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Von Brussa aus reisten wir zu viert. Die militärischen Begleiter: der Hauptmann, gebürtig aus Lausanne und der vergnügte Lukri Bey, und sodann ein des Landes kundiger Ingenieur, ein Franzose, der schon seit Jahren im Orient lebte, zu nichts gekommen war und sich den verschiedenen Missionen schon als Dolmetsch angeschlossen hatte.
Reisetage, wie diese ersten waren, haben den Antrieb des sicheren Zieles; Beschwerlichkeit und Gefahr werden als rasch vorüberziehendes Ereignis zum fröhlichen Maass der Leistung und des leichten Sinns. Das Dauernde wirklicher Gefahren, die unsichtbar sind, weit ausser dem Bereich unserer Kraft und unseres Mutes, das ganze Übermenschliche in der Anlage der menschlichen Aufgabe ist hier, übertragen in dieses Spiel von Mühe und Gefahr, auf eine irdische und vertraute Weise dem Bereich unserer Kräfte angemessen. Und wo in diesem Bereich rasche Gefahr auf Augenblicke das Leben selbst zu erfassen, ja zu rauben droht, da gibt das Vorübergehen solch äusserster Möglichkeit ein Lebensgefühl und Aufatmen bedeutsamer Art, beide erfüllt von der Ahnung des Wiedergeborenseins und in ihrem Wesen dem gefassten Ernst, der stets auf geistige Erneuerung folgt, sehr verwandt. Noch anderes geht dem Bewusstsein nahe vorüber: der unserm Verstand als Grenze auferlegte Begriff der Zeit wird in diesen Augenblicken, die alles an sich zu reissen drohen, von dem höheren Begriff der Transzendenz berührt, berührt – aber nicht von ihm verzehrt und aufgehoben, denn solches ist eben der Sinn und Inhalt des Todes selbst. Hier dagegen unterliegt die Ahnung dieses andern Bereiches gleich wieder den Gesetzen der Zeit, der Vergangenheit, vergangener Gefahr, deren Gewalt und Tiefe man nicht mehr nachsinnt, eben weil sie von einer Macht besiegt oder von einer innewohnenden Schwäche hingerafft wurde, die sich uns darstellt als Glück, als günstiger Augenblick.
Ich erinnere mich häufig einer solchen plötzlichen Begebenheit, die am dritten Tag unserer Reise geschah: wir fuhren in einem Sundbeamwagen im Gebirg sehr rasch in der Kurve; gleich nach der Kurve begann eine Brücke über eine tiefe Schlucht; es war keine Zeit mehr, abzubremsen; wie wir aber in der Mitte der Brücke waren fehlte der Bretterbelag und die Füllung; alles war in die Tiefe gestürzt und nur die beiden Hauptbalken liefen rechts und links zum andern Ufer weiter. Ich betrachtete das Gesicht des türkischen Chauffeurs, der neben mir sass; er verzog keine Miene. Die Balken liefen zufällig in der Spurweite des Wagens und er fuhr darüber hin, ohne zu zögern, auch nachher hielt er nicht an, schaute nicht zurück und sagte kein Wort; mir begann langsam das Herz in einigen starken Schlägen wieder zu arbeiten; der Ingenieur aber, unser neuer Begleiter, legte mir die Hand auf die Schulter, und wie ich mich umwandte, wiegte er den Kopf hin und her mit einem Ausdruck von erstauntem Unglauben, fast auch von Spott. Er war ein unglücklicher Mensch, ein Trinker und tief zerstört. Die Türken sprachen nie über die Sache. Der Hauptmann sagte das Wort Cambronnes. Längere Zeit nachher aber erzählte mir der Ingenieur einmal, die laute Fröhlichkeit, die ihn eine ganze Reihe von Tagen besessen habe, sei die Folge dieses Schrecks, dieser Spannung und der unerwarteten Bewahrung gewesen, er habe lange nachher Lust gehabt laut zu lachen, In diesem nahe am Rande des Unmöglichen sich vollziehenden Vorgang, spürte er die Bestätigung zu der frevelhaften Heiterkeit seiner trunkenen Stunden. Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeit, seine Feinde, die ihn schliesslich vernichten mussten, waren ihm in dem kurzen Ereignis eben so fern wie im Rausch; der Riss ins Dunkle, der sich aufgetan hatte, schreckte ihn zwar mächtig, aber gemäss der eingefahrenen Bahn seiner Natur nicht zum Besinnen hin, sondern vielmehr zum besinnungslosen Weiterziehen, vorübertaumelnd an Rissen, die sich hier und dort beständig auftun, mit der Kraft und dem Genuss des Spielers und mit der Sicherheit des Trunkenen. Und solcher Lehren sind Reisetage voll und jeder entnimmt ihnen was seinem Wesen gemäss ist. In der Tat war seit jenem Vorfall die ganze Reisegesellschaft mitteilsamer geworden und jeder hatte in irgend einer Weise ein Stück seiner persönlichen Umstände verraten.
