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IV.

Herbst! Herbst! – Ihm hatte der Seufzer gegolten und doch war er da noch ein munterer alter Bursche gewesen, der in seiner bunten Narrentracht gar malerisch aussah und statt der lustig klingelnden Schellen reife Früchte in die Körbe und Schürzen schüttelte. Damals war er noch bei Laune, seitdem aber hatte sie über Nacht gewechselt. Der grämliche Geselle hatte seinen grauen Mantel umgeworfen und fegte mit ihm über die Fluren, daß sich die Falten im Winde blähten, und wo er zwischen die Bäume des Waldes geriet, aus dem zerfegten schmutzigen Saume das Wasser troff.

Düster war der Mittag, daß er dem grauenden Morgen glich, ein leiser Sprühregen ging nieder und weichte den Lehmgrund des schmalen Waldsträßchens auf, dazwischen fielen auch schwere Tropfen von den Aesten, wenn ein heftiger Windstoß sie rüttelte, gegen dessen Ungestüm der Eingang in den Hohlweg, durch welchen er herniedersauste, förmlich erkämpft werden mußte. Aber trotzdem dachte Hilda diesmal nicht an den Herbst, sie hüllte sich fester in das über den Regenmantel geworfene Tuch und strebte tapfer vorwärts. Es galt ja ein gutes Werk, und der Streit mit der hemmenden Natur war das beste Mittel gegen jede melancholische Anwandlung, denn er gab das stolze Vollgefühl siegreichen Wollens ungeminderter jugendlicher Kraft.

»Hier ist's gewesen,« sagte der Waldhüter, der sich dicht hinter ihr hielt, als sie ungefähr in der Mitte des Hohlwegs an eine Stelle gekommen waren, wo an der ausgewaschenen, wohl drei Meter hohen Wand ein frischer Riß zu sehen war. »Er muß in der Dunkelheit da oben am Rande gegangen und samt demselben abgerutscht sein.«

Oertlichkeit und Thatbestand schienen aber für Hilda weniger Wichtigkeit zu haben, als ihr Begleiter, wie so viele aus seiner Sphäre und auch noch so manche weit über derselben stehend, pflegen, ihnen beilegte. Sie nickte bloß und schritt, möglichst von Stein zu Stein tretend, auf dem schlüpfrigen und schmutzigen Wege weiter. Nicht wie jemand ihrer Hilfe bedürftig geworden, war die Hauptsache, sondern daß er sie rasch erhielt.

Vor einer Viertelstunde saß sie noch in ihrem behaglichen Zimmer, allein ihren Gedanken überlassen, wie ihr das in den letzten Tagen öfter geschehen war. Ihr Bruder hatte endlich doch daran gehen müssen, seine junge Frau den Bekannten in der Stadt und der Nachbarschaft vorzustellen. So wurden denn jeden Tag ein paar dieser Ankunftsbesuche abgethan, und da das eine kleine Abwechslung und der Wagen am Ende doch vier Sitze bot, so schlossen sich auch hin und wieder die Gäste als Begleitung an. Diesmal war es Mimi, welche den vierten Platz eingenommen, und Frau Rohrwek, welche an ihrer statt zu Hause geblieben, war bei ihrer sehr umständlichen Toilette, die sie voraussichtlich für Stunden beschäftigte. Das Gesinde befand sich bereits beim Mittagstisch und niemand störte Hilda in ihrer Einsamkeit.

Seit ihre Thätigkeit jene unerwartete Beschränkung erlitten, hatte sie viel Zeit für sich, viel mehr als ihren Gedanken gut war. Wohl nahm sie zu Büchern ihre Zuflucht, sich selbst beredend, daß sie eigentlich diese Muße willkommen heißen müsse, die ihr das Aufnehmen einer ernstern geistigen Beschäftigung wieder ermögliche, nachdem sie so lange Jahre hindurch sich nur mit der Wiederholung des im Institute Gelernten befaßt, das nun wieder an das zum größten Teile auf sie angewiesene nachwachsende Mädchen übertragen werden mußte. Waren ihr darin auch einzelne Lehrkräfte aus der nahen Stadt beigestanden, so hatte ihr doch selbst das keine hinreichende Freiheit zur eignen Fortbildung gegeben, da sie grundsätzlich den meisten Studien beiwohnte, um Methode und Fortgang selbst zu überwachen. Jetzt war endlich die Zeit gekommen, wo sie sich wieder in die Fortschritte, welche inzwischen die Welt auf allen Gebieten des Wissenswerten gemacht, gründlicher hineinleben durfte, als dies in der täglichen Hast der an ihre praktische Bethätigung gestellten Anforderungen möglich gewesen.

Aber zu ernstem Studium gehört Konzentrierung, ein ruhiges Gemüt, daß durch nichts die Aufmerksamkeit abgezogen wird, und die fehlte noch. Der Eifer des Nachholens wurde gar häufig durch kreuzende Gedanken gestört und dann entsank wohl das Buch auf längere Zeit der Hand.

In einer solchen Zwischenpause war es gewesen, daß die Thüre nach mehrmaligem schüchternen Klopfen aufgethan wurde und sich der Waldhüter verlegen ehrerbietig hereinschob. Er war vor nicht langer Zeit erst auf die durch den Tod seines Vorgängers erledigte Stelle versetzt worden und noch nicht recht auf dem Gute eingelebt. So meinte denn Hilda, daß es auch diesmal eine Anfrage oder Meldung bei ihrem Bruder gelte, in dessen Abwesenheit sich ja alles bisher an sie zu wenden gewohnt war. Sie erstaunte demnach nicht wenig, als sich das Anliegen unmittelbar an sie richtete.

Er habe gestern nachts beim Nachhausegehen einen Menschen im Hohlwege liegen gefunden und anfänglich für tot oder schwerbetrunken gehalten, erzählte er, dem sei aber, wie sich bald herausgestellt, nicht so gewesen. Der Mann müsse sich nur bei einem Falle weh gethan haben und ohnmächtig geworden sein. Er habe ihn drum, als er zu sich kam, mit in das nahe Jägerhaus genommen, und weil es doch schon spät gewesen sei und der arme Mensch so schwer weiter konnte, ihm allda auch ein Nachtlager gegeben. Wie ein echter Handwerksbursche habe er allerdings nicht ausgesehen, doch auch nicht wie ein Strolch; nach der Kleidung könne man ja heutzutage nicht mehr schließen, wo die Arbeiter oft elegantere Anzüge trügen, als die Herren. Um ein Wanderbuch habe er auch nicht fragen wollen, der arme Teufel habe doch gar zu müde und elend ausgesehen, einer Nacht wegen, was ja am Ende auch gleichgültig, wenn man ein christliches Erbarmen angedeihen ließe.

Mit dem Weiterwandern am Morgen sei es aber nichts gewesen. Als er von seinem vormittägigen Gange wieder zurückgekehrt, da sei der Fremde noch immer im Jägerhause gelegen. Er hatte lange und wie ein Toter geschlafen und als er endlich erwachte, nicht auftreten, ja nicht einmal in die Stiefel kommen können.

