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Ein Kriegsrezept
Man hat jetzt seine Sorgen, es ist nicht zu leugnen. Besonders wenn man Kinder hat – Gott sei Dank gesunde Kinder mit gesundem Hunger. Ich frage alle Eltern, ob diese ruppige Rabenbande jemals einen solchen Appetit gezeigt hat wie im schweren Jahre 1916? Einen Appetit, der sich sozusagen automatisch mit der Erhöhung der Lebensmittelpreise erhöht? Der ursächliche Zusammenhang ist mir schleierhaft, aber die Tatsache besteht und fordert ihr Recht.
Gesunde Kinder, heißt ein altes Sprichwort, sind Brotkinder. Das Brot ist knapp, aber man ißt in Gottesnamen viermal in der Woche Pellkartoffeln mit Hering, um dem jungen Volk das liebe, heilige Brot zu lassen. Es ginge auch alles ganz gut, doch seit einiger Zeit sträubt sich der Nachwuchs gegen die ewige Marmelade. Ich kann es ihm nicht verdenken: das süße labberige Zeug hängt einem allmählich zum Halse heraus, und die Kinderstube erklärt einmütig, Marmelade schmecke nur dann, wenn sich zwischen ihr und der Brotschnitte noch eine Butterschicht befinde. Ein väterliches Donnergrollen ist die Antwort, aber in den folgenden Gottesfrieden sagt bettelnd und sehnsüchtig ein Stimmchen: »Ich möchte … ich möchte einmal wieder eine Wurststulle essen.«
Heu me miserum! Ich bin ein schwacher Vater, ich weiß es. Das Stimmchen klingt mir durch die Arbeit des Tages, durch Frühlingssonne und Heeresbericht. Was soll man machen? Man wird auf den Abendschoppen verzichten und dafür das jubelnde Indianergeheul eintauschen, mit dem die Kinderstube den ersehnten Leckerbissen begrüßt. Meine Älteste ist poetisch veranlagt. Sie nennt die Wurstscheiben »das rote Glück«. Es erscheint allabendlich um sieben Uhr.
Aber das rote Glück wird immer teurer. Das Pfund kostet vier Mark. Das Pfund kostet fünf Mark. Das Pfund kostet sechs Mark. Das Pfund hat die Neigung, noch weiter zu klettern. Es steigt wie der Laubfrosch bei schönem Wetter. Was, um des Himmels willen, tut da ein armer Familienvater, dessen Geldbeutel diesen Höhenrausch nicht mitmacht?
Unter solchen Sorgen bin ich kürzlich aus der großen Stadt hinausgewandert, aber auch das heimliche Rauschen des Waldes hat das böse Rechenexempel nicht lösen können. Zuletzt trat ich müde in eine kleine Wirtschaft, und als ich dort saß und sinnierte, kam ein neuer Gast hinzu. Es war ein bärtiger Mann, der freundlich grüßte, sich aber sonst gar nicht um mich kümmerte und bescheiden in einer Ecke Platz nahm. Nach Kleidung und Gehaben schien es ein kleiner Beamter zu sein. Halblaut machte er bei dem Wirt eine Bestellung, zog dann ein Buch aus der Tasche und begann eifrig zu lesen. Es mußte ein sehr fröhliches Buch sein, denn bald schütterten die Schultern des Gastes in der Bewegung lautlosen Lachens, und als er einmal kurz den Blick erhob, sah ich in den Augen, den etwas versteckten Augen viel »unvernünftigen Sonnenglanz«.
Da hätte mein Herz ohne Besinnen einen großen Schwur getan, daß es diesen Gesellen kenne und ihm irgend einmal schon nahe gewesen sei. Ich brachte aber doch nicht heraus, wer es wäre. Inzwischen hatte der Wirt ein kleines Glas Bier, eine dünne Butterschnitte (natürlich gegen Brotmarke) und ein einziges Ei vor den Gast hingestellt, und als dieser das Ei fast zärtlich zwischen den Fingern drehte, mit dem Teelöffel gleichsam probierend daran klopfte und sich erst in nachdenkliche Betrachtung versenkte, ehe er mit einer gewissen Andacht die Schale löste, – da sprach eine innere Stimme in mir fröhlich: »Grüß' Gott, Leberecht Hühnchen! Wir haben uns lange nicht gesehen!«
Und es war kein Wunder, daß ich nun die Gedanken des einsamen Schlemmers von Grund auf kannte, als trieben sie sich wie leichtfertiges Schmetterlingspack vor mir in der Gaststube umher. Er mochte sich auch heut klarmachen, daß »so ein Ei ein ganzes Huhn enthält, es braucht nur ausgebrütet zu werden. Und wenn dies groß ist, da legt es wieder Eier, aus denen nochmals Hühner werden und so fort, Generationen über Generationen«. Zahllose Scharen köstlichen Federviehs quollen aus dem Ei, das auf dem Wirtshaustische stand, und bevölkerten den Erdball. Schon als Friedensphantasie war solche Vorstellung berauschend, jetzt aber, in diesen kriegerischen Zeitläuften, überwältigte sie. Wie in einem Schwindelanfall schloß mein Nachbar die Augen; er mochte sich erinnern, daß ein Huhn mehr als 13 Mk. – eintausenddreihundert Pfennige – in Berlin kostete, und daß er im Begriff war, Hunderttausende, ja Millionen von Mark mit diesem Ei zu verschlucken. Aber heroisch überwand er das Zittern, nur ein Ausdruck von ungeheurer Hochachtung stand auf seinem Gesichte, als er sich das Ei nun einverleibte. »Das nenne ich schlampampen!« schien er nach dem kurzen Vergnügen auch heut zu sagen.
