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Sechzehnter Abschnitt.


Erstes Kapitel.

Mit Erlaubniß, Herr, ist dieses Billet an Sie?« frug der Kellner.

»An mich? – Ja, es ist mein Name.«

Ich erkannte die Handschrift nicht, und doch war das Schreiben von Jemand, dessen Schriftzüge ich oft gesehen hatte. Früher waren sie jedoch steif und senkrecht gewesen (eine erkünstelte Hand, was ich damals nicht errathen konnte); nun aber waren sie hastig, unregelmäßig, ungeduldig – kaum ein Buchstaben geformt, kaum ein Wort ganz ausgeschrieben – und dennoch außerordentlich leserlich, wie die Hand eines kühnen Mannes beinahe immer ist. Ich öffnete das Billet gleichgültig und las:

»Ich habe den ganzen Morgen auf Dich gewartet. Ich sah sie abreisen. Wohl! – ich warf mich nicht unter die Hufe der Rosse. Ich schreibe dies in einem nahen Gasthause. Willst Du dem Ueberbringer folgen und noch einmal den Verstoßenen sehen, den die ganze übrige Welt meiden wird?«

Obwohl ich die Hand nicht erkannte, so war ich doch nicht im Zweifel über die Person des Schreibers.

»Der Knabe möchte wissen, ob er eine Antwort bekomme,« sagte der Kellner.

Ich nickte, nahm meinen Hut und verließ das Zimmer. Ein zerlumpter Junge stand in dem Hof, und wir wechselten kaum sechs Worte; bevor ich ihm durch eine enge Gasse folgte; die gerade vor uns lag und mit einem Schlagbaum schloß. Hier blieb der Knabe stehen, machte mir ein Zeihen, weiter zu gehen, und kehrte pfeifend um. Hinter dem Schlagbaum gelangte ich in ein grünes Feld, welches von einem kleinen, mit überhängenden Weidenbäumen bepflanzten Bächlein durchschnitten war. Ich sah mich um und erblickte Vivian (wie ich ihn noch immer nennen will) in halb knieender Stellung; als betrachte er aufmerksam einen Gegenstand im Grase.

Mechanisch folgte mein Auge dem seinigen. Ein junger Vogel, der das Nest zu früh verlassen hatte, saß allein in dem kurzen Gras, den Schnabel geöffnet, wie um sich füttern zu lassen, und den Blick sehnsüchtig auf uns geheftet. Der Anblick des verlassenen Vogels stimmte mich milder gegen den noch verlasseneren Jüngling, von welchem er ein Bild zu sein schien.

»Ich möchte wissen,« sagte Vivian; halb mit sich selbst und halb zu mir sprechend, »ob der Vogel aus dem Neste gefallen ist; oder ob er es aus eigenem wildem Antrieb verlassen hat. Die Eltern schützen ihn nicht. Ich sage nicht, daß der Fehler an ihnen liegt – vielleicht trifft die Schuld allein den verirrten Wanderer. Aber, siehe, wenn auch kein schützender Vater in der Nähe ist, so ist doch der Feind nicht ferne – sieh' dort!«

Und der junge Mann deutete auf eine große gefleckte Katze, die, durch unsere unwillkommene Nachbarschaft von ihrem Raube abgehalten, in einiger Entfernung auf der Lauer stand und ihren Schweif langsam vor, und rückwärts bewegte; dabei zeigte sie jenen verstohlenen Blick in ihren runden, von der Sonne geblendeten Augen – halb wild; halb scheu – welcher ihrem Geschlechte eigen ist, wenn der Mensch zur Rettung des Opfers sich naht.

»Ich sehe,« sagte ich; »doch, ein vorübergehender Fußtritt hat den Vogel gerettet!«

»Halt!« rief Vivian, meine Hand ergreifend und mit dem alten, bittern Lächeln auf seiner Lippe –»halt! meinst Du, es sei Barmherzigkeit, den Vogel zu retten? Wovor? und wozu? Vor einem natürlichen Feinde – vor einem kurzen Schmerz und einem raschen Tode? Ha! – ist das nicht besser, als langsames Verhungern? oder, wenn Du besser für ihn sorgen willst, als das Gitter eines Käfigs? Du kannst ihm sein Nest nicht zurückgeben noch die Alten herbeirufen. Sei weiser in Deinem Erbarmen und überlasse den Vogel seinem mildesten Schicksal!«

Ich heftete mein Auge fest auf Vivian; die Lippe hatte ihr bitteres Lächeln verloren; er stand auf und wandte sich ab. Ich suchte das arme Thierchen zu fangen; allein es kannte seine Freunde nicht und flüchtete sich vor mir mit kläglichem Zirpen gerade nach dem Rachen seines grimmigen Feindes hin. Ich hatte kaum noch Zeit, die Katze wegzujagen, welche an einem Baum hinaufsprang und durch die herabhängenden Zweige ihre Augen niederfunkeln ließ. Dann folgte ich dem Vogel und hörte nun plötzlich ein kurzes, rasches, zitterndes Locken. ohne zu wissen, woher der Ton kam. War es nahe? war es ferne? – kam es von der Erde oder vom Himmel? Gleich der Elternliebe schien es bald fern; bald nahe zu sein; bald auf der Erde, bald in dem Himmel!

Und endlich, rasch und plötzlich – siehe, da flatterten die kleinen Schwingen über mir!

In demselben Augenblick hielt das junge Vögelchen in seiner Flucht inne. »Komm'«, sagte ich, »ihr habt euch endlich gefunden; nun mögt ihr selbst mit einander fertig werden!«

Ich kehrte zu dem Verstoßenen zurück.


Zweites Kapitel.

Pisistratus. – »Woher wußtest Du, daß Du uns hier finden würdest?«

Vivian – »Glaubst Du, ich hätte dort bleiben können, wo Du mich verließest? Ich wanderte fort und kam hierher. Als ich in der Dämmerung durch jene Straße ging; sah ich die Stallknechte müßig am Hofthor stehen; hörte ihr Gespräch und erfuhr auf diese Weise, daß ihr Alle in dem Gasthof abgestiegen – Alle!« (Er seufzte tief auf.)

Pisistratus. – »Dein armer Vater ist sehr krank! O Vetter, wie konntest Du so viel Liebe von Dir stoßen?«

Vivian. – »Liebe! – seine – meines Vaters Liebe?«

Pisistratus. – »So glaubst Du wirklich nicht, daß Dein Vater Dich liebte?«

Vivian. – »Wenn ich es geglaubt hätte, so würde ich ihn nie verlassen haben! Alles Gold Indiens wäre nicht im Stande gewesen, mich von meiner Mutter wegzulocken!«

Pisistratus. – »Dies ist in der That ein seltsamer Irrthum von Deiner Seite, und wenn es uns gelingt, Dich von der Unrichtigkeit Deiner Ansicht zu überzeugen, so kann vielleicht noch alles gut werden. Ich denke, jetzt brauchen wir keine Geheimnisse mehr vor einander zu haben. (Zutraulich.) Sehe Dich und erzähle mir alles. Vetter.«

Nach einigem Zögern willfahrte Vivian; und die Klarheit seiner Stirne, sowie der Ton seiner Stimme gab mir die Ueberzeugung, daß er nicht länger die Wahrheit zu verbergen suchte. Da ich jedoch später die Erzählung des Vaters sowohl, als jetzt diejenige des Sohnes erfuhr, so will ich, statt Vivians Worte zu wiederholen, welche – nicht absichtlich, sondern in Folge seiner verkehrten Anschauung – die Thatsachen vielfach entstellten, das Sachverhältniß zwischen den so unglücklich einander gegenüberstehenden Parteien darstellen, wie es sich mir der Wahrheit gemäß gestaltet zu haben schien. Der Leser möge mir verzeihen, wenn ihn mein Bericht langweilt. Und wem ich gegen den irrenden Helden der Geschichte nicht streng genug erscheine, der bedenke, daß es Austins Sohn ist, welcher über Rolands Sohn urtheilt.


Drittes Kapitel.

Vivian.

An des Lebens Eingang sitzt – die Mutter.

Während des Krieges in Spanien wurde Roland schwer verwundet und über die Zeit des darauffolgenden Fiebers in dem Hause einer spanischen Wittwe gepflegt. Seine Wirthin war einst reich gewesen, in den allgemeinen Drangsalen des Landes aber um ihr Vermögen gekommen. Sie besaß eine einzige Tochter, welche sie in der Pflege des verwundeten Engländers unterstützte, und als die Zeit von Rolands Abreise herannahte, verrieth der unverhohlene Schmerz der jungen Ramuna den Eindruck, welchen der Gast auf ihr Herz gemacht hatte. Die Dankbarkeit und vielleicht auch ein zartes Ehrgefühl unterstützte in Rolands Brust den Zauber, den die Schönheit seiner jungen Pflegerin unwillkührlich auf ihn ausübte, und das ritterliche Mitleid, welches er mit der verlassenen Lage der ihres Vermögens beraubten Familie empfand.

In einem jener hastigen Antriebe, die edlen Naturen eigen sind und nur zu oft verhängnißvoll beweisen, welch' hohen Rang die Klugheit unter den Schutzmächten des Lebens einnimmt, beging Roland den Irrthum, den Bund der Ehe mit einem Mädchen zu schließen, deren Familienverhältnisse ihm fremd waren, und von deren Charakter er nicht viel mehr, als die warme, aufopfernde Empfänglichkeit des Herzens kennen gelernt hatte. Wenige Tage nach seiner raschen Vermählung schloß sich Roland der Armee, welche sich schon auf dem Marsche befand, wieder an und kehrte erst nach dem Siege bei Waterloo nach Spanien zurück.

Durch den Verlust eines Gliedes verstümmelt und mit den Narben mancher neuen ehrenvollen Wunde bedeckt, eilte Roland nach einer Heimath zurück, deren Erinnerung sein Schmerzenslager gemildert hatte, und welche an die Stelle der früheren Ruhmesgedanken getreten war. Während seiner Abwesenheit war ihm ein Sohn geboren worden – ein Sohn, den er zu erziehen hoffte, damit er den von ihm verlassenen Platz im Dienste des Vaterlandes einnehme und auf künftigen Schlachtfeldern eine Laufbahn erneuere, welche die Romantik seines eigenen antiken und ritterlichen Ehrgeizes nicht befriedigt hatte. Sobald er jene Nachricht erhalten, war es seine angelegentliche Sorge gewesen, eine englische Wärterin für das Kind ausfindig zu machen, damit es neben den ersten Lauten der mütterlichen Liebe auch eine Stimme aus dem Lande des Vaters höre. Eine Verwandte von Bolt hatte sich in Spanien niedergelassen und wurde veranlaßt, sich dieser Pflicht zu unterziehen. Wie natürlich auch eine solche Anordnung von Seiten eines Mannes gefunden werden mußte, welcher, wie Roland, durch und durch Engländer war, so mißfiel sie doch seiner wilden und leidenschaftlichen Ramuna. Sie besaß jene mütterliche Eifersucht, welche sich bei einem unerzogenen Geiste am stärksten kund gibt, und zugleich jenen eigenthümlichen Stolz, den man bei den Spaniern jeden Standes und jeder Stellung antrifft; und Stolz und Eifersucht, beides wurde durch den Anblick der englischen Wärterin an der Wiege des Kindes empfindlich verletzt.

Eine unvermeidliche Folge dieser Verbindung war, daß Roland, an seinen spanischen Herd zurückgekehrt, in den Erwartungen des Glückes, das seiner dort harrte, sich bitter getäuscht sah; denn ungeachtet aller militärischen Derbheit besaß er in hohen Grade jenes feine, zarte Gefühl, welches eine Eigenschaft aller poetischen Naturen ist, und nachdem die ersten Selbsttäuschungen der Liebe dahin geschwunden waren, konnte sich sein stolzes Temperament von einer Gattin nicht angezogen fühlen, welche sich durch einen gänzlichen Mangel an Erziehung und durch die scharfen, obgleich unnennbaren Verschiedenheiten nationaler Ansichten und Sitten von ihm unterschied. Die Enttäuschung war jedoch wahrscheinlich größer, und der Kummer darüber ging wohl tiefer, als es gewöhnlich bei unpassenden Verbindungen der Fall ist; denn statt seine Gattin nach dem alten Thurme zu bringen (wogegen sie sich ohne Zweifel auf das Aeußerste gesträubt haben würde), nahm Roland trotz seiner Verstümmelung kurze Zeit nach seiner Ankunft in Spanien einen militärischen Posten unter Ferdinand Ferdinand VII. (1784-1833), König von Spanien 1808 und von 1814 bis 1833. Seine Herrschaft ist geprägt von dem Versuch, die alte absolutistische Königsmacht notfalls auch mit Inquisition und Folter wiederherzustellen. Die Folgen seines Regimes sind die jahrzehntelange Destabilisierung des Landes. an. Rolands ritterlicher, loyaler Sinn ließ ihn ohne Bedenken seine Dienste einem Throne weihen, zu dessen Befestigung englische Waffen beigetragen hatten, während die große Unpopularität der constitutionellen Partei in Spanien und das Brandmal der Irreligiosität, welches ihr von den Priestern aufgedrückt wurde, ihn in dem Glauben bestärkte, daß er einen geliebten König gegen die Anhänger der revolutionären und jakobinischen Lehren unterstütze, welche in seinen Augen als politischer Atheismus galten. Die Erfahrung einiger Jahre im Dienste eines so verächtlichen Frömmlers, wie Ferdinand, dessen Patriotismus kein höheres Ziel, als die Wiederherstellung der Inquisition kannte, fügte eine neue Täuschung denjenigen bei, welche bereits das Leben eines Mannes verbitterten, der in dem großen Helden des Cervantes keine dem Spott verfallene Thorheiten, sondern nachahmenswerthe hohe Tugenden gesehen hatte. Selbst ein armer Don Quixote, kam er trauernd in sein La Mancha zurück ohne andern Lohn für seine fahrende Ritterschaft, als eine Decoration, die er neben seiner einfachen Waterloo-Medaille zu tragen verschmähte, und einen Rang, gegen welchen er sich geschämt haben würde, seine bescheidenere, aber ehrenvollere englische Kapitänswürde aufzugeben.

Dennoch kehrte der sanguinische Mann mit neuen Hoffnungen zu seinen Penaten Siehe Anm. 249. zurück. Sein Sohn war nun zum Knaben herangewachsen – die Erziehung desselben mußte natürlicher Weise in seine Hände übergehen. Entzückende Beschäftigung! – bei dem Gedanken daran lächelte ihm die Heimath wieder.

Nun aber sollten sich die verderblichsten Folgen dieser unglückseligen Verbindung herausstellen.

