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Das weiß ich nicht,« sagte mein Vater.
Und was weiß mein Vater nicht? Er weiß nicht, daß »Glück unseres Daseins Ziel und Ende ist.«
Und wie kommt mein Vater zu einer so skeptischen Erwiederung auf eine so wenig bestrittene Behauptung?
Der Leser möge wissen, daß Mr. Trevanion seit einer halben Stunde in unserm kleinen Wohnzimmer sitzt. Er hat von meiner Mutter schönen Hand zwei Tassen Thee empfangen – er fühlt sich heimisch bei uns.
Mit Mr. Trevanion ist noch ein anderer alter Freund meines Vaters gekommen, den er seit seinem Abgang von der Universität nicht mehr gesehen hat – Sir Sedley Beaudesert.
Es ist ein warmer Abend – neun Uhr vorüber – ein Abend zwischen dem scheidenden Sommer und dem nahenden Herbste. Die Fenster sind offen – der Balcon vor denselben ist, Dank der Sorgfalt meiner Mutter, mit Blumen angefüllt – die Luft, obgleich wir in London sind, ist frisch und angenehm – die Straße ruhig, ausgenommen, daß hin und wieder eine Equipage oder ein Miethcabriolet rasch vorüberfährt – einige Fußgänger kehren geräuschlos nach Hause zurück. Wir befinden uns auf classischem Boden – in der Nähe des alten, ehrwürdigen Museums, jener düstern, klösterlichen Gebäudemasse mit ihren Schätzen von Gelehrsamkeit – und die Ruhe eines Tempels scheint die Umgebung zu heiligen. Capitän Roland sitzt am Kamine, obgleich kein Feuer darin brennt, und beschattet sein Gesicht mit einem Handschirm; mein Vater und Mr. Trevanion haben in der Mitte des Zimmers ihre Stühle zusammengerückt; Sir Sedley Beaudesert sitzt an die Wand gelehnt in der Nähe des Fensters hinter meiner Mutter, welche noch hübscher und vergnügter, als gewöhnlich, aussieht, weil ihr Austin von seinen alten Freunden umgeben ist; und ich endlich, den Ellenbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Hand gestützt, betrachte Sir Sedley Beaudesert mit großer Bewunderung.
Seltenes Musterbild eines rasch dahinschwindenden Schlages! – Musterbild des echten, feinen Gentleman, ehe das Wort »Dandy« bekannt war, und der Ausdruck »Exquisit« zum Substantivum wurde – laß' mich hier inne halten, um Dich zu schildern! Sir Sedley Beaudesert war ein Altersgenosse Trevanion's und meines Vaters, sah aber, ohne jung scheinen zu wollen, jünger aus. Anzug, Ton, Aussehen, Benehmen – alles war jung, jedoch mit einer gewissen Würde gepaart, die nicht der Jugend angehörte. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren hatte er erreicht, was den Ruhm eines französischen Marquis vom alten Regime Im Original: » old regime«. Gemeint ist das frz. » ancien regime«, ein Epochenbegriff für das absolutistische Frankreich vor der Revolution von 1789. ausgemacht haben würde – er war »der bezauberndste Mann des Tages«, der Liebling seines eigenen, wie des schönen Geschlechts. Ich halte es für einen Irrthum, anzunehmen, es bedürfe keines Talentes, um »in die Mode« zu kommen; jedenfalls war Sir Sedley »in der Mode« und hatte Talent. Er war viel gereist, hatte viel gelesen – hauptsächlich Memoiren, geschichtliche und schönwissenschaftliche Werke – machte anmuthige Verse, in welchen sich eine originelle Leichtigkeit des Witzes und höfische Feinheit aussprach, entzückte durch seine Unterhaltung, war höflich gegen Jedermann, zeigte in seinem Benehmen die feinste Bildung, in seinem Lebenswandel Tapferkeit und Ehrenhaftigkeit und konnte zwar in Worten schmeicheln, blieb jedoch in seinen Handlungen immer aufrichtig.
Sir Sedley Beaudesert hatte sich nie verheirathet. Welches auch seine Jahre sein mochten, so war er in seinem Aeußeren noch jung genug, um aus Liebe gewählt werden zu können. Er war vornehm, er war reich, er war, wie bereits erwähnt, allgemein beliebt. Und dennoch lag auf seinen schönen Zügen ein Ausdruck von Schwermuth, auf der glatten Stirne, welche nicht die Furchen des Ehrgeizes, noch die Last des Studiums kannte, ein Schatten unverkennbaren Grames.