Immerhin war zu bemerken, daß die konzentrierte Form, in der dieser Genießer gewaltige Möglichkeiten künftigen Nationalwohlstandes verschluckt hatte, noch nicht genügend gewesen war, den Tyrannen Magen zu sättigen. Nach kurzem Kampfe bestellte der Gast noch etwas. »Herr Wirt,« hörte ich ihn deutlich sagen, »ich bitte noch um ein Butterbrot mit Schiebewurst.«
Was war das? Selbst der Wirt stutzte einen Augenblick, lächelte dann und nickte. Mühsam bezwang sich meine Neugier hinter einer vorgehaltenen Zeitung. Wenn ich auch den ganzen Küchenzettel im Geiste durchging, den Leberecht Hühnchen als Student, Vater und Großvater von Heinrich Seidel mitbekommen hatte, – Schiebewurst war nicht darunter. Das mußte eine Kriegserfindung sein, und vielleicht konnte sie auch mir auf die Beine helfen.
Also: sie kam. Wie alles Große war sie einfach. Sie machte keinen Lärm. Sie wirkte nicht durch Äußerlichkeiten. Sie erhielt ihre Bedeutung erst durch den Menschen. Sie unterschied sich nicht im geringsten von dem »roten Glück« der Kinderstube. Nur dies eine war merkwürdig: auf der dünn bekratzten Schnitte lag ganz vorn am Anfang eine einzige kleine Scheibe. Es war wie bei den alten Karten von Afrika: an der Küste war ein schmaler Strich gefüllt und bedeckt, dahinter war alles weiß und leer.
Mit Schlemmerbehagen hob mein Leberecht nun die Schnitte zum Munde. Und das war das Verblüffende: er ging von vornherein auf den belegten Abschnitt los. Kopfschüttelnd zog ich mich weiter hinter die Zeitung zurück. Zu seiner ganzen Lebensauffassung wollte mir das nicht stimmen. Der Charakter enttäuschte mich, Hühnchen war nicht Hühnchen mehr. Aber als ich einen Augenblick später hinüberlugte, ahnte, sah, begriff ich plötzlich alles, und im Lichte einer neuen Offenbarung erkannte ich in ihm den alten Lebenskünstler.
Er aß. Er aß mit Genuß. Er schlampampte. Er war schon im zweiten Drittel seiner Stulle angelangt. Aber immer noch schwebte das »rote Glück« vor ihm: die eine Scheibe. Leuchtend, lockend, verführerisch lag sie stets auf dem Abschnitt, der sich gerade dem Gehege der Zähne anbot, eine duftende Verlockung. Alle Zungennerven spürten sie schon, sie kitzelte den Gaumen, sie schien immer zu verschwinden, aber im letzten Augenblick rutschte sie stets ein Stückchen weiter, reizte von neuem, gab jedem Bissen schon von ihrem Aroma ab und schob sich langsam vorwärts – sozusagen durch ganz Afrika, von einer Küste auf die andere zu. Er wußte, sie konnte ihm nicht entgehen. Und mit unendlichem Entzücken stellte er sie an der letzten Kante – den Genuß der Reizung durch den der Erfüllung vollendend und verdoppelnd.
Meine Zeitung war nicht fröhlich, aber das lautlose Lachen war jetzt an mir. Schiebewurst! jauchzte meine Seele, und im Sturmschritt bin ich in die große Stadt zurückgelaufen, im Sturmschritt ging es ins Kinderzimmer. Da habe ich mit dichterischer Begeisterung von Leberecht Hühnchen erzählt und seiner neuen Entdeckung. Wie der hungrigen Rabenbande die Augen blitzten und blinkerten! Mit welchem Enthusiasmus sie meinen beschwingten Worten lauschte! Es war überhaupt selbstverständlich, es war geradezu Ehrensache, daß man jetzt Schiebewurst aß! Und während mein Vaterherz innen tanzte und mein Geldbeutel heimlich Quietschtöne des Entzückens von sich gab, überbot sich der Nachwuchs in der kunstvollen Behandlung der neuen Entdeckung. Es wurde zum Sport, wer die Fertigkeit des Schiebens am unmerklichsten und genußreichsten zuwege brachte. Es wurden Glanzleistungen erzielt. Und abgesehen von einem kleinen Realisten, dem ich nicht ganz traue, hoffe ich innig und fest, daß der neue Sport wenigstens eine Woche lang anhält.
Ist das nicht genug? Wenn einer nein sagt, so will ich ihm noch etwas anderes verraten. Die Schiebewurst ist nicht nur etwas für die Kinder. Sie ist aus dem Eßzimmer sachte ins Wohnzimmer gewandert. Sie gewinnt täglich neue Bedeutung. Einer fragt: wann wird der Mangel enden? Einer: wann wird Verdun fallen? Einer: wann kommt wieder Friede und Freude? Und immer denke ich: Schiebewurst! Sie rutscht vorläufig für diesen und den nächsten Bissen noch zurück, aber einmal kommt sie an die Kante, einmal wird sie erreicht!
Wie oft hat man eigene und fremde Wünsche schon vertröstet: Nach dem Kriege! Nach dem Kriege – da wird man Entscheidungen treffen, die man jetzt noch aussetzt; da wird man seiner Frau die neuen Kleider kaufen; da wird man die gesperrten Ferien und die ausgefallenen Sommerreisen nachholen; da wird man – – ach, was wird man da alles!
Und lächelnd sagt man: »Schiebewurst!«
Schiebewurst ist eine Kriegshilfe. Schiebewurst ist Vertröstung. Schiebewurst wird ein Symbol unserer Tage.
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