Ramuna's Vater hatte jenem seltsamen, geheimnißvollen Stamme angehört, welcher in Spanien so viele Züge darbietet, verschieden von den charakteristischen Merkmalen der ihm verwandten Stämme in civilisirteren Ländern. Der Gitano oder spanische Zigeuner ist nicht der bloße Landstreicher, den wir auf unsern Haiden und Straßen herumziehen sehen. Er hat zwar viel von den ungesetzlichen und räuberischen Neigungen seines Volkes beibehalten, lebt aber oft in Städten, widmet sich verschiedenen Berufsarten und wird nicht selten reich. So hatte denn auch ein wohlhabender Gitano eine Spanierin geheirathet Ein Spanier verbindet sich sehr selten mit einer Gitana oder Zigeunerin, obwohl (bemerkt Mr. Borrow) Ehen zwischen reinen Zigeunern und Spanierinnen hin und wieder geschlossen werden. [ Anm.d.Verf. – Bulwer bezieht sich auf The Zincali (1841) von George Henry Borrow (1803-1881), dem britischen Schriftsteller, Reisenden und Philologen.], und Roland's Gattin war der Sprößling dieser Ehe gewesen. Der Gitano starb, während Ramuna noch sehr jung war, so daß ihre Kindheit von den Einflüssen ihrer väterlichen Verwandten frei blieb. Ihre Mutter, welche ihre eigene Religion beibehalten hatte, erzog Ramuna in derselben und erhielt sie rein von dem gottlosen Glaubensbekenntniß des Gitano; auch sagte sie sich nach ihres Gatten Tode vollständig von seinem Stamme los. Gleichwohl war sie aus allem Verkehr mit ihren Verwandten und ihrem Volke gekommen, und während sie sich bemühte, denselben wieder anzuknüpfen, verlor sie ihr Vermögen, welches allein einen Erfolg ihrer Bestrebungen in Aussicht gestellt hatte. So blieb sie vereinzelt und abgeschieden, ohne Freunde, die Ramuna während Roland's Abwesenheit aufzuheitern im Stande gewesen wären. Noch vor dessen Rückkehr starb jedoch die Wittwe, und die einzigen Verwandten, welche sich jetzt um Ramuna sammelten, gehörten dem Stamme ihres Vaters an. So lange die Mutter lebte, hatten sie es nicht gewagt, ihre Verwandtschaftsansprüche geltend zu machen; nun aber überhäuften sie ihren Sohn mit Aufmerksamkeiten und Liebkosungen, und dieß öffnete ihnen in kürzester Zeit Ramuna's Herz und Thüre. Inzwischen war auch die englische Wärterin, welche trotz allem, was ihr den Aufenthalt in dem fremden Hause verhaßt machen mußte, aus treuer Liebe zu ihrem Pflegebefohlenen auf ihrem Posten ausgeharrt hatte, wenige Wochen nach Ramuna's Mutter gestorben, und so blieben denn nun alle jene verderblichen Einflüsse, denen der Erbe der ehrenwerthen alten Caxtons ausgesetzt war, ohne jede gesunde Gegenwirkung. Aber Roland kehrte in einer Stimmung zurück, welche ihn alles in dem heitersten Lichte erblicken ließ. Freudig drückte er die Gattin an seine Brust, indem er sich den geheimen Vorwurf machte, zu viel verlangt und zu wenig nachgegeben zu haben, und sich gelobte, in Zukunft weiser zu sein. Mit Entzücken erfüllte ihn die Schönheit, der Verstand und die männliche Haltung des Knaben, der mit seiner Degenquaste spielte und mit seinen Pistolen als einer guten Beute davon lief.

Die Nachricht von der Ankunft des Engländers hielt die wenig achtbare Verwandtschaft in der ersten Zeit von dem Hause fern; allein der Knabe war unter den Zigeunern sehr beliebt, und er selbst hatte sich schon so fest an sie angeschlossen, daß häufige, obgleich heimliche Zusammenkünfte zwischen ihm und seinen wilden Gefährten stattfanden. Allmälig gingen Roland die Augen auf. Als der Knabe im gewöhnlichen Verkehr die Zurückhaltung verlor, welche Scheu und Verschlagenheit ihm anfänglich auferlegt hatten, war Roland tief erschüttert über die dreisten Grundsätze, die sein Sohn an den Tag legte, und über dessen gänzliche Unfähigkeit, den einfach ehrenhaften Sinn auch nur zu begreifen, welcher uns nach des Kapitäns Ansicht schon angeboren und vom Himmel selbst in uns gepflanzt ist. Kurz darauf machte Roland die Wahrnehmung, daß sein Haus systematisch geplündert wurde, und zwar stellte es sich bei genauerer Untersuchung heraus, daß der Sohn selbst mit Wissen und Erlaubniß der Mutter zum Besten eines trägen Raubgesindels und ausschweifender Landstreicher in solcher Weise schaltete.

Diese Entdeckung würde wohl auch einen geduldigeren Mann, als Roland war, in hohem Grade aufgebracht und erbittert haben. Er ergriff die natürlichste Maßregel – wobei er vielleicht zu gebieterisch auf seinem Willen beharrte, vielleicht auch dem ungebildeten Sinn und der Leidenschaftlichkeit seiner Gattin zu wenig Rechnung trug – er befahl ihr, augenblicklich Vorkehrungen zu treffen, um mit ihm den Ort zu verlassen, und alle und jede Verbindung mit ihren Verwandten abzubrechen.

Eine ungestüme Weigerung von Seiten Ramuna's erfolgte; allein Roland war nicht der Mann, in einem solchen Punkte nachzugeben, und endlich beschwichtigte eine scheinbare Unterwerfung und erheuchelte Reue seinen Zorn und erlangte seine Verzeihung. Sie zogen nun an einen mehrere Meilen entfernten Ort; wohin sie sich jedoch begeben mochten – stets folgten ihnen einige, und zwar die schlechtesten von der unheilvollen Brut, heimlich nach. Ramuna's Liebe zu Roland, welcher Art sie auch früher gewesen sein mochte, war augenscheinlich längst untergegangen in dem vollständigen Mangel an Uebereinstimmung zwischen den Ehegatten und in jener Abwesenheit, welche zwar einer kräftigen Neigung Nahrung gibt, eine bereits geschwächte jedoch vollends ganz auslöscht. Dagegen liebten sich Mutter und Sohn mit der ganzen Stärke ihrer kräftigen, wilden Naturen. Selbst unter gewöhnlichen Verhältnissen ist des Vaters Einfluß auf einen Knaben, so lange er noch Kind ist, fruchtlos, wenn die Mutter sich dazu hergibt, denselben zu vereiteln. Und welche Aussicht hatte in einer so unseligen Lage der derbe, ernste, ehrenhafte Roland (welcher überdies während der lenksamsten Jahre der Jugend von seinem Sohne getrennt gewesen war), den Einflüsterungen einer Mutter gegenüber, welche den Fehlern ihres Lieblings allen Vorschub leistete und alle seine Wünsche befriedigte?

In seiner Verzweiflung ließ Roland die Drohung fallen, wenn seine Pläne fortwährend in solcher Weise durchkreuzt und zu nichte gemacht würden, erheische es die Pflicht, seinen Sohn der Mutter zu entreißen. Diese Drohung nun verhärtete sogleich beider Herzen gegen ihn. Die Gattin schilderte dem Knaben seinen Vater als einen Tyrannen, als einen Feind, als den Zerstörer des Glückes, welches sie früher Eines in dem Anderen gefunden, und als einen lieblosen Vater, dessen Strenge zeige, daß er sein eigenes Kind hasse. Der Knabe glaubte ihr; und so ward denn mit Hülfe der Schlauheit, welche die einzige Waffe des Schwachen gegen den Starken ist, in seinem eigenen Hause ein fester Bund gegen Roland geschlossen.

Trotz all' dem aber konnte er die Zärtlichkeit, mit welcher einst die junge Wärterin den verwundeten Krieger gepflegt, und die Liebe nicht vergessen, die ihm jene schöne Lippen in vergangenen Zeiten gelobt hatten – eine Liebe, die zwar nicht aus den Gefühlen entsprang, welche in dem Kampfe des Lebens Stand halten, gleichwohl aber damals ächt und aufrichtig gewesen war. Wie mußten sich diese Gedanken fortwährend zwischen sein Herz und seinen Verstand drängen, um seine Lage noch mehr zu verbittern und sein Inneres noch tiefer zu verwunden! Und wenn auch die Kraft jenes Pflichtgefühls, welches die Stärke seines Charakters ausmachte, ihn dazu vermocht haben würde, seine Drohung auszuführen, so zwang ihn jedenfalls die Menschlichkeit, es jetzt noch zu unterlassen – denn seine Gattin sollte zum zweiten Male Mutter werden. Blanche wurde geboren. Wie konnte er den Säugling von der Mutterbrust reißen, oder die Tochter den verderblichen Einflüssen überlassen, von welchen er nur durch eine so gewaltsame Maßregel den Sohn zu befreien im Stande war?

Kein Wunder, armer Roland, daß so tiefe Furchen Deine kühne Stirne durchzogen, und Deine Haare vor der Zeit grau wurden!

Zum Glück vielleicht für alle Theile starb Rolands Gattin, während Blanche noch in zartem Kindesalter stand. Sie wurde von einem Fieber befallen und starb im Delirium, ihren Knaben an die Brust drückend und zu den Heiligen flehend, sie möchten ihn vor seinem grausamen Vater beschützen. Wie oft stand der Sohn im Geiste an diesem Sterbebett und ließ sich dadurch in dem Gedanken bestärken, daß keine Vaterliebe in dem Herzen wohne, welches nunmehr seine einzige Zuflucht war ›in dieser Welt und ihren unbarmherz'gen Stürmen‹ Shakespeare, King Lear, III, 4. Dort heißt es in V. 29: » the pelting of this pitiless storm«, während bei Bulwer » from the world and the ›pelting of its pitiless rain!‹« steht, der erste Bestandteil also ausdrücklich nicht ins Zitat eingeschlossen ist.. Nochmals sage ich, armer Roland! Denn ich weiß, daß in der harten, lieblosen Trennung eines so heiligen Bandes Dein großes, edles Herz das erlittene Unrecht vergaß. Wieder sahst Du zärtliche Augen auf den verwundeten Fremdling sich heften – wieder hörtest Du das leise Geständniß jener Gefühle, welches abzulegen die Frauen des Südens für keine Schande halten. Und nun endete alles in jenem-Wahnsinn des Hasses, in jenem starren Blick des Entsetzens!


Viertes Kapitel.

Der Lehrer.

Roland zog nach Frankreich und wählte seinen Aufenthalt in der Umgegend von Paris. Blanche übergab er einem Kloster in unmittelbarer Nähe, besuchte sie jeden Tag und widmete sich im Uebrigen der Erziehung seines Sohnes. Der Knabe lernte sehr leicht – aber Verlernen war hier die Hauptaufgabe, und dazu bedurfte es entweder der leidenschaftslosen Erfahrung und der weisen Milde eines geübten Lehrers, oder der Liebe, des Vertrauens und des fügsamen Herzens eines gläubigen Schülers. Roland fühlte, daß er dieser Aufgabe nicht gewachsen war, und daß seines Sohnes Herz hartnäckig gegen ihn verschlossen blieb. So sah er sich denn nach einem passenden Lehrer um und glaubte denselben in der Person eines jungen Franzosen gefunden zu haben, welcher in einem andern Theile von Paris wohnte und mit einer guten wissenschaftlichen Bildung die seiner Nation eigene Beredtsamkeit verband, deren hochtönende Phrasen dem romantischen Enthusiasmus Rolands gefielen. Voll froher Hoffnungen vertraute er seinen Sohn der Obhut dieses Mannes an.

Die natürliche Fassungsgabe des Knaben bemeisterte bald alles, was seinem Geschmack zusagte, und mit seltener Leichtigkeit und Richtigkeit lernte er in kurzer Zeit französisch sprechen und schreiben. Sein gutes Gedächtniß und jene biegsamen Organe, in welchen das Talent für Sprachen liegt, ließen ihn mit Hülfe eines englischen Lehrers seine früheren Kenntnisse der väterlichen Zunge wieder auffrischen und befähigten ihn, dieselbe geläufig und richtig zu sprechen – obwohl mir ein gewisser fremdartiger Accent in seiner Aussprache stets aufgefallen war, den ich übrigens weniger dafür, als vielmehr für theatralische Ziererei gehalten hatte. In den Wissenschaften brachte er es nicht weit – vielleicht nicht weiter, als zu einer oberflächlichen Kenntniß französischer Mathematik; dagegen erlangte er eine außerordentliche Geschicklichkeit im Rechnen. Gierig verschlang er die leichte Lectüre, die ihm in den Weg kam, und erwarb sich dabei jene Art von Wissen, welche Romane und Schauspiele bieten, und die entweder zum Guten oder zum Schlimmen führt, je nachdem das Gelesene den Verstand erhebt und die Leidenschaften veredelt, oder die Phantasie zerrüttet und die menschliche Natur in den Staub zieht. In allem aber, worin Roland seinen Sohn unterrichtet wünschte, blieb er so unwissend, wie zuvor.

Um das Unglück, welches aus jener verhängnißvollen Verbindung entsprossen war, vollkommen zu machen, hatte Rolands Gattin den ganzen Aberglauben einer römisch-katholischen Spanierin besessen und der Knabe mit diesem unwillkührlich auch die weit traurigeren Lehren des umnachteten Zigeunerheidenthums eingesogen.

Roland hatte für seinen Sohn einen protestantischen Hofmeister gesucht. Der Gefundene war dem Namen nach wohl ein Protestant, in der That ein beißender Spötter alles Aberglaubens! – aber zugleich ein Protestant, wie es nach der Aeußerung eines Vertheidigers der Voltaire'schen Religion der große Witzbold selbst gewesen sein würde, wenn er in einem protestantischen Lande gelebt hätte. Der Franzose spottete den Knaben aus all' seinem Aberglauben hinaus und gab ihm dafür nichts, als den höhnischen Skepticismus der Encyclopädie, ohne jene versöhnende Sittenlehre, über welche alle philosophischen Secten einig sind, die aber zu verstehen man leider selbst Philosoph sein muß.

Der Lehrer wußte ohne Zweifel nicht, welches Unheil er anstiftete, und im Uebrigen unterrichtete er den Zögling nach seinem eigenen System – ein mildes und einfaches, ziemlich nach der Art, die auch in England anempfohlen wird – »Bilde den Verstand, und alles Andere wird folgen«; – »Fange nur mit etwas an, so wird alles recht werden«; – »Folge dem Drang in dem Geiste des Schülers, so wird sich der Genius entwickeln und in seinem Streben nicht gehemmt sein.« Geiste Verstand, Genius – schöne Dinge! Aber um den ganzen Menschen zu erziehen, muß mehr, als dies ausgebildet werden. Nicht aus Mangel an Geist, Verstand und Genie haben Borgia und Nero Cesare Borgia (1475-1507), italienischer Renaissancefürst, diente Niccolò Machiavelli als Vorbild für sein Buch Il Principe ("Der Fürst"); heute sieht man die gegen Cesare vorgebrachten Anschuldigungen der Günstlingswirtschaft, der sexuellen Ausschweifung und der Grausamkeit als in der Renaissance typische Begleitformen jeder feudalen Herrschaft, die im Wesentlichen auf die Propaganda seiner Gegner zurückgehen. – Auch die Bewertung Neros (37-68), 54 bis 68 Kaiser des Römischen Reiches, wird heute differenzierter vorgenommen; die Abhängigkeit seines Bildes von einer senatorisch geprägten Geschichtsschreibung hat die positiven Seiten, die in den ersten fünf Jahren seiner Regierung dominierten, verdunkelt und ausschließlich seine dunklen Seiten, die in der Tat ab 59 überwiegen, gelten lassen. Bei dem berühmten Brand von Rom im Jahre 64, der, wie viele andere auch, auf einem Marktplatz durch Unvorsichtigkeit ausgebrochen sein dürfte, befand sich Nero 50 km von der Hauptstadt entfernt; er reiste nach Rom zurück, öffnete seine Gebäude für Obdachlose und senkte den Getreidepreis. Aufgrund der Gerüchte, er selbst habe das Feuer gelegt oder wenigstens davon profitiert, brauchte Nero einen anderen Schuldigen für den Brand. So kam es zu jener Christenverfolgung, die besonders nachhaltig das christliche Urteil über Nero beeinflusste. ihre Namen als Denkmale des Schreckens für das ganze menschliche Geschlecht hinterlassen. Wo war in diesem ganzen Unterricht eine einzige Lehrstunde, welche das Herz hätte erwärmen und die Seele leiten können?