»Der Fuß ist am Knöchel ganz verschwollen, er muß sich ihn verstaucht haben,« schloß der Erzähler seinen Bericht, »und da schickt mich die Trine her, ob das gnädige Fräulein nicht vielleicht noch etwas von der kräftigen Salbe hätten, die ihr im letzten Winter so gut gethan.«

Hilda war sogleich bereit, dem Wunsche zu entsprechen, es kam nicht selten vor, daß, um den weiten Weg in die Stadt und die Kosten bei Arzt und Apotheke zu sparen, an ihre Hilfe appelliert wurde und sie wäre ja keine echte Gutsherrin gewesen, hätten sich bei ihr nicht allerlei einfache Medikamente und erprobte Rezepte gefunden. Es nahm sie nur wunder, daß der Jägersmann sich mit dem ihm eingehändigten Büchschen nicht zufrieden gab. Er verweilte noch und hatte offenbar etwas auf dem Herzen. Endlich faßte er Mut.

»Ja,« sagte er zaudernd auf ihre Frage. »Ich weiß nicht, ob ich so etwas nur ausrichten darf. Die Trine meinte, es sei sonst wohl auch noch etwas zu heilen, das würde aber das gnädige Fräulein besser verstehen. Ein innerlicher Schaden, für den es vielleicht hier im Schloß ein Mittel gäbe. Da wäre aber das beste, das gnädige Fräulein kämen gerade selber nachsehen, was sich schicke – ich weiß nicht, meinte sie Tropfen oder einen Trank. Bei dem schlechten Wetter hätte ich's gar nicht gewagt, ein solches Ansinnen zu stellen, aber die Trine meinte, ich kenne das gnädige Fräulein noch nicht und die mache sich gar nichts aus einem bißchen Naßwerden, wenn es sich um ein armes Menschenleben handle, und das Reden könne mir nicht den Kopf kosten, wohl aber das Schweigen meine Stelle.«

»Nun, so arg wird es in keinem Falle sein,« tröstete ihn Hilda freundlich.

»Das habe ich wohl gedacht,« erwiderte er aufatmend, »aber am Ende hatte ich doch Angst. Man weiß ja nie, wie's die Alte meint. Gleich darauf hat sie mir wieder angedroht, es könne mir meine Stelle kosten, wenn ich nicht schweige. Keinem Menschen sollte ich nämlich etwas davon sagen, als nur dem gnädigen Fräulein. Sie wird alle Tage wunderlicher. Da hat sie dem fremden Menschen gestern sogar in ihrer eignen Kammer gebettet und sich auf die Streu gelegt. Das geht mich eigentlich nichts an, aber verkehrt ist's doch und wahrhaftig, ich weiß nicht – ich habe sie bisher behalten, weil ich allein steh' und sie als eine Art Inventarstück mit dem Jägerhause übernommen – aber –«

Hilda sprach ihm Geduld zu. Die an sie ergangene Aufforderung kam ihr zwar auch etwas wunderlich vor, aber so genau konnte man es bei der Alten mit dem savoir vivre nicht nehmen. Genau genommen hatte sie ja auch recht. Die nächstbeste Medizin that es nicht; wenn der Mensch krank war, mußte vielleicht der Arzt geholt werden. Darüber traf Hilda am besten die Entscheidung, wenn sie sich selber überzeugte. Es kostete ja nur einen Gang durch ein bischen Regen und Wind und dagegen war sie abgehärtet.

Sie hatte nicht lange überlegt, sondern sich rasch gerüstet, ein paar Fläschchen zu sich gesteckt und war dann mit ihrem Begleiter direkt durch die Blumen- und Baumgärten nach dem Jägerhause aufgebrochen. Die Bewegung und die Bekämpfung des kleinen Ungemachs auf dem Wege hatten ihr sogar gut gethan; jetzt stand sie am Ziele.

»Da hat die Alte gar die Thüre verschlossen – bei helllichtem Tage, als ob es bei uns etwas zu stehlen gäbe. Trine! Trine!« rief der Waldhüter unmutig anpochend. Dann wendete er sich wieder, den Hut langsam ziehend, an Hilda. »Brauchen mich das gnädige Fräulein noch – vielleicht für den Rückweg?«

»Nein, Halder, den finde ich schon allein.«

»Es ist nur, weil ich drüben in Großdorf zu thun hätte. Es ist heute eine Holzversteigerung.«

Hilda beruhigte ihn und hieß ihn sich nicht aufhalten. Mittlerweile war das gelbe verrunzelte Gesicht seiner Haushälterin in der Thürspalte zum Vorschein gekommen. Er pfiff dem Dachshunde, der lustig wedelnd über die Schwelle gehumpelt kam, und schlug nochmals grüßend die dem Schlosse entgegengesetzte Richtung ein.

»Nun, Trine, wollen Sie mich nicht ein wenig unter Dach lassen? Es ist nicht sehr einladend für einen Aufenthalt im Freien.«

Die Alte antwortete mit einem lebhaften Nicken und Grinsen.

»Gelobt sei Jesus Christus! So hat er's doch recht ausgerichtet, – ist sonst ein braver Mann, aber wie's die Jungen alle haben, – will alles besser wissen,« murmelte der zahnlose Mund.

»Und wie geht's? Immer noch frisch auf den Füßen?«

»Ja, du mein Gott, zur Kirchweih tanz' ich nimmer. Und die Augen sind auch schlecht, aber soviel sehen sie doch noch, ob einer ein schlechtes Gewissen hat oder nicht, wenn auch die andern nichts von ihm wissen wollen. Hat manchem schon das Elend das Herz abgefressen, der es besser hätte haben können. Müßt' einer hart sein wie ein Stein, der mit solchem Jammer kein Erbarmen hätt', und das sag' ich grade jedem ins Gesicht, mag er auch noch so ein großer Herr sein. Ich fürchte mich nicht. Sollen mich nur fortjagen.«

»Es denkt ja niemand daran,« suchte Hilda die Eifernde, aus deren verwirrten Reden sie nicht klug werden konnte, zu trösten und legte die Hand auf die Klinke zum Wohnzimmer, das auf der rechten Seite des schmalen Flurs der Küche gegenüberlag. Als jedoch die Alte sich nicht beschwichtigen ließ, sondern in ihrem vorwurfsvollen Gemurmel fortfuhr und dann sogar von einem Recht sprach, dort aufgenommen zu werden, wohin einer nun einmal gehöre, da wurde sie doch aufmerksamer und fragte ein verwundertes: »Wer?«

Ueber das kurze Wörtchen kam sie aber nicht hinaus. Mittlerweile hatte die Thüre dem Drucke nachgegeben und Hildas Blick fiel auf ein Bild, das ihre Zunge, wie ihren Fuß lähmte.

