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Zwölftes Kapitel

Gouvernante und Freundin.

Es geschah nicht häufig, daß Mrs. Armadale eine unruhige, verstörte Miene zeigte; eines Morgens aber, vier oder fünf Wochen etwa nach dem Eintritt der Gouvernante, als sie zu Käthe in das Schulzimmer trat, da war ihr Aussehen zweifellos von dieser Art. Mr. Armadale war am Abend zuvor in lebhafter Erregung von New York zurückgekehrt.

»Ich weiß nicht, was ich machen soll, Käthe,« sagte sie, nachdem sie die Kinder hinuntergeschickt hatte; »Mr. Armadale meint, es sei unbedingt notwendig, daß ich mit ihm nach New Orleans fahren müßte. Es ist dort einiges Unaufschiebliche in betreff des Grundstücks zu erledigen, das Klara von ihrer Großmutter hinterlassen worden ist, und meine Gegenwart ist notwendig. Es scheint, als müßte ich etwas unterzeichnen. Wie kann ich aber von den Kindern fort? Baby ist nicht gesund und die anderen beiden, Johny sowohl wie Klara, sind jetzt kränklich. Ich werde ganz unglücklich werden, wenn ich auch natürlicherweise Alf nichts sagen mag. Außerdem wird es auch für Sie recht unbequem und unangenehm sein.«

Käthe lag jeder selbstsüchtige Gedanke vollständig fern, aber ehrlich gesagt, war der erste Gedanke, der ihr selbst über der Rede von Mrs. Armadale kam, die unangenehme Lage, in die sie selbst notwendigerweise gestürzt werden würde. Barbaras augenscheinliche Beängstigung weckte indes ihre Teilnahme.

»Sie brauchen sich doch aber nicht zu beunruhigen,« sagte sie in heiterem Tone. »Tante Dorcas ist doch, meine ich, verläßlich, und wenn ich auch keine besonders gute Krankenwärterin bin, so will ich doch versuchen, die Kinder in meine Obhut und Pflege zu nehmen.«

»Daß Sie das thun werden, weiß ich ja allerdings,« antwortete Barbara, deren Gesicht sich leicht aufklärte. »Ich fürchte aber, daß es recht viel Unruhe und Störung setzen wird; und dann ist Klara so schwächlich, daß ich immer unruhig werde, wenn sich auf ihren Wangen ein Hauch zu viel oder zu wenig zeigt. Ich möchte – möchte wirklich, die Reise wäre nicht so unbedingt nötig.«

Käthe mußte, um sie zu beruhigen, allen Trost aufbieten, den sie spenden konnte; schließlich beruhigte sich Barbara nach und nach.

»Sollte aber eins von den Kindern etwa krank werden,« sagte sie, als sie das Zimmer verließ, um das Einpacken ihrer Garderobe anzuordnen, »so werden Sie mir doch gewiß gleich schreiben.«

Käthe versprach das getreulich, und die junge Hausfrau bewirkte ihre Abreise in ruhigerer Gemütsstimmung. Was »die Circe« anbetrifft, so vermochte es, wenn ich sagen wollte, sie wäre verwirrt und betroffen geworden, nur einen schwachen Begriff zu geben von den Empfindungen, die sie bestürmten. Die Kinder hätte sie ja sorgen- und mühelos unter ihre Leitung nehmen können – und wenn es, sprach sie zu sich selbst, ihrer drei Dutzend statt drei gewesen wären, so würde sie sich der Aufgabe mit Freuden unterzogen haben, wenn sie nur eine Möglichkeit gesehen hätte, dieses beängstigende andere tête-à-tête aus dem Wege zu schaffen. Aber es schien, als wenn sich dasselbe nicht sollte vermeiden lassen, und so konnte sie nichts anderes thun, als es mit möglichst guter Miene über sich ergehen zu lassen.