O meine Mutter, wäre doch der Knabe zu Deinen Füßen gesessen und hätte von Deinen Lippen gehört, wozu das Leben uns gegeben ist, in was es enden wird, und wie uns Tag und Nacht der Himmel offen steht! O mein Vater, wärest Du sein Lehrer gewesen, nicht in der Büchergelehrsamkeit, sondern in der einfachen Weisheit des Herzens! O, hätte er unter Deiner Anleitung in praktischen Gleichnissen das Glück der Selbstaufopferung kennen gelernt und Deinen Unterricht empfangen, »wie schlimme Handlungen wieder gut gemacht werden können!«

Ein Unglück war es für diesen kecken und schönen Knaben, daß in seinem Aeußern und in seinem Benehmen etwas lag, was ein nachsichtiges Interesse und eine Art mitleidiger Bewunderung erregte. Der Franzose gewann ihn lieb, glaubte seiner Erzählung und zweifelte nicht daran, daß er von dem englischen Krieger mit dem strengen Gesichte mißhandelt werde. Alle Engländer waren so unangenehm, besonders die englischen Soldaten, und der Capitän hatte den Franzosen einstmals tödtlich gekränkt, indem er Vilainton Französisch für Wellington, den Sieger von Waterloo. un grand homme nannte und mit derber Entrüstung in Abrede zog, daß Napoleon von den Engländern vergiftet worden sei Noch1995 erhielt die alte bonapartistische Legende neue Nahrung, als eine vom FBI bestätigte Analyse beachtliche Spuren von Arsen in einer 1816 entnommenen Haarprobe des Kaisers aufwies.! Statt also dem Sohne Achtung und Liebe für seinen Vater einzuflößen, zuckte der Franzose die Achseln, wenn der Knabe in seine unkindlichen Klagen ausbrach, und sagte höchstens: » Mais, cher enfant, ton père est Anglais, – c'est tout dire.« Nein, liebes Kind, dein Vater ist Engländer, – mehr ist dazu nicht zu sagen.

Inzwischen wuchs der Knabe schnell zum frühreifen Jüngling heran und genoß in seinen Erholungsstunden einer Freiheit, welche er mit allem Eifer seiner früheren Gewohnheiten und abenteuerlichen Neigungen benützte. Er trieb sich in den Kaffeehäusern herum, knüpfte Bekanntschaften mit den witzigen jungen Müßiggängern und Verschwendern der Hauptstadt an, lernte den Degen führen und die Pistole handhaben, erlangte eine große Gewandtheit in allen jenen Spielen, in welchen Geschicklichkeit das Glück unterstützt, und verstand es in kurzer Zeit, sich mit Hülfe von Karten und Billardbällen mit Geld zu versehen.

Entzückt von der Heimath, die er bei seinem nachsichtigen Lehrer gefunden, versäumte er nie, während der Besuche seines Vaters seinen Zügen und seinem Benehmen den passenden Ausdruck zu geben, die erworbenen weniger unedlen Kenntnisse möglichst gut anzuwenden und mit der ihm eigenthümlichen Nachahmungsgabe die schönsten Gefühle zur Schau zu tragen, die er aus seinen Romanen und Schauspielen geschöpft hatte. Welcher Vater ist nicht leichtgläubig? Roland glaubte und weinte Thränen der Freude. Und als er die Zeit gekommen wähnte, mit einem würdigen Erben nach dem alten Thurme zurückkehren zu können, dankte er dem Lehrer unter Segenswünschen und nahm den Sohn wieder zu sich. Dieser aber, unter dem Vorwande, in manchen Fächern noch einer weiteren Ausbildung zu bedürfen, bat seinen Vater, nicht sogleich nach England aufzubrechen, sondern ihm zu gestatten, während einiger Monate täglich noch einige Stunden bei seinem Lehrer zubringen zu dürfen. Roland willigte ein, gab seine alte Wohnung auf und bezog mit seinem Sohne eine neue in derselben Vorstadt, in welcher der Lehrer wohnte. Allein nicht lange befanden sich Vater und Sohn unter Einem Dache, als sich auch des Jünglings Gewohnheiten und sein Widerwille gegen das väterliche Ansehen verriethen.

Ich muß hier meinem unglücklichen Vetter wenigstens die Gerechtigkeit widerfahren lassen, zu sagen, daß er sich zwar wohl kurze Zeit zu verstellen vermochte, doch nicht Heuchler genug war, um einen systematischen Betrug durchzuführen. Er konnte eine Rolle eine Zeitlang spielen und sich dabei über seine eigene Geschicklichkeit freuen, war aber nicht im Stande, mit der Geduld kaltblütiger Verstellung eine Maske zu tragen.

Doch, wozu eingehen in die .traurigen Einzelheiten, welche der verständige Leser so leicht selbst errathen wird? Die Fehler des Sohnes waren gerade diejenigen, welche Roland am wenigsten ertragen konnte. Gegen die gewöhnlichen Verirrungen eines jugendlichen Uebermuthes wäre sicherlich kein Vater nachsichtiger gewesen; wo es sich aber um Gemeinheiten handelte, welche den Gentleman und den Soldaten verletzten, da würde ich es nicht um eine Welt gewagt haben, den düstern Wolken auf seiner Stirne und dem Weh, das wie Verachtung aus seiner Stimme sprach, Trotz zu bieten. Alle Warnungen, alle Verbote blieben ohne Erfolg; und als Roland einstmals um Mitternacht in einer Versammlung von Spielern und Betrügern seinen Sohn antraf, wie er in der vollen Glut des Triumphes mit seinem Billardstock gegen Alle seine Ueberlegenheit zeigte, während ein Haufen Fünffrankenstücke vor ihm lag – da läßt sich wohl denken, mit welcher Wuth der stolze, leidenschaftliche Mann mit seinem Stock in der Hand die saubere Genossenschaft auseinanderjagte, des Sohnes schlechterworbenen Gewinn ihr nachwerfend, und mit welchen Gefühlen des Grolles und der Demüthigung der Sohn sich gezwungen sah, dem Vater nach Hause zu folgen. Roland brachte nun den Knaben nach England, aber nicht nach dem alten Thurme, der Herd seiner Vorfahren war noch zu heilig für den Fuß des unwürdigen Erben!


Fünftes Kapitel.

Der Herd ohne Vertrauen,
und die Welt ohne einen Führer.

Und nun, nachdem er vergeblich jede Vorstellung, die sein schlichter Sinn ihm eingab, ergriffen und versucht hatte – nun sprach Roland viel und in hochtönenden Worten von den Pflichten, die der Mensch, selbst wenn er alle kindliche Liebe abstreife, doch immer dem Namen seines Vaters schuldig sei. Sein Stolz, der stets so lebhaft war, wurde nun hart und reizbar und erschien ohne Zweifel den Augen des Sohnes in keinem liebenswürdigen Lichte. Ohne irgend etwas Gutes zu bezwecken, wirkte er nur um so nachtheiliger auf den Jüngling, indem dieser von der Krankheit sich anstecken ließ, und zwar in ganz verkehrter Weise.

»Ha, sagte er zu sich selbst, »mein Vater ist also ein großer Mann – mit all' diesen Ahnen und hohen Worten! Er hat Güter und ein Schloß – und wie elend leben wir, und wie kurz hält er mich! Aber wenn er Ursache hat, auf diese Todten stolz zu sein, nun, so kann ich es auch sein. Und ist diese Wohnung, ist diese Lebensweise passend für den ›Gentleman‹, der ich nach seiner Aussage bin?«

Auch in England brach sich das Zigeunerblut wieder Bahn, wie zuvor, und der Jüngling fand – der Himmel weiß, wie und wo – schlechte Kameraden genug. Seltsam aussehende Gestalten, vornehm schäbig und gemein stutzerhaft, lauerten an der Straßenecke oder suchten durch das Fenster hereinzusehen und schlichen sich von dannen, sobald sie Roland erblickten – Roland aber konnte sich nicht zu einem Spion herabwürdigen. Das Herz des Sohnes verhärtete sich mehr und mehr gegen den Vater, und das Antlitz des Vaters erhellte kein Lächeln mehr. Es liefen Rechnungen ein, und Gläubiger klopften an die Thüre. Rechnungen und Gläubiger für einen Mann, der vor dem Gedanken an eine Schuld zurückbebte, wie das Hermelin vor einem Flecken auf seinem Fell! Und des Sohnes kurze Antwort auf des Vaters Vorstellungen war:

»Bin ich nicht ein Gentleman? – das sind die Dinge, deren ein Gentleman bedarf.«

Roland erinnerte sich jetzt vielleicht des Versuchs, den sein französischer Freund gemacht; er ließ seinen Schreibtisch offen und sagte:

»Richte mich zu Grunde, wenn Du willst – aber keine Schulden! In diesen Schubladen ist Geld – sie sind unverschlossen.«

Einen Jüngling von hohem und zarten, Ehrgefühl würde ein solches Vertrauen für immer von aller Verschwendung geheilt haben; der Zögling der Gitanos aber verstand dieses Vertrauen nicht; er sah darin nur eine natürliche, obwohl ungern gegebene Erlaubniß, zu nehmen, was er brauchte – und nahm! In den Augen des Capitäns war dies ein Diebstahl, und zwar ein Diebstahl der gröbsten Art; der Sohn aber war über diese Auffassung der Sache in hohem Grade entrüstet und nannte die rührende Berufung auf sein Ehrgefühl eine Falle, die man ihm gelegt, um Schande über ihn zu bringen. Kurz. Keiner verstand den Andern. Roland verbot seinem Sohn, das Haus zu verlassen, und in derselben Nacht stahl sich der junge Mann hinaus und wanderte fort in die weite Welt, um in seiner eigenen wilden Weise sich ihrer zu erfreuen oder ihr zu trotzen.

Es wäre ermüdend, seine verschiedenen Abenteuer und Glücksversuche aufzuzählen (selbst, wenn ich sie alle wüßte, was nicht der Fall ist). Seinen wahren Namen, den er freiwillig aufgegeben, ganz bei Seite lassend, will ich den Leser nicht mit den früheren falschen verwirren, die er nach einander angenommen, sondern meinen unglücklichen Vetter so lange bei demjenigen nennen, unter welchem ich ihn zuerst kennen lernte, bis er würdig sein wird – und der Himmel gebe, daß die Zeit kommen möge! – seinen eigenen wieder anzusprechen.

Indem sich Vivian einer herumziehenden Schauspielerbande anschloß, wurde er mit Peacock bekannt, und dieser Ehrenmann, welcher selbst viele Saiten für seinen Bogen hatte, entdeckte bald Vivians außerordentliche Geschicklichkeit in Handhabung des Billardstockes und sah darin eine weit bessere Art, ihr beiderseitiges Glück zu machen, als die Bretter eines herumziehenden Thespiskarrens Bezeichnung für den Wohnwagen wandernder Schauspieler oder für eine Wanderbühne. Der Name stammt von Thespis, dem ersten griechischen Tragödiendichter, der seine Theaterstücke laut der Überlieferung von Horaz auf einem Theaterwagen aufgeführt haben soll. darboten. Vivian schenkte ihm Gehör, und die Freundschaft zwischen beiden war noch ganz neu, als wir in dem Wirthshaus an der Straße zusammentrafen. Diese zufällige Begegnung machte – wenn ich seiner Versicherung Glauben schenken darf – einen lebhaften und für den Augenblick heilsamen Eindruck auf Vivian. Die Unschuld und Frische eines jungen Gemüthes war ihm neu, und betroffen verglich er den elastischen, gesunden Frohsinn, von welchem diese Gaben begleitet waren, mit seiner eigenen erkünstelten Heiterkeit und dem verborgenen Trübsinn seines Herzens. Und dieser Knabe war sein Vetter!

Als er später nach London kam, zog er in dem Strand-Hotel, wohin ich ihn gewiesen, Erkundigungen nach uns ein, erfuhr, wo wir wohnten, ging eines Abends am Hause vorüber, erblickte meinen Onkel am Fenster und – entfloh. Da er eben über einiges Geld zu verfügen hatte, sagte er sich nun plötzlich von der Gesellschaft los, an welche er sich bisher gehalten hatte, und beschloß, nach Frankreich zurückzukehren – er wollte es versuchen, sich auf ehrbarere Weise in der Welt fortzubringen. Die errungene Freiheit hatte ihm das geträumte Glück nicht gebracht, und das Treiben, vor welchem ihn sein Vater vergeblich gewarnt, bot dem Ehrgeiz, der an ihm zu nagen begann, keine Nahrung. Sein achtbarster Freund war sein alter Lehrer, und zu diesem ging er. Der Lehrer aber war nun verheirathet und selbst Vater, was eine wunderbare Veränderung in seiner praktischen Sittenlehre hervorgerufen hatte. Er hielt es nicht länger mehr für recht, dem Sohne, der sich gegen den Vater auflehnte, Vorschub zu leisten. Vivian gab bei der Aufnahme, die er fand, seinen gewöhnlichen spöttischen Hochmuth zu erkennen und ward hierauf höflich ersucht, das Haus zu verlassen. Nun warf er sich seinen früheren witzigen Pariser Gefährten wieder in die Arme; ihr Witz aber war schärfer, als der seinige, und er gerieth in eine Mißhelligkeit mit der Polizei – nicht wegen eigener unehrenhafter Handlungen, sondern wegen seiner Bekanntschaft mit den Schuldigen – worauf er es für räthlich hielt, seinem Aufenthalt in Frankreich ein Ende zu machen. So kam es denn, daß ich ihn zerlumpt und verwahrlost in den Straßen von London wiederfand.

Inzwischen überließ sich Roland nach den ersten vergeblichen Nachforschungen ganz der Entrüstung und dem Widerwillen, welche längst in ihm gearbeitet hatten. Der Sohn war seiner natürlichen Gewalt entronnen, weil sie ihn vor Schande bewahren wollte. Roland hatte strenge Begriffe von Zucht und Gehorsam, und die Geduld war in seinem Herzen nahezu erdrückt worden. Er glaubte es ertragen zu können, den Sohn seinem Schicksal zu überlassen – ihn zu verstoßen und zu sagen: »Ich habe keinen Sohn mehr.«

In dieser Stimmung kam er zuerst in unser Haus. An jenem denkwürdigen Abend jedoch, an welchem er seinen ergriffenen Zuhörern die traurige Erzählung von den Leiden und dem Verbrechen eines schwergeprüften Vaters mittheilte, erkannte die schnell fassende Theilnahme seines Bruders in eben jener Erzählung Rolands eigenen Schmerz, und nicht nur errieth oder erfuhr Austin mit leichter Mühe die ganze traurige Wahrheit, sondern es gelang auch seiner milden Ueberredungsgabe. Roland zu überzeugen, daß er noch nicht allem aufgeboten, um die Spur des Wanderers aufzufinden und das verirrte Kind zurückzurufen. Er ging nun nach London, besuchte jeden Ort, wo der Flüchtling möglicher oder wahrscheinlicher Weise sich aufhalten konnte, sparte und versagte sich beinahe das Nothwendigste, um Theater und Spielhäuser besuchen und durch Belohnungen die Thätigkeit der Polizei anspornen zu können.