In der Ecke hinter dem schwerbeinigen Tische saß eine bleiche abgezehrte Gestalt, ein rotgewürfeltes Kissen unter den an die Wand zurückgelegten Kopf geschoben, mit geschlossenen Augen wie ein Gestorbener da. Das dünne, verwirrte Haar auf der bleichen Stirne, die farblosen Lippen, zwischen dem vernachlässigten Bart halb geöffnet und in dem matten Lichte, das durch die kleinen Fenster in die Stube fiel, scheinbar unbeweglich, atemlos, vollendeten diese unheimliche Ähnlichkeit.

»Er ist nur wieder eingeschlafen. Wenn man so matt wie eine Fliege ist, sollte man im Bette bleiben. Eigensinnig wie alles Mannsvolk,« erläuterte Trine mit gedämpfter Stimme.

Noch immer blickte Hilda, die selber so bleich wie eine Sterbende geworden war, starr auf den Regungslosen, aber ihr war nicht als ob sie eine Leiche, sondern als ob sie ein Gespenst schaute. Langsam wendete sich ihr Blick der Alten zu, und als ob sie noch im Zweifel sein könnte, fragte sie fast tonlos:

»Er?«

»Ja, ja,« nickte die Alte fast mit Genugthuung in ihrem herben Lächeln. »So hat's ihn zugerichtet. Aber zu kennen ist er schon noch; man muß nur recht hinsehen.«

Hilda mußte sich an den Thürpfosten lehnen, aber die Schwächeanwandlung dauerte nicht eine Sekunde. Der Schlummernde war aufgewacht, er wendete den Kopf, öffnete die Lider und die dunkeln tief eingesunkenen Augen richteten sich auf Hilda. Noch eine ganz kurze Weile schwieg er, dann bewegten sich auch seine Lippen.

Müde und fast gleichgültig sagte er:

»So, so – bist du da?«

Er machte dazu keine Bewegung, um sich von der Bank zu erheben, nur seine Hand hob sich ein wenig und fiel dann wieder auf die Tischplatte zurück.

»Und gegessen hat er fast gar nichts und brauchte es doch so!« klagte die Alte.

Jetzt hatte Hilda sich ermannt. Sie trat ein paar Schritte vor in das Zimmer; aber mit dem Schreck war auch das Mitleid aus ihrem Blick gewichen, ihr Antlitz zeigte eher einen grollenden Ausdruck und ihre Stimme klang gezwungen ruhig und kühl, als sie sagte:

»Wir haben dich nicht zurückerwartet.«

Wie der Schein eines bittern Lächelns glitt es um seine schmalen Lippen.

»Ja, ja, das wußte ich schon, daß in Waltershofen kein Kalb geschlachtet wird zu Ehren meiner Heimkehr. Vielleicht lernt der verlorene Sohn sogar noch die Treber schätzen, die ihm nicht mehr munden wollten.«

»Und doch bist du wieder gekommen?«

»Was willst du? Einfältige Sentimentalität! Ich weiß, du bist ihr nicht zugänglich, aber unsere Naturen wurden ungeschickterweise vertauscht. Ein fataler Irrtum. Du solltest der Bruder und ich die Schwester sein, – so wäre alles anders geworden.«

Sie antwortete nicht auf den Spott, sondern fragte statt dessen fast mit Härte:

»Und was willst du nun hier?«

»Weiß ich's? Vielleicht sterben?«

»Gott sei davor, so weit ist's noch nicht!« murmelte Trine, auf die Spitzen ihrer gefalteten Hände blickend.

Hilda schüttelte nur unwillig den Kopf.

»Laß das!« sagte sie. »Mit Redensarten löst man keine ernste Frage, es hätte dir sonst nicht fehlen können. Glücklicherweise ist das Sterben denen am fernsten, die am meisten davon reden.«

»Es wäre allerdings ein ungeschickt gewählter Moment. Würde euch Unbequemlichkeiten machen. Ich sehe das ein, es thut mir auch leid, aber siehst du – ich bin so müde – todmüde! – Hätt' es freilich drüben abthun können, – recht weit fort, daß man nicht wüßte, wo, wann, wie? Verschollen, vergessen – wozu habt ihr mich denn hinübergeschickt?«

»Wahrlich nicht zum Verkommen und Sterben!« entgegnete sie, von der selbst in den matten Worten noch durchschlagenden scharfen Ironie aus ihrer dumpfen Zurückhaltung aufgerüttelt, in der vollen Wärme ihres aufwallenden Temperaments. »Frei solltest du dich dort regen können, die Schmach vergessen, dich über sie erheben, arbeiten, ein neues Leben beginnen, erst recht ein Leben – dazu wollten wir dir helfen, und du weißt es selbst recht gut und anders sprechen, wie du thust, ist: mit Verleumdung die eigene Schuld, die eigene Feigheit decken wollen. Feigheit, ja wohl! Denn nur die gefällt sich darin, vom Sterben zu sprechen, wo ihr die Pflicht zu schwer dünkt. Wärst du ein Mann, dann würdest du nur daran denken, für diejenigen zu leben, die an dich angewiesen sind. Nimm dir ein Beispiel an deiner eigenen Frau!«

»Das wird für mich kaum nachahmungsfähig sein,« sagte er noch immer in dem apathischen Tone von früher, doch schien die Erregung der Schwester nicht ohne Wirkung auf ihn geblieben zu sein. Die Vorwürfe, so schwer sie waren, hatten ihn sichtlich nicht gereizt, sondern im Gegenteile die Lust zu bitterem Scherzen gedämpft. »Kaum, selbst wenn ich es noch vor Augen hätte,« fuhr er fort. »Man hat drüben verschiedene Maßstäbe für gentlemen und ladies. Ihr kann's vielleicht gedeihen.«

»Sie ist nicht mit dir gekommen? Willst du das damit sagen?«

»Ich bin allein. In Waltershofen ist das, meine ich, ein Umstand, der für mich spricht und meine Aussichten auf eine günstige Aufnahme vermehren dürfte.«

»Und deshalb bist du allein?« rief sie. Das Erstaunen war der Empörung gewichen. »Ist es möglich? Wilhelm, du hast Weib und Kind verlassen? – Um solcher herzlosen selbstsüchtigen Berechnung willen verlassen?«

»Verlassen! – verlassen haben sie mich. – Liebe kleine Any, arme Any! – sie hatte so schönes blondes Haar –« Die Worte kamen nur langsam und in Zwischenräumen aus der sich schwer hebenden Brust und die fieberhaften Augen glänzten so seltsam feucht, während sie gerade in die Ferne, durch die Wand, weit, weit hinaus zu schauen schienen. »Arme süße Kleine! – Aber vielleicht war es das beste für sie. Sie hatte einen so klugen Verstand, so scharfe Auffassung in den großen braunen Augen; viel zu scharf. – Es wird wohl das beste gewesen sein, was hätte sie im Leben auch für eine Zukunft gehabt? – Was hätte aus ihr werden können? – Arme Kleine! Einen Vater haben, der zu schwach ist, sein Kind zu beschützen, es zu versorgen und vor allen bösen Einflüsterungen und Nachstellungen zu behüten, und auf der andern Seite das Vorbild – ah, ah! wahrlich, ein nachahmungswertes Beispiel!«

Er war wieder in die leise Ironie verfallen, aber an seiner Wimper hing noch die Thräne, die Hildas Mitgefühl erweckte. Die sanfte Klage war ihr zu Herzen gedrungen und weicher, als es ihr eigentlich angemessen schien, trat sie näher an den Tisch heran, auf den sich ihr Bruder stützte.