Die Automobilfahrt hatte um den Olymp herum geführt, die Gegend war kahl, in den Mittagsstunden schwül, spärlich bewohnt und die Begegnungen mit Menschen oder Getier waren selten. Bei der Rast am Bach frug es sich, ob man das Wasser kochen oder ohne Vorsicht geniessen solle. Der Ingenieur goss Cognac ins Wasser und trank es ohne Federlesen; ein guter Schnaps war immer sein Schlusswort; hatte einer Fieber so riet er zu einem guten Schnaps, hatte einer seine Geliebte verloren so bot er ihm seine Flasche. Dabei war der Ingenieur ein scharfsinniger Mensch, er hatte ein eindrucksvolles Gesicht auf dem alles für die Auswirkung höherer Anlagen bestimmt zu sein schien, die geräumige Stirn, der hohe Augenbogen und der kluge Mund; nun war aber all dem etwas durchaus Schlaffes und Wehmütiges beigemischt, und aus diesen sich bisweilen in die Maske strenger aufmerksamer Fassung zwingenden Zügen drang stets etwas durch vom Ausdruck eines verwüsteten liederlichen Kindes, dem nicht mehr zu helfen ist. Wo war der Bruch der solches Ende notwendig machte, diese ausweglose Jugend bedingte? Das Seltsame war, dass auch hier was ihn gebrochen hatte und nun weiter wirkte längst hinter ihm lag, längst im Wesen war überwunden worden, nichts mehr mit ihm gemein hatte; ja er ging an einer Wirkung zugrund, die dem Erlebnis des Andern, des Jüngeren, ihm selbst nun längst so fremd gewordenen, entsprang. Er sprach einmal in der Nacht davon, wie er Raki getrunken hatte und mich für seine Amme hielt oder für einen alten weisen und gütigen Beichtvater. Er wusste und erzählte Dinge von grösster Genauigkeit und winziger Verästelung, ganz leise, eindringlich und behutsam, als sähe er alle Anlässe zu seinem Leid nun durch das Mittel seiner wehmütigen, den Nerven aufgezwungenen Lust mit unheimlicher Deutlichkeit, so als sei der Zug seines Lebens zum unvermeidlichen Ende hin nun über diesen kurzen Augenblick des Gespräches auf eine Spanne Zeit aufgehalten worden, dass man verweilen und bis ins letzte die aus der ursprünglichen Kraft eines längst abgestorbenen Gefühls sich entwickelnden Ursachen erfassen könne. So war nach jeder Seite dieser Untergang ausweglos, nicht ein Schein des Trostes, der stets über dem Zusammenbruch des höheren Lebens liegt, war hier vorhanden. Jetzt kamen, jeder inneren Besserung entgegen, unausweichlich die Zeiten, da das Gift in tyrannischer Angst herbeigewünscht wurde. So musste der Gedemütigte und Verlorene dem Gedanken der Rettung und glücklichen Fügung gegenüberstehen, in jener Haltung des Unglaubens und des Spottes, die ich nach dem Übergang der zerstörten Brücke aus der einst so schönen und männlichen Erscheinung gelesen hatte.
Schon im Beginn der Reise hatte der Hauptmann den vergnügten Lukri überzeugt, der Ingenieur sei nicht unser Mann; er sei schlapp, wechselnden Stimmungen unterworfen und nicht zu gebrauchen. Ich aber hielt fest an ihm und war in der Folge froh darüber; die Trümmer seiner Menschlichkeit bedeuteten für mich meistens mehr und halfen mir mehr als die Vorzüge der andern Begleiter.