Endlich sah er die Gestalt, nach welcher er schon so lange mit Schmerzen geforscht, in der Straße unter seinem Fenster stehen und rief in freudiger Selbsttäuschung: »Er bereut!« Bald darauf erhielt mein Onkel durch seinen Banquier einen Brief von dem französischen Hofmeister, welcher sich auf keine andere Weise mit dem Capitän in Verbindung zu setzen wußte, als durch das Haus, das ihm seinen Gehalt ausbezahlt hatte. Das Schreiben benachrichtigte den Vater von der Anwesenheit des Sohnes in Paris, und dorthin begab sich nun Roland unverzüglich.

Alles jedoch, was er in Erfahrung bringen konnte – und zwar durch die Polizei, die allein ihm Auskunft über seinen Sohn zu geben vermochte – bestand darin, daß er in Gesellschaft vollendeter Betrüger, welche sich bereits in den Händen der Gerechtigkeit befanden, gesehen worden, aber da keine Anklage gegen ihn selbst vorgelegen, die Erlaubniß erhalten habe, Paris zu verlassen; die wahrscheinlichste Vermuthung ging dahin, er werde den Weg nach England eingeschlagen haben. Dies war zu viel selbst für das starke Herz des Kapitäns. Sein Sohn ein Genosse von Betrügern! – konnte er sicher sein, daß er nicht ihr Mitschuldiger war? Und wenn auch jetzt noch nicht – wie klein ist der Schritt von der Mitwissenschaft zur Theilnahme!

Roland holte das Kind, das ihm noch geblieben, aus dem Kloster, kehrte nach England zurück und wurde unmittelbar nach seiner Ankunft von einem nervösen Fieber befallen – augenscheinlich an demselben Tage oder einen Tag vor dem, an welchem der Sohn ohne Obdach und ohne einen Heller in der Tasche auf dem Straßenpflaster von London niedergesunken war.


Sechster Kapitel.

Der Versuch, aus den Trümmern der Heimath dem Glück einen Tempel zu bauen.

Als Du mir aber zu Hülfe kamst, ohne mich zu kennen,« fuhr Vivian in seiner Erzählung fort, »als Du mir beistandest, und ich von Deinen Lippen zum ersten Mal Worte des Lobes hörte wegen Eigenschaften, vermöge deren – ah,« setzte er traurig hinzu, »ich erinnere mich deutlich Deiner Worte, doch wozu sie wiederholen? – da ging mir ein neues Licht auf, schwach zwar und unbestimmt, aber dennoch ein Licht. Der Ehrgeiz, welcher mich veranlaßt hatte, meinen französischen Lehrer aufzusuchen, erwachte auf's Neue und nahm eine würdigere und bestimmtere Gestalt an. Ich wollte mich über den Schlamm erheben, mir einen Namen machen und mich im Leben emporschwingen!«

Vivian ließ den Kopf sinken, richtete ihn jedoch schnell wieder in die Höhe und lachte – sein altes, höhnisches Lachen. Der Rest seiner Erzählung läßt sich kurz zusammenfassen. Die bittern Gefühle gegen seinen Vater festhaltend, beschloß er, sein Incognito fortzuführen, und gab sich einen Namen, der unsere Muthmaßungen leicht irre führen konnte, wenn ich etwa mit meiner Familie von ihm sprechen sollte, denn er wußte, daß Roland von dem Kummer des Obristen Vivian über einen entlaufenen Sohn gehört hatte – in der That war durch das Gespräch über diesen Vorfall der Gedanke an eine Flucht zuerst in ihm geweckt worden.

Die Aussicht, mit Trevanion bekannt zu werden, war ihm sehr erwünscht, doch hatte er Gründe, seine Einführung nicht mir verdanken zu wollen – überhaupt mich seinen Aufenthaltsort nicht wissen zu lassen, da dies früher oder später aller Wahrscheinlichkeit nach zur Entdeckung seines wirklichen Namens hätte führen müssen. Es kam ihm daher für seine Plane sehr gelegen, daß wir Alle London verließen, weil ihm dadurch das Feld allein überlassen blieb.

Und nun faßte er kühn einen Entschluß, den er für einen Meisterzug seines Lebens hielt – er wollte sich die nöthigsten Mittel zu einer unabhängigen Stellung sichern und sich förmlich und gänzlich von der väterlichen Gewalt lossagen. Da er die ritterliche Verehrung kannte, die der arme Roland für seinen Namen hegte, und fest überzeugt war, sein Vater liebe ihn nicht, sondern fürchte nur, der Sohn möchte ihm Schande machen, so beschloß er, des Kapitäns Vorurtheile zu benützen, um seinen Zweck zu erreichen.

Er schrieb einen kurzen Brief an Roland (jenen Brief, der dem armen Manne eine so freudige Hoffnung eingeflößt – nach dessen Durchlesung er zu Blanche gesagt hatte: »Bete für mich!«), worin er den einfachen Wunsch aussprach, seinen Vater zu sehen, und ein Wirthshaus in der City nannte, woselbst er ihn erwarten wolle.

Die Zusammenkunft fand statt. Roland kam. Liebe und Vergebung in seinem Herzen – aber (wer wollte es ihm zum Vorwurf machen?) Würde auf der Stirne und Vorwurf im Auge. Er näherte sich dem Sohne, bereit, bei dem ersten Worte sich an seine Brust zu werfen; Vivian aber, der nur die äußern Zeichen sah und sie nach seinen eigenen Empfindungen deutete, trat zurück, kreuzte die Arme über der Brust und sagte kalt:

»Verschone mich mit Deinen Vorwürfen – sie sind nutzlos. Ich wünschte diese Zusammenkunft nur, um Dir einen Vorschlag zu machen , rette Deinen Namen und entsage Deinem Sohne!«

Und nun, einzig auf die Erreichung seines Zweckes bedacht, sprach der unglückliche Jüngling seinen festen Entschluß aus, nie mit seinem Vater zu leben, nie seiner Gewalt sich zu unterwerfen, und seinen eigenen Weg fortzugehen, wohin dieser ihn auch führen möge. Nicht über einen einzigen der Umstände, die am meisten zu seinem Nachtheil erschienen, gab er die geringste Aufklärung vielleicht, weil er glaubte, seinem Ziele um so näher zu kommen, je schlimmer sein Vater von ihm dachte.

»Alles, was ich verlange,« sagte er, »ist, daß Du mir so viel gibst, um mich vor der Versuchung des Stehlens und vor der Nothwendigkeit des Verhungerns zu bewahren; ich meinerseits verspreche Dir dagegen, im Leben Dich nie zu belästigen und im Tode keine Schande über Dich zu bringen; was auch meine Uebelthaten sein mögen, sie werden niemals auf Dich zurückfallen, denn Du sollst den Missethäter nie erkennen! Der Name, den Du so hoch schätzest, soll geschont werden.«

Verletzt und entrüstet versuchte Roland keine Gegenvorstellung – in dem kalten Wesen des Sohnes lag etwas, das alle Hoffnung vernichtete, und wogegen sein Stolz sich empörte. Ein weicherer Mann hätte vielleicht Einwendungen gemacht, zu Bitten und Thränen seine Zuflucht genommen – doch, dies lag nicht in Rolands Natur. Er hatte nur die Wahl zwischen drei Uebeln – entweder seinem Sohne zu erklären: »Thor, ich befehle Dir, mir zu folgen«; oder zu sagen: »Elender. Du willst mich abschütteln, wie einen Fremden; so rufe ich Dir als ein Fremder zu – gehe hin, verhung're oder stehle, wie Du willst!« oder aber, betäubt von dem Schlage, sein stolzes Haupt zu beugen und zu sprechen: »Du verweigerst mir den kindlichen Gehorsam; Du willst todt für mich sein. Ich kann Dich vom Laster nicht abhalten; ich kann Dich nicht auf die Bahn der Tugend führen. Du willst mir den Namen verkaufen, den ich fleckenlos ererbt und fleckenlos getragen habe. Es sei! – nenne Deinen Preis!«

Und etwas dem letzten Aehnliches war es, was der Vater wählte.

Er hörte den Sohn an und schwieg lange; dann sagte er langsam: »Besinne Dich, ehe Du einen Entschluß fassest.«

»Ich habe mich lange besonnen – mein Entschluß ist gefaßt! Dies ist das letzte Mal, daß wir uns gegenüberstehen. Ich sehe einen ehrenvollen Weg zum Glücke vor mir, doch nur in der angedeuteten Weise kannst Du mir auf demselben behülflich sein. Weise mich jetzt zurück, und die Gelegenheit wird wahrscheinlich für uns beide niemals wiederkehren!«

Nun sagte Roland zu sich selbst: »Ich habe gedarbt und gespart für diesen Sohn; bleibt mir so viel, um ohne Schulden leben zu können, in eine Ecke zu kriechen und das Grab zu erwarten – was verlange ich mehr? Und je mehr ich geben kann, desto eher wird er von der schnöden Genossenschaft und den verzweifelten Wegen ablassen.«

Und so trat denn Roland von seinem kleinen Einkommen mehr als die Hälfte dem rebellischen Sohne ab.

Vivian wußte nicht, wie viel sein Vater besaß – er ahnte nicht, daß die ihm zugesagte Summe von jährlichen zweihundert Pfunden in schroffem Mißverhältniß zu Rolands Mitteln stand – gleichwohl war er betroffen von der Großmuth Desjenigen, dem er selbst das Recht gegeben hatte, zu sagen: »Ich nehme Dich bei Deinen Worten – ›nur so viel, um nicht Hungers zu sterben!‹«

Dann aber flüsterte ihm jener gehässige Cynismus, welchen er von schlechten Menschen und aus schlechten Büchern gelernt hatte, und den er ›Weltkenntniß‹ nannte, den Gedanken ein, ›er thut es nicht für mich, sondern nur für seinen Namen‹; und laut erwiederte er:

»Ich nehme diesen Vorschlag an. Hier ist die Adresse eines Geschäftsmannes, mit welchem der Deinige die Sache bereinigen kann. Lebe wohl, für immer.«

Bei diesen letzten Worten fuhr Roland zusammen und streckte gleich einem Blinden seine Arme in die Luft aus. Aber Vivian hatte bereits das Fenster aufgerissen (das Zimmer lag zu ebener Erde) und schwang sich auf den Sims.

»Lebe wohl,« wiederholte er, »und sage der Welt, ich sei todt.«

Er sprang hinab auf die Straße, und der Vater ließ die ausgestreckten Arme sinken, schlug sich auf die Brust und sagte:

»Wohlan denn, meine Aufgabe in der Welt der Lebenden ist vorüber! Ich will zurückkehren nach dem alten Thurme – die Ruine zu den Ruinen – und der Anblick der Gräber, die ich wenigstens vor Schande bewahrt habe, soll mich trösten für alles!«


Siebentes Kapitel.

Verkehrter Ehrgeiz. – Selbstsüchtige Leidenschaft. – Der Verstand verfinstert durch die Verdorbenheit des Herzens.

Vivians Entwürfe nahmen unter solchen Umständen einen guten Fortgang. Er besaß ein Einkommen, welches ihm gestattete, als Gentleman aufzutreten, und erfreute sich einer zwar bescheidenen, aber jedenfalls unabhängigen Stellung. Wir hatten London verlassen. Ein einziger Brief an mich mit dem Postzeichen der Stadt, in deren Nähe Obrist Vivian lebte, war hin reichend gewesen, mich in meinem Glauben an seine Herkunft und an seine Rückkehr zu seinen Verwandten zu bestärken. Er stellte sich nun Mr. Trevanion als denjenigen jungen Mann vor, dessen Feder ich im Dienste des Parlamentsmitgliedes beschäftigt hatte, und da er wußte, daß ich seinen Namen nie gegen Trevanion erwähnt – denn in Anbetracht seines scheinbaren Vertrauens gegen mich würde ich mich nicht für berechtigt gehalten haben, es ohne seine Erlaubniß zu thun – so nannte er sich Gower, welchen Namen er auf Gerathewohl aus einem alten Adreßkalender herausgriff, weil er mit den meisten Namen des höheren englischen Adels den Vortheil gemein hatte, sich nicht auf die Mitglieder einer einzelnen Familie zu beschränken, wie dies bei den alten Namen unbegüterter Gentlemen gewöhnlich der Fall ist.

Nachdem es ihm vermöge seiner eigenthümlichen Geschwindigkeit gelungen war, alles zu verbannen oder abzuschleifen, was Trevanion in seinem Benehmen mißfallen konnte, und zugleich das Interesse zu erregen, welches dieser edle Staatsmann zu jeder Zeit für das Talent empfand, gestand er eines Tages mit offener Freimüthigkeit und in Lady Ellinors Gegenwart – denn seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, wie leicht sich die weibliche Theilnahme für alles gewinnen läßt, was die Einbildungskraft anspricht oder außerhalb des gewöhnlichen Laufs der Dinge zu liegen scheint – daß er aus besondern Ursachen seine gegenwärtigen Verhältnisse geheim zu halten wünsche, jedoch seine Gründe zu der Befürchtung habe, ich möchte dieselben argwöhnen und aus mißverstandener Sorgfalt für sein Wohl seinen Verwandten Nachricht von seinem jetzigen Aufenthalte geben. Er bat daher Trevanion, wenn dieser Gelegenheit fände, mir zu schreiben, seiner nicht zu erwähnen, was jener, obwohl ungerne, versprach, da ihm Vivians freiwillig geschenktes Vertrauen die Gewährung seiner Bitte zur Pflicht zu machen schien. Weil jedoch Trevanion nichts mehr haßte, als Geheimnisse irgend einer Art, so hätte jene Mittheilung leicht verhängnißvoll für jeden weiteren Verkehr werden können, und Vivian würde unter so zweifelhaften Auspicien Ursprünglich das altrömische Verfahren, aus verschiedenen Vorzeichen ( omen) den göttlichen Willen zu deuten. Hier für die Vorzeichen selbst. wenig Aussicht auf Erreichung seines Wunsches, festen Fuß in Trevanions Hause zu fassen, gehabt haben, wäre ihm nicht ein Vorfall zu Hülfe gekommen, welcher ihm den Zutritt in dasselbe in einem Grade öffnete, daß er fast als zur Familie gehörig betrachtet wurde.

Vivian hatte stets eine Haarlocke, die er seiner Mutter auf dem Todtenbette abgeschnitten, wie ein Heiligthum aufbewahrt und, als er zu dem französischen Hofmeister kam, sein erstes Taschengeld darauf verwendet, ein goldenes Gehäuse zu kaufen, in welches er die Locke legte, und auf das er seinen und seiner Mutter Namen eingraben ließ. Auf allen seinen Wanderungen hatte er dieses Kleinod stets bei sich getragen, und selbst der bitterste Mangel, der größte Hunger konnte ihn nicht bewegen, sich davon zu trennen.

Eines Morgens nun zerriß das Band, an dem das Schlößchen hing, und als sein Auge auf die eingegrabenen Worte fiel, sagte ihm ein unbestimmtes Rechtsgefühl, daß die Uebereinkunft mit seinem Vater ihm die Verpflichtung auferlege, die Namen entfernen zu lassen. Er trug zu diesem Zwecke das Schlößchen zu einem Juwelier in Piccadilly und ertheilte die betreffende Weisung, ohne auf eine Dame zu achten, welche sich am andern Ende des Ladens befand. Das Geschmeide lag noch auf dem Ladentisch, als Vivian sich entfernte, und die Dame, welche nun näher trat, bemerkte es und las die Namen. Der eigenthümliche Ton der Stimme, welche sie schon früher gehört hatte, war ihr aufgefallen, und noch an demselben Tage erhielt Mr. Gower ein Billet von Lady Ellinor Trevanion mit der Bitte, sie zu besuchen.