Seit jenem ersten Abend hatte sie ihrem Widersacher kaum ein einziges Mal wieder allein gegenübergestanden. Wenn sie einander begegneten, hatten sie bloß einfache Höflichkeiten ausgetauscht. Wie würden nun die Mittags- und Frühstücks-Mahlzeiten unter vier Augen verlaufen? Denn notwendigerweise mußte doch Miß Davenant jetzt den leeren Platz von Mrs. Armadale einnehmen! Trotz ihrer unbehaglichen Stimmung konnte sie sich, wenn sie sich hineindachte, eines Lächelns nicht erwehren. Nun! es blieb ihr bloß eine einzige Rolle zu spielen übrig, und die erheischte vollendete Ruhe und feinen, vornehmen Takt. Von dem Augenblick an, da sie ihm gegenübertreten und die Rolle der Dame des Hauses spielen müßte, würde es mit aller Grazie gethan werden, über die sie geböte, und ohne daß in ihrem Benehmen und Wesen irgend etwas zu spüren sein würde, daß die beiderseitige Lage anders als freundlich und gemütlich erscheinen lassen könnte. Nichtsdestoweniger fühlte sie recht gut, das es aller ihrer Herrschaft über sich und aller Kenntnis ihrer selbst bedürfen würde, um sich durch dieses Wirrsal hindurchzusteuern.

Es gab an dem Tage alle Hände voll zu thun; die Zurüstungen zur Reise stellten so ziemlich alles auf den Kopf; aber endlich war die Unruhe überwunden und alles im Geleise. Die Equipage fuhr mit Mrs. Armadale nach dem Bahnhof und am Fenster zeigte sich noch das ängstliche Gesicht des jungen Hausmütterchens mit einem Abschiedsgruße an die Kinderchen, dem alles andere eher als ein fröhlicher Charakter anhaftete.

Als die Equipage außer Sicht war, nahm Käthe Johny und Klara bei der Hand und führte sie nach dem Wohnzimmer.

Es war einer von jenen frostigen, trüben Tagen gewesen, an denen der Frühherbst zeitweilig ja keinen Mangel aufzuweisen hat, und in dem Zimmer hatte den ganzen Tag über ein Feuer gebrannt. An ihm saß, als sie ins Zimmer traten, Mr. Seymour. Er hatte, das war offenbar, nicht erwartet, daß sie kommen würden; aber Käthe führte ihre kleinen Zöglinge mit dem ruhigsten Gesicht zum warmen Ofen hin.

»Die Kinder werden, sofern Sie nichts hiergegen einzuwenden haben, Mr. Seymour, den Thee abends mit uns trinken,« sagte sie heiter, während sie den gewölbten Fuß auf den Kaminrost setzte, um sich zu wärmen. »Ich fürchte, sie möchten sich sonst einsam vorkommen.«

Vielleicht war er um einige Grade freundlicher gestimmt als sonst. Jedenfalls nahm er die Andeutung so ruhig hin, wie sie gegeben worden war. Die ruhige Erwiderung, die er auf ihre Rede hin erteilte, war für Käthe eine förmliche Erlösung; denn um die Wahrheit zu sagen, war ihr aller Mut entfallen in demselben Augenblick, als sie seine Gegenwart bemerkt hatte. Soweit stand zunächst alles gut. Der Feind hatte endlich die Parlamentärflagge gehißt. Sie setzte sich ihm gegenüber und fing, während sie an Mrs. Armadales Handarbeit fortfuhr, ein gleichgültiges Gespräch an. Mrs. Armadale hatte gesagt, sie würde wahrscheinlich vierzehn Tage fortbleiben: ob er es wohl für wahrscheinlich halte, daß die Reise soviel Zeit in Anspruch nehmen würde? Mr. Seymour meinte, das sei freilich wohl möglich. Ach! das wäre doch recht schade – sie wäre wegen der Kinder gar so ängstlich und unruhig gewesen. Barbara wäre, so lautete die Antwort des Herrn, in Bezug auf die Kinder immer besorgt und ängstlich; und mittlerweile war das Buch, in welchem er las, auf seine Kniee niedergeglitten; halb zugeklappt lag es auf seiner kräftigen Hand, während der Blick Mr. Seymours auf den schlanken, feingeformten Fingern von Miß Davenant ruhte, die mit dem kleinen Perlmutter-Schiffchen sich vor ihm hin und her bewegten.

Sie wußte, daß er sie ansah, und dieses Bewußtsein war nicht angenehmer Art. Indessen ließ sie es sich nicht angelegen sein, auszublicken, und so dauerte die Lage ruhig fort.