Es war der Hauptmann, der uns auf der nächtlichen Bahnfahrt von Eski-schehir nach Angora Platz verschaffte. Er war immer sehr heiter wenn er auftreten und die Früchte seiner Willensanstrengung sofort auch ernten konnte. Wir fuhren von elf Uhr nachts bis zwölf Uhr mittags des andern Tages. Man wurde von Ungeziefer verzehrt. Das elende Bild der Stadt, die wir in der Nacht erreicht hatten und sogleich wieder verliessen, die Gefangenen, die wir bei Streckenarbeiten gesehen hatten, Flüchtlinge an spärlichen Feuern, das Gedräng der Abenteurer und Militärs, die nach der Hauptstadt fuhren, all dies verstiess den Ingenieur tief in die ihm eigene angewiderte Niedergeschlagenheit, auch er wäre gern wieder in seine Weingärten zu Brussa zurückgekehrt, und in jener Nacht war er mir feindlich, dass ich es war, der ihn hielt.
Ich las beim Licht der Taschenlampe in einem deutschen Buch. Alles in diesem Land sprach noch von der verzweifelten Anstrengung des einigen Deutschen Reiches; wie eine gegen die Natur der Geschichte verstossende Episode aber erschien all dies einem alten Oberst der mit uns reiste und mit dem ich ins Gespräch kam; er sagte mir: «Diese Deutschen sind von allen Europäern die Unverständlichsten, wozu sind sie da, sie versetzen sich in die andern, wollen es ihnen gleich tun, und wenn die Prüfung kommt, verlieren sie den Glauben an die Sache und wandeln sich. Die Franzosen sind einfach Franzosen, weiter nichts, wie wir Türken sind. Aber die Deutschen irren herum mit ihrer Tüchtigkeit, überall glauben sie das Einzige zu beginnen und überall werden sie wieder unsicher und vergesslich darüber; auch die Juden können sich nicht in einem fassen, aber die Juden sind anders, sie verlieren sich niemals und an nichts, sie sind ewig, sie sehen den Strom vorbeiziehen; darum kann man ihnen auf lange hinaus stets, im Augenblicke selten trauen; bei den Deutschen ist es umgekehrt, ihr Gedächtnis ist kurz, ihr Urteil ist unsicher, so haben sie einen unsicheren Hochmut, und weil dieser Hochmut nicht selbstverständlich ist, versucht er sich zu erklären und durchzusetzen und so verletzt er.»
Wenn ich von diesem Gespräch mich zu meinem Buch zurückwandte, zu dieser reinen Gewalt der Sprache, zu diesem einzigen Leben, das die ganze Reife der Menschlichkeit mit Würde mit hinaufnahm in den Kreis der Halbgötter und Heroen als ebenbürtige Art, da erschütterte mich das Gefühl für die sonderbare und einsame Nation, in der die höchsten und die niedrigsten Eigenschaften in so unheimlicher Mischung beieinanderwohnen, so dass gar oft die Maasse des Hohen die Grenzen des Niedrigen verwischen, und diese grenzenlose Urteilschwäche entsteht, die Goethe lebenslang in der Natur seines Volkes so überaus erschreckte. Und wenn ich weiterlas, ward mir das Wesen und die Erscheinung des deutschen Gespräches deutlich, das sich immer wieder über das Zwiespältige erhebt; seine Einmaligkeit und Einsamkeit wurde mir klar, und ich begriff, dass es damit ist, wie mit der Tatsache, dass die Deutschen keine Literatur haben, sondern Dichtungen, keinen Stil, sondern so viele Formen, als Persönlichkeiten sich aus der Menge erheben; die Grenze aber aller Möglichkeiten liegt letzten Endes in der ungeheuren Würde der deutschen Sprache, die das Geschlecht und den Einzelnen verdirbt, die gegen sie sich erheben und sich an ihr vergreifen; aus dem Mystischen und Metaphysischen stieg ihre Seele, dem Alltag entnahm sie nüchtern das Alltägliche, und so hat sie vor dem Gewaltigen den Klang, der aus schlichten Stimmen tönt, denen das Reinste aus dem Gemüt unmittelbar auszusagende gegeben ward. Eine bürgerliche und bäurische Sprache, die, wo das Menschliche und Göttliche beginnt, sich nun ledig alles Beiwerks neben Alle stellen darf, wissend, dass vor solchen Maassen der Stolz ihr Teil ist, der Hochmut aber das Zeichen, in welchem die dahinfahren, die ihr Wesen misskannt haben. In solchen Gedankengängen und in Gesprächen mit dem klugen alten Oberst vergingen die Nacht und die üble Fahrt; der Ingenieur lauschte uns bisweilen wehmütig verdrossen; wie ein Kranker dem Musik ins Zimmer weht von fröhlichen Zügen Wandernder, die vorüber in sommerliche Wälder ziehen. Auch die im heroischen Metallschimmer dieser hohen und öden Ebenen liegende Landschaft, die an unsern Fenstern vorüberzog, vermochte ihn im Morgenlichte nicht zu freuen, so wenig wie den Hauptmann, der Anbau und gegenständliche Denkmäler menschlicher Arbeit vermisste. So erreichte die Reisegesellschaft verdrossen ihr Ziel.