Verwundert ging er hin. Lady Ellinor überreichte ihm sein Kleinod und sagte lächelnd: »Es gibt nur Einen Gentleman in der Welt, der sich De Caxton nennt – es müßte denn sein Sohn sein! Ah, nun sehe ich, weßhalb Sie sich vor meinem Freund Pisistratus zu verbergen wünschen. Doch, wie kömmt dies? Sollten Sie mit Ihrem Vater im Unfrieden leben? Schenken Sie mir Ihr Vertrauen, oder ich halte es für meine Pflicht, ihm zu schreiben.«

Vivians Ueberraschung war so groß, daß ihn seine ganze Verstellungskunst verließ. Es blieb ihm keine andere Wahl, als Lady Ellinor sein Geheimniß zu entdecken, und sie dringend zu bitten, es zu achten. Dann sprach er mit Bitterkeit von seines Vaters Abneigung gegen ihn und von seinem Entschlusse, die Ungerechtigkeit derselben durch die Stellung zu beweisen, die er sich selbst in der Welt erringen wolle. Jetzt halte ihn sein Vater für todt und freue sich vielleicht dieses Gedankens. Er wolle diesen Glauben nicht zerstören, bis er alle knabenhaften Verirrungen wieder gut gemacht und seine Familie gezwungen habe, stolz darauf zu sein, ihn zu den ihrigen zu zählen.

Obwohl Lady Ellinor an einen förmlichen Widerwillen von Seiten Rolands gegen seinen Sohn kaum glauben konnte, so zweifelte sie doch nicht, daß er hart und heftig gewesen und sich durch soldatische Begriffe von Unterwürfigkeit habe leiten lassen. Die Erzählung des jungen Mannes rührte sie, und sein Entschluß gefiel ihrem eigenen hohen Geiste; empfänglich für alles Romantische und jeden ehrgeizigen Wunsch mitempfindend, ging sie mit einer Lebhaftigkeit auf Vivians Entwürfe ein, welche ihn selbst in Erstaunen setzte. Sie war entzückt von dem Gedanken, das Glück des Sohnes zu befördern und ihn zuletzt selbst mit dem Vater auszusöhnen – dadurch würde jede Schuld getilgt, deren sie der Capitän aus alten Zeiten anklagen konnte.

Lady Ellinor übernahm es, Trevanion, vor welchem sie kein Geheimniß haben wollte, die Sache mitzutheilen und sich das Versprechen von ihm geben zu lassen, Schweigen gegen Jedermann darüber zu beobachten.

Und hier muß ich von dem chronologischen Gang meiner Erzählung ein wenig abschweifen, um dem Leser mitzutheilen, daß sich Lady Ellinor, als Roland sie auf ihre Bitte besuchte, durch sein ernstes, strenges Wesen abhalten ließ, Vivians Geheimniß aufzudecken. Bei ihrem ersten Versuche, ihn auszuforschen oder versöhnlich zu stimmen, hatte sie jedoch mit einigen Lobsprüchen auf Trevanions neuen Freund und Gehülfen, Mr. Gower, begonnen und dadurch Rolands Verdacht in Betreff der Identität seines Sohnes mit Mr. Gower geweckt – ein Verdacht, welcher ihm ein so lebhaftes Interesse an Miß Trevanions Rettung einflößte. So heldenmäßig suchte er aber seine Befürchtungen niederzukämpfen, daß er es nicht wagte, auf dem Wege diejenigen Fragen an mich zu richten, welche möglicher Weise die damals so nöthige Thatkraft hätten lähmen können.

»Denn,« sagte er zu meinem Vater, »ich fühlte, wie mir das Blut gegen die Schläfe stieg; und hätte ich Pisistratus aufgefordert, mir den jungen Mann zu beschreiben, und in seiner Schilderung meinen Sohn erkannt, so wären mir bei dem Gedanken, ich könnte zu spät kommen, um dem schändlichen Verrath Einhalt zu thun, die Sinne vergangen; – deßhalb wagte ich es nicht!«

Ich nehme den Faden meiner Erzählung wieder auf. Von dem Tage an, an welchem sich Vivian Lady Ellinor anvertraut hatte, war ihm der Weg zu seinen ehrgeizigsten Hoffnungen geebnet; und obgleich seine Kenntnisse nicht schulgerecht und vielseitig genug waren, um ihn zu der erledigten Secretärsstelle bei Trevanion zu befähigen, so genoß er, obwohl er nicht im Hause wohnte, dennoch fast dasselbe Vertrauen, welches mir geschenkt worden.

Unter Vivians hochfliegenden Planen stand derjenige, Hand und Herz der reihen Erbin zu gewinnen, oben an. Diese Hoffnung ward vernichtet, als kurze Zeit, nachdem er sich in ihres Vaters Hause eingeführt, Fanny's Verlobung mit dem jungen Lord Castleton stattfand. Allein er konnte Miß Trevanion nicht ungestraft sehen – (ach! wer mit einem noch freien Herzen hätte unempfindlich gegen solche Reize zu bleiben vermocht?) – er gestattete der Liebe – einer Liebe, wie seine abenteuerliche, halb gebildete, halb wilde Natur sie kannte – in seine Seele sich einzuschleichen und die Oberhand in derselben zu gewinnen, doch gab er keiner Hoffnung, keinem Entwurfe Raum, so lange der junge Lord lebte.

Mit dem Tode ihres Verlobten wurde Fanny wieder frei; jetzt begann er zu hoffen – doch noch nicht, Pläne zu entwerfen. Zufällig traf er mit Peacock zusammen; theilweise in Folge der Leichtfertigkeit, welche die ihm innewohnende Gutmüthigkeit begleitete, theilweise von der unbestimmten Vorstellung geleitet, daß der Mann ihm nützlich werden könnte, brachte Vivian seinen vormaligen Gefährten in Trevanions Dienste unter. Peacock kam Vivians Geheimniß bald auf die Spur, und von den Vortheilen geblendet, die eine Verbindung mit Miß Trevanion seinem Beschützer und somit in gewisser Beziehung auch ihm selbst bringen mußte, und zugleich eine Gelegenheit mit Freuden begrüßend, sein dramatisches Talent auf der Bühne des wirklichen Lebens zeigen zu können, begann er in kurzer Zeit, die seinen Schauspielen entnommene Lehre praktisch in Anwendung zu bringen und eine untergeordnete Intrigue zwischen Kammerjungfer und Kammerdiener anzuknüpfen, um den Entwürfen des Liebhabers zu dienen und ihren Erfolg zu sichern.

Wenn auch Vivian hin und wieder Gelegenheit fand, seine Bewunderung anzudeuten, so gab ihm doch Miß Trevanion keine, seinen Gefühlen Worte zu verleihen. Allein die Sanftheit ihres Wesens und die anmuthige Freundlichkeit, welche sie gleich einer Atmosphäre umgab und, ohne daß sie sich dessen bewußt war, aus dem harmlosen, mädchenhaften Wunsche, zu gefallen, entsprang, dienten dazu, ihn zu täuschen. Seine eigenen persönlichen Vorzüge waren so ungewöhnlich, und die Erfolge, welche er auf seinem Wanderleben errungen, hatten sein Vertrauen auf dieselben so sehr gesteigert, daß er nur auf eine passende Gelegenheit warten zu dürfen glaubte, um zu werben und zu gewinnen.

In diesem Zustande geistiger Trunkenheit nahm ihn Trevanion, welcher für seinen schottischen Secretär anderweitig gesorgt hatte, mit nach Lord N–'s Landsitze. Seine Wirthin gehörte zu jenen vornehmen Damen mittleren Alters, welche es lieben, junge Männer zu beschützen und vorwärts zu bringen, wobei sie die Dankbarkeit für ihre Herablassung als eine ihrer Schönheit dargebrachte Huldigung ansehen. Vivians einnehmende Gestalt und das Malerische in Erscheinung und Benehmen verfehlte nicht, Eindruck auf sie zu machen. Von Natur redselig und unbesonnen, beobachtete sie keine Zurückhaltung gegen einen Zögling, welchen, mit der vornehmen Welt bekannt zu machen, sie sich vorgenommen hatte. Nachdem sie von verschiedenen Dingen geredet, die den Gegenstand des Gesprächs in derselben bildeten, begann sie denn auch, von Fanny Trevanion zu sprechen; nach ihrer Ansicht hatte der jetzige Lord Castleton dieselbe stets bewundert, war aber erst nach dem Antritt seines Marquisats zu dem Entschluß gekommen, sich zu vermählen; oder aber hatte ihn seine genaue Kenntniß von Lady Ellinors Ehrgeiz zu der Annahme bewogen, der Marquis von Castleton dürfte einen Preis davontragen, welcher Sir Sedley Beaudesert verweigert worden wäre. Um ihre etwas gewagten Prophezeihungen zu bekräftigen, wiederholte sie, vielleicht nicht ohne einige Uebertreibung, mehrere Stellen aus Lord Castletons Erwiederung auf ihre eigenen Bemerkungen über diesen Gegenstand.

Vivians Besorgniß wurde nun in hohem Grad rege, und die ungezügelte Leidenschaft verfinsterte leicht einen seit langer Zeit verkehrten Verstand und ein gewöhnlich so stumpfes Gewissen. In jeder tiefen Liebe (mag sie rein oder unlauter sein) liegt ein Instinkt, der gewöhnlich ihre Eifersucht prophetisch macht. So hatte ich von Anfang an unter all' den glänzenden Müßiggängern, welche Fanny Trevanion umschwärmten, Sir Sedley Beaudesert, obwohl scheinbar ohne allen Grund, vorzugsweise gefürchtet. In Folge eben dieses Instinctes hatte sich auch Vivians dieselbe unbestimmte Eifersucht bemächtigt – in seinem Falle verbunden mit einem tiefen Widerwillen gegen den vermeintlichen Nebenbuhler, durch welchen seine Eigenliebe verwundet worden war. Denn obwohl es der sanften und milden Natur des Marquis ferne lag, hochmüthig und unhöflich zu sein, so hatte er doch Vivian niemals die rückhaltslose Freundlichkeit gezeigt, mit welcher er mich überschüttete, vielmehr sich von jeder nähern Bekanntschaft mit ihm ferne gehalten, während Vivians persönliche Eitelkeit durch jenen Saloneffect gekränkt wurde, den der sprüchwörtliche »Herzenseroberer« ohne alle Anstrengung erzielte – ein Effect, welcher die Jugend und die auffallendere, aber ungleich weniger anziehende Schönheit des abenteuerlichen Nebenbuhlers in den Schatten stellte. So vereinigte sich die Erbitterung gegen Lord Castleton mit Vivians Leidenschaft für Fanny, um in diesem kühnen und stürmischen Geiste alles Schlimme zu wecken, was Natur und Erziehung in ihn gelegt hatten.

Vivians Vertrauter, Peacock, entwarf aus seiner Bühnenerfahrung die Umrisse eines Anschlags,welchem meines Vetters schlauerer Verstand augenblicklich Gestalt und Farbe verlieh. Peacock hatte Miß Trevanions Kammermädchen bereits so weit gebracht, daß sie auf jede Maßregel einzugehen versprach, welche ihr den genannten Herrn als Gatten und eine lebenslängliche Versorgung als Belohnung sicherte. Zwei oder drei Briefe zwischen ihnen brachten die nöthigen Vorbereitungen in Ordnung. Ein Freund des vormaligen Komödianten, auf den man sich verlassen konnte, hatte kürzlich ein Wirthshaus an der Nordstraße übernommen, und in diesem sollte der Verabredung gemäß Vivian mit Miß Trevanion zusammentreffen, während Peacock es auf sich nahm, sie mit Hülfe der Zofe dorthin zu verlocken. Die einzige Schwierigkeit, welche alsdann noch zu überwinden blieb, und die wohl den meisten Menschen als die größte erschienen sein würde, bestand darin, Miß Trevanion zu einer schottischen Heirath D. h. eine Trauung durch den Schmied von Gretna Green in Südschottland an der Grenze zu England, wobei hier eine Zustimmung der Eltern bei Minderjährigen ab 14 bzw. 12 Jahren für Bräutigam und Braut nicht erforderlich war. zu bewegen. Allein Vivian erwartete alles von seiner Beredtsamkeit, List und Leidenschaft; er wollte den Hauptnachdruck auf die Absicht ihrer Eltern legen, ihre Jugend dem Manne zu verkaufen, auf dessen gewinnende Eigenschaften er doch gerade am eifersüchtigsten war (seltsamer Widerspruch!) – er hoffte, durch das Hervorheben der Ungleichheit der Jahre und durch den Versuch, die Schwächen seines Nebenbuhlers lächerlich zu machen, sowie durch Gemeinplätze, wie »die Schönheit dem Ehrgeiz geopfert« u. s. w. ihre Furcht zu wecken und sie dadurch zu seinen Gunsten zu stimmen.

Der Plan nahm seinen Fortgang und die Zeit der Ausführung kam heran. Peacock war von Trevanion entlassen worden, um sich, wie er sagte, zu einem kranken Verwandten zu begeben, und Vivian hatte unter dem Vorwand, die malerischen Punkte der Umgegend besuchen zu wollen, schon den Tag vorher um Urlaub gebeten und denselben erhalten. So gelang der Anschlag bis zu seiner Katastrophe.

»Ich brauche nicht zu fragen,« sagte ich, indem ich vergeblich meine Entrüstung zu verbergen suchte, »wie Miß Trevanion Deinen wahnsinnigen Vorschlag aufnahm!«

Vivians blasse Wange wurde noch blässer, er erwiederte jedoch nichts.

»Und wenn wir nicht gekommen wären – was würdest Du gethan haben? O, kannst Du es wagen, in den Abgrund von Schmach zu blicken, dem Du entronnen bist?«

»Ich kann und will dies nicht ertragen,« rief Vivian aufspringend. »Ich habe Dir mein Herz offen dargelegt, und es ist unedel, unmännlich, so in seinen Wunden zu wühlen. Du kannst moralisiren, Du kannst kalt darüber sprechen – aber ich – ich liebte!«

»Und glaubst Du,« erwiederte ich heftig – »glaubst Du, ich habe nicht auch geliebt – länger und besser geliebt, als Du – schwerere Kämpfe, dunklere Tage und trostlosere Nächte durchwacht, als Du – und doch –«

Vivian ergriff meinen Arm.