»Das weiß ich nicht,« sagte mein Vater. »Ich habe noch nie in meinem Leben einen Menschen gefunden, der das Glück zu seinem Ziel und Ende gemacht hätte. Der Eine sucht sich ein Vermögen zu erwerben, der Andere das seinige hinauszubringen – dem Einen ist's um eine Stelle, dem Andern um einen Namen zu thun; sie Alle wissen aber recht wohl, daß es nicht das Glück ist, wonach sie ringen. Kein Utilitarier hat sich jemals vom Eigennutz leiten lassen, wenn sich der arme Mann hinsetzte, um seine unpopulären Einfälle über die Allgemeinheit des Eigennutzes niederzuschreiben. Und was jene merkwürdige Unterscheidung zwischen niedrigem und aufgeklärtem Eigennutz betrifft, so bin ich der Ansicht, daß wir uns, je aufgeklärter er ist, um so weniger von ihm leiten lassen. Sagt dem jungen Manne, der soeben ein schönes Buch geschrieben oder eine schöne Rede gehalten hat, er werde um nichts glücklicher sein, wenn er die Berühmtheit eines Milton oder die Macht eines Pitt erringe – sagt ihm weiter, er möge, um glücklich zu sein, Farmer werden, auf dem Lande leben und in solcher Weise Geist und andere Beschwerden bis zu seinem Ende von sich ferne halten, so wird er Euch unverhohlen erwiedern: ›Ich weiß dieses alles sehr gut, allein es handelt sich nicht darum, ob ich glücklich sein werde oder nicht; mein Streben geht allein dahin, ein großer Schriftsteller oder Premierminister zu werden.‹ So ist es bei allen thätigen Söhnen der Erde. Vorwärtsdrängen – das ist das Gesetz der Natur. Und wir können eben so wenig zu Menschen und Völkern, als zu unsern Kindern, sagen: ›Bleibt ruhig sitzen, damit sich Eure Schuhe nicht abnützen!‹«
»Wenn ich Dir also sage, daß ich nicht glücklich bin,« versetzte Mr. Trevanion, »so ist Deine einzige Antwort, daß ich hierin einem unabänderlichen Gesetze folge.«
»Nein! Ich sage nicht, es sei ein unabänderliches Gesetz, daß der Mensch nicht glücklich sei; wohl aber ist es ein unabänderliches Gesetz, daß der Mensch, vielleicht unbewußt oder sogar gegen seinen Willen, für etwas höheres, als sein eigenes Glück, leben muß. Wie egoistisch er auch sein mag, so kann er doch nicht in sich selbst oder für sich selbst nur leben. Jeder seiner Wünsche bringt ihn mit Andern in Verbindung. Der Mensch ist keine Maschine – er ist ein Theil derselben.«
»Du hast Recht, Bruder – der Soldat ist Soldat, aber keine Armee,« bemerkte Onkel Roland.
»Das Leben ist ein Drama, kein Monolog,« fuhr mein Vater fort. »Drama stammt von einem griechischen Zeitwort ab, das thun bedeutet. Jeder Schauspieler im Drama hat etwas zu thun, was zum Fortschritt des Ganzen beiträgt – das ist der Zweck, zu welchem der Autor ihn erschaffen hat. Führt Eure Rollen durch und laßt das große Spiel seinen Fortgang nehmen.«
»Ah!« sagte Trevanion rasch, »aber eben in diesem Durchführen liegt die Schwierigkeit. Jeder Mitspielende hilft die Katastrophe herbeiführen, und doch muß er in seiner Rolle fortfahren, ohne zu wissen, wie alles enden wird. Ist es ein Trauerspiel oder ein Lustspiel, bei welchen, er mitwirkt? Hört mich – ich will Euch das Geheimniß meines öffentlichen Lebens mittheilen – das Geheimniß, welches sein Fehlschlagen erklärt (denn ich habe meinen Weg verfehlt, trotz meiner Stellung) – es mangelt mir die Ueberzeugung!«
»Ganz richtig,« erwiederte mein Vater lächelnd, »weil jede Frage zwei Seiten hat, und Du beide in's Auge fassest.«
»Du hast es ausgesprochen,« entgegnete Trevanion, gleichfalls lächelnd. »Für das öffentliche Leben sollte der Mann einseitig sein; er muß in Gemeinschaft mit einer Partei handeln, und diese besteht darauf, daß der Schild silbern sei, während sie, sobald sie sich die Mühe nimmt, die Ecke umzubiegen, entdecken wird, daß die Kehrseite golden ist. Wehe dem Manne, der diese Entdeckung allein macht, während seine Partei noch immer auf den bloßen Silbergehalt schwört – und zwar nicht nur einmal in seinem Leben, sondern jeden Abend!«
»Du hast ganz genug gesagt, um mich zu überzeugen, daß du zu keiner Partei gehören solltest,« versetzte mein Vater, »aber nicht genug, um mich darüber aufzuklären, weßhalb Du nicht solltest glücklich sein können.«