»Sie lasen ja, als wir hereinkamen,« sagte sie mit mattem Lächeln. »Lassen Sie sich doch nicht stören. Die Kinder werden sich ruhig verhalten.«

»Danke sehr!« erwiderte er ebenso heiter, indes blickten seine stolzen, hübschen Augen mit forschendem Ausdrucke in der Richtung, wo sie saß, – »Sie brauchen nicht zu befürchten, daß ich mich stören lasse. Hören Sie, bitte, was ich eben las:

»'s giebt Zeiten wohl in jedes Menschen Leben,
Wo gut er ist und niemand zürnen kann,
Wenn nur die armen Toten wüßten, wann,
Sie kämen her und ließen sich vergeben.«

»Nicht ganz klar bin ich mir,« fuhr er dann fort, »ob diese Verse nicht auf mehr, als bloß auf tote Freunde hindeuten. Dürften wir sie nicht auf tote Liebe, tote Hoffnungen, totes Glück in Anwendung setzen?«

Wäre Miß Davenant eine absolut harmlose junge Dame gewesen, so würde sie wahrscheinlich errötet sein und ein Gefühl von Unbehaglichkeit an den Tag gelegt haben unter dem Eindruck dieser scheinbar harmlosen Bemerkung, die, in Einklang gesetzt mit der alten, in vergangenen Tagen spielenden Geschichte, so scharf zu deuten war; aber da Miß Davenant keine absolut harmlose junge Dame mehr war, so errötete sie nicht, sondern ließ das behende, kleine Schiffchen mit leisem, ruhigen Lachen bloß um einiges rascher durch die Luft gleiten.

»Mag sein,« meinte sie. »Aber ich weiß weder etwas von toter Hoffnung, noch von toter Liebe, kann also, wie Sie sehen, keine Meinung dazu äußern. Aber wie hübsch der Vers klingt! Möchten Sie mir nicht auch den Schluß vorlesen?«

Matt gesetzt! Sie hatte sich ihre Zugbrücke sicher gehalten. Aber noch Jahre nachher kam ihr das Sprühen verhaltenen Feuers in seinen Augen, als sie sich auf das Buch zurücksenkten, nicht aus dem Gedächtnis.

Zum erstenmal an diesem Abend schoß ihr die Röte warm zur Stirne herauf, und um sie zu verbergen, beugte sie sich über ihre Arbeit nieder.

Eine Stunde lang ungefähr las er vor. Von einem Gedicht schritt er zum anderen. Er blickte kaum auf von dem Buche und schien die ganze Zeit über von einer Empfindung kalter Höflichkeit geleitet zu werden. Ehe die Tablette mit dem Thee hereingetragen wurde, da glaubte Käthe nicht anders, als daß sein Gesicht den Ausdruck eines leichten Verdrusses oder eine Empfindung von Langweile zeigte, und sie faßte, ärgerlich hierüber, den Entschluß, sich soviel wie möglich auf die Schul- und Kinderstube zu beschränken.

Es lag ein Schimmer matter Röte auf ihren beiden Wangen, als sie sich endlich an das obere Ende der Tafel, Johny und Klärchen zu ihren beiden Seiten und ihrem Widersacher gegenüber, setzte. Sie sah, dachte Karl bei sich, in dieser Position sehr graziös aus, und die Weisungen, die sie den Kindern mit ihrer milden Stimme erteilte, hörten sich über die Maßen süß an: aber sie sah ihn nicht häufiger an, als wie sie eben gerade mußte, und einmal, als sie ihm seine Tasse reichte, und ihre Hand dabei die seine streifte, da wurde sie über und über rot wie ein kleines, ganz junges Mädchen und zog die Hand rasch zurück. Sie konnte ihrerseits kaum erwarten, daß die Mahlzeit vorbei wäre, und fragte sich schon heute, ob es nach diesem erstenmale nicht rätlich sein möchte, ihren Widersacher allein mit der Haushälterin speisen zu lassen und sich mit den Kindern in der Kinderstube allein zu verhalten. Vierzehn solcher Tage wie dieser eine würde ja schier ein Ding der Unmöglichkeit sein! Aber endlich war die Mahlzeit vorüber und sie stand auf von der Tafel und klingelte.

»Wir wollen uns jetzt nach der Kinderstube begeben,« sagte sie zu den Kleinen. »Du weißt ja, Johny, daß wir noch die Geschichte zu Ende lesen müssen.«

Die beiden Kleinen liefen, begierig nach dem Ende der Geschichte, vor ihr her, und sie schritt nun gleichfalls aus dem Zimmer und schloß die Thür hinter sich ab.