»Still!« rief er; »ist dies wirklich wahr? Ich glaubte, Du habest vielleicht eine leichte, vorübergehende Neigung zu Miß Trevanion gefaßt, sie jedoch sogleich gezügelt und unterdrückt. O nein, wenn Du wirklich geliebt hättest, wäre es Dir unmöglich gewesen, freiwillig auf alle Aussicht zu verzichten – das Haus zu verlassen, ihre Gegenwart zu fliehen! Nein – nein, das war nicht Liebe!«

»Es war Liebe! und ich flehe zum Himmel, er möge Dich eines Tages zu der Einsicht kommen lassen, wie wenig Deine Leidenschaft aus jenen Gefühlen entsprang, welche der wahren Liebe den erhabenen Charakter der Ehre und die Demuth der Religion verleihen! O Vetter, Vetter – was hätte mit Deinen seltenen Gaben aus Dir werden können! Was kann noch aus Dir werden, wenn Du die Schule der Reue und Sühne durchgemacht hast! Sprich jetzt nicht von Deiner Liebe, wie auch ich von der meinigen schweige. Die Liebe ist aus Deinem und meinem Leben gewichen. Kehre zurück zu Deinen früheren Gedanken, zu Deinem schwereren Unrecht – zu Deinem Vater – zu dem edlen Herzen, welches Du so leichtfertig zerrissen – zu der duldenden Liebe, die Du so wenig verstanden hast!«

Und nun fuhr ich mit aller Wärme der Erregung fort – zeigte ihm den wahren Charakter der Ehre und Rolands (denn beide waren gleichbedeutend!) – ich enthüllte vor seinem Blick die schlaflosen Nächte, die Hoffnung und die Qualen, deren Zeuge ich gewesen, und deren Anblick mir – der ich nicht sein Sohn war – Thränen entlockt hatte; ich zeigte ihm die Armuth und Entbehrung, welche sich der Vater bis zum letzten Augenblick auferlegt, damit der Sohn keine Entschuldigung für die Sünden haben möge, zu welchen der Mangel den Schwachen verleitet. Dies und noch viel mehr stellte ich ihm – wie ich glaube, mit dem ganzen Pathos tiefen Ernstes – Satz um Satz vor, keine Unterbrechung beachtend und jeden Widerspruch überwältigend; gleichsam Nagel um Nagel trieb ich die Wahrheit in das verstockte Herz ein, mit welchem zu ringen und zu kämpfen ich nicht müde wurde. Und endlich, endlich war das finstere, verbitterte, cynische Gemüth bezwungen, der Jüngling sank schluchzend zu meinen Füßen nieder und rief:

»Schone mich schone mich – ich sehe jetzt alles! Elender, der ich war!«


Achtes Kapitel.

Als ich Vivian verließ, wagte ich nicht, ihm Rolands augenblickliche Verzeihung zu versprechen; auch forderte ich ihn nicht auf, eine Zusammenkunft mit seinem Vater nachzusuchen, denn ich fühlte, daß für beides die Zeit noch nicht gekommen war. So begnügte ich mich denn mit dem bereits errungenen Siege und hoffte, daß Nachdenken, Einsamkeit und Leiden Vivian in seinen bessern Gefühlen bestärken und den Weg zu einem festen Entschlusse zur Umkehr anbahnen würden. Ich trennte mich von meinem Vetter mit dem Versprechen, ihn in der Herberge, wo er Wohnung genommen, aufsuchen und ihm über den weiteren Verlauf von Rolands Krankheit Nachricht geben zu wollen.

Bei meiner Rückkehr nach dem Gasthofe bemerkte ich mit Unruhe, daß ich meinen Onkel sehr lange allein gelassen hatte; als ich jedoch auf sein Zimmer kam, fand ich ihn zu meiner Ueberraschung aufgestanden und angekleidet; auch trugen seine Züge einen zwar erschöpften, aber heitern Ausdruck. Er frug mich nicht, wo ich gewesen – vielleicht aus Theilnahme an meinen Gefühlen über die Trennung von Miß Trevanion – vielleicht auch ahnte er, daß die Hingabe an jene Gefühle nicht meine ganze Zeit in Anspruch genommen hatte.

»Ich glaube Dich verstanden zu haben, Du wollest nach Austin schicken, oder habest es schon gethan – ist dem so?« frug er einfach.

»Ja, Onkel; aber ich bezeichnete ***** als den Ort des Zusammentreffens, weil es dem Thurme am nächsten liegt.«

»So laß uns unverzüglich dahin aufbrechen – der Wechsel wird mir gut thun. Ohne Zweifel ist hier bereits die Neugierde, die Vermuthung geweckt – o, welche Folter!« Und er preßte seine Hände krampfhaft zusammen. »Laß sogleich die Pferde einspannen!«

Ich verließ demgemäß das Zimmer und eilte, während die Pferde besorgt wurden, nach dem Platze zurück, wo ich Vivian verlassen hatte. Ich fand ihn noch in derselben Haltung, das Gesicht mit den Händen bedeckt, als wolle er das Sonnenlicht ausschließen. Nachdem ich ihm hastig mitgetheilt, daß es Roland besser gehe, und wir unverweilt abzureisen gedächten, bat ich ihn um seine Adresse in London, damit ich ihn dort auffinden könne. Er nannte mir dieselbe Wohnung, in welcher ich ihn so oft besucht hatte.

»Wenn dort kein Platz für mich ist,« sagte er, »so wird man Dir jedenfalls sagen, wo ich zu finden bin. Aber ich wäre gerne wieder da, wo ich war, ehe –« er ließ den Satz unvollendet. Ich drückte seine Hand und verließ ihn.


Neuntes Kapitel.

Einige Tage sind verflossen. Wir befinden uns in London; mein Vater ist bei uns, und Roland hat Austin die Erlaubniß gegeben, mir seine Geschichte mitzutheilen; ebenso hat er durch Austin alles erfahren, was mir nach Vivians Erzählung als Milderung der Vergangenheit und als Hoffnung erweckend für die Zukunft erschien. Austin hat seinen Bruder unaussprechlich beruhigt. Rolands gewöhnliches rauhes Wesen ist verschwunden; sein Blick ist sanft und seine Stimme gedämpft. Er spricht jedoch wenig und lächelt nie. Fragen richtet er keine an mich, spricht mit mir nie über seinen Sohn und erwähnt auch meiner Reise nach Australien mit keinem Wort; er frägt nicht, weßhalb sie aufgeschoben ist, und interessirt sich nicht, wie früher, für die Vorbereitungen dazu – es fehlt ihm zu allem der Muth.

Meine Abreise ist in der That verschoben, bis das nächste Schiff unter Segel geht. Vivian habe ich inzwischen zwei- oder dreimal gesehen, ohne daß jedoch das Ergebniß unserer Zusammenkünfte meinen Hoffnungen entsprochen hätte. Der Eindruck, den meine Vorstellungen auf ihn hervorgebracht, scheint mir großentheils schon wieder verwischt. Durch den Anblick der Hauptstadt mit ihrem Luxus und Reichthum, der Pracht und Gemächlichkeit, dem Wettstreit, der Armuth, dem Hunger und Elend – diesen schreienden Gegensätzen, welche in diesem Brennpunkt der Civilisation in unvermeidlicher Weise zusammentreffen – scheint der wilde, kampflustige Sinn, der verkehrte Ehrgeiz, die Feindseligkeit gegen die Welt, der Groll, die Verachtung, der Krieg gegen die Nebenmenschen und das rebellische Murren gegen den Himmel auf's Neue in ihm erwacht zu sein. Nur in Einem Punkte war er sich gleich geblieben – in seiner Reue über das gegen seinen Vater begangene Unrecht; hier war sein Herz noch weich, und in Folge davon faßte er einen Entschluß, in welchem ich mehr Ehrgefühl erkannte, als ich bis jetzt an ihm bemerkt hatte. Er vernichtete den Vertrag, der ihm auf Kosten der Bequemlichkeit seines Vaters ein Auskommen gesichert hatte.

»Wenigstens in dieser Beziehung« sagte er, »will ich ihm kein Unrecht mehr zufügen!«

Während jedoch, wie gesagt, in diesem Punkte seine Reue aufrichtig zu sein schien, war dies in Betreff seines Benehmens gegen Miß Trevanion nicht der Fall. Seine Zigeunernatur, der frühere Umgang mit leichtsinnigen Gefährten, die schlechten französischen Romane, die er gelesen, und seine theatralische Anschauung von Liebes-Intriguen und Bühnen-Komplotten – dies alles schien sich zwischen seinen Verstand und die richtige Erkenntniß des verrätherischen Betrugs zu legen, dessen er sich schuldig gemacht hatte. Er fühlte mehr Scham über die Entdeckung, als über das Vergehen, mehr Verzweiflung darüber, daß das Unternehmen mißlungen, als Dankbarkeit dafür, daß er dem Verbrechen entronnen. Mit Einem Wort, die Natur eines ganzen Lebens ließ sich nicht plötzlich umgestalten – wenigstens nicht durch einen so ungeübten Künstler, wie ich es war.

Nah einer dieser Zusammenkünfte schlich ich mich in das Zimmer, in welchem Austin mit Roland saß, ersah eine günstige Gelegenheit, da Roland, seine Träumereien abschüttelnd, mit jener ehernen Entschlossenheit in jedem Zuge seines Gesichtes nach der Bibel griff, und bat meinen Vater durch ein Zeichen, mir aus dem Gemache zu folgen.

Pisistratus. – »Ich habe meinen Vetter wieder gesehen, allein ich kann nicht mit ihm vorwärts kommen, wie ich möchte. Mein lieber Vater, Du mußt mit ihm sprechen.«

Mr. Caxton. – »Ich? – ja, gewiß, wenn ich irgendwie nützlich sein kann. Aber wird er auf mich hören?«

Pisistratus. – »Ich glaube wohl. Ein junger Mann nimmt oft von einem älteren das mit Achtung auf, was ihm von einem Altersgenossen als Anmaßung erscheint.«

Mr. Caxton. – »Du magst Recht haben. (Nachdenklich.) Doch Du schilderst mir den Geist dieses seltsamen Jünglings als ein Wrack; – in welchem Theile des morschen Gebälkes kann ich den Enterhaken befestigen? Hier scheinen die besten Stützen, auf welche wir uns am sichersten verlassen können, wenn wir einen Nebenmenschen retten wollen, zu fehlen – Religion, Ehre, die Erinnerungen der Jugend, die Bande der Heimat, kindlicher Gehorsam – ja, selbst die Erkenntniß des eigenen Besten im philosophischen Sinne des Wortes. Und dazu ich – ein bloßer Büchermann! Nein, lieber Sohn, ich verzweifle an einem guten Erfolg!«

Pisistratus. – »Nein, Du verzweifelst nicht – es muß Dir gelingen; denn was sollte sonst aus Onkel Roland werden? Siehst Du nicht, daß sein Herz beinahe bricht?«

Mr. Caxton. – »Hole mir meinen Hut; ich will gehen. Dieser Ismael soll gerettet werden – ich will nicht von ihm ablassen, bis er gerettet ist!«

Pisistratus (einige Minuten später, auf dem Wege nach Vivians Wohnung). – »Du frägst mich, an welche Stütze Du Dich halten kannst. Soll ich Dir eine gute und kräftige nennen, Vater?«

Mr. Caxton. – »Nun, diese wäre?«

Pisistratus. – »Die Liebe! Sein wildes Herz ist einer tiefen Liebe fähig! Er hing mit ganzer Seele an seiner Mutter; bei ihrem Namen füllen sich seine Augen mit Thränen, und lieber wäre er Hungers gestorben, als sich von dem Erinnerungszeichen an jene Liebe zu trennen. Der Glaube an seines Vaters Gleichgültigkeit oder Widerwillen war es, welcher ihn verhärtete und verstockte, und nur, wenn ich ihm davon spreche, wie sehr dieser Vater ihn liebte, gelingt es mir, seinen Stolz zu beugen und seine Leidenschaften zu zügeln. Du hast die Liebe als Stütze und Hülfe – verzweifelst Du noch immer?«

Mein Vater richtete seine unaussprechlich milden und liebevollen Augen auf mich und erwiederte in sanftem Tone: »Nein!«

Wir erreichten Vivians Wohnung und als wir an die Thüre klopften, bat mich mein Vater, nicht mit einzutreten, wenn Vivian zu Hause sei. »Du hast mir ein schweres Studium auferlegt,« sagte er; »und ich muß allein daran arbeiten.«

Vivian war zu Hause, und die Thüre schloß sich hinter meinem Vater. Sein Besuch währte mehrere Stunden.

In unserer Wohnung angelangt, traf ich zu meiner großen Ueberraschung Trevanion bei meinem Onkel. Er hatte uns aufgefunden, was sicherlich nicht leicht gewesen sein mochte; allein ein guter Antrieb war bei ihm nicht von jener schwächlichen Art, die beim Anblick einer Schwierigkeit zurückschreckt. Er war in der Absicht nach London gekommen, um uns aufzusuchen und uns zu danken.

Ich hätte nicht so viel Zartheit – so viel »Schönheit des Wohlwollens«, wie ich es nennen möchte – bei einem Manne erwartet, der in dem Drange des Geschäftslebens etwas derb und abstoßend geworden war. Kaum erkannte ich den ungeduldigen Trevanion in der zarten, beschwichtigenden Achtung, welche die Dankbarkeit eher andeutete, als aussprach und, ohne die von den Sohne erlittene Kränkung zu berühren, dem unglücklichen Vater zu verstehen gab, wie sehr er sich in seiner Schuld fühle. Von dieser Zartheit aber, welche zeigte, wie hoch seine edle Natur Trevanion über jene gröbere Denkweise erhob, die sich die eigentlichen und ausschließlichen Geschäftsmänner so oft aneignen – von dieser rührenden Zartheit schien Roland kaum etwas zu bemerken. Er saß vor der Asche des vernachlässigten Feuers, mit den Händen die Armlehnen seines Stuhles festhaltend und den Kopf auf die Brust gesenkt, während nur eine tiefe hektische Röthe auf seinen dunklen Wangen andeutete, daß er sich des Unterschiedes bewußt war zwischen einem gewöhnlichen Besuche und dem Manne, dessen Kind er hatte retten helfen. Der Staatsminister – das Mitglied der Auserwählten, welche über Stellen, Adelsdiplome, Befehlshaberstäbe und Ordensbänder zu verfügen haben – besaß nichts, was den zerschlagenen Geist des pensionirten Soldaten zu heilen vermocht hätte. Angesichts dieser Armuth, dieses Schmerzes und dieses Stolzes fühlte sich der Rathgeber der Krone machtlos. Erst, als Trevanion aufstand, um zu gehen, schien etwas, wie ein Verständniß der wohlwollenden Absicht des Besuches den alten Mann aus seiner Ruhe zu wecken und das Eis auf der Oberfläche zu brechen, denn er folgte Trevanion nach der Thüre, ergriff seine beiden Hände, drückte sie, wandte sich ab und kehrte wieder auf seinen Platz zurück. Trevanion winkte mir, und ich folgte ihm die Treppe hinab in ein kleines Wohnzimmer, in welchem sich Niemand befand.

Nach einigen Bemerkungen über Roland voll tiefen, theilnehmenden Gefühls und einigen kurzen, hastigen Worten über den Sohn – des Inhaltes, daß die Welt seinen verbrecherischen Versuch niemals erfahren werde – wandte sich Trevanion mit einer Wärme und Dringlichkeit an mich, welche mich in der That überraschte.