»Dein Kind ist tot, Wilhelm?« sagte sie mild, und obwohl sie nichts beifügte, so empfand er doch den Ausdruck des Beileids, es streifte sie ein dankbarer Blick, aber sonst beließ er es bei einem stummen Nicken. So sprach dann Hilda weiter: »Aber nicht auch deine Frau. Wie konntest du die Arme allein lassen in ihrer schweren und doppelt kummervollen Lage? Wilhelm, das war nicht recht. Ist der Schmerz einer Mutter nicht schon tief genug?«

»Sie singt und tanzt.«

»Du sprichst nicht die Wahrheit, oder – ist sie wahnsinnig?«

Vor Entsetzen stockend hatte sie die Frage gethan. Die Antwort lautete nicht wie eine Beruhigung, sondern wie bitterster Hohn.

»Nein, wenn es nicht vielleicht in ihrer Rolle steht. Aber derlei fällt ja zumeist nur den Tragödinnen zu. Im Café chantant goutirt man keine Wahnsinnsarien.«

»So hast du, Unseliger, sie zu diesem Verzweiflungsschritte getrieben. Es muß grausam sein, die Gefühle, die einem das Herz zerfleischen, verbergen zu müssen, um eine rohe Menge zu unterhalten.«

»Ja, es muß grausam sein,« wiederholte er wie ein Automat.

»So sprichst du und empfindest dabei nichts?«

»Und vielleicht doch mehr als sie.«

»Schäme dich! Kannst du denn immer nur verleumden? Hast du nicht so viel Selbstachtung, um dein Weib nicht vor andern herunterzusetzen? Hast du einmal um ihren Besitz die großen Opfer gebracht, so sei nicht so klein, der Frau, die ihre Heimat für dich verlassen, die mit dir hinausgezogen ist übers Meer, die dein Los mutig mit auf ihre schwachen Schultern genommen hat, wo ihr kein Vorwurf daraus erwachsen hätte können, wenn sie sich von dir – wie hundert andere in ähnlicher Lage gethan – losgesagt hätte, dieser treuen Gefährtin die Anerkennung zu verweigern, die sie verdient. Sie hat deine Opfer fürwahr mit größeren zurückgezahlt. Und du bezeichnest achselzuckend als Schmach, wozu offenbar nur deine eigene Indolenz sie genötigt, indeß du selbst die Schmach nicht fühltest, dich von ihrer Hände Arbeit erhalten zu lassen.«

»Von ihrer Hände Arbeit?«

»Hat sie nicht Hüte geputzt, Kleider gemacht, mußte sie sich nicht selbst die armselige Summe für eine Nähmaschine bei andern erbitten, da du nicht einmal ihre Ersparnisse geschont hattest, wo es deine Vergnügungen galt? O du siehst, ich weiß alles, oder kannst du widersprechen?«

»Wozu? Du glaubst mir ja doch nicht.«

Unter dem Schwall von Vorwürfen war die frühere Apathie zurückgekehrt. Sogar der vergiftete Humor spielte wieder um die zusammengepreßten Lippen und furchte die grauen, scharf eingegrabenen Linien an den Mundwinkeln zur Nase noch tiefer aus. Es war überhaupt ein seltsamer Widerstreit von Verwilderung und Gram, der an diesen einst schönen, nunmehr aber verlebten und krankhaft zugespitzten Zügen gearbeitet und seine unverwischbaren Spuren hinterlassen hatte. Jetzt wo der Kopf wieder wie eine Leiche in das Kissen zurücksank, fiel die Veränderung erst recht auf. Hilda fühlte von dieser Wahrnehmung fast den Mut schwinden, ihn zu fragen, ob er denn je Glauben verdient und wie er dazu komme, denselben gerade jetzt für sich in Anspruch zu nehmen.

»Du hast,« sagte sie dann doch noch, den Tadel ganz zurückzuhalten nicht im stande, »wie sich auch alles verhalten mag – keinem edlen Impulse nachgegeben, als du Amerika verließest, aber ebensowenig einer klugen Erwägung. Ich muß meine Frage wiederholen, was denn nun werden soll?«

»Sprich's nur aus: Gesehen haben wir uns, Bruderherz – fahr weiter! Bin just mit Zärtlichkeiten nicht verwöhnt. Ich sehe schon, das beste ist, ich hebe mich hinweg. Es ist ja auch alles eins, wo's ausläuft. Ich meinte nur, es müsse gerade hier sein; man ist so sehr Gewohnheitsmensch, siehst du. – Wie ein Wink war's mir: bis hierher hat dich dein Fuß getragen. Es ist Aberglauben, weiß wohl, man spottet darüber, aber man kann das Zeug doch nie ganz los werden, die dummen Ammenmärchen! Ja, du mußt dich freilich überzeugen, ob es nicht ebenfalls erlogen ist, ich könnte ja auch das simulieren; – ist mir alles zuzutrauen. – Sonderbar ist's doch, daß er nicht früher versagte und mich bis hierher trug, als die Barschaft für die Bahn nicht mehr weiter reichen wollte, selbst für die dritte Klasse nicht. Brauchst nicht zu erschrecken, – überaus viel Komfort bietet sie freilich nicht, aber wir in Amerika sind Demokraten und halten nichts auf Unterschiede – heißt das, wenn wir kein Geld haben. Ist aber auch das keine Schande drüben. Hätt' ich daran fest gehalten, so wäre ich nicht verschämt des Nachts hier eingezogen und bei Tag hätte ich den Fall nicht gethan. So hängt eins mit dem andern zusammen.«

Während er so matt dahinplauderte, wie wenn er von einem kurzen Ausflug zurückgekehrt seine kleinen Abenteuer und diese auch nur in Ermangelung von etwas Interessanterem beiläufig mitteile, war seine Schwester stumm geblieben, aber, durch seine Worte an den Bericht des Jägers erinnert, daran gegangen, den auf der Bank ruhenden Fuß seiner Umhüllung zu entkleiden. Ihr mißdeuteter Schreck wurde durch den Anblick hervorgerufen, der sich ihr bot.

»Ich habe gleich heißen Kamillenthee aufgelegt,« erklärte die Alte, die bei den Gegenreden immerfort den Kopf geschüttelt und die Hände wie betend erhoben hatte und nun ebenfalls näher getreten war, nicht ohne Selbstgefühl.