»Erinnert Ihr Euch einer Anekdote des ersten Herzogs von Portland?« begann Sir Sedley Beaudesert. »In dem großen Stalle seines Landhauses in Holland ließ er eine Gallerie bauen, auf welcher zur Aufheiterung und Unterhaltung seiner Pferde wöchentlich ein Concert gegeben wurde! Ich zweifle nicht, daß die Thiere um so besser gediehen. Was Trevanion fehlt, ist ein Concert jede Woche. Bei ihm heißt es immer gesattelt und gespornt. Und doch, wer möchte ihn nicht beneiden? Wenn das Leben ein Drama ist, so hat sein Name einen guten Klang auf dem Theaterzettel, und man liest ihn mit großen Buchstaben an den Mauern angeschlagen.«
» Mich beneiden!« rief Trevanion –» mich! – Nein, Freund! Du bist der beneidenswerthe Mann – Du, der Du nur einen einzigen Kummer in der Welt hast, und zwar einen so albernen, daß ich Dich erröthen machen will, indem ist ihn enthülle. Höre, o weiser Austin! – höre, tapferer Roland! – Olivares quälte die Furcht vor einem Gespenste – Sedley Beaudesert quält die Furcht vor dem Alter!«
»Nun,« sagte meine Mutter ernsthaft, »ich denke, es bedarf eines tiefen religiösen Sinnes oder jedenfalls eigener Kinder, in denen man sich wieder verjüngt, um sich mit dem Altwerden zu versöhnen.«
»Meine liebe Mrs. Caxton,« rief Sir Sedley, welcher bei Trevanion's Beschuldigung leicht erröthet war, nun aber seine ruhige Fassung wieder gewonnen hatte – »Sie haben so bewunderungswürdig gesprochen, daß ich den Muth gewinne, meine Schwäche einzugestehen. Ja, ich fürchte mich vor dem Altwerden. Alle Freuden meines Lebens sind die Freuden der Jugend gewesen. Ich habe ein so wonniges Glück in dem bloßen Gefühl des Lebens empfunden, daß das herannahende Alter mit seinen trüben Augen und grauen Haaren mich erschreckt. Ich habe das Leben eines Schmetterlings gelebt. Der Sommer ist dahin, ist sehe meine Blumen welken, und meine Schwingen erstarren beim ersten Winterlüftchen. Ja, ich beneide Trevanion, denn im öffentlichen Leben ist der Mann niemals jung, und so lange er thätig sein kann, wird er nicht alt.«
»Mein lieber Beaudesert,« sagte mein Vater, »als der heilige Amable, der Schuhpatron von Riom in der Auvergne, nach Rom pilgerte, versah die Sonne Bedientenstelle bei ihm, trug ihm Mantel und Handschuhe bei der Hitze und hielt, wenn sich das Wetter änderte, gleich einem Schirm den Regen von ihm ab. Du möchtest die Sonne zu demselben Zweck benützen und hast ganz Recht hierin, nur wirst Du einsehen, daß Du vorher ein Heiliger werden mußt, ehe Du der Sonne als Deines Dieners gewiß sein kannst.«
Ein bezauberndes Lächeln flog über Sir Sedley's Züge, verwandelte sich jedoch in einen Seufzer, als er erwiederte: »Ich glaube, ich würde mir nichts daraus machen, ein Heiliger zu werden, wenn die Sonne meine Schildwache, statt mein Courir, sein wollte. Ich verlange nichts von ihr, als daß sie stille stehe. Ihr seht, sie bewegte sich sogar für den heiligen Amable. Meine liebe Mrs. Caxton, Sie und ich, wir verstehen uns, und es ist sehr hart, alt zu werden, man mag thun, was man will, um jung zu bleiben.«
»Was sagst Du zu diesen beiden Unzufriedenen, Roland?« frug mein Vater.
Der Capitän drehte sich unruhig in seinem Stuhle, denn der Rheumatismus nagte in seiner Schulter, und schneidende Schmerzen schossen durch sein zerstümmeltes Bein.
»Ich sage,« erwiederte Roland, »daß sie ein Marsch von Brentford nach Windsor ermüdet – daß sie niemals ein Bivouac oder eine Schlacht gekannt.«
Die beiden Unzufriedenen richteten ihre Blicke auf den Veteran; die Augen hasteten zuerst auf den gefurchten, kummervollen Zügen seines Adlergesichts, fielen alsdann auf das steife, ausgestreckte Korkbein und wandten sich endlich ab.
Inzwischen war meine Mutter leise aufgestanden, beugte sich unter dem Scheine, als suche sie ihre Arbeit auf dem Tische neben ihm, über den alten Krieger und drückte seine Hand.
»Meine Herrn,« sagte mein Vater, »ich glaube nicht, daß mein Bruder jemals von dem humoristischen griechischen Schriftsteller Nichocorus gehört hat; dennoch hat er ihn soeben trefflich erläutert. Nichocorus sagt: ›Das beste Heilmittel für Betrunkenheit ist ein plötzlicher Unfall.‹ Für chronische Trunkenheit müßte eine fortgesetzte Reihe wirklicher Unglücksfälle sehr heilsam sein!«
Die Unzufriedenen erwiederten nichts, und mein Vater griff nach einem großen Buche.
Meine Freunde,« begann mein Vater, von seinem Buche aufblickend und sich an seine beiden Gäste wendend, »ich kenne ein Heilmittel, milder, als das Unglück, welches Euch beiden sehr gute Dienste leisten würde.«
»Und das wäre?« frug Sir Sedley.
»Ein Saffransack, der auf der Herzgrube getragen wird!«
»Austin, mein Lieber!« sagte meine Mutter vorwurfsvoll.
Mein Vater beachtete die Unterbrechung nicht, sondern fuhr ernsthaft fort: »Es gibt nichts Besseres für die Lebensgeister! Roland bedarf des Saffrans nicht, weil er ein Kriegsmann ist, und die Kampflust sowohl, als die Hoffnung des Sieges, den Lebensgeistern so viel Hitze mittheilt, als für ein langes Leben und die Erhaltung des Organismus zuträglich ist.«
»Pah!« sagte Trevanion.
»Leute Eurer Klasse müssen jedoch ihre Zuflucht zu künstlichen Mitteln nehmen. Salpeter in Fleischbrühe zum Beispiel – von drei bis zu zehn Granen, (um das Vieh fett zu machen, mischt man Salpeter unter das Futter) – oder erdige Gerüche, wie sie in den Gurken und verschiedenen Kohlarten enthalten sind. Ein gewisser großer Lord ließ sich jeden Morgen nach dem Erwachen eine in ein Tuch gewickelte frische Erdscholle unter die Nase halten. Leichte Einreibungen des Kopfes mit Oel, unter welches Rosenblätter und Salz gemischt worden, sind von guter Wirkung; am meisten empfehle ich jedoch den Safranfack, auf der –«
»Sisty, mein Lieber, willst Du nach meiner Scheere sehen?« sagte meine Mutter. Die Mutter befürchtet, dass ihr Gatte auf die dem Safran zugeschriebene aphrodisische Wirkung zu sprechen kommt. Wer hätte ihr wohl ein Wissen darum zugetraut? In viktorianischer Verschämtheit will sie gleichwohl ihren Sohn vor zu früher Begegnung mit Informationen dieser Art bewahren.
»Welch' einen Unsinn schwatzest Du!« rief Mr. Trevanion.
»Unsinn!« wiederholte mein Vater, seine Augen weit öffnend. »Ich ertheile Euch den Rath Lord Bacon's. – Dir fehlt es an Ueberzeugung – Ueberzeugung entspringt aus der Leidenschaft – Leidenschaft aus den Lebensgeistern – die Lebensgeister aus dem Saffransack. Du, Beaudesert, wünschest die Jugend festzuhalten. Wer am längsten lebt, bleibt am längsten jung. Nichts trägt aber mehr zu einem langen Leben bei, als ein Saffransack, vorausgesetzt, daß man ihn stets auf der –«
»Sisty, meinen Fingerhut!« rief meine Mutter.
»Du machst Dich mit Recht über uns lustig,« sagte Beaudesert lächelnd, »und ich will wohl glauben, daß das nämliche Mittel uns beide heilen würde.«
»Ohne allen Zweifel,« erwiederte mein Vater. »In der Herzgrube befindet sich das große Centralgewebe von Nerven – der sogenannte Nervenknoten – und von hier aus wirken sie auf Kopf und Herz. Mr. Squills erklärte uns dies, Sisty.«
»Ja,« sagte ich; »doch hörte ich Mr. Squills niemals von einem Saffransack sprechen.«
»O thörichter Knabe! Es ist nicht der Saffransack – es ist der Glaube an denselben. Wende den Glauben auf das Nervencentrum an, und alles wird gut gehen,« sagte mein Vater.
Aber es ist ein Teufelsding, ein gar zu zartes Gewissen zu haben,« bemerkte das Parlamentsmitglied.
»Und es ist keine Engelsgabe, seine Vorderzähne zu verlieren,« seufzte der seine Gentleman.
Darauf erhob sich mein Vater, steckte more suo nach seiner Gewohnheit. die Hand in seine Weste und hielt seine berühmte
Predigt über den Zusammenhang
zwischen Glauben und Erfolg.
Berühmt war sie in unserm häuslichen Kreise, bis jetzt aber ist sie nicht über denselben hinausgekommen. Und da der Leser die Caxton-Memoiren ohne Zweifel nicht mit der Erwartung in die Hand nimmt, Predigten in denselben zu finden, so möge ihr Ruhm auf diesen Kreis beschränkt bleiben. Alles, was ich darüber sagen will, ist, daß es eine sehr schöne Predigt war, und daß sie, für mich wenigstens, den unwiderleglichen Beweis von der heilsamen Wirkung eines auf das große Centrum des Nervensystems gelegten Saffransackes lieferte. Allein der weise Ali sagt: »Ein Thor weiß nicht, was ihn so klein aussehen macht, noch hört er auf Denjenigen, welcher ihm Rath ertheilen will.« Ich kann nicht behaupten, daß meines Vaters Freunde Thoren waren, sicherlich aber fand diese Definition der Thorheit auf sie ihre Anwendung.
Denn auf meines Vaters Predigt folgte nicht Ueberzeugung, sondern eine Debatte; Trevanion war logisch. Beaudesert sentimental, mein Vater hielt fest an dem Saffransack. Als Jacob I. seine Betrachtung über das Gebet des Herrn dem Herzog von Buckingham widmete Jakob I. veröffentlichte seine dem Duke of Buckingham dedizierte » Meditation upon the Lord's Prayer« im Jahre 1619., gab er einen sehr vernünftigen Grund dafür an, weßhalb er Seine Gnaden zu dieser Ehre auserwählt habe – »Denn (sagt der König) es liegt ihr ein sehr kurzes und einfaches Gebet zu Grunde, und sie paßt daher um so besser für einen Hofmann, denn meist haben die Hofleute weder Lust noch Muße, lange Gebete zu sprechen; sie ziehen courte messe et long dîner ein kurze Messe und ein langes Mahl. vor.« Ich vermuthe, mein Vater bestand aus einem ähnlichen Grunde darauf, dem Parlamentsmitglied und dem feinen Gentleman diese seine »kurze und einfache« Moral – nämlich den Saffransack – so ernstlich nahe zu legen. Er war augenscheinlich überzeugt, daß, wenn er sie dazu bringen könnte, dieselbe anzuwenden, nichts Weiteres erforderlich wäre – daß sie weder Lust noch Muße für weitere und längere Belehrung hatten. Und dieser Saffransack – mit welcher Wucht fiel er bei jeder Wendung in der Streitfrage immer wieder ein! Man hätte meinen Vater für einen jener alten plebejischen Kämpfer in den beliebten Ordalien Gottesurteilen. halten können, denen der Gebrauch von Schwert und Lanze verboten war, und welche sich daher mit einem an einen Dreschflegel befestigten Sandsack vertheidigten; es war dies eine durchaus nicht gering zu achtende Waffe, selbst wenn der Sack nur mit Sand gefüllt war – mit Saffran gefüllt aber mußte sie ganz unwiderstehlich sein! Obgleich mein Vater allein gegen zwei Gegner war, so konnten dieselben denn auch einem solchen Angriffswerkzeug gegenüber nicht Stand halten, und nach unzähligen »Pfuis!« und anderen Ausrufungen Mr. Trevanion's und unterschiedlichen Grimassen von Seiten Sir Sedley Beaudesert's gaben beide nach, obgleich sie jedoch nicht zugestehen wollten, daß sie geschlagen seien.
»Genug,« sagte Mr. Trevanion; »ich sehe, daß Du mich nicht verstehst und ich nach meiner Weise vorwärts machen muß.«
Meines Vaters Lieblingsbuch waren die Colloquien des Erasmus, und er pflegte zu sagen, jede Seite desselben biete eine Beleuchtung des Lebens. Aus diesen Colloquien erwiederte er dem Parlamentsmitglied:
»Rabirius wollte seinen Diener Syrus zum Aufstehen veranlassen und rief ihm zu, vorwärts zu machen. ›Ich mache vorwärts,‹ sagt Syrus. ›Ich sehe, daß Du vorwärts machst,‹ erwiedert Rabirius, ›aber nicht, daß Du vorwärts kommst.‹ Um auf den Saffransack zurückzukommen –«
»Zum Henker mit dem Saffransack!« rief Mr. Trevanion in großem Aerger. Alsdann wandte er sich, während er seine Handschuhe anzog, an meine Mutter und sagte mit mehr Höflichkeit, als bei ihm natürlich oder wenigstens gewöhnlich war
»Beiläufig, meine liebe Mrs. Caxton, soll ich Ihnen mittheilen, daß Lady Ellinor morgen in die Stadt kömmt, um Sie zu besuchen. Wir werden einige Zeit hier bleiben, Austin, und obgleich London gegenwärtig ziemlich leer ist, so sind doch einige Leute von Bedeutung anwesend, welchen ich Dich und die Deinigen gerne vorstellen möchte –«
»Nicht doch,« erwiederte mein Vater; »Deine Welt und meine Welt ist nicht dieselbe. Bücher für mich und Menschen für Dich. Weder Kitty, noch ich können von unsern Gewohnheiten abgehen, selbst nicht um der Freundschaft willen; sie hat ein großes Stück Arbeit zu vollenden – und ich deßgleichen. Berge können sich nicht fortbewegen, aber Mahomet kann zu den Bergen kommen, so oft es ihm beliebt.«
Mr. Trevanion fuhr fort, in meinen Vater zu dringen, und Sir Sedley Beaudesert machte mild seine eigenen Ansprüche geltend. Beide rühmten sich ihrer Bekanntschaft mit Männern von literarischem Rufe, mit welchen mein Vater ganz gewiß gerne zusammen sein würde. Mein Vater jedoch zweifelte, ob diese schriftstellerischen Notabilitäten Cicero an Beredtsamkeit oder Aristophanes an Witz übertreffen könnten und bemerkte, daß, wenn dies wirklich der Fall sein sollte, er dieselben lieber in ihren Werken, als im Gesellschaftszimmer, kennen lernen wolle. Kurz, er blieb unerschütterlich; ebenso Onkel Roland, ohne jedoch für seine Weigerung viele Gründe anzuführen.
Nun wandte sich Mr. Trevanion an mich.
»Dein Sohn wenigstens sollte etwas von der Welt sehen.«
Die sanften Augen meiner Mutter leuchteten.
»Mein lieber Freund, ich danke Dir,« sagte mein Vater gerührt. »Ich will mit Pisistratus darüber reden.«
Unsere Gäste hatten sich verabschiedet. Wir standen alle vier an dem offenen Fenster und erfreuten uns schweigend der kühlen Luft und des hellen Mondscheins.
»Austin,« sagte meine Mutter endlich, »ich fürchte, Du hast es um meinetwillen abgelehnt, mit Deinen alten Freunden zusammen zu kommen; Du wußtest, daß ich vor so vornehmen Leuten erschrecken würde, und –»«
»Und wir sind mehr, als achtzehn Jahre glücklich gewesen ohne sie, Kitty. Meine armen Freunde sind nicht glücklich, wir aber sind es. An dem Guten nicht zu rütteln, ist eine goldene Regel, welche alle übrigen des Pythagoras aufwiegt. Die Frauen von Bubastis, meine Liebe, einem Orte in Aegypten, wo die Katzen angebetet wurden, hielten sich stets unverbrüchlich ferne von den Männern in Athribis, welche den Spitzmäusen göttliche Verehrung erwiesen. Katzen sind Hausthiere, die Spitzmäuse aber traurige Landläufer. Du kannst kein besseres Vorbild finden, meine Kitty, als die Frauen von Bubastis!«
»Wie sich Trevanion verändert hat!« sagte Roland nachdenklich – »er, der sonst so lebhaft und feurig war!«
»Er eilte von Anfang zu schnell bergan und kam seitdem nicht wieder zu Athem,« erwiederte mein Vater.
»Und Lady Ellinor,« sagte Roland zögernd – »wirst Du sie morgen sehen?«
»Ja!« entgegnete mein Vater ruhig.
Während Capitän Roland sprach, schien etwas im Ton seiner Frage das Herz meiner Mutter zu berühren – eine Ueberzeugung durchzuckte dasselbe. Sie zog sich zurück, erblaßte, daß ich es sogar im Mondschein bemerkte, und heftete ihre Blicke auf meinen Vater, während ihre Hand, welche die meinige umfaßt hielt, krampfhaft zitterte.
Ich verstand sie. Ja, diese Lady Ellinor war die frühe Nebenbuhlerin, deren Namen sie bis dahin nicht gekannt hatte. Ihre Augen ruhten auf meinem Vater; bei seinem ruhigen Ton und Blick athmete sie freier, entzog mir ihre Hand und legte sie liebevoll auf seine Schulter. Wenige Augenblicke später standen Capitän Roland und ich allein an dem Fenster.
»Du bist jung, Neffe,« sagte mein Onkel, »und hast den Namen einer gefallenen Familie wieder zu Ansehen zu bringen. Dein Vater thut wohl, das Anerbieten Trevanion's, Dich in die große Welt einzuführen, nicht zurückzuweisen. Was mich betrifft, so scheint meine Arbeit in London vorüber zu sein – ich kann nicht finden, was ich zu suchen gekommen war. Meine Tochter wird bald zurückkehren, und alsdann gehe ich mit ihr wieder nach meinem alten Thurme – der Mann und die Ruine mögen dann miteinander zerfallen!«
»Nicht doch, Onkel! Ich will tüchtig arbeiten und Geld erwerben; dann stellen wir den alten Thurm wieder her und kaufen das alte Besitzthum zurück. Mein Vater kann das rothe Backsteinhaus veräußern; wir richten ihm eine Bibliothek ein und leben dann vereint im Frieden, so stattlich und großartig, wie unsere Vorfahren vor uns.«
Während ich so sprach, waren die Augen meines Onkels auf eine Ecke der Straße geheftet, wo eine Gestalt regungslos halb im Schatten, halb im Mondlicht stand.
»Ah!« sagte ich, seinem Auge folgend, »diesen Mann habe ich schon zwei oder dreimal auf der andern Seite der Straße auf und ab gehen sehen, wobei er den Kopf nach unserm Fenster wandte. Unsere Gäste waren jedoch noch hier und mein Vater in eifrigem Gespräch begriffen, sonst hätte ich –«
Ehe ich meinen Satz vollenden konnte, eilte mein Onkel, einen Ausruf erstickend, von dem Fenster weg – aus dem Zimmer – die Treppe hinunter – und befand sich bereits auf der Straße, während ich noch immer vor Erstaunen wie an die Stelle gebannt war. Ich blieb an dem Fenster, mein Auge hastete auf der Gestalt. Ich sah den Capitän mit unbedecktem Haupte und flatternden grauen Haaren schnell über die Straße schreiten; die Gestalt fuhr zusammen, bog um die Ecke und entfloh.
Nun folgte ich meinem Onkel und kam eben noch zu rechter Zeit, um ihn vor dem Fallen zu bewahren. Er lehnte seinen Kopf an meine Brust, und ich hörte ihn murmeln – »Er ist's – er ist's! Er hat uns beobachtet! – er bereut!«
Den darauffolgenden Tag machte uns Lady Ellinor ihren Besuch, zu meiner großen Enttäuschung jedoch ohne Fanny.
Ob die Freude über die Begebenheit der vergangnen Nacht, oder was sonst dazu beigetragen hatte, meinen Onkel zu verjüngen, weiß ich nicht; jedenfalls aber erschien er mir zehn Jahre jünger, als Lady Ellinor eintrat. Wie sorgfältig war der zugeknöpfte Rock ausgebürstet! wie neu und glänzend die schwarze Halsbinde! Der arme Capitän war seinem Stolze zurückgegeben – und, in der That, gewaltig stolz sah er aus! Seine Wange glühte – sein Auge funkelte – der Kopf war zurückgeworfen – die ganze Haltung gefaßt, ernst, kriegerisch und majestätisch, als erwarte er an der Spitze seiner Abtheilung einen Angriff französischer Kürassiere.
Mein Vater dagegen war, wie gewöhnlich in seinem bequemen Morgenrock und Pantoffeln (zu Tisch pflegte er sich aus Achtung gegen seine Kitty sehr pünktlich anzuziehen), und nur ein gewisses Zusammenpressen der Lippen, welches man den ganzen Morgen über an ihm beobachten konnte, deutete auf seine Erwartung des Besuches oder die Aufregung, welche ihm dieselbe verursachte.
Lady Ellinor's Benehmen hätte nicht schöner sein können. Sie vermochte ein gewisses nervöses Zittern nicht zu unterdrücken, als sie meines Vaters ausgestreckte Hand ergriff, und ein rührender Vorwurf lag in der Art, wie sie als Erwiederung auf des Capitäns stolze Verbeugung ihre linke, freigebliebene Hand mit einem Blick ihm darbot, welcher Roland sogleich an ihre Seite brachte. Es war dies ein Verrath an seinen Farben, zu welchem in der Geschichte nur das schmachvolle Betragen Ney's bei Napoleon's Rückkehr von Elba ein Seitenstück bot. Ohne auf eine Vorstellung zu warten, und ehe überhaupt ein Wort gesprochen worden, näherte sich hierauf Lady Ellinor meiner Mutter so herzlich, so liebevoll – sie legte in ihr Lächeln, ihre Stimme und ihr ganzes Wesen eine so gewinnende Anmuth, daß es mich, der ich das einfache, liebende Herz meiner armen Mutter so gut kannte, nur Wunder nahm, wie sie sich enthalten konnte, ihre Arme um Lady Ellinor's Nacken zu schlingen und dieselbe herzliebst zu küssen. Es mußte sie in der That große Ueberwindung gekostet haben, es nicht zu thun! Nun kam die Reihe an mich, und, während mit mir und über mich gesprochen wurde, beruhigten sich bald alle Theile – scheinbar wenigstens.
Was alles geredet worden, kann ich mich nicht erinnern – ich glaube wirklich keines von uns vermöchte es wiederzugeben. Allein es entschwand eine Stunde, und noch war keine Lücke in der Unterhaltung eingetreten.
Mit neugierigem Interesse und möglichst unparteiischem Blicke verglich ich Lady Ellinor mit meiner Mutter; und ich begriff den Zauber, den die hochgeborne Dame in ihrer Jugend auf beide Brüder, so unähnlich sie einander waren, ausgeübt haben mußte. Denn ein Zauber war in der That über Lady Ellinor ausgegossen – ein nicht zu beschreibender Zauber; es war nicht die bloße Anmuth einer feinen Erziehung, obwohl diese sehr viel dazu beitrug, sondern ein Zauber, welcher aus einer natürlichen Sympathie zu entspringen schien. Mit wem sie auch sprechen mochte, die angeredete Person schien für den Augenblick alle ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, ihren ganzen Geist in Anspruch zu nehmen. Sie besaß eine eigenthümliche Unterhaltungsgabe, indem sie das, was sie sprach, gleichsam zu einer Fortsetzung dessen machte, was zu ihr gesagt worden war, so daß man zu glauben geneigt war, sie habe die innersten Gedanken des Redenden gelesen, um ihnen nachher Worte zu geben. Ihr Geist war augenscheinlich mit großer Sorgfalt gebildet! doch frei von aller Pedanterie. Ein Wink, eine Andeutung genügte, um dem Unterrichteten zu zeigen, wie viel sie wußte, ohne dadurch den Unwissenden zu beleidigen oder zu verwirren. Ja, hier war ohne Zweifel das einzige weibliche Wesen, welches für den Geist meines Vaters eine Gefährtin gewesen wäre – das an seiner Hand durch den Garten des Wissens zu wandeln und die Blumen zu pflegen vermocht hätte, während er zum Zwecke einer freieren Aussicht das Buschwerk lichtete. Auf der andern Seite lag in Lady Ellinor's Gesinnungen ein angeborner Adel, der die empfindlichste Saite in Onkel Roland's Wesen anschlagen mußte, und diese ihre edlen Gesinnungen sprachen sich beredt in Blick, Miene und der lieblichen Würde aus, welche jede Bewegung ihres Kopfes begleitete. Ja, sie wäre eine passende Oriana für einen jungen Amadis Im Amadis-Roman [siehe Anm. 70] verliebt sich die Titelfigur in Oriana, die Tochter von Lisuart, dem König von Großbritannien. gewesen. Es war nicht schwer, zu sehen, daß Lady Ellinor Ehrgeiz besaß – daß sie den Ruhm um seiner selbst willen liebte – daß sie stolz war – daß sie (sogar einen krankhaft hohen) Werth auf die Meinung der Welt legte. Dies trat hauptsächlich hervor, wenn sie von ihrem Gatten oder von ihrer Tochter sprach. Es schien mir, als würdige sie den Geist des Einen und die Schönheit der Andern nach dem Maße der öffentlichen Auszeichnung oder der bewundernden Huldigung. Sie berechnete den Werth der Gabe, wie ich bei Dr. Herman die Höhe eines Thurmes zu berechnen gelernt hatte – nach der Länge des auf den Boden fallenden Schattens.
Mein lieber Vater, mit einer solchen Gattin würdest Du nicht achtzehn Jahre gelebt haben und nun vor der Veröffentlichung eines großen Buches zurückschrecken!
Mein lieber Onkel, mit einer solchen Gattin würdest Du Dich nicht mit einem Korkbein und einer Waterloomedaille begnügt haben! Und ich begreife wohl, warum Mr. Trevanion »lebhaft und feurig,« wie Du sagst, daß er in seiner Jugend gewesen, mit einem Herzen, das nach praktischem Erfolg im Leben trachtete, die Hand der Erbin gewann. Nun – Ihr seht, Mr. Trevanion ist es gelungen, nicht glücklich zu sein! An der Seite meiner bewundernd zuhörenden Mutter mit ihren feuchten blauen Augen und den halbgeöffneten Korallenlippen verblichen Lady Ellinor's Reize. War sie wohl jemals so lieblich gewesen, als meine Mutter jetzt ist? Gewiß nicht! Viel schöner aber allerdings – denn welche Zartheit der Umrisse bei aller Bestimmtheit der Züge! Die Brauen so markirt – der fast unmerklich adlerartige Schnitt des edlen Profils – die gewölbten Nasenflügel, welche, wenn die Physiognomen Recht haben, auf eine in hohem Grade erregbare Empfindsamkeit deuten – und die classische Lippe, die ohne jenes Grübchen einen so stolzen Ausdruck gehabt hätte. Allein das nur zu reizbare Temperament und die Aufregungen und Sorgen eines Lebens voller Ehrgeiz hatten ihre Spuren auf diesem Antlitz zurückgelassen. Mein lieber Onkel, ich kenne Deine häuslichen Verhältnisse noch nicht – was aber meinen Vater betrifft, so bin ich überzeugt, daß er als Lady Ellinor's Gatte zwar mehr auf Erden geleistet hätte, jedoch weniger tüchtig für den Himmel gewesen wäre!
Endlich war dieser Besuch – vor welchen sicherlich drei der Betheiligten bange gewesen – vorüber, doch nicht, ehe mir Lady Ellinor das Versprechen abgenommen, mein Mittagsmahl an demselben Tage bei ihr einzunehmen.
Als wir wieder allein waren, athmete mein Vater tief auf, blickte fröhlich um sich und sagte: »Da uns Pisistratus untreu wird, so wollen wir uns über seine Abwesenheit trösten, Bruder Jack rufen lassen und alle vier nach Richmond gehen, um dort unsern Thee zu trinken.«
»Ich danke Dir, Austin,« erwiederte Roland; »wegen meiner jedoch nicht – ich bedarf es gewiß nicht!«
»Auf Ehre?« frug mein Vater halb flüsternd.
»Auf Ehre!«
»Ich auch nicht! So wollen wir denn – Kitty, Roland und ich – einen Spaziergang machen und bald genug wieder zurückkehren, um zu sehen, ob sich dieser junge Anachronismus in seinen neuen Londoner Kleidern hübsch ausnimmt. Eigentlich sollte er mit einem Apfel in der Hand und einer Taube in der Brusttasche Apfel und Taube sind die wichtigsten Attribute der cyprischen Aphrodite. hingehen. Doch nein – dies war glücklicherweise erst zu den Zeiten des Alcibiades Mode in Athen!«
Der Leser mag die Wirkung ermessen, welche das Diner bei Mr. Trevanion und eine darauf folgende lange Unterredung mit Lady Ellinor in meinem Geiste zurückließ, wenn ich ihm mittheile, daß ich bei meiner Rückkehr, nachdem alle Fragen der elterlichen Neugierde umständlich beantwortet waren, mit niedergeschlagenem Blicke und beklommenem Tone sagte: »Mein lieber Vater – ich würde sehr gerne – wenn Du nichts dagegen hättest –«
»Was, mein Sohn?« frug mein Vater freundlich.
»Ein Anerbieten annehmen, welches mir Lady Ellinor in Mr. Trevanions Namen gemacht hat. Er bedarf eines Secretärs – er will freundliche Nachsicht mit meiner Unerfahrenheit haben und meint, ich würde passen und mich bald in seine Art und Weise finden. Lady Ellinor sagt,« fuhr ich mit Würde fort, »daß ich nicht besser in das öffentliche Leben eingeführt werden könnte; und jedenfalls, lieber Vater, würde ich die Welt sehen und kennen lernen, was mir wirklich weit nützlicher scheint, als alles, was ich auf der Universität lernen könnte.«
Meine Mutter blickte ängstlich nach meinem Vater hin.
»Es wäre allerdings von großer Wichtigkeit für Sisty,« sagte sie schüchtern und fuhr dann, ihren Muth zusammennehmend, fort – »und