»Nach dem, was vorgegangen ist,« sagte er, kann ich nicht zugeben, daß Sie England verlassen. Ich will nicht glauben, daß es auch für Sie, wie für Ihren armen Onkel, nichts geben sollte, womit ich Ihnen vergelten könnte, was – doch nein, ich muß mich anders ausdrücken – bleiben Sie, und dienen Sie in der Heimath Ihrem Vaterlande; es ist dies meine und Ellinors Bitte! Und gewiß, bei allem, was mir zu Gebote steht, werde ich doch wohl etwas finden, was Ihnen zusagen dürfte.«

Ohne mich zum Worte kommen zu lassen, sprach nun Trevanion in so schmeichelhaften Ausdrücken von meinen Ansprüchen auf eine ehrenvolle Anstellung, welche mir sowohl um meiner Geburt, als um meiner Fähigkeiten willen gebühre, und schilderte mir das öffentliche Leben mit seinen Belohnungen und Auszeichnungen in so verlockender Weise, daß für den Augenblick wenigstens mein Herz lauter schlug und mein Athem schneller ging. Dennoch aber lag – war es ein unvernünftiger Stolz? – etwas Widerstrebendes und Demüthigendes für mich in dem Gedanken, mein künftiges Glück dem Vater Derjenigen zu verdanken, welche ich liebte, nach deren Hand ich aber nicht trachten durfte; ja, ich fühlte es fast wie eine persönliche Erniedrigung, in solcher Weise für einen Dienst bezahlt und für einen Verlust entschädigt werden zu sollen. Diese Gründe konnte ich jedoch nicht geltend machen, und in der That gelang es Trevanions Edelmuth und Beredtsamkeit, mich für den Moment so sehr zu überwältigen, daß ich nur meinen Dank und das Versprechen hervorstottern konnte, seinen Vorschlag überlegen und ihm alsdann wieder Nachricht geben zu wollen.

Mit dieser Zusage mußte er sich begnügen, und nachdem er mich angewiesen, meine Mittheilung nach seinem Lieblingslandsitze gelangen zu lassen, wohin er sich noch an demselben Tage begab, verließ er mich. Ich sah mich in dem ärmlichen Stübchen der bescheidenen Miethwohnung um, und Trevanions Worte blitzten wieder gleich einem goldenen Lichte vor mir auf. Dann schlich ich mich hinaus in's Freie und wanderte verwirrt und aufgeregt durch die mit einer dichten Menge gefüllten Straßen.


Zehntes Kapitel.

Es vergingen mehrere Tage, und an jedem derselben brachte mein Vater einen beträchtlichen Theil seiner Zeit in Vivians Wohnung zu. Ueber den erzielten Erfolg sprach er jedoch nicht und bat mich auch, keine Fragen an ihn zu richten, sowie meine Besuche bei meinem Vetter vorläufig einzustellen. Roland wußte oder errieth den Zweck, welchen sein Bruder verfolgte, denn ich bemerkte, daß sein Auge erglänzte und seine Wange sich röthete, so oft Austin geräuschlos sich entfernte. Endlich kam mein Vater eines Morgens, den Reisesack in der Hand, zu mir und sagte:

»Ich verlasse Euch auf eine oder zwei Wochen. Leiste Roland Gesellschaft, bis ich zurückkehre.«

»Gehst Du mit ihm?«

»Ja«

»Das ist ein gutes Zeihen.«

»Ich hoffe es; mehr kann ich für jetzt nicht sagen.«

Die Woche war noch nicht ganz zu Ende gegangen, als ich nachstehendes Schreiben von meinem Vater erhielt. Wie ernst seine Seele die freiwillig übernommene Aufgabe betrachtete, geht am deutlichsten daraus hervor, wie wenig sein Brief, in Vergleich mit seiner sonstigen Schreibart, von den Spitzfindigkeiten und Pedanterien enthielt (möge man mir diesen Ausdruck verzeihen, da er kaum richtig ist), welche meinen Vater in der Regel selbst bei großen Gemüthsbewegungen als Gelehrten kennzeichneten. Er schien hier seine Bücher ganz bei Seite gelassen und den Augen seines Schülers nur das menschliche Herz vorgeführt zu haben mit der Weisung: »Lies und verlerne!«

An Pisistratus Caxton.

»Mein lieber Sohn,

Es wäre nutzlos, all' die früheren Schwierigkeiten aufzuzählen, welche mir bei meinem Pflegbefohlenen entgegentraten, oder die verschiedenen Mittel anzuführen, die ich, von Deiner ganz richtigen Vermuthung geleitet, anwandte, um lange schlummernde, undeutliche Gefühle zu wecken und andere, welche nur zu frühzeitig mit beklagenswerther Bestimmtheit thätig geworden waren, zum Schweigen zu bringen. Das Uebel ist einfach dieses: hier haben wir die Kenntniß eines Mannes in allem, was böse, und die Unwissenheit eines Kindes in allem, was gut ist. Welch' wunderbarer Scharfsinn in blos weltlichen Dingen! welch' grobe, thörichte Stumpfheit in den einfachsten Grundsätzen von Recht und Unrecht! Das eine Mal biete ich meinen ganzen Scharfsinn auf, um in einem Streite über die verwickeltsten Geheimnisse des gesellschaftlichen Lebens mich durchzukämpfen, das andere Mal führe ich widerstrebende Finger durch das ABC-Buch der augenfälligsten Sittenlehre. Hieroglyphen hier – Krähenfüße dort! So lange aber noch ein Fünkchen Liebe in dem Menschen ist, so ist auch noch Natur und somit ein Anhaltspunkt vorhanden! Weg also mit dem Schutt, der sie bedeckt – Bahn gebrochen bis zu dieser Natur und von vorne angefangen – das ist die einzige Aussicht auf Erfolg!

Nun, ich habe mir allmälig Bahn gebrochen, indem ich geduldig wartete, bis das Herz, der Erleichterung sich freuend, all' seinen gefährlichen Stoff ausschüttete. Ich machte ihm keine Vorwürfe, nicht einmal Vorstellungen, ja, ich schien beinahe seine Denkungsweise zu theilen, bis ich ihn sokratisch dazu gebracht hatte, sich selbst zu tadeln. Als ich bemerkte, daß er mich nicht mehr fürchtete, sondern sich in meiner Gesellschaft erleichtert fühlte, schlug ich ihm vor, einen Ausflug mit mir zu machen, ohne ihm jedoch zu sagen, wohin.

Ich vermied so viel als möglich die Nordstraße (denn, wie Du Dir denken kannst, wünschte ich nicht, den Zündstoff an eine Mine von Erinnerungen zu legen, welche uns bis zum Sirius hätte hinaufblasen können), und setzte, wo dies nicht möglich war, die Reise bei Nacht fort. So gelangten wir bis in die Nähe des alten Thurmes, unter dessen Dach ich ihn jedoch nicht einführen wollte. Du kennst das kleine Wirthshaus, drei Meilen von den Forellenbach entfernt – dort nahmen wir unsern Aufenthalt.

Wir gingen zusammen nach dem Dorfe, wobei ich ihn sein Incognito beibehalten ließ, und traten in mehrere Bauernhütten. Ich lenkte das Gespräch auf Roland; Du weißt, mit welcher Verehrung die Leute an Deinem Onkel hängen, und kennst die Anekdoten über seine kühne, warmherzige Jugend und sein wohlwollendes, mildthätiges Alter, welche den beredten Lippen der Dankbarkeit so gerne entströmen! Ich ließ ihn mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören, wie Alle, die Roland kennen, ihn lieben und ehren – mit Ausnahme seines einzigen Sohnes!

Dann führte ich ihn zu den Ruinen (ließ ihn aber das Haus noch nicht betreten), denn diese Trümmer sind der Schlüssel zu Rolands' Charakter – sie erklären das Pathos seiner verzeihlichen Schwäche – seines Familienstolzes. Dort lernt man diesen Stolz von der anmaßenden Prahlerei der vom Glück Begünstigten zu unterscheiden, und fühlt, daß er nichts Anderes ist, als eine fromme Ehrfurcht gegen die Todten – ›der liebevolle Cultus des Grabes‹. Wir setzten uns auf einen Steinhaufen, und hier sagte ich ihn, was Roland in seiner Jugend gewesen, und wie er seinen Sohn in seinen Träumen gesehen hatte. Ich zeigte ihm die Gräber seiner Vorfahren und erklärte ihm, weßhalb sie in seines Vaters Augen geheiligt seien. Es war schon viel gewonnen, als die Sehnsucht in ihm aufstieg, die Heimath zu betreten, welche die seinige hätte sein sollen, und er aus eigenem Antrieb inne hielt und sagte: ›Nein, ich muß zuvor ihrer würdig werden.‹ Und nun würdest Du gelächelt haben, listiger Spötter, der Du bist, wenn Du gehört hättest, wie ich diesem schlauen, scharfsinnigen Jüngling auseinandersetzte, was wir einfachen Leute unter dem Worte Heimath verstehen – Vertrauen, Wahrheit, Heiligkeit, Glückseligkeit – für die Welt Das, was für den menschlichen Geist das Gewissen ist.

Alsdann sprach ich von seiner Schwester, welche er bisher kaum genannt hatte – um die er sich kaum zu bekümmern schien; der Gedanke an sie sollte unsere Bemühungen unterstützen und der Heimath einen weiteren Reiz verleihen. ›Und Du weißt,‹ sagte ich, ›daß es, wenn Roland sterben sollte, die Pflicht des Bruders würde, an des Vaters Stelle zu treten, ihre Unschuld zu schirmen, ihren Namen zu beschützen! Ein guter Name ist also doch etwas werth, und Dein Vater hat nicht so Unrecht, ihn hochzuschätzen. Du möchtest doch wohl, daß Deine Schwester stolz darauf wäre, den Deinigen als denjenigen ihres Bruders anzuerkennen!!‹

Während wir noch sprachen, kam Blanche plötzlich herangesprungen und eilte in meine Arme. Sie betrachtete ihn als einen Fremden; allein ich sah, daß seine Kniee zitterten. Als sie ihm sodann ihre Hand reichen wollte, zog ich sie zurück. War dies eine Grausamkeit? Er betrachtete es als eine solche; nachdem ich Blanche jedoch weggeschickt hatte, erwiederte ich auf seinen Vorwurf: ›Deine Schwester ist ein Theil der Heimath; wenn Du Dich derselben für würdig hältst, so gehe hin und mache Deine Ansprüche auf beide geltend; ich werde nichts dagegen einwenden.‹ – ›Sie hat die Augen meiner Mutter,‹ sagte er und trat auf die Seite. Ich überließ ihn seinen Gedanken inmitten der Ruinen und begab mich zu Deiner guten Mutter, um sie wegen Rolands zu beruhigen und ihr begreiflich zu machen, weßhalb ich noch nicht zurückkehren konnte.

Dieses kurze Zusammentreffen mit seiner Schwester hat einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Doch, ich komme nun auf etwas zu sprechen, was mir als die Hauptschwierigkeit erscheint. Er hat den ernstlichen Wunsch und Willen, seinen Namen zu Ehren zu bringen und die Heimath wieder zu gewinnen. So weit wäre alles gut. Allein er betrachtet den Ehrgeiz noch immer nur aus einem harten, weltlichen Gesichtspunkt; er glaubt, er brauche nur Macht und Reichthum sich zu erwerben und einige jener hohlen Treffer in der ›Großen Lotterie‹ zu gewinnen, welche wir oft leichter durch unsere Sünden, als durch unsere Tugenden erreichen. (Hier folgt eine lange Stelle aus dem Seneca, die ich als überflüssig auslasse.) Er versteht mich noch nicht einmal – oder wenn er es thut, so sieht er in mir blos den Bücherwurm – wenn ich ihm andeute, daß er arm, unbekannt, vom Glück verlassen und vernachlässigt – und dennoch unser Stolz sein könnte! Seiner Ansicht nach braucht er seinen Namen nur mit einem Firniß zu überkleiden, um alle Flecken aus demselben zu vertilgen. Glaube nicht, daß nur der zärtliche Vater aus mir spricht, wenn ich meine Hoffnung ausdrücke, Du werdest mir hier von Vortheil sein. Da wir bald wieder nach London zurückkehren, gedenke ich, morgen Dich und Deinen Ehrgeiz zur Sprache zu bringen; Du sollst alsdann das Ergebniß erfahren.

In diesem Augenblick (es ist Mitternacht vorüber) höre ich seinen Tritt in dem Zimmer über mir. Das Fenster oben wird aufgemacht – schon zum dritten Mal. Wollte Gott, er könnte die wahre Astrologie aus den Sternen lesen! Da sind sie – mild und helle leuchtend. Und ich suche diesen unsteten Kometen in der Harmonie des Himmels festzuhalten! Eine bessere Aufgabe, als diejenige der Astrologen und der Astronomen obendrein! Wer unter ihnen vermag dem ›Orion den Gürtel zu lösen?‹ Hiob 38, 32. – aber welchem von uns wäre es nicht von Gott gestattet, seinen Einfluß zu üben auf das Handeln und den Kreislauf der menschlichen Seele?

Dein Dich liebender Vater
A. E.«

   

Zwei Tage nach Empfang dieses Briefes erhielt ich den folgenden, und obwohl ich jene auf mich bezüglichen Stellen, welche der väterlichen Parteilichkeit zugeschrieben werden müssen, gerne unterdrücken möchte, so stehen sie doch in so nothwendigem Zusammenhang mit Vivian, daß mir keine andere Wahl bleibt, als die freundliche Nachsicht des Lesers für die zärtlichen Schmeicheleien des Vaters in Anspruch zu nehmen.

   

»Mein lieber Sohn,

Ich habe mir nicht zu viel von der Wirkung versprochen, welche Deine einfache Geschichte auf Deinen Vetter hervorbringen würde. Ohne irgend einen Gegensatz mit seinem eigenen Benehmen hervorzuheben, schilderte ich ihm die Scene, da Du in dem Kampfe zwischen Pflicht und Liebe Trost und Hülfe in unserer Theilnahme suchtest – wie Roland Dir den Rath gab, Trevanion alles zu sagen – wie Du bei jenem Schmerze, den ein jugendliches Herz kaum ertragen zu können vermeint, der Wahrheit treu bliebst, und die Wahrheit Dich glücklich vor dem Schiffbruch bewahrte. Ich sprach von Deinem stummen, männlichen Kämpfen – von Deinem Entschlusse, einer selbstsüchtigen Leidenschaft nicht zu gestatten, Dich für die Aufgabe jener geistigen Probezeit untüchtig zu machen, welche wir Leben nennen. Ich zeigte ihm, wie Deine Sorge für unser Wohl, Deine Theilnahme an unsern Interessen sich gleich blieb – wie Dein Lächeln uns über die im Geheimen vergossenen Thränen täuschen sollte! O mein Sohn, mein Sohn! glaube doch nicht, daß ich in jenen Zeiten nicht mit Dir fühlte und für Dich betete! –

Während meine eigene Bewegung die harte Rinde seines Herzens erweichte, ging ich von Deiner Liebe zu Deinem Ehrgeiz über. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß auch Dir jene Rastlosigkeit nicht fremd geblieben, welche ein Eigenthum junger, feuriger Naturen ist, daß auch Du es kanntest, jenes Ringen und Streben nach Glück und Erfolg. Allein ich zeigte ihm diesen Ehrgeiz in seinem wahren Lichte – nicht als das Verlangen eines selbstsüchtigen Geistes, mehr als Andere zu sein, einige Stufen höher auf der gesellschaftlichen Leiter sich zu erheben nur um des Vergnügens willen, auf die am Fuße Stehenden herabzublicken, sondern als die wärmere Sehnsucht eines edlen Herzens. Dein Ehrgeiz trachtete darnach, die Verluste Deines Vaters wieder gut zu machen – sogar seiner Schwäche in seinem eiteln Verlangen nach Ruhm zu dienen – Deinem Onkel zu ersetzen, was er in seinem natürlichen Erben verloren hatte – Deine Erfolge an eine nützliche Thätigkeit, Deine Interessen an diejenigen Deiner Familie zu knüpfen und Deinen Lohn in dem stolzen, dankbaren Lächeln Derer zu suchen, welche Du liebst. Das war Dein Ehrgeiz, o mein liebevoller Anachronismus! Und als ich die Skizze mit den Worten schloß: ›Verzeihe mir, Du weißt nicht, welches Entzücken ein Vater fühlt, der, im Begriffe, seinen Sohn hinaus in die Welt zu senden, so von ihm sprechen und denken kann! Doch dies ist, wie Du siehst, nicht Deine Art von Ehrgeiz. Laß uns vom Gelderwerben reden und von dem Glücke, mit vier Pferden durch diese böse Welt zu fahren‹ – da versank Dein Vetter in ein tiefes Träumen, und als er aus demselben erwachte, war es gleich dem Erwachen der Erde nach einer warmen Frühlingsnacht – die kahlen Bäume hatten Knospen hervorgetrieben!

