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So vergehen die letzten Tage des August 1792, trübe, unheilvolle Tage und von übler Vorbedeutung. Was wird aus dem armen Frankreich werden? Als am letzten Dienstag, am 28. des Monats, Dumouriez vom Lager von Maulde ostwärts ritt nach Sedan, die dort von Lafayette im Stich gelassene sogenannte Armee musterte, da sahen die verlassenen Soldaten ihn finster an, man hörte sie gegen ihn murren: »Das ist einer von ihnen, ce b–e là, die den Krieg erklärt haben.« Dumouriez, Mémoires, II, 383. Eine nichts versprechende Armee! Rekruten, von einem Depot nach dem andern geschickt, kommen herbei, aber eben nur Rekruten, denn alles fehlt, ein Glück ist's, wenn sie wenigstens Waffen haben. Und Longwy ist schmählich gefallen, und Braunschweig und der preußische König mit seinen sechzigtausend werden Verdun belagern, und Clairfait und die Österreicher dringen tiefer ein, über die Nordgrenze, »hundertundfünfzigtausend«, wie die Furcht sie zählt, »achtzigtausend«, wie die Register beweisen; sie schließen uns ein, hinter ihnen steht das kimmerische Europa. Auf jener Seite sind auch die Ritterschaft von Castries und Broglie, royalistisches Fußvolk »mit roten Aufschlägen und Nankinghosen«, Tod und Galgen schnaubend.
Und seht endlich! Am Sonntag, den 2. September 1792, langt Braunschweig vor Verdun an. Mit seinem König und sechzigtausend Mann, weithin blinkend von den Höhen jenseits des sich windenden Meuse-Flusses, schaut er auf uns herab, 177 auf unsere »hohe Citadelle« und auf alle unsere Zuckerbäckeröfen (denn wir sind berühmt wegen unseres Backwerks), hat eine höfliche Aufforderung zur Übergabe gesandt, um Blutvergießen zu ersparen! – Ihm widerstehen bis in den Tod? Kostbar jeder Tag des Verzuges? Wie (fragt die erstaunte Munizipalität), wie, o General Beaurepaire, sollen wir ihm widerstehen? Wir, der Munizipalrat von Verdun, wir sehen keine Möglichkeit des Widerstandes. Hat er nicht sechzigtausend und Artillerie ohne Ende? Verzug, Patriotismus sind gut, aber ebenso friedliches Pastetenbacken und Schlafen in heiler Haut. Der unglückliche Beaurepaire streckt seine Hände aus und fleht mit Leidenschaft im Namen von Vaterland, Ehre, Himmel und Erde, – umsonst. Die Munizipalräte haben, von Gesetzes wegen, die Macht zu befehlen – bei einer von Royalismus oder Kryptoroyalismus befehligten Armee schien solch ein Gesetz nötig – und sie befehlen als friedliebende Pastetenbäcker, nicht als heroische Patrioten, sich zu ergeben. Mit großen Schritten geht Beaurepaire nach Hause; sein Kammerdiener, ins Zimmer tretend, sieht ihn »eifrig schreiben,« und zieht sich zurück. Dann, wenige Minuten nachher, hört der Diener den Knall einer Pistole: Beaurepaire liegt tot da; was er so eifrig geschrieben, war ein kurzer Abschied vor dem Selbstmord gewesen. So starb Beaurepaire, beweint von Frankreich, begraben im Pantheon, mit ehrenvoller Pension für seine Witwe und der Grabschrift:
» Er wählte lieber den Tod, als sich Despoten zu ergeben.«
Die Preußen stiegen von den Höhen herab, sind ohne Schwertstreich die Herren von Verdun geworden.
Und so rückt Braunschweig vor, von Platz zu Platz; wer soll ihn nun, da er vierzig Meilen im Lande bedeckt, aufhalten? Fouragierer eilen voraus, die Dörfer im Nordosten werden geplündert; so ein hessischer Fouragierer hat ja nur »drei Sous den Tag;« selbst von den Emigranten wird gesagt, sie nähmen Silberzeug – aus Rache. Clermont, Sainte-Menehould, besonders aber Varennes, ihr Städte der Nacht der Sporen, zittert. Procureur Sausse und der Magistrat von Varennes haben sich geflüchtet, der tapfere Boniface le Blanc vom Bras d'Or ist in die Wälder geflohen, Frau le Blanc, ein schönes junges Weib mit ihrem kleinen Kinde, muß im Grünen wohnen wie eine schöne Märchengestalt, unterm Dach von Binsen, und vorzeitig einen Rheumatismus 178 auflesen. Helen Maria Williams, Briefe aus Frankreich (London 1791–1793), III, 96. Clermont hätte jetzt Ursache, die Sturmglocke zu läuten und Feuerzeichen zu geben! Es liegt am Fuße seiner Kuh (oder Vache, wie man den Berg nennt), eine Beute für den hessischen Plünderer; seine schönen Weiber, schöner als die meisten ihres Geschlechts, werden beraubt – nicht des Lebens oder dessen, was ein teureres Gut ist, sondern alles dessen, was wohlfeiler aber tragbar ist, denn die Not, bei »drei Sous den Tag«, kennt kein Gebot. In Sainte-Menehould wurde der Feind mehr als einmal erwartet, – unsere Nationalen alle traten unter Waffen; aber noch hat man ihn nicht gesehen. Postmeister Drouet, der ist nicht in den Wäldern, sondern widmet sich seiner Wahl und wird im Konvent sitzen, der bekannte Königssänger und kühne gewesene Dragoner, der er ist.