Einmal erst oben angelangt, fand sie alle Hände voll zu thun. Das Baby war da mit Tante Dorcas und zeigte sich auf dem Schoße derselben ein bißchen unruhig.

Johny und Klärchen setzten sich auf ihre Sesselchen und harrten unruhig der verheißenen Geschichte; aber Käthe war nun schon zu lange in dem Hause von Armadales, um nicht über des Babys gerötetes Gesichtchen eine leise Beunruhigung zu fühlen.

»Was ist denn mit dem Kinde?« fragte sie Tante Dorcas. »Doch hoffentlich nicht krank, Tantchen?«

Die alte Frau schüttelte mit dem Kopfe.

»Fürchte auch, Kindchen nicht wohl sein,« sagte sie. »Ist gewesen schon den ganzen Tag unleidlich. Fehlt ihm vielleicht die Mama, sehnt sich vielleicht nach Mama.«

Käthe hielt die Hände nach dem Kinde hin.

»Lassen Sie mich's halten,« sagte sie, während ein leises Gefühl von Unbehaglichkeit sie beschlich, »ich will doch nicht hoffen, daß die kleine Puppe krank werden wird, während Mrs. Armadale fort von Hause ist.«

Sie fühlte bange Sorge und konnte sich das nicht verheimlichen. Was sollte sie bloß thun, wenn etwas vorfiele! Sie schloß die Arme enger um das Baby und küßte sein kleines Gesichtchen. Sie sah, während sie das Kind küßte, Barbara um den zartgeschweiften Mund und im Ausdruck der ängstlich besorgten Augen ganz wunderbar ähnlich. Sie hatte die Kinder immer geliebt, selbst in den bittersten Augenblicken ihres Lebens, und es schien ihrem Herzen so natürlich, sich mit den sanften Wangen gegen das süße kleine Wesen zu lehnen. Die beiden größeren Kinder bekamen den verheißenen Schluß zu der Geschichte, der natürlicherweise darauf hinausging, daß der jüngste Bruder allerhand unmögliche Thaten verrichtete und die obligate Prinzessin mit dem herzensguten Papa und drei Königreichen als Gattin heimführte; und wurden dann zu Bett gebracht.

Tante Dorcas ging mit ihnen aus dem Zimmer. Käthe blieb allein zurück. Sie setzte sich auf Barbaras Schaukelstuhl, mit Barbaras Baby auf dem Schoße. Sie wußte kaum, woran sie dachte, während sie sich leise schaukelte und eins von Barbaras lieben Liedchen mit ihrer leisen, hellen Stimme sang – der Stimme, die ihr in verflossenen Tagen Blumenschauer zu Füßen gelegt hatte. Aber in tiefes Sinnen versunken war sie jedenfalls, denn ihre Augen hafteten träumerisch an dem Feuer, und sie vernahm den raschen Schritt nicht, der die Treppe herauf kam. Ja! draußen hallten Schritte, und gerade vor der Thür, die von Tante Dorcas offen gelassen worden, hielten sie an, einen Augenblick lang, und Karl Seymour hielt jäh den Atem an, während er hineinblickte. Was wohnte denn für ein guter oder böser Geist in diesem Mädchen, daß sie ihn verletzen konnte mit ihrer kalten Gleichgültigkeit und ihrem bitteren Stolz – und dann zwischen diese unschuldigen Kinder treten und ihnen Liebe zu ihr lehren konnte, als sei sie so unschuldig und lauter wie diese Kinder selbst? Daß sie dies zarte, liebe, traute Baby in ihren Armen hielt und ihm süße Lieder singen konnte mit jenem süßen Lächeln auf den Lippen? – Und dann schoß ihm ein toller Gedanke durch den Sinn. Wie, wenn die Vergangenheit bloß ein Traum gewesen! Wie, wenn ihm Gott und Himmel (denn es hatte ja ganz den Anschein, als wenn Gott und Himmel der süßen Erscheinung nahe ständen!) das Recht gegeben hätten, dieses Mädchen Gattin, Weib zu nennen und den Fuß in das kleine Zimmer zu setzen und ihr süßes Angesicht zu küssen und ihre weißen Hände zu halten und ihr Haupt an seine Schulter zu ziehen, daß er endlich Ruhe und Frieden fühle und besser und kräftiger werde auf Grund ihrer Liebe zu ihm! Ach! wie das Herz ihm schlug, wenn er sich dessen entsann, wie weit von einander sie gerückt waren, und wie allein für sich, und ohne einander verziehen zu haben, sie ihr Leben lebten! Aber als sie mit ihrem kleinen Liedchen zu Ende gekommen war, da wendete er sich ab.