Einige Zeit nachher überraschte er mich mit der Bitte, ich möchte ihm für den Fall der Einwilligung seines Vaters erlauben, Dich nach Australien zu begleiten. Die einzige Antwort, die ich ihm bis jetzt gegeben, bestand in der Frage: ›Prüfe Dich selbst, ob ich darf. Ich kann nicht wünschen, daß Pisistratus anders werde, als er ist, und wenn Du nicht mit allen seinen Grundsätzen und Bestrebungen übereinstimmst – darf ich ihn der Gefahr aussetzen, von Deiner Weltkenntniß und Deinem Ehrgeiz angesteckt zu werden?‹ Er war betroffen und machte keinen Versuch, zu antworten.

Nun ist aber das gegen Deinen Vetter ausgesprochene Bedenken mein vollkommener Ernst, Pisistratus. In der That, nur mit den einfachsten Wahrheiten, nicht mit kunstgerechten Beweisführungen kann ich etwas ausrichten gegen diesen ungelehrten Scythen Skythen: Reiternomadenvölker der Antike im heutigen Südrussland., der frisch von den Steppen herkömmt, um mich in dem Portikus Säulenhalle der Antike; entspricht der griechischen ›Stoa‹ und verweist als offene Wandelhalle auf das Philosophieren im Altertum (Philosophenschule der Peripatetiker, deren Unterricht während des Umherwandelns in einer Säulenhalle stattfand). zu verwirren.

Auf der andern Seite – was soll in der alten Welt aus ihm werden? In seinem Alter und bei seiner Thatkraft wäre es unmöglich, ihn mit uns in den Cumberländer Ruinen einzusperren; Ueberdruß und Unzufriedenheit würden bald alles wieder vernichten, was wir je erreichen könnten. Die Bücher sind ihm keine Hülfsquelle, und werden es, fürchte ich, niemals sein. Aber ihn hinauszuschicken in eine der überfüllten Berufsklassen – unter all' die ›Ungleichheiten des gesellschaftlichen Lebens,‹ an deren rauhen Steinen er ohnehin sein Herz fortwährend reibt – ihn unter den Versuchungen, welche ihm am gefährlichsten sind, dahintreiben zu lassen – dies möchte wohl ein zu gewagter Versuch für eine so unvollständige Bekehrung sein. In der neuen Welt würde seiner Thatkraft ohne Zweifel ein geeigneteres Feld offen stehen, und selbst die abenteuerlichen, unsteten Gewohnheiten seiner Kindheit dürften dort nicht ohne Vortheil für ihn sein. Jene Klagen über die Ungleichheiten in der civilisirten Welt finden, wie ich vermuthe, eine weit einfachere, wenn auch derbere Beantwortung von Seiten des Staatsmannes, als von Seiten des Stoikers.

›Sie gefallen Dir nicht, und Du findest es schwer, Dich ihnen zu unterwerfen,‹ sagt der Staatsmann; ›allein sie sind die Gesetze eines civilisirten Zustandes, und Du kannst nichts an ihnen ändern. Weisere Männer, als Du, haben schon den Versuch gemacht, und es ist ihnen nicht gelungen, obwohl sie nichts unterließen, um auf der Erde das Unterste zu oberst zu kehren! Gut, aber die Welt ist weit – versuche es mit einem weniger civilisirten Zustand. Die Ungleichheiten der alten Welt verschwinden in der neuen. Auswanderung ist die Antwort der Natur auf den rebellischen Schrei gegen die Kunst.‹

So würde der Staatsmann sagen, und ach, selbst in Deinem Falle, mein Sohn, fand ich keine Erwiederung auf dieses Raisonnement! So gebe ich denn zu, daß Australien das beste Sicherheitsmittel für die Unzufriedenheit und das Streben Deines Vetters sein dürfte; ebenso erkenne ich aber auch eine andere Wahrheit an – daß es nämlich ›einem ehrlichen Manne nicht gestattet ist, sich um Anderer willen zu verderben,‹ welcher Grundsatz Jean Jaques' Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), bedeutender Genfer Philosoph und Schriftsteller der Aufklärung, der mit seinem »Gesellschaftsvertrag« den Verlauf der Französischen Revolution ganz wesentlich beeinflusste. fast der einzige ist, den ich mit Freuden unterschreibe! Fühlst Du Dich stark genug, allen Einflüssen eines solchen Gefährten zu widerstehen – stark genug, neben der eigenen auch seine Last zu tragen – ja, auch stark und wachsam genug, diejenigen, deren Führung Du übernommen, und deren Geschick Dir anvertraut ist, vor eben jenen schädlichen Einflüssen zu bewahren? Besinne Dich wohl und überlege die Sache reiflich, denn Du darfst Dich dabei nicht von einem edelmüthigen Antrieb allein leiten lassen.

Ich glaube, daß sich Dein Vetter jetzt mit dem aufrichtigen Verlangen nach Besserung unter Deine Obhut begeben würde; allein zwischen aufrichtigem Verlangen und beharrlicher Ausführung liegt ein langer und trauriger Zwischenraum – selbst für die Besten unter uns. Wäre es nicht um Rolands willen, und hätte ich nur einen Gran weniger Vertrauen zu Dir, so könnte ich keinen Augenblick daran denken, eine so große Verantwortung auf Deine jungen Schultern zu legen. Für einen ernsten Charakter ist jedoch jede neue Verantwortung eine neue Stütze der Tugend, und alles, was ich für jetzt von Dir verlange, ist, zu bedenken, daß die Pflicht gebietet, vor Uebernahme einer so großen und feierlichen Aufgabe die eigenen Kräfte auf das Sorgfältigste zu prüfen.

In zwei Tagen werden wir in London sein. – Mit ängstlicher, zärtlicher Liebe, mein Anachronismus,

Dein treuer Vater
A. E.«

   

Ich war in meinem Zimmer, als ich diesen Brief erhielt; nachdem ich ihn gelesen, blickte ich auf und sah Roland mir gegenüber stehen.

»Er ist von Austin,« sagte er, schwieg einen Augenblick und fügte dann in einem fast demüthigen Tone hinzu: »Darf ich ihn lesen – und kann ich es wagen?«

Ich legte den Brief in seine Hände und trat auf die Seite, damit er sich während des Lesens nicht von mir beobachtet glauben möge. Ein tiefer, ängstlicher, aber nicht verzagter Seufzer verrieth mir, daß er zu Ende gekommen. Ich wandte mich um, und unsere Augen begegneten sich; in Rolands Blick lag etwas Fragendes – ich möchte sagen, etwas Flehendes, was ich sogleich verstand.

»O ja, Onkel,« sagte ich lächelnd, »ich habe mir alles überlegt und hege keine Furcht in Betreff des Erfolgs. Schon ehe mein Vater schrieb, war es mein heimlicher Wunsch gewesen. Und was unsere übrigen Begleiter betrifft, so würde schon ihre einfache Natur alle jene Sophistereien verschmähen, welche – doch, er ist bereits zur Hälfte von diesen geheilt. Laß ihn mit mir gehen, und wenn er zurückkehrt, wird er würdig sein, neben seiner Schwester Blanche seinen Platz in Deinem Herzen einzunehmen. Ich fühle es – ja, ich verspreche es Dir! Und fürchte nichts für mich! diese übernommene Aufgabe wird für mich selbst ein wahrer Talisman sein. Ich werde jeden Fehltritt vermeiden, den ich sonst vielleicht begehen würde, um ihm kein schlimmes Beispiel zu geben.«

Ich weiß, daß wir in der Jugend und in dem Wahn der ersten Leidenschaft sehr geneigt sind, die Liebe und den Besitz des geliebten Gegenstandes für die einzige Glückseligkeit zu halten. Als mich jedoch mein Onkel in seine Arme schloß und mich die Hoffnung seines Alters und die Stütze seines Hauses nannte, während die Musik von meines Vaters Lob noch in meinem Herzen nachhallte – da fühlte ich ein größeres und stolzeres Glück, als wenn Trevanion Fanny's Hand in die meinige gelegt und gesagt hätte: »Sie ist Dein.«

Und nun waren die Würfel gefallen – der Entschluß war gefaßt. Es kostete mich keine Ueberwindung, an Trevanion zu schreiben, um seine Anerbietungen zurückzuweisen. Auch war das Opfer, das ich brachte, nicht so groß, als es Manchem erscheinen mag, denn – abgesehen von meinem natürlichen Stolze, welcher sich schon früher gegen die Annahme der genannten Anerbietungen gesträubt hatte – war ich bemüht gewesen, das Leben von einen andern Gesichtspunkte aus betrachten zu lernen, als Diejenigen zu thun pflegen, deren Ehrgeiz nur auf die irdischen Gottheiten – Macht und Rang – sich beschränkt. War ich nicht selbst hinter den Coulissen gewesen und hatte gesehen, wie Trevanion dem Ringen nach Gewalt jede Freude, seinen ganzen Frieden geopfert, und wie der Rang selbst einem Manne von Lord Castletons feinen Sitten und liebenswürdigen Eigenschaften kein Glück zu geben vermocht hatte? Und doch schienen diese beiden Charaktere so gut – der erstere für die Macht, der letztere für den Rang zu passen!

Es ist wunderbar, mit welcher Freigebigkeit die Vorsehung Ersatz leistet für Fortuna's parteiische Spenden. Unabhängigkeit oder das kräftige Ringen nach derselben, die Familienbande mit ihren Hoffnungen und Belohnungen, ein Leben, das durch die Kunst nur um so empfänglicher wird für die Natur, und dessen Freuden rein und gesund sind – ein Leben, in welchem die sittlichen Fähigkeiten sich harmonisch mit den geistigen erweitern, und das Herz Frieden hält mit dem Verstande – ist dies ein so wenig wünschenswerthes Loos, daß der Ehrgeiz nicht darnach trachten sollte? und ist es so schwer zu erreichen?

»Erkenne Dich,« sagte die alte – »Bessere Dich,« sagt die neue Philosophie. Die große Aufgabe des Erdenpilgers besteht nicht darin, alle seine Gaben und Leidenschaften an die äußerlichen Dinge zu verschwenden, welche er zurücklassen muß – nur, was er in seinem Innern ausbildet, kann er mit hinübernehmen in den ewigen Fortschritt. Wir sind hienieden nichts anderes, als Schulknaben, deren Leben beginnt wo die Schule endet; und die Kämpfe, die wir mit unsern Nebenbuhlern ausgefochten, die Spielsachen, die wir mit unsern Gefährten getheilt, und die Namen, die wir hoch oder nieder, an den Wänden oder über unsern Pulten eingeschnitten haben – werden sie uns dereinst viel nützen können? Wenn neue Geschicke auf uns eindringen, was sind sie dann mehr, als flüchtige Erinnerungen, die mit einem Lächeln oder einem Seufzer an uns vorübergleiten? Lieber Leser, blicke zurück auf Deine Schultage und antworte mir.


Elftes Kapitel.

Zwei Wochen sind seit dem vorhergehenden Kapitel verflossen; wir haben für lange Jahre zum letzten Mal auf englischem Boden geschlafen. Es ist Nacht, und Vivian befindet sich bei seinem Vater. Sie sind schon über eine Stunde beisammen, und mein Vater und ich wollen sie nicht stören. Aber die Glocke schlägt – es ist spät – das Schiff geht diese Nacht unter Segel – wir sollten an Bord sein. Und wie wir beide unten stehen, wird die Thüre des oberen Zimmers geöffnet, und ein schwerer Tritt kommt die Treppe herunter. Der Vater stützt sich auf den Arm des Sohnes – wie schüchtern und ängstlich leitet der Sohn die unsichern Schritte! Und nun fällt das Licht auf beider Züge; Thränen glänzen auf Vivians Wange, aber Rolands Antlitz scheint ruhig und glücklich zu sein. Glücklich! – da er auf dem Punkte steht, vielleicht für immer von seinem Sohne getrennt zu werden? Ja, glücklich; denn er hat zum ersten Mal einen Sohn gefunden und denkt nicht an Trennung und Abwesenheit und an die Möglichkeit des Todes, sondern ist voll Dank gegen die göttliche Gnade und erfüllt von himmlischer Hoffnung. Wenn Du Dich wunderst, daß Roland in einer solchen Stunde glücklich sein kann, so habe ich vergebens gesucht, ihn vor Dir athmen, leben und wandeln zu lassen!


Wir sind an Bord. Unser Gepäck war alles vorausgeschickt worden, und ich hatte Zeit gehabt, mit Hülfe eines Zimmermanns für Vivian, Guy Bolding und mich im Kielraume Kajüten aufzuschlagen; denn da wir dachten, wir könnten nicht bald genug die europäischen Ansprüche bei Seite lassen und »den feinen Gentleman abstreifen,« wie Trevanion empfohlen, so hatten wir unsere Plätze im Zwischendeck Ein zwischen dem Hauptdeck und der Tankdecke liegendes Deck eines Frachtschiffs. In Passagierschiffen ist es das untere, komfortlose Fahrgastdeck zu niedrigem Preis. genommen, was nicht nur unsern Finanzen sehr zu statten kam, sondern wodurch uns auch die Annehmlichkeit zu Theil wurde, unter uns zu sein und die Cumberländer Gefährten zugleich als unsere Freunde und Diener um uns zu haben.

Wir sind an Bord; wir haben einen letzten langen Blick auf Diejenigen geworfen, welche wir verlassen, und stehen an einander gelehnt auf dem Verdeck. Wir sind an Bord, und die Lichter, nah und fern, blinken von der endlosen Stadt her, während die Sterne hell und glänzend, wie auf die ersten Seefahrer des Alterthums, zu uns niederschauen. Seltsames Getöse, rauhe Stimmen, das Knarren des Tauwerks, da und dort das Schluchzen der Weiber und dazwischen die Flüche der Männer. Jetzt das Schwanken und Heben des Fahrzeugs – das traurige Gefühl der Verbannung, wenn das Schiff sich durch die Wellen hinbewegt. Und noch immer stehen wir an derselben Stelle, blicken zurück und lauschen – schweigend an einander gelehnt.

Die Nacht rückt vor, die Stadt verschwindet – kein Strahl von ihren Myriaden Lichter dringt mehr zu uns. Der Strom wird breiter und breiter. Wie kalt kömmt der Wind – ist das die Kühle der See? Die Sterne erbleichen – der Mond ist untergegangen. Und nun, wie öde das Wasser in dem trostlosen Grau der Dämmerung! Ein Schauer durchrieselt uns; wir blicken uns an, murmeln etwas, was jedoch nicht den Gedanken ausdrückt, der unsern Herzen am nächsten liegt, und suchen unsere Lagerstätten auf – wiewohl in der festen Ueberzeugung, nicht schlafen zu können. Allein freundlich und mild senkt sich der Schlummer auf uns nieder. Das Meer wiegt die Verbannten ein, wie an einer treuen Mutterbrust!



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