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XII.

Auf dem erleuchteten Perron des Bahnhofs schritt Meinhard händeschüttelnd die Reihe der Bekannten ab, die sich hier vereinigt hatten, mit ihm das Geleite zu geben. Er hatte sich viele Freunde erworben in den langen Jahren, und außer seinen bisherigen Untergebenen und den Angestellten der andern Aemter waren auch Honoratioren und Bürger der Stadt zahlreich erschienen, sich hier, wie das die freundliche Sitte verlangte, von dem Abreisenden noch einmal zu verabschieden.

Sehr ernst und sichtlich gerührt ging er von einem zum andern, hatte noch für jeden ein herzliches Wort oder doch ein freundliches aufmerksames Gehör, wo man sich noch in der letzten Minute die Protektion des in eine so einflußreiche Stellung Gelangenden sichern wollte, aber dabei schweifte doch sein Blick manchmal plötzlich zur Seite, als ob er die Anwesenden mustern wollte, oder erwarte, noch jemand hinzukommen zu sehen.

Da mit einemmale erhellte sich sein Auge und, dem Kommandanten der Garnison, mit dem er eben gesprochen, nur eine hastige Entschuldigung zuwerfend, wendete er sich der Eingangsthüre zu, durch die eben Franz herausgetreten war.

»Du meinst also, daß du von Waltershofen so holländisch davongehen könntest …« redete ihn dieser an. Was aber ein Versuch zum Scherzen sein sollte, klang recht schwer und trüb.

Während sich die beiden Freunde die Hände drückten, zuckte Meinhard plötzlich und machte von neuem eine rasche Wendung, denn hinter Franz tauchten nun auch Arm in Arm zwei zarte Frauengestalten auf.

»Wir fürchteten schon zu spät zu kommen, aber die Pferde haben doch noch tüchtig ausgegriffen,« rief Mimi lebhaft aus.

Hilda sagte kein Wort, sie war sehr bleich und bewegt; wäre der Schleier nicht bis zur Hälfte über das Gesicht herabgezogen gewesen, so hätte man an ihren Wimpern noch den Rest hinweggewischter Thränen flimmern sehen können.

Meinhard begrüßte sie.

»Ich konnte ja nicht erwarten,« sagte er, nur durch eine Gewaltanstrengung seine unsichere Stimme beherrschend, »ich konnte nicht erwarten, daß nach den heutigen Vorgängen – nach den Vorgängen in den letzten Stunden –« verbesserte er sich, »jemand von euch noch Zeit und Stimmung finden würde –«

»Du weißt also schon?« unterbrach ihn Franz.

»So eben hat mir Doktor Schöller das Ende mitgetheilt. So traurig es ist, genau betrachtet, Freund, muß man doch vielleicht sagen – es ist dem armen abgehetzten Manne die Ruhe zu gönnen.«

Franz nickte nur zu dem gutgemeinten Troste.

»Ja, ja, ich weiß wohl,« sagte er traurig. »Es ist alles gut, was ist, weil es ist, wie die Philosophen sagen. Aber daß es so kommen mußte, man hätte doch vielleicht –«

»Quäle dich nicht mit Selbstvorwürfen. Was auch geschehen wäre, es hätte nichts mehr geändert. Schon gestern sagte mir Schöller, er besorge, daß Wilhelm nicht lange mehr leben werde. Sein Herzleiden sei zu weit vorgeschritten, – es könne allenfalls noch Monate dauern, aber bei der geringsten Emotion auch ein plötzliches Ende nehmen. Und wie war er vor Emotionen in seiner Lage zu behüten?«

»Gestern? – Sie wußten gestern?«

»Sobald Doktor Schöller vom Jägerhause zurückkam,« beantwortete Meinhard Hildas überraschte Frage; »der alte Herr hielt sich selbst schon für einen Mitschuldigen an der Verheimlichung und wußte sich vor Besorgnis nicht zu fassen. So nahm er denn seine Zuflucht zu mir.«

»Und lieferte den Flüchtling damit aus.«

Meinhard schüttelte den Kopf und legte einen besonderen Nachdruck auf seine Worte.

»Nein! Ich war zur Stunde nicht mehr an der Spitze des Amtes. Er wußte das freilich nicht. Für mich aber gewann das Harte, das mich vor noch Härterem bewahrt, ganz andre Bedeutung. Es ist doch wohl alles gut, was ist.«

Hilda erbebte bis ins Herz. Alles was gestern vorgefallen, trat ihr wieder vor Augen, gar wohl verstand sie, was er meinte, indem er auf die Entwicklung hindeutete, welche es ihm erspart hatte, gegen den ehemaligen Jugendfreund, gegen ein Mitglied ihrer Familie in seiner amtlichen Eigenschaft einschreiten zu müssen, oder aber gegen Eid und Pflicht zu handeln, und nun war ihr auch der Sinn jener Worte klar, mit denen er ihr das Geld am Morgen eingehändigt. Er hatte genau gewußt, zu welchem Zweck es geschah, und diesen somit trotz seiner früheren Gegnerschaft in der mittlerweile erwachsenen Dringlichkeit gebilligt, ohne sich in das ihm einmal entzogene Vertrauen gewaltsam wieder eindrängen zu wollen. Und ihn hatte sie für gemütslos halten können!

»O Meinhard!« mehr brachte sie in tiefer Bewegung nicht aus der zugeschnürten Kehle, aber auch der Laut wurde von dem Geräusch des anfahrenden Zuges verschlungen. Es war ihr, als gingen die schweren Eisenräder über ihr Herz und ängstlich klammerten sich ihre Finger an seine Hand. Schon so bald, so schnell sollte es sein!

Auch ihm war das dumpfe Rollen eine furchtbare Mahnung. »Soll ich denn nicht noch einmal wenigstens in Ihr liebes Gesicht schauen dürfen, Hilda?« bat er.

Als jetzt die freie Hand den Schleier zurückgeschlagen hatte, da sah er in ein bleiches, schmerzentstelltes Antlitz und in zwei rotgeränderte verweinte Augen, in die er seine ganze Seele versenkte. Einen Moment lang war's ihm, als müsse noch ein Wort zwischen ihnen gesprochen werden, aber sie schwieg und ihm quoll das Herz in die Kehle herauf. Die Trauer galt ja doch nicht ihm, für den Toten waren die Thränen geflossen, dem Freunde hatte gestern ein Kuß ja schon Lebewohl gesagt, selbst die Hand, die jetzt wie erstarrt in der seinen lag, wiederholte es nicht noch einmal.

Er ließ sie los. Es mußte ja so sein.

Noch einmal Franz in die Arme. – »Du schreibst! Im Februar komme ich nach Wien.« Dann hastig noch diese und jene Hand gedrückt, noch hier- und dorthin einen Gruß und dann rasch in den Wagen, wo der Diener schon Rock und Reisedecke bereitlegte. Hinauf! »Glückliche Reise! Glückliche Reise!«

Aus Hildas Augen waren plötzlich Ströme von Thränen gestürzt. Schwankend klammerte sie sich an ihres Bruders Arm.

»Führ' mich fort, Franz,« stöhnte sie. »Mir ist zum Sterben.«

Während der Scheidende von seinem Sitze aus nach allen Seiten winkte und nickte, glitt sein Auge noch einmal zu der Stelle, wo er Hilda verlassen, aber kein wehendes Sacktuch, kein letzter Gruß – sie war verschwunden. Warum war sie gegangen? Man blickt doch dem scheidenden Freunde noch gern so lange nach, als man noch ein Endchen des entschwindenden Zuges, der ihn entführt, zu sehen vermeint, wie wehmüthig die Gefühle dabei auch sein mögen. Und sie hatte auch nicht diese einzige Minute mehr auszuharren vermocht! Fürchtete sie dieselben dem Glücklichen zu entziehen, der sie daheim erwartete? Was hätte der Beneidenswerte an der einen Minute verloren, – er, dessen wonniges Eigentum die ganze Zukunft blieb? So fahr' denn wohl, Traum meines Lebens!

Da huschte flink wie eine Eidechse noch eine schlanke Gestalt durch die dem Waggon zugewendete Gruppe der Herren, hüpfte über das nächste Geleise und war mit einem kleinen Sprunge auf dem Laufbrette. Gleich darauf tauchte Mimis frisches Gesichtchen an dem Fenster auf und sah mit wichtigen Augen zu dem Ueberraschten empor.

Das Kind also hing noch am treuesten an ihm! Das war ein Tropfen Rührung in die aufwallende Bitterkeit.

»Onkel Meinhard,« begann die Kleine mit fliegender Hast, in dem Geräusche der Stimmen und zugeschlagenen Thüren kaum verständlich, »Onkel Meinhard, Sie müssen nicht böse sein, aber mit unsrer Heirat wird es nun wohl nichts. Ich kann nicht, denn ich habe schon Edwin mein Wort gegeben. Es thut mir leid, aber es geht wirklich nicht. Das wollt' ich nur noch sagen, daß sie nicht am Ende wiederkämen. Aber nicht wahr, Sie tragen mir's nicht nach, Onkel?«

»Edwin, Kind? Edwin? Was ist denn dann mit Hildas Brautschaft?«

»Zu Ende. Ist alles nur ein Irrtum gewesen.«

»Was ist das? – du selbst irrst dich gewiß nicht, Kind?«

Die Kleine konnte nicht zur Antwort kommen, da sie der Schaffner eben gebeten hatte, zurückzutreten, aber Meinhard war zu viel daran gelegen weiteres zu erfahren, er öffnete denn nochmals die Thür und sprang rasch gleichfalls zur Erde.

»Ist es auch volle Wahrheit, Mimi? nicht vielleicht ein kleiner Scherz?« wiederholte er dringender seine Frage.

»Ich werde doch nicht so kindisch sein! Mit solchen ernsten Dingen treibt man keinen Scherz.« Sie faßte seine Hand, indem sie mit ihm einige Schritte beiseite trat. »Ach, Onkel Meinhard, ich freue mich so unendlich. Es ist zwar recht traurig, das mit dem Todesfall im Jägerhause, aber ich kann doch nicht immer weinen und ich bin so glücklich – o so glücklich!«

»Aber ich verstehe noch immer nicht, was ist denn eigentlich geschehen? Es ist ja ganz unmöglich!«

»Doch, doch. Papa selbst hat nichts eingewendet. Er war so weich und bewegt, daß er zu allem nur nickte. Mama hat mir eine schöne Aussteuer versprochen und Edwin will alles thun, was Papa von ihm fordert. Er will ein Buch schreiben und Artikel für die Blätter; sobald er die ersten tausend Gulden Honorar vorzeigen kann, dürfen wir heiraten.«

Der Stationschef war an die beiden so vollkommen in ihr eifriges Gespräch Vertieften herangetreten, die schon Zielpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit geworden waren.

»Herr Sektionsrath,« mahnte er höflich, »es ist die höchste Zeit. Ich darf den Zug nicht länger aufhalten.«

»Lassen Sie ihn abgehen, lassen Sie ihn abgehen!« erwiderte Meinhard in großer Erregung. »Ob ich zwölf Stunden früher oder später ankomme, davon hängt das Wohl des Staates nicht ab.«

Ein Wink. Es läutete, ein ungeduldiger Pfiff und vorwärts pustete der Zug, der sich ächzend und klirrend von der Stelle losriß, wo er kurze Zeit gerastet.

Mitten in dem Getöse die feine Stimme erhebend, erzählte Mimi auf Meinhards erneuerte Fragen, wie alles gekommen.

»Im Walde hat er mir's gesagt,« schloß ihr kurzer Bericht. »Er hat ja doch eigentlich mich lieb. Und ich glaub's ihm – er wäre ja zu falsch!«

»Und – Hilda?«

»Tantchen wollte eben nur jemand haben, der ihre Geschäfte besorgt; dazu aber braucht man doch nicht notwendigerweise zu heiraten, nicht wahr?«

»Mein Gott, wäre es –! Wo ist sie?«

»Da drinnen ist sie und weint sich die Augen aus.«

»Daß alles auseinanderging?«

»Gott bewahre, sie war es ja, die ihn geschickt hat. Ich habe sie dafür so lieb!«

»Warum weint sie dann?« drang er in steigender Aufregung in sie. »Um den Toten?«

»Wär' ich ein Lebender, ich würde sie selber fragen,« versetzte Mimi achselzuckend, indem sie ihn schlau von der Seite ansah. »Warum sprechen Sie denn nicht zu ihr, wie Sie zu mir gesprochen haben? Ich habe ihr schon ein bißchen davon gesagt. – Himmel! jetzt sind Sie wirklich sitzen geblieben!« rief sie lachend und klatschte hinter dem letzten Wagen des davonrollenden Zugs fröhlich in die Hände. »Wird das eine Ueberraschung geben!«

Das galt dem plötzlich von ihrer Seite verschwundenen Meinhard, den seine während des fliegenden Gespräches diskret ferngebliebenen Bekannten mit ungemessenem Erstaunen zurückbleiben und nun mit beflügelten Schritten wie einen Jüngling in den Wartesaal eilen sahen.

Ihm war zu Mute, als hätte ein Sturmwind ihn erfaßt, der ihn emporwirbelte aus düsterer Schlucht zum hellen Sonnentag.

Dort saß sie auf dem Bänkchen in der Ecke und lehnte schluchzend an ihres Bruders Schulter. In seinen Augen blitzte ein frohes Licht aus, als er den Freund erscheinen sah.

»Ich bin zu spät gekommen,« versuchte dieser schüchtern eine überflüssige Entschuldigung.

»Ich glaube eher – gerade zurecht. Gut, daß du da bist; sie ist mir fast umgesunken.«

»Hilda, ist es möglich – ist es möglich, daß du um mich weinst,« fragte Meinhard mit bewegter Stimme, die beinahe versagte. Er sah sie wohl zusammenzucken bei dem ersten Laut, da aber keine Antwort kam, ergriff er ihre Hände und zog sie mit zärtlicher Gewalt von dem thränennassen Antlitz und rief sie noch einmal »Hilda!«

Diesmal gehorchte ihr Blick. Durch die blitzenden Perlen leuchtete unendliche Liebe.

»Nimm mich mit, Bruno,« klagte sie sanft. »Ich kann nicht sein ohne dich!«

»So war's gemeint!« gab Franz nach einer Weile, während welcher er mit ernster Rührung den Freund und die Schwester betrachtete, die sich wortlos umfangen hielten, seiner Befriedigung Ausdruck. »Na, was lange braucht, wird gut.« –

»Das wollen wir hoffen!« sagte Meinhard leuchtenden Blicks und in freudiger Zärtlichkeit. »Endlich, endlich ist der säumige Gast doch noch eingekehrt in dies widerspenstige Herz.«

»O nein,« entgegnete sie. Mit schmerzlichem und doch glückseligem Lächeln, dessen Spiegelung sie in des Geliebten Augen suchte, schmiegte sie sich innig in seinen Arm. »Er ist immer dagewesen, von jeher – ich habe es nur nicht gewußt.«

»Da ist er also doch der heimliche Gast,« frohlockte Mimi. »Hatt' ich nicht recht mit meiner Warnung vor dem gefährlichen Nebenbuhler? Oh, ich hab' es gefühlt! – Was nur Edwin dazu sagen wird!«

Leise nickte Reinach vor sich hin. »Dort ist der Tod – hier das Leben. Das bleibt im Recht.«

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