Im Sumpfgelände um den Fels, seine Burg und die gedrängte irdene Stadt Angora arbeiteten im Sonnenbrand die dunklen Kolonnen der Gefangenen; der neue kleine Bahnhof war überfüllt, das Geschrei in der fremden rauhen Sprache tönte rhythmisch und drohend. Aus der Menge sprang ein schlanker, dunkler, bildschöner Mensch, mit trockenem jungem Gesicht und grauen Haaren unter dem leichten Kalpak; er war mit grösster Sorgfalt gekleidet, bewegte sich durch das Gedräng wie ein Panther, ein Ausbund von Biegsamkeit, Sprungbereitschaft und Verbindlichkeit. Er fand uns, bezeichnete sich als Vertreter der Regierung, begrüsste uns in ihrem Namen und stellte sich uns als ständigen Begleiter zur Verfügung; er sprach französisch mit Energie und Behendigkeit und machte von dieser auf ihrer Oberfläche zur Rhetorik so geeigneten Sprache einen virtuosen und selbstgefälligen Gebrauch. Es war der Generalstabsmajor Irfan Bey.
In Fordwagen durch die Sumpfgründe auf geraden staubigen Strassen mit tiefen Gruben fuhren wir so rasch die Maschinen liefen nach unserm Quartier. Von jetzt an gehörte uns kein Augenblick mehr. Die Chauffeure führten uns hierhin und dorthin durch Schlammbäche, die in den glühenden Strassen verdampften, über Sandlöcher und Gräben, ja verfallene Treppen hinauf. In all diesen Besprechungen, die den halben Tag dauerten, wurde in Wahrheit wenig nur durch die Beweggründe erreicht, alles nur mit der Hebekraft der gesamten, angespannten Lebendigkeit, die dann allerdings jeweils den Anschein hatte sich im Besitz der schlagendsten Beweise zu befinden. Und am Abend des Tages ist die Spannkraft dahin, die Fragen und Antworten kreuzen sich am falschen Punkt, die eigene Stimme klingt fremd, ja vielleicht ist alles wieder verloren was eine Stunde vorher noch erreicht war. Dann aber spät im Vorraum eines Ministeriums, einer Holzbaracke mit zwei Teppichen an den nackten Wänden unter strammen und zerlumpten Ordonnanzen, die vorüberlaufen, kommt eine zu uns und übergibt den Entscheid, wonach das Ziel erreicht und die Unternehmung gesichert ist. Wir haben wohl dreissig Mal Kaffee getrunken an diesem Tag. Der Hauptmann bietet mir eine Zigarette an, die ich nicht mehr rauchen mag. Wir schicken den Wagen weg und gehen zu Fuss nach unserm Quartier. Wir müssen uns beeilen, schon in einigen Minuten holt uns der Adjutant. Auch der Hauptmann ist müde, aber er reisst sich zusammen und sagt mir in dieser einfachen, eigenartigen Verwandlung, die seiner Art in ihren sämtlichen Vertretern entspricht und ihre Kraft und Ahnungslosigkeit zugleich ausmacht: «So» sagt er, «soweit sind wir, aber jetzt beginnt der harte Teil, jetzt heisst es auf die Zähne beissen.» Es war tatsächlich das rasche Ergebnis für ihn durchaus erfreulich, und es war auch kein Grund vorhanden gerade die nächsten Unternehmungen als besonders hart und schwierig zu erwarten. Ihn aber hatte in seinem festen und einseitigen Wesen ganz ungewohnt und neu während des ganzen Tages das Unheimliche angegangen, das sich fühlbar macht in diesem versuchsweise hingestellten und so rasch durch die Gewalt eines ausserordentlichen Führers zur Macht gelangten Staate. Ich versuchte seine Aufmerksamkeit auf die Aussenwelt zu lenken. Wenn er, was selten geschah, in sich versank, zerstiess er sich an den harten Ecken und Kanten seines Innern.