»Aber, Trine,« sagte Hilda, »das ist ja keine Gichtgeschwulst. Da gehören kalte Umschläge her, damit die Hitze der Entzündung ausgezogen werde. Schaffen Sie doch schnell frisches Wasser, wenigstens eine Schüssel voll.«

»Ich will auf der Stelle zum Brunnen gehen. Gleich bin ich wieder da.«

»Ja, ja, sorgt nur, daß ich rasch wieder hergestellt bin,« nahm Wilhelm neuerdings das Wort, »so marschiert sich's etwas unbequem.«

»So kannst du nicht fort. Und wohin willst du? Was willst du beginnen? Harrst du denn bei etwas aus? Hast du Willenskraft genug, um etwas anzufassen? Du kannst bloß anklagen, das Schicksal, andere Menschen, vielleicht auch dich selbst einmal, aber versuchen, ein Mann zu sein, das kannst du nicht.«

Er schwieg. Nicht ein einziges Wort hatte er auf diesen gerechten, doch harten Vorwurf, aber ein Strahl unsäglich schmerzlicher Demütigung in seinem sich langsam schließenden Auge begegnete dem Blicke der Verachtung.

War das ein Schatten, der da am Fenster vorüberstreifte?

Ein Weilchen blieb es still im Zimmer. Hilda fuhr betroffen aus ihren Gedanken auf, als eine fremde Stimme sich plötzlich vernehmen ließ.

»So! Klapp! Falle zu! Der Vogel ist gefangen.«

Es war dasselbe breite verschlemmte Gesicht, das sich schon zweimal an die kleinen Fensterscheiben gelegt hatte, ohne daß die im Zimmer Befindlichen etwas davon geahnt. Der außen Lauernde mußte die Gelegenheit wahrgenommen haben, und durch die von Trine diesmal offengelassene Thüre hereingeschlüpft sein, während sie am Brunnen war. Hilda hatte den Sinn der Worte gar nicht gefaßt und gab nur ihre Entrüstung über die Unverschämtheit, sich auch hier wieder einzudrängen, kund.

»Was wollen Sie schon wieder?« fragte sie. »Sie wählen Ihre Zeit schlecht.«

»Im Gegenteile, gnädiges Fräulein. Noch nie hat günstiger mich ein Stern geführt. Ich komme eben zurecht, meinen teuern Bill auf Europas Boden willkommen zu heißen. Sei mir gegrüßt, du Gatte meines Kindes.« Und unvermittelt aus dem übertriebenen Pathos in einen natürlicheren, aber darum doch nicht ansprechenden Ton übergehend, weil man hinter der jovialen Art die Arglist erkannte, fuhr der alte Bauchredner und Taschenspieler mit der Verbeugung eines Bühnenbonvivants fort: »Ich habe ein grobes Versehen gutzumachen, mein Fräulein, indem ich mir die Ehre nehme, mich vorzustellen. Mein Name ist Ihnen vielleicht nicht unbekannt. Louis Schöpf. Er sagt alles. Louis Schöpf, Theaterdirektor außer Dienst, wenn man Analogieen gebrauchen darf. Durch die Tücke des Schicksals arg reduziert im Personale, Garderobe und sonstigen Requisiten. Alles in allem, wie Sie mich hier sehen. Aber wie ist's, Wilhelm, magst du deinem zärtlichen Schwiegerpapa nicht die Hand reichen? Du hast wohl nicht erwartet, mich so bald zu sehen.«

Er lachte spöttisch, was ihm das Ansehen eines kollernden Truthahns gab.

»Und auch nicht gehofft.«

»Glaub's wohl, glaub's wohl,« lachte Herr Louis Schöpf auf dies nicht sehr schmeichelhaft klingende Bekenntnis unbekümmert weiter. »Aber man muß gute Lebensart zeigen und seinen Freunden in der Höflichkeit zuvorkommen; du ahnst nicht, mein Sohn, wie sehr ich nach diesem Wiedersehen schmachtete.«

»Ich meinesteils hätte gern darauf verzichtet.«

»Nicht möglich! Du verkennst dein eigenes besseres Selbst. Ich kann's, ich kann's nicht glauben, daß mich der Max verläßt!«

Bisher hatte Hilda wortlos und mit wachsendem Erstaunen zugehört. Das unangenehme Gefühl hatte sich bei den Clownspäßen des Eindringlings jedoch ebenfalls gesteigert und so zögerte sie nicht mehr, ihres Bruders klar verständlichen Worten noch weitern Nachdruck zu geben.

»Sie sehen, mein Herr,« sagte sie stolz, »daß man Ihre Anwesenheit hier nicht begehrt.«

»Das ist allerdings sehr kränkend für mich, keineswegs aber maßgebend,« erklärte er. Sein Ton hatte wieder gewechselt, er war jetzt scharf und boshaft. »Ich habe nicht umsonst mein ganzes Talent und den feinsten Spürsinn aufgeboten, um diese Zusammenkunft herbeizuführen. Seit ich Nachricht von der Abreise meines hochwohlgeborenen Herrn Schwiegersohnes erhalten, machte ich es mir zur Aufgabe, vor ihm hier einzutreffen, denn endlich, sagte ich mir, muß das Schiff hier einlaufen, es hat keinen andern Hafen. Was sollte ich erst aufs Ungewisse an den Landeplätzen und Bahnhöfen liegen? Hier galt es zu sondieren, zu rekognoszieren und – zu warten. Geduld, weiter nichts, und sie hat sich gelohnt. Ich brauchte ja nur ein bißchen aufzupassen und das gnädige Fräulein im Auge zu behalten. Empfangen Sie meinen Dank. Sie waren es selbst, die mich hierhergeführt. – Ich arbeite ganz ohne Apparate. Ein bißchen Geschicklichkeit, ein bißchen Verstand und Kombination. Un deux trois! Allez, passez! Et me voilà

»Dennoch muß ich bitten –«

»Laß ihn!« unterbrach Wilhelm die ernste Weisung seiner Schwester.

Jetzt trat auch Trine wieder ein, und Hilda, die es vor ihr zu keiner Szene kommen lassen wollte, nahm ihr ohne ein weiteres Wort die große Schüssel ab und machte sich an ihren Dienst als Krankenpflegerin. Sie holte ihre Fläschchen hervor, goß aus demselben einige gelbliche Tropfen in das Wasser und tauchte mit ihren zarten, sich rasch rötenden Fingern die gefalteten Sacktücher ein, welche die Alte in Eile aus der Kommode herbeischaffte, während sie fortwährend verwunderte und nichts weniger als freundliche Blicke auf den neuen Gast warf, der ohne ihr Wissen Eingang gefunden und sich nun schon ganz wie zu Hause betrachtete.

Denn ohne eine Aufforderung zum Bleiben abzuwarten und die entgegengesetzte fortwährend ignorierend, wiewohl sie noch in Kraft stand, hatte er sich an der äußersten Tischecke dem Kranken gegenüber niedergelassen, seinen Hut abgelegt und sich's bequem gemacht.

