›fugierte‹ wissenschaftliche Darstellung und Begründung in Carus' ›Psyche‹ (1846) beschieden war. Der Reichtum der Themen, die darin, auch aus der Ahnungsfülle der Romantik erwachsen, zur Durchführung kommen, ist riesenhaft und gestattet keine kurze Beschreibung. – Seit Jahren hat das Werk in verschiedenen Neudrucken eine Auferstehung erlebt und hat unsere heutige Psychologie, etwa bei C. G. Jung, manchmal überraschend zu bestätigen und auch weiter auszugestalten vermocht. Fast möchte man sagen, die ›Psyche‹ sei das modernste Werk über manche tiefenpsychologische Frage. Eine ähnliche Auferstehung war in den letzten Jahren manchen ausdruckswissenschaftlichen und naturphilosophischen Schriften beschieden, bedingt durch die Wendung vieler Forscher zu einer von Carus angebahnten Forschungsweise.
Die schönste Bewährung seines seelenkundlichen Verständnisses bedeutet sein ›Goethe‹ (1843). Man hat mit Recht gesagt, hier sei Goethe mit goethischen Augen gesehen. Die Seelenerschließung, die das Buch gibt, bedeutet eine ›kongeniale‹ Einfühlung. – Sein Stil erreicht hier den Höhepunkt: in einem weichen Glanz, in dem Heranschwebenden, mit dem er tiefe Dinge anrührt und in Gleichnissen vergegenwärtigt.
Unter den ästhetischen Werken kommt den Briefen über Landschaftsmalerei diese Nähe zu. Im Umgang mit Caspar David Friedrich entstanden, am persönlichen Schaffen immer wieder geprüft, gehören diese Briefe zu den schönsten und bewußtesten Dokumenten über die romantische Malerei. Von gleicher Kraft sind die Briefe über Goethes ›Faust‹; sogleich nach Erscheinen des ganzen ›Faust‹ geschrieben, stellen sie die erste große Würdigung und Interpretation dar, in der auch der zweite ›Faust‹ berücksichtigt ist. Der Literarhistoriker wird immer wieder die traumwandlerische Sicherheit der Deutung bewundern: die Paralipomena, die Briefe und Gespräche lagen Carus noch nicht vor; aber alle diese Dokumente – die für die Faust-Deutung so unschätzbar geworden sind – haben späterhin diese Interpretation nur Punkt für Punkt bestätigen können.
Der 1789 Geborene hatte 1821 seine Begegnung mit Goethe. Der Bund war geschlossen; Goethe schrieb ihm sogleich nach dem Zusammentreffen: »Ew. Wohlgeboren nur allzu kurzer Besuch hat mir eine tiefe Sehnsucht zurückgelassen; ich habe mich die Zeit her oft mit Ihnen im stillen unterhalten ...« – »Fürwahr, Sie vereinigen so viel Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten, deren innigst lebendige Verbindung teilnehmendes Bewundern erregt.«
Dieses Leben, das der inneren Entwicklung und Läuterung gelebt wurde, enthält eigentlich nichts Äußeres, das bemerkenswert wäre. – Einer Natur wie Carus war das Alter die innerlich gemäße Zeit. Ein bis zum achtzigsten Jahre währendes, geistdurchleuchtetes Alter hat ununterbrochen Werk um Werk aus seiner Reife geschenkt. Dabei fühlt man, wie die Seele ihre verschwiegenen letzten Wandlungen zum Ewigen hin besteht und schließlich ein Innerstes, Heiliges mächtig wird. Der Achtzigjährige schreibt nach seiner letzten Prüfung, dem Tod seiner Lieblingstochter, in einem Brief: »Ein solcher Schmerzensriß ins Leben, den mein Herz nicht aushalten wird, er hat doch auch einzelne große, erhebende Momente. Und ich konnte sie durchfühlen! und zum Besten des Ewigen in mir zurücklegen ...« – »Gestern rührten mich eigene Formen der Knospen meiner Kastanien, wo die jungen, schon großen grünen Blättchen, in dicke weiße Wolle eingepackt, von braunen, glänzenden Schalen bedeckt, recht schon versinnbildlichen, mit welcher tief bedeutsamen Liebe das Vaterauge für alles wacht, wie es der jungen Knospen gedenkt und wie es ja unmöglich ist, daß es dabei des armen Menschenherzens nicht gedenken sollte.« – Als Carus ein Jahr später stirbt, bringt sein Testament den Schlußsatz dieses Lebens. »... ein langes und reiches Leben war mir gegönnt, und ich scheide davon als von keinem verfehlten Kunstwerk, vielmehr mit innigem Dank gegen Gott und mit aufrichtiger Liebe zu den Menschen. – Möge Gott mir begangene Fehler verzeihen, und möge von den Menschen ein wohlwollendes Gedächtnis mir vergönnt werden ...«
Den Kern unserer Auswahl bilden Aufzeichnungen, die Carus nach dem Theater- und Konzertbesuch in später Stunde hingewerfen hat, bestrebt, den augenblicklichen Eindruck des Werkes festzuhalten. Diesen Stücken (oft aus halb verschollenen Bänden gezogen) haben wir mannigfach Verwandtes angeschlossen. Der Kunstbetrachter und Interpret sollte sprechen, weniger der Kunstphilosoph. Der Leser sollte erfahren, wie ›große Kunst‹, bekannte Werke, wie ›Faust‹ oder ›Beethovens Fünfte‹, sich in einer Seele gespiegelt haben, deren Stärke das Verstehen war. Zum Schlusse bleibt uns noch der Wunsch, der Leser möge nicht mit unruhiger Hand nach einem Band von Carus greifen; man muß in ein Element der Stille eingetreten sein, wenn diese diskrete Sprache, diese oft nur angedeuteten Gedanken vernehmbar werden sollen.