Wir sahen an dem Abend nach dem entscheidenden Tag das Bild der Stadt zum ersten Mal vor uns aufgehn. Die scheuen Reste des Provinzfleckens um dieses grosse kühne Zeichen der Vergangenheit, die Burg und den gewaltigen Fels herum, waren überall von dem Heerlager der Sieger durchbrochen und verdrängt, Neubauten, europäische Geschäfte wuchsen und entstanden unter unsern Blicken; Automobile mit fremdartigen Gesandtschaften stauten sich hinter den Offizieren, die auf ihren kleinen Pferden Gassen auf und ab galoppierten; immer wieder kreuzten wir die Wagen der Russen, die mit ihren aus preussischem Helm und phrygischer Mütze seltsam zusammengestellten Kopfbedeckungen neben kurzgeschorenen Frauen als militärisch verkleidete Zivilisten sassen. Die offiziellen Amerikaner hatten an ihren riesigen tankähnlichen Wagen ungeheure Lärmsignale, vor denen die Strassenjugend floh, und sie fuhren starr zurückgelehnt, langsam federnd wie gealterte Satrapen durch die Menge und hinter den betriebsamen Russen dahin. Aber in all dem Gewühl herrschte ein nüchterner Zug, eine spürbare Alarmbereitschaft und eine Kraft, all das Leben mit einem Wort zu erfassen und zum Kampf aufzubrechen. Überall wirkt der durchdringende Blick dieses mazedonischen Herrschers, der dies hält und ihm über Andere Gewalt verliehen hat.
Aus den Quartieren führte uns Irfan gleich zum Speisen, es war noch vieles zu besprechen. Der Ingenieur war in dem einzigen Restaurant in vergnügtester Laune, die Sessel und Tische waren aus einem getünchten Raum in einen ummauerten Hof zu einem Ziehbrunnen gestellt worden, über dem Hof lag der Abendhimmel bleiern, rasch verlöschend; auf den dunklen Hügelrändern, die man über der Hofmauer sah, blinkten Lichtsignale auf. Alles sass voll von mürrisch Speisenden, man trank wegen des trockenen Systems graues gekochtes Wasser. Minister im Kalpak waren da mit ihren Herren, Offiziere, ein junger Amerikaner in Petroleumangelegenheiten, wieder zwei Russen in Uniform. Sie vertraten eine gewaltige Macht und man spürte es durchaus. Der Ingenieur aber war äusserst vergnügt, er hatte seine Flasche in der Hosentasche, nahm von Zeit zu Zeit einen festen Zug, zuerst verstohlen, dann immer selbstgefälliger und nach Zustimmung trachtend; ein scharfer Verweis des Hauptmanns setzte ihm Schranken, als er einigen höheren Offizieren zutrinken wollte.
Bei dieser Mahlzeit entschied sich die Expedition. Es war nun kein Grund, Zeit zu verlieren und ich betrieb den Aufbruch schon für den nächsten Tag. Der Hauptmann und die Herren des türkischen Generalstabs setzten fest, dass wir in der Früh bis zum Endpunkt der Feldbahn fahren würden, und dass jetzt gleich in der Nacht zwei Lastautomobile zu unserer weiteren Reise vorauszuschicken seien.