Es schien, als wenn an jenem Abend ein Zauber über ihm läge, oder als ob das Schicksal befohlen hätte, daß die See der Erinnerung aufgerührt werde, denn zum anderen Male wieder erlitt die Rolle, die sie beide gespielt hatten, einen Bruch.

Das Baby war eingeschlafen. Käthe hatte es in die Wiege gelegt und der Tante Dorcas in Obhut gegeben. Dann begab sie sich hinunter, den Dienstboten einige Anordnungen zu erteilen.

Nachdem sie, was sie besorgen wollte, besorgt hatte, beabsichtigte sie, sich für den Abend zurückzuziehen; aber als sie zum Treppenhaupt hinaufgestiegen war, bemerkte sie, daß das Dienstmädchen unterlassen hatte, die Flammen einer großen Hängelampe, die dort ihren Platz hatte, herunterzuschrauben. Das mußte besorgt werden, und sich auf einem Fuße balancierend, reichte sie über das Geländer, um nach der Lampe zu greifen.

Während sie so that, hörte sie, daß jemand die Thür der Wohnung schloß, und als sie den Blick hinunterlenkte, sah sie, daß Karl die Treppe hinauf, in der Richtung auf sie zu, gestiegen kam. Vielleicht war es die Verwirrung, die sie befiel, vielleicht blendete sie auch das Licht; jedenfalls aber konnte sie nicht gut sehen und ihre Hand war unsicher. Er stand bloß wenige Schritte unter ihr, und in einem Anfalle von Ungeduld beugte sie sich weiter hinüber, verlor das Gleichgewicht und dann glitt sie mit dem Fuße aus, und hätte er sie nicht in den Armen aufgefangen, so würde sie die ganze Treppenflucht hinuntergestürzt sein. So aber schloß sich sein Arm fest um ihren Leib, und auf die Zeit eines Augenblicks ruhte sie, kirschrot vor Aufregung und Ärger, an seiner Brust. Im nächsten Augenblick hatte er sie losgelassen, und sie stand, vor Erregung fast außer sich, auf der Treppe – so sehr sie sich Zwang anzuthun beflissen war, so zitterte sie doch vom Kopf bis herab zu den Füßen und legte ihre Verwirrung auf eine ganz schreckliche Weise an den Tag. Er seinerseits war der ruhigere von beiden; aber sein Gesicht war gänzlich farblos und seine Stimme klang fast unnatürlich, als er jetzt zu ihr redete.

»Sie haben sich hoffentlich nichts zu Schaden gethan!« sagte er. »Es war ein glücklicher Zufall, daß es mir gerade in dem Augenblicke einfiel, die Treppe hinaufzugehen.«

Sie konnte ihm kaum Antwort geben. Es schien ihr so gräßlich. Ihre Wange hatte, während sie stürzte, die seine gestreift. Und dieser Mann hatte sie einst geliebt – und haßte sie jetzt!

»Nein,« sagte sie, »ich bin nicht verletzt. Ich danke Ihnen!« und ehe er noch Zeit fand zum Sprechen, hatte sie sich umgedreht und war eilig die Treppe wieder hinauf gestiegen, ohne daß sie recht wußte, was sie that.

Ihre Wangen waren heiß und glühten in tiefer Röte, als sie die Thüre hinter sich schloß. Dann trat sie zum Spiegel hin, um einen Blick auf sich zu werfen, und ihr Mund zitterte heftig wie der eines Kindes. Sie preßte sich fast die Hand entzwei in ihrer Aufwallung von Demut. Es war ihr nicht möglich, die Herrschaft über sich zu behalten, und nach dem ersten Blick, den sie in den Spiegel geworfen, versenkte sich ihr Antlitz in ihre Hände.

»O!« rief sie leidenschaftlich, »ich bin eine feige Seele! O, was bin ich für eine armselige, feige Seele! Was ist's, das ich nun erfahre und lerne? Was habe ich gethan! o, was habe ich gethan!«


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