So irrt und rennt im Nordosten alles, und auf einen bestimmten Tag, dessen Datum für die Geschichte verloren ist, hat Braunschweig »sich verpflichtet, in Paris zu Mittag zu speisen,« – wenn's die himmlischen Mächte wollen. Und in Paris, dem Centrum, steht's wie wir sahen, und in der Vendée, dem Südwesten, wie wir sahen, und Sardinien ist im Südosten, Spanien im Süden, Clairfait mit Österreich und dem belagerten Thionville im Norden; und ganz Frankreich springt wie wahnsinnig, wie die vom Sturm erfaßte in Sandsäulen tanzende Sahara! Kein Land war je in verzweifelterer Lage. Es scheint, die Majestät von Preußen könnte, wenn's ihr gefiele, Frankreich teilen und in Stücke zerlegen, wie ein Polen, den Rest dem armen Bruder Ludwig zuwerfen, – mit der Weisung, es unterm Daumen zu halten, oder sonst werden wir es für ihn thun.
Oder haben vielleicht die höheren Mächte alles anders bestimmt, in der Absicht, daß hier und nicht anderswo ein neues Kapitel in der Weltgeschichte beginnen solle? In dem Falle wird Braunschweig nicht an dem bestimmten Tage in Paris zu Mittag speisen, noch weiß man dann wirklich wann! – Wahrlich, inmitten dieses Schiffbruchs, wo das arme Frankreich sich selber in Staub und bodenlosen Ruin zu zermalmen scheint, wer weiß, ob da nicht ein wunderbares punctum saliens der Erlösung und neuen Lebens schon erstanden ist und vielleicht schon wirkt, obwohl bis jetzt das menschliche Auge es nicht wahrnimmt! Am Abend desselben 28. August, dem nichts versprechenden Tage der Truppenschau in Sedan, 179 versammelt dort Dumouriez einen Kriegsrat in seiner Wohnung. Er breitet die Karte dieses verlorenen Kriegsdistrikts aus. Preußen hier, Österreicher dort, beide triumphierend, im Besitze breiter Heerstraßen und wenig Hindernisse vor sich auf dem ganzen Wege nach Paris. Wir zerstreut, hilflos auf allen Punkten. Was bleibt da für Rat? Die Generale, Dumouriez fremd, sehen verblüfft genug drein, wissen nicht recht was raten, – wenn nicht zum Rückzug, und Rückzug, bis unsere Rekruten zahlreicher, bis vielleicht das Kapitel der Zufälle uns eine günstige Seite weist, oder bis, auf alle Fälle, zu dem allerletzten Tage, wo Paris genommen sein würde. Inmitten der vielen Beratenden lauscht Dumouriez, der »seit drei Nächten kein Auge geschlossen«, ohne selber viel zu sprechen, den langen, hoffnungslosen Reden; faßt bloß den Redenden ins Auge, damit er ihn kennen lerne, wünscht ihnen allen dann gute Nacht, – nur einem gewissen jungen Thouvenot, dessen feurige Blicke ihm gefallen haben, dem winkt er, einen Augenblick zu warten. Thouvenot bleibt: Voikà, sagt Polymetis, und weist auf die Karte. Hier ist der Argonnerwald, dieser lange Streifen felsigen Gebirges und wilder Wälder; vierzig Meilen lang, mit nur gar fünf oder gar nur drei gangbaren Pässen. Die haben sie vergessen. Könnte man sich ihrer nicht noch immer bemächtigten, obschon Clairfait so nahe ist? Einmal genommen, die Champagne, genannt die hungrige (oder ärger, die Champagne Pouilleuse) auf ihrer Seite, die fetten drei Bistümer und das vom besten Willen beseelte Frankreich auf unserer, und die Äquinoktialregen nicht ferne, – diese Argonnen »könnten die Thermopylen Frankreichs werden.« Dumouriez, II, 391.
O tapferer Dumouriez Polymetis mit deinem ideenreichen Kopf, mögen die Götter es geben! – Polymetis, einstweilen, legt seine Karte zusammen und wirft sich aufs Bett, entschlossen, morgen früh es zu wagen. Mit List, Schnelligkeit, Kühnheit! Fürwahr, man sollte Löwe und Fuchs zugleich sein und das Glück auf seiner Seite haben zu solchem Wagnis. 180