«Nicht alles» sagte Irfan (wie ein Regisseur behandelte er die Situation), «wird so hässlich sein wie diese gehetzten Eindrücke von heute, und diese Improvisation hier», er wies auf das Restaurant, und hierauf begann er von Prunier zu sprechen und von einem Diner in Kiew kurz vor der Ermordung des grossen Marschalls, seines früheren Chefs. «Wie diese Lieder anfingen!» und er pfiff rein und musikalisch russische Weisen, «und wie dann die Geliebte des Generals hineinkam, überhaupt die Frauen in Russland der damaligen Epoche, gleich nach dem Weltkrieg, das ist der höchste Zauber der sich vorstellen lässt», und er wurde ganz traurig und sagte: «Ohne die Frauen wäre dem General nichts geschehen. Sie hielten ihn dort bis die Engländer ihr Werk hatten.» Und dann nahm er mich beim Arm und wir gingen durch die satte Dunkelheit zu den Gärten am Wasser. Der Widerschein der Lampen die in den Bäumen hingen lag auf dem langsam treibenden dunklen Bach, der zwischen Weidenbüschen um die grüne mit saftigem Gras bewachsene Halbinsel floss, Die Türken sassen auf den Teppichen und rauchten aus den blinkenden Nargilehs. Grosse Ruhe herrschte hier, der laute gehetzte Tag schien vorüber wie ein wüster Traum, die Ereignisse an diesen uralten Gebräuchen vorbeigerauscht wie ein Spuk. Und da wir lagen und tranken, erzählte Irfan wieder vom Marschall, von den Kriegsfahrten am Suezkanal, in Tripolis und Bulgarien, von Kämpfen seit vierzehn Jahren, von Räuberverfolgungen im Gebirg; von einer Reise sprach er, von Moskau nach Afghanistan, im letzten Jahr; von einer Rast in der Nacht bei einer äussersten russischen Postenkette, und wie er vor dem Zelt lag und seine vielen Melodien vor sich hin pfiff; und wie eine von den Wachen plötzlich gestürzt kam, schluchzend zu ihm hin, und es war ein Wiener, den es dorthin verschlagen hatte, und Irfan hatte ein Wienerlied gepfiffen. Und dann sprach er wieder von Frauen aller Länder wie ein trauriger Heimatloser, und von allen wusste er etwas Geheimes über ihre Sehnsucht, ihre Musik und ihre Landschaft. Nur von den Deutschen nicht. Und von Mustapha erzählte er, wie er damals in Gallipoli in der Nacht aus Train und Küchenmannschaften eine Division zusammenstellte, mit der er am nächsten Tage schlug und siegte. Und dann sprach er mit Scheu und Angst und bewundernder Liebe von Trotzki und seinem Lächeln, und wie er dieses selbe Lächeln schon einmal bei einem alten Juden in Aleppo gesehen habe und wie es ihn damals erschreckte. Und so kamen noch andere zu uns in unsern Kreis zum Raki und Tee, sie hassten alle gleichermaassen das Europäische, das unruhige, das wortreiche, schamlose; über alles dies aber hassten sie den antiken Geist, als wäre er gestern mit seinem Gorgonenblick noch vor ihnen gestanden. «Und darum» sagte ein alter Offizier, «rissen wir von den griechischen Statuen, die wir in unsern Ländern fanden, die schamlosen Gesichter herunter, die einen flüchtigen Ausdruck zu bannen die Vermessenheit haben, und wie diese weggeworfenen Gesichter geht all dieses europäische Wesen vorbei und verschwindet.» Sie erregten sich bis an die Grenzen der durch Gastfreundschaft gebotenen Höflichkeit. Und das Gefühl der Macht und der Dauer war so sehr in ihnen, dass ich sah wie unser Hauptmann zu hassen begann, denn in solchen Augenblicken bekannte er sich zu Europa. Der Ingenieur aber starrte auf den dunkeln gelassenen Zug des Wassers und hinüber auf den Weg auf welchem aus den letzten Häusern kommend die gemalten Mädchen vorübergingen, leise singend.
Er kam mit mir als ich von einem Soldaten begleitet nach den Quartieren mich begab. Der Schein der seltenen Petrollaternen flackerte im Zugwind der Gassen, nur die Burg lag, von grossen Feuern hell beleuchtet und wuchs selbst wie ein Flammengebilde auf dem Felsen der stillen vom Sternenwandel lautlos bewegten Nacht entgegen. Hinter einer finsteren Moschee aber im Häusergedräng brannte noch eine grosse Fackel, zwei Störche standen schlafend auf römischen Säulen und zwischen diesen lehnte die geborstene Marmortafel deren Inschrift mit den Worten beginnt: «Rerum gestarum divi Augusti quibus orbem terrarum imperio populi Romani subiecit ….
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