»Ein Glas Wein würde ich nun nicht verschmähen,« bemerkte er dabei. »Ist wohl keiner vorrätig für den Moment. Na, wird schon anders werden. Werden uns wohl für ein paar Tage häuslich hier einrichten müssen, denk' ich. Der Fuß sieht verflucht gepolstert aus. Schadet nichts, so ein bißchen ausruhen in guter Gesellschaft. Man erzählt seine Erlebnisse – muß ein sehr interessantes Land sein, Amerika – man macht Pläne; dann wieder ein Spielchen; so vergeht die Zeit. – Rouge ou noir? Ehrlich ohne Kunstgriff, auf Parole! Was ist der Einsatz?«

Er hatte dabei ein schmutziges Spiel Karten aus der Tasche oder vielleicht auch aus dem Aermel gezogen, mit einem geschickten Aufblättern durch die Finger laufen lassen, abgehoben und mit einem Schlage auf den Tisch gelegt. Aber niemand als die Alte schien davon Notiz nehmen zu wollen. Sie war nahe daran, dem ganzen »nichtsnutzigen Treiben«, wie sie in sich hineinmurmelte, ein Ende zu machen, wurde jedoch von Hilda, die einen überflüssigen Zeugen bei der nun doch noch zu erwartenden weiteren Auseinandersetzung lieber nicht zugegen wußte, unter dem Vorwande entfernt, es müsse zur Stärkung des Kranken notwendig ein wenig alten Weins herbeigeschafft werden, den sie sich nur von der Köchin im Schlosse geben lassen solle. Unterdessen wollte Hilda selbst das Wechseln der Tücher besorgen.

Sie sah sich aber kaum mit den beiden Männern allein, als sie auch schon mit unverhohlenem Widerwillen an ihren Bruder die Frage stellte, ob sie nicht vielleicht selber das Zimmer hätte räumen sollen, damit der vertraute Verkehr sich ungestört entwickeln könne.

Ihr Bruder ging nicht darauf ein. Alle dergleichen Ausfälle glitten an seiner stumpfen Gleichgültigkeit ab.

»Ich bin neugierig, – bin es schon lange nicht mehr gewesen; – das unterhält mich,« sagte er in einer Weise, die allem andern eher als seinen Worten entsprach. »Ohne Zweck nimmt man sich nicht die Mühe, irgend jemand auszuspionieren. Das geschieht nur Leuten, an denen etwas gelegen ist. Ich habe also noch Wert? Das hebt.«

»Du solltest daran doch nicht zweifeln, daß es Herzen gibt, für welche dein Verschwinden nicht ohne Wichtigkeit ist. Solche Zweifel sind tief kränkend,« nahm Schöpf das Wort, indem er die Karten mischte.

»Hm! Selbstunterschätzung war sonst nie mein Fehler, aber man lernt doch am Ende bescheiden werden. Ich muß es fortsetzen, dich zu kränken.«

»Und gedenkst du nicht deiner Frau, die du allein und hilflos im fremden Lande zurückgelassen, gleich einer Ariadne?«

»Ich habe in der That jetzt sehr viel Aehnlichkeit mit Bacchus ...« Aetzender Spott durchtränkte diese Worte, so müde sie Wilhelm vor sich hinsprach.

»Sie war es, die mir schrieb, sie forderte mich auf, deiner Spur nachzugehn. Ihre Sehnsucht ließ den Brief gleich einer Taube ausflattern.«

»O, wirklich? Wo sie nur die Taube hergenommen hat? Ich vermute, sie stammt noch aus dem väterlichen Requisitenschatz. Also Alma? Ich hätte ihr wirklich nicht soviel Zärtlichkeit zugetraut, daß sie mich zurückhaben will. Es ist rührend! Wann soll ich abreisen?«

Beinahe hätte sich Hilda, über soviel Herzlosigkeit entrüstet, hinreißen lassen, in dieses seltsame Zwiegespräch einzutreten, wo sie fast gezwungen war, gegen ihre heimliche Abneigung die Partei des Vaters der verlassenen Frau zu nehmen. Er kam ihr zuvor und im nächsten Augenblicke schon trug sie kein Verlangen mehr, sich an seine Seite zu stellen. Sein Verhalten wich doch zu sehr von dem, was sie erwartete, ab.

»Einer Wiedervereinigung setzen sich fürs erste allerdings Hindernisse entgegen,« sagte er nämlich einigermaßen verlegen. »Meine Tochter hätte sogar Anlaß zu einer Scheidungsklage.«

»Zugestanden.«

»Und in diesem Falle Ansprüche zu erheben.«

»Natürlich, natürlich, das ist mir ganz entgangen. Genau betrachtet, wog ich doch nicht gar zu leicht. Ab und zu konnte eine geschickte Schere noch einen Koupon von mir abschneiden, der am Verfallstermin immer noch von einer gutmütigen Seele eingelöst wurde, zur Anschaffung von Nähmaschinen und dergleichen notwendigem Hausrat einer Koupletsängerin.«

»In der That, Wilhelm, du solltest mit mehr Achtung von deiner Frau sprechen, von diesem edlen aufopferungsvollen Wesen, das dir ins Exil folgte und mit bewundernswerter Hintansetzung ihrer tiefverletzten besseren Gefühle, sogar der Mißdeutung von seiten einer vorurteilsvollen Welt Trotz bot, um die Not von den Häuptern ihrer Lieben abzuwenden. Willst du es ihr zum Vorwurf machen, daß sie zur Kunst zurückkehrte, als ihre wundgearbeiteten Hände das Brot für ihr darbendes Kind nicht mehr herbeizuschaffen vermochten?«

Es ließ sich nicht sagen, daß an dem Alten ein guter Schauspieler verloren war, denn so sehr er sich auch Mühe gegeben, ganz »edler Vater« zu sein, gelang es seiner schwülstigen Deklamation doch nicht, Teilnahme zu erwecken. Einen Effekt aber hatte sie dennoch. Schon während seiner früheren Reden war Wilhelm nach und nach aus dem Hindämmern erwacht, jetzt richtete er sich plötzlich auf seinen Ellbogen auf und über die hagern Wangen brannte eine heiß aufgeflogene Röte.

