Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Glücklich ist ein jeder Tag zu preisen, an welchem der Mensch wieder neue Gelegenheit findet, sich in den Äther der Schönheit, sei es auf eine oder die andere Weise, einzutauchen. Den heutigen, an welchem Mozarts große Symphonie C-dur vor mir, und in reiner, ruhiger Umgebung, gut aufgeführt wurde, nenne ich einen solchen. O, Mozart – das heißt einen Gedanken ausdenken. Da liegts ja eben, daß die Ewigkeit des Gedankens begriffen werde. Denn jeder Gedanke, wenn er diesen Namen verdient, deutet auf das Ewige; wie ein schönes Gewölk schwebt er in der Luft, die sich in den unendlichen Weltraum verliert. Aber wie hoch der Luftschiffer in diesen unendlichen Raum eintaucht, darin bewährt sich die Kraft des Fluges. Das aber vermag eben Mozart wie keiner sonst in Tönen. Wie einfach ist nicht der Grundgedanke dieser Symphonie, und welchen Baum mit herrlichen Zweigen, Blättern, Blüten und Früchten hat er aus diesem Samenkorn erzogen! Freudig wächst es im ersten Satze empor und bewegt schon hier mit den mannigfaltigsten Regungen unsere Brust; dann senken sich in Fülle schmerzlicher Liebe die sich ausbreitenden Zweige im zweiten Satze, dem Adagio, abwärts – aber nun sprossen neue, freudige Triebe im dritten Satze, dem Allegro, gen Himmel, um im vierten Satze dann, in tausend Verschlingungen, in den zartesten Schwingungen und mit wunderschönen Blüten bedeckt, sich im reinsten Äther zu wiegen. Es ist etwas der Art doch so ganz allein der Musik erreichbar; denn wo möchten zum Beispiel sonst völlige Umkehrungen eines Gedankens, nicht nur seinem allgemeinen Sinne nach, sondern selbst nach seinen einzelnen Lauten, möglich und immer, wie hier, schön sein? Und so tut Mozart wirklich im Schlußsatze zuweilen: er läßt im Chore den Gedanken oder, deutlicher zu sagen, die Melodie fortklingen und gibt der leitenden Stimme dieselbe Melodie, aber in gerade umgekehrten Noten, sich fortwährend nach den künstlichsten Verschränkungen des musikalischen Gesetzes bewegend und nichtsdestoweniger immer in der heitersten Freiheit. Gewiß, ich wüßte doch auch nichts Edles und Wahres, nichts Schönes und Gutes, was nicht aus Klängen, wie denen jenes Adagios, widerhallte und tief sich mit ihnen uns einprägte.
Wenn, von neuem erweckt, die Kristallreinheit dieser Musik wieder an meiner Seele vorübergeht, wenn ich die unendliche Frischheit und Heiterkeit, die darin lebt, abermals recht innerlich empfinde, so wird mir dabei immer klarer, wie es doch nicht möglich zu sein scheint, daß in unserer jetzigen Zeit Werke eines solchen Charakters wieder entstehen können. Wie der Fieberhafte nicht mehr den ruhigen, gleichmäßigen Puls und Atem des Gesunden haben kann, so ist unserer Zeit nicht mehr möglich, Werke so durchaus heitern, unschuldigen Sinnes hervorzurufen. Giftig, einschneidend, gleichsam quetschend, und dann wieder üppig aufreizend fordert die fieberhaft angeregte Zeit ihre ästhetischen Leistungen, und Heil dem, der noch in stiller Seele mindestens die volle Empfänglichkeit sich bewahrte, die klaren Werke früherer Perioden rein auf sich wirken lassen zu können! Wunderbar bleibt es indes, daß Geister wie Mozart und Goethe, ganz einer andern Zeit angehörig als unserer politisch nervösen und gespannten, doch zugleich auch alles das tiefe Weh der neuern Menschheit in seinen schneidendsten Kontrasten, daß sie jene unselige innere Zerrissenheit, welche das Wirkende neuerer Kunstwerke bezeichnet, in ihren herrlichsten Werken ›Don Juan‹ und ›Faust‹ allerdings wahrhaft vorgeahnt haben. Mußte dies nicht eben deshalb so sein, weil schon in ihrer Zeit der Keim lag zu der stechend scharfen Frucht, welche erst die gegenwärtige Zeit reifen ließ? Ist es aber nicht schlimm, daß mich selbst, den die herrliche kindliche Lebendigkeit dieser ›Entführung‹ im Hören so ganz belebte (ich wüßte wirklich lange nicht, wann ich so reine Freude empfunden hätte als bei der Kavatine: ›Welche Wonne, welche Lust!‹), daß, sage ich, die Erinnerung des Gehörten selbst mich nun gerade auf den Gegensatz jener Heiterkeit zu führen Gewalt hat. Freilich, die Krankheit liegt zu nahe, als daß sie nicht überall sich fühlbar machen sollte. Indes auch hier gilt das
Doch ihr, die echten Göttersöhne,
Erfreut euch der lebendig-reichen Schöne!
Es ist mir noch nicht so deutlich geworden als bei dieser Beethovenschen Symphonie, wie vollkommene Anwendung auf Musik der Ausspruch Goethes leide: ›daß das Leben nur insofern etwas wert sei, als es eine Folge Folge im alten Wortsinn: Folgerichtigkeit, Konsequenz. habe‹. Waren denn etwa das in der dieser Symphonie vorhergehenden modernen Kantate andere Töne als in der Symphonie? Hatten dort die Instrumente einen andern Klang? Hallten die Akkorde auf andere Weise an den Bogen und Pfeilern der Kirche wider? Nein, die Töne, die Instrumente, der Widerhall waren dieselben, aber die Folge war eine andere. Was dort willkürlich und gedankenlos wie Scholle an Scholle sich lehnte, entsprang hier gleichwie an zierlichen Rankengewinden Blatt auf Blatt in organischen Verhältnissen. Die Folge war unverkennbar; ein Lebens-Brennpunkt warf seine Strahlen durch alle Verzweigungen des Kunstwerks, und ein lebendiges Einheitsprinzip verknüpfte die wunderbar mannigfaltigen musikalischen Figuren. – Es geht übrigens ein tiefes, schmerzliches Gefühl auch durch diese wie durch die meisten Beethovenschen Kompositionen; schon im ersten Teile hauchen die Instrumente schweres Seelenleiden des Dichters aus, bis erst später helle, kräftige Ermutigung wieder lebhafter auflodert; besonders merkwürdig aber war mir der letzte Teil, welcher mit einfachen humoristischen Modulationen fast spielend zwar beginnt, doch immer so, daß ein schmerzliches Jucken sich durchfühlen läßt, bis dann, als ob ein großer Entschluß sich in der Seele hervortäte, die Melodie, gleichsam zum Kampfe rufend, in die mutigsten und doch von einer gewissen Verzweiflung nicht ganz freizusprechenden Klänge ausbricht. Wie endlich diese Töne, einem über Felsen sich bergabwärts gießenden Strome vergleichbar, ihrem Schlüsse zueilen, hebt sich plötzlich noch einmal die Erinnerung des frühern einfachen, still humoristischen Zustandes gleich dem Scheideblick der Sonne, wenn sie am Horizonte noch einmal unter Wolken sich zeigt, heraus, und nun erst erfolgt der eigentliche Abschluß dieses ganzen dichterischen Gedankenzuges. Jeder, der auf die Vorgänge seines innern Lebens zu achten gewohnt ist und der da erkannt hat, daß die strenge innere Wahrheit überall nur durch eine richtige organische Folge der Zustände bedingt wird, er muß aber anerkennen, daß ein großer Teil der Freude, welche wir an einem so folgerichtigen Kunstwerke, wie dieses eines ist, empfinden, wesentlich eben dadurch sich erhöht, daß alsdann allemal mit der Schönheit zugleich auch die Notwendigkeit der gesamten Gliederung zum innigsten Bewußtsein gelangt.
Ich habe früher versucht, den musikalischen Grundgedanken dieses Werkes mit menschlichen Zuständen zu vergleichen und die Schilderungen derselben in Worten zu geben; heute habe ich es zum zweiten Male in solcher Vollkommenheit gehört, und nun finde ich Beziehungen dieser Art immer noch zu eng. Es ist etwas Eigenes um ein rechtes Musikwerk – gewissermaßen steht es vor dem Geiste durchaus als eigentümliche organische Welterscheinung, als eine solche, die zwar mit allem, was uns auf Erden umgibt, unmittelbar nichts gemein hat, aber doch die Entwicklungsgesetze jedes Organismus teilt und gleich einem solchen auf uns einwirkt. Schwebte nicht heute schon der erste Teil dieser Symphonie wie ein großes, in abendlich schönen Farben erleuchtetes, breithin schattendes Gewittergewölk heran? Die Wolken wogen wunderbar ineinander, Wetterleuchten teilt sie hie und da, und mitunter hört man das Rollen eines fernen Donners; bald aber brach dann dieses Adagio hervor, wie wohl bei beginnender Nacht ein klarfarbiges Mondlicht durch die sich teilenden Wolken bricht. Dies alles empfunden und erwogen: es bringt uns dann dazu, ein solches Werk mehr als ein Naturwerk zu verehren, als ein Werk, bei welchem man zwar vieles sich denken, welches man aber durch keinen Gedanken wahrhaft erschöpfen mag und kann. Ebenso ist es ja, wenn ich das Meer vor mir ausgebreitet sehe oder wenn die Schönheit des Sonnenaufgangs meine Seele rührt; da kann ich zwar Vergleichungsweise an vielerlei menschliche Zustände denken, auch an so manches, was in meinem Innern gewogt hat oder erleuchtet worden ist; aber jene Erscheinungen selbst stehen doch gänzlich auf ihrer eigenen Basis, sie sind Werke eigener Art, in denen es dem schaffenden Weltgeist gefallen hat, gerade auf diese besondere Art sich zu offenbaren. Und so, meine ich, ist es denn auch mit diesem Werke und manchem ihm ähnlichen. Es ist daher nicht abgesehen, eine Folge von Begriffen, welche auch durch Worte ausgedrückt werden könnten, in Tönen zu erfassen, es ist nicht darauf abgesehen, eine besondere menschliche Gemütsstimmung in Melodieen auszusprechen, es ist noch weniger die Rede davon, etwa bloß äußere Naturerscheinungen in Tönen zu wiederholen – ein echtes großes Musikwerk ist selbst allemal etwas durchaus Neues, das der Menschheit durch Offenbarung in einzelnen Kunstseelen hiemit ebenso erst aufgegangen ist, wie dem blind Geborenen schon oft die Hand des begabten Arztes ein ihm vorher ganz unbekanntes Etwas – das Licht – aufzuschließen vermocht hat. Daher auch wohl großenteils das schwer zu Fassende eines solchen neuen Ganzen – aber daher denn auch die Freude daran, wenn erst der Sinn für die inneren organischen Verhältnisse desselben uns wirklich eröffnet ist. Möge denn diese Freude allen denen kommen, die es mit der Kunst ernsthaft meinen.
Im November 1838
Es ist wunderbar, was alles ein echtes Musikwerk in der Seele loslöst, was für Bilder auftauchen, was für Gedanken sich erzeugen. Es war heute eine tiefe Verstimmung in mir – ich konnte wenig tun; die trübe Luft, der nasse Schnee, alles wirkte lähmend und drückend –, da kam ich zu diesem Trio. Vorher ging ein Quatuor von Haydn – eine gute Einleitung –, der treue, gute, einfache Mann, wie er sich so freudig mitteilt! – und in dem Adagio schießen plötzlich hohe, leuchtende Gedanken hervor, seiner Zeit um ein halbes Jahrhundert vorauseilend. – Dann aber wieder dieser Beethoven! Mit jedem Satze seiner Musik wurde mir wohler und frischer, und wie Wolken vor der Sonne verzog sich die nächtliche Stimmung. Es fiel mir bei ihm ein: Ist nicht der Mensch eigentlich ein Cherub mit drei Flügelpaaren, die untern kurz, schwerfällig, den Cherub nur flach über der Erde hin und kurze Strecken weit zu tragen geschickt, die obern immer größer, mächtiger, zu immer höherm und weiterm und schönerm Fluge geeignet! Bei den meisten Menschen schwingen bloß die untersten Flügel, die obern sind ungebraucht, gelähmt und zuletzt durch Nicht-gebraucht-Sein verkümmert. Auch hier nun wird anfänglich nur ein und das andere Flügelpaar entfaltet, endlich aber und mit einem Male auch die größern Adlerflügel: rauschend gehen sie voneinander, und nun geht unaufhaltsam der Flug zur Sonne. Es ist ein heilendes und belebendes Prinzip in dieser Musik.
Musikalische Gedanken sagt man eigentlich nur figürlich, so wie man das Wort Ton auch für gewisse Eigenschaften der Farbe braucht – beides ist zu entschuldigen, weil es an besondern Worten für beides eben fehlt. Aber diese musikalischen Gedanken haben in ihrer Sphäre vieles, ja fast alles, was die erkennenden eigentlichen Gedanken auch haben: sie können Klarheit und Verworrenheit haben, sie können mächtig und erhaben, sie können schwach und gemein sein usw.; besonders aber können sie sich auch auszeichnen durch das, was wir reine, gesunde, natürliche Folge nennen, und je mehr unser innerer Sinn ausgebildet und entwickelt ist, desto mehr wird diese Folge uns freuen, und desto mehr wird ihr Mangel uns unbefriedigt lassen. Es gibt einen Fluß großer musikalischer Gedanken, welche durch diese Folge, durch diese große, erhabene Natürlichkeit das Gefühl einer höchsten Schönheit entzünden können. Der dritte Akt von Glucks ›Armide‹, die größten Werke Mozarts und viele unsterbliche Schöpfungen Beethovens haben dies in vollstem Maße. Fehlt diese Folge, so kann selbst der Reichtum feinster und originellster Harmonie und unerwartetster Tonverhältnisse nicht ein hinreichendes Gegengewicht darbieten. Das seligste Genügen des Geistes aber entsteht im Reiche der Töne allemal erst dann, wenn Melodieen ihm zudringen, wie er selbst sie nicht zu schaffen vermag, wie sie ihm aber doch so durchaus gemäß sind, daß er in ihnen sich selbst gleichsam vervollständigt findet, und wenn in diesen Melodieen ihm alles neu und doch alles so notwendig, so organisch bedingt und darum wieder so bekannt vorkommt, daß er im voraus gewiß ist, es könne nicht anders kommen, als es kommt. Dieses Genügen ist daher eigentlich auch allein der Prüfstein vollendeter Schönheit eines großen musikalischen Werkes.