»Singst auch du dies Lied?« sagte er mit einer Heftigkeit, die nach dem matten Ueberdruß seiner bisherigen Aeußerungen, so ironisch sie auch sein mochten, noch mehr überraschen mußte. »Wer von uns beiden ist der Narr? Streut eure Lügen auf alles, nur nicht auf dies kleine Grab. Wenn unser Kind nicht darben sollte, warum verschwendete die Mutter das Vermögen, das demselben dereinst zugefallen wäre? Längst, längst, wollte ich das arme Ding mit mir nehmen und fortgehn, weit, weit weg. Hält' ich es doch gethan! Aber schwach war ich all mein Lebenlang, erbärmlich schwach. Es hing an der Mutter und ich war zu feig, dem kleinen Herzen ein Weh anzuthun. Jenes Weib aber wußte das und hielt mich an dem Faden, hielt mich fest, bis – er brach. Was soll ich jetzt bei Alma? Die Tasten schlagen zu den frivolen Liedern, die sie singt, wie mir dies zugemutet war? Der Mann muß seiner Frau zur Seite stehen und für sie sorgen. So heißt ja euer Sprüchlein, aber lehrt doch lieber sie mit seinem kärglichen Schreiberlohne sich zu begnügen, für die ein Vermögen nicht reichte, die das Geld mit vollen Händen ausstreute, unbekümmert woher es kam, die es erschmeichelte, erlistete, forderte, erzwang und die nicht darnach fragte, für welchen Preis es erlangt war und mochte es auch das Leben ihres Kindes sein. Wie ein Licht ohne Oel verging es an meiner Seite und ich sah zu und konnte nichts thun, den armen in Durst verdorrten Lippen nicht einmal einen Schluck Wasser reichen, denn ich lag selber gelähmt und einsam auf dem Stroh, ein hilfloses Ding, – kein Ohr da, das meine Stimme erreichen konnte, – ah!« –

Wie ein tiefes Schluchzen kam es aus seiner Brust.

»Entsetzlich!« flüsterten Hildas zitternde Lippen, ihre kalten Finger schlangen sich bis zum schmerzhaften Drucke ineinander.

Der alte Schauspieler wollte die Pause zu einem Versuch benützen, diese Anklagen abzuschwächen.

»Es ist gewiß nicht Almas Schuld gewesen. Wir Künstler wissen, mit wie schwerem Herzen wir oft unserem Berufe folgen müssen.«

»Ja, ihrem Berufe!« stieß Wilhelm mit unsäglicher Verachtung heraus.

»Und es war auch ein allzuschweres Los, das ihr aufgebürdet worden ist. Sie hatte nicht denken können, als sie den Umwerbungen eines eleganten reichen Offiziers nachgab, einst als das Weib eines – Flüchtlings, – eines Wechsel –«

»Schweig'! Ich denke, du weißt am besten, wie ich dazu kam, jene unseligen Papiere zu unterschreiben. Von jener Zeit –«

»Wenn auch,« begann Schöpf mit einer Befangenheit, die bei der sonstigen Frechheit seines Auftretens bezeichnend genug war. Er wollte Wilhelm nur unterbrechen, das weitere fand sich schon, aber des Suchens war er für diesmal überhoben.

Mühsam nur hatte Wilhelm die ersten Worte gesprochen. Die Zunge rang mit einem unsichtbaren Hemmnis, jetzt versagte sie ganz. Leise aufstöhnend sank er zurück; er war fürchterlich bleich geworden und seine Hand drückte an die Seite seiner Brust.

Bestürzt faßte Hilda, die mit wachsender Ueberraschung den so deutlich den Stempel der Wahrheit tragenden Worten gelauscht, seine Finger und neigte sich über ihn.

»Was ist dir? Wilhelm, was ist dir? – Er wird ohnmächtig, schnell das Wasser!«

Und ohne zu beachten aus wessen Händen, nahm sie das von Schöpf dargereichte Glas, netzte die Stirne und Schläfen ihres Bruders und suchte ihm einige Tropfen einzuflößen.

Er nickte ihr leise zu.

»Es ist nichts – nichts,« sagte er mit schwacher Stimme, »nur wieder ein bißchen Herzklopfen.« Er versuchte sogar zu lächeln.

Da sank Hilda in dem schmalen Raum zwischen dem Tische und der Bank auf die Kniee und legte ihre Stirne auf seine Hand, die sie mit ihren beiden krampfhaft drückte.

»Mein Bruder! mein armer Bruder!« meinte sie und nach einer kleinen Weile erst setzte sie flehend hinzu, »verzeihe mir!«

»Ich dir?« dann aber wehrte er ihr leise. »Ich soll mich nicht aufregen, weißt du – das dumme Herzklopfen.«

»Soll ich den Arzt rufen?«

»Nein, nein – ich bin es schon gewohnt,« beschwichtigte er ihre Angst. »Und es ist auch schon vorüber – nur eben keine Aufregung.«

Sie hatte sich erhoben und wendete sich strenge zu Schöpf.

»Sie hören es. Gehen Sie!«

Dieser Mann aber war gewöhnt, auch vernichtenderen Blicken standzuhalten.

»Mit dem größten Vergnügen, sobald wir uns nur erst geeinigt haben. Als Vertreter meiner Tochter darf ich nicht früher weichen. Unsere Ansprüche sind bescheiden und –«

»Unverschämt,« unterbrach ihn Hilda.

»Sie haben ja noch gar nicht angehört, wie hoch sie sich belaufen.«

»Machen Sie dieselben vor Gericht geltend, wenn Sie wollen, aber befreien Sie uns von Ihrer Gegenwart. – O, daß doch Meinhard hier wäre!«

Unwillkürlich wünschte sie im Hinblick auf ihres Bruders und die eigene Wehrlosigkeit den Helfer in der Not herbei, der ihr immer eine starke und verläßliche Stütze gewesen. Ihr Seufzer rief bei Schöpf nur ein breites widerliches Lachen über das ganze Gesicht hervor, daß eine häßliche Reihe geschwärzter und mangelhafter Zähne zum Vorschein kam.

»Soll ich ihn etwa herbeiholen?« spottete er, »damit wäre Ihnen wohl selbst der schlimmste Dienst erwiesen. Sie haben doch den Herrn Bezirkshauptmann gemeint? Charmanter Mann, habe ja schon die Ehre seiner Bekanntschaft. Aber für steckbrieflich verfolgte – Auswanderer ist eine nähere Berührung mit der hohen Obrigkeit eben nicht sehr wünschenswert, vermute ich.«

»Höre nicht auf ihn, die Strafverfolgung ist verjährt,« sagte Wilhelm zu der ihn bestürzt anblickenden Schwester. »Ich habe mich genau darnach erkundigt. Nach dem österreichischen Gesetze genügen schon fünf Jahre dazu.«

»Sehr zutreffend, sehr präzis! Der Gewährsmann hat nur eine Kleinigkeit übersehen, eine winzige Klausel. Er ist wohl ein Rechtsgelehrter, der mit dem deutschen Gesetzbuche vertrauter war, worin sie nicht enthalten ist.«

»Was soll das für eine Klausel sein?«

»Die Bestimmung – es müssen recht umsichtige Leute gewesen sein, die sie ausgenommen – die Bestimmung – eine kleinliche Einschränkung nicht zu leugnen, welche die ganze Rechtswohlthat eigentlich illusorisch macht – oder doch in der Regel bis zur Unbrauchbarkeit verkümmert – die Bestimmung,« und nochmals hielt Schöpf mit einem grausamen Behagen an der Folter seiner Zuhörer inne, ehe er seine Rede vollendete, »die Bestimmung, daß die Verjährung nur jenen zu gute kommt, welche sich nicht aus den österreichischen Staaten geflüchtet haben. – Diese Rückkehr, mein Herr Schwiegersohn, war doch ein wenig unvorsichtig.«

»Ist das auch gewiß?« fragte Hilda betroffen.

»Sie brauchen die Frage nur Herrn Statthaltereirat Meinhard vorzulegen und abzuwarten, ob die Verhaftung erfolgt.«

»O, nimmermehr – das würde er nicht thun!« rief sie in voller Ueberzeugung. Schöpf zuckte die Achseln.

»Aber die ihm untergebene Polizei. Es ist der Staat, in dessen Amt und Pflicht er steht. Meinen Sie nicht, daß es vielleicht doch besser wäre, den Ausgang dieses Konflikts nicht erst abzuwarten?«

»Hat er recht, Wilhelm?« fragte sie angstvoll, ihrem Bruder die Antwort von den geschlossenen Augen abzulesen bemüht; als aber keine andre kam als ein leises Erheben und Fallenlassen der Hand, eine stumme Bestätigung, es werde wohl so sein, rang sich ein banger Wehlaut aus ihrer zitternd atmenden Brust: »Was thun?«

»Die gefährliche Position räumen,« riet Schöpf, »lieber diese unangenehme Grenze wieder zurückgehen. Es muß ja nicht gerade nach Amerika sein. Ich selbst würde mich mit Vergnügen zum Reisemarschall anbieten. Mit einem kleinen Kapital läßt sich irgendwo in der Schweiz, in einem Winkel Deutschlands oder Italiens eine neue Existenz gründen. Ich glaube nicht, daß noch sehr emsig nach einem gewissen Wilhelm von Reinach gesucht wird; die Polizei erfreut sich zu unausgesetzt neuer interessanter Aufgaben für ihren Scharfsinn, als daß sie ohne besondre Nötigung sich mit der Aufwärmung alter vergessener Fälle, an denen niemand mehr ein Interesse hat, zu befassen strebte. Materiellen Schaden hat niemand gelitten und der moralische der Gesellschaft – bah! Nun geradezu in des Löwen Rachen muß man sich nicht setzen. Schon von altersher gilt das Sprichwort: Wer sich in die Gefahr begibt –«

»So thun Sie denn, wozu Sie sich erbieten, bringen Sie ihn in Sicherheit,« flehte ihn Hilda an.

»Mit Vergnügen, – unter gewissen Bedingungen.«

»Nennen Sie sie!«

»Ich hatte schon die Ehre, mein Fräulein, davon zu sprechen. Sobald die Abfindungssumme in meinen Händen ist. Ich bin ein Freund klarer Geschäfte.«

»O!« meinte Wilhelm, sein Schweigen brechend, wieder in der müden ironischen Gelassenheit, die seine Schwester zuerst so heftig gereizt hatte. »Das ist mir neu.«

Schöpf gab sich die Miene, die Bemerkung nicht gehört zu haben. Dem Sieger geziemt ja Großmut.

»Sie werden finden, daß wir die Lage nicht mißbrauchen und wirklich bescheiden sind. Wir begnügen uns mit – zehntausend Gulden.«

»Zehntausend?« wiederholte Hilda erschreckt. »Mein Gott – ich kann über soviel nicht verfügen!«

»Du sollst auch nicht,« erklärte ihr Bruder matt aber fest. »Keinen Heller mehr diesen Unersättlichen!«

Schöpf faßte seinen Hut und setzte ihn mit trotzig frecher Miene auf. Seine Augen schossen einen tückischen Blitz.

»Ah, Herr von Reinach glaubt immer noch auf die Verjährung pochen zu können,« sagte er. »Nun, es kommt ja nur auf die Probe an. Der Weg zum nächsten Gendarmerieposten ist nicht so weit.«

»Keinen Schritt!« rief Hilda, außer sich vor Angst, dem Drohenden zu. Sie warf sich zugleich vor die Thüre, gegen die er eine Bewegung gemacht, und die Energie in ihrer Gebärde, der lodernde Blick gaben ihren Worten den Nachdruck einer zum Aeußersten bereiten Entschlossenheit. »Sie verlassen dieses Zimmer nicht und müßte ich selbst –«

Sogar Schöpf brauchte eine Sekunde, um seine Ueberraschung durch ein spöttisches Lächeln zu markieren.

»Nur über Ihre Leiche, ich verstehe.« Dann verbeugte er sich geschmeidig. »Ich verlange es mir ja gar nicht besser, als hier zu bleiben, selbstverständlich auf Grundlage eines festen Uebereinkommens. Es drängt mein eigenes Herz, mich der Pflege meines Sohnes – o, ich habe ihn immer als solchen betrachtet – mich seiner Zukunft zu widmen, die ja wieder eine hoffnungsvolle werden kann.«

»Laß ihn gehn – laß ihn!« forderte Wilhelm mit allen Zeichen des Ekels die Schwester auf. »Er weiß mich hier in sicherem Gewahrsam und denkt nicht daran, mich in einen noch sichereren zu liefern, wo seine Schraube ausgelaufen wäre.«

»Sehr wahr, sehr wahr, mein Lieber; ich sehe, du erfassest die Sachlage. Nun, das letzte Wort ist ja noch nicht gesprochen, – alles will seine Bedenkzeit. Ich bin nicht unbillig, mit Kranken muß man Nachsicht haben – ihren Launen sich fügen. – Ich will nicht schuld sein an neuen Aufregungen. Also rasche Besserung! Wir werden uns ja unterdessen nicht aus den Augen verlieren. Auf Wiedersehen!«

Diesmal verwehrte ihm Hilda das Gehen nicht. Im natürlichen Rückschläge ihrer in so unvermittelter Folge aufs Höchste gespannten Gefühle stand sie wie gelähmt und Thränen flossen ihr an den Wangen nieder.

»Hilda!« rief da des Bruders Stimme, so weich, so matt und zitternd, daß sie erst ein heftiges Schluchzen niederringen mußte, ehe sie dem Rufe Folge leisten konnte.

Dann trat sie zu dem Kranken und ließ sich wieder langsam an seiner Seite auf die Kniee nieder.

»Sei ruhig!« glaubte sie ihn trösten zu müssen. »In einigen Tagen bist du besser, Wilhelm, dann helfen wir dir fort, du beginnst noch einmal von neuem. Alles wird noch gut!«

»Du mißverstehst mich, Hilda,« sagte er. »Ihr dürft keine neuen Opfer mehr bringen.«

»Sie müssen gebracht werden. Dieser Mensch würde dich verraten.«

»So trage ich meine Strafe, – einmal will ich doch das Rechte thun.«

»Du überstehst sie nicht.«

Er lächelte traurig.

»So oder so – es hat ein Ende.«

»O sprich nicht so!« wollte sie ihn bitten, aber von neuem überkam sie das krampfhafte Weinen. Sie umschlang ihn mit ihren Armen und legte ihre nasse Wange an die seine. Aus dem gepreßten Schluchzen drang nur die Klage: »Mein armer, armer Bruder! Was haben sie aus dir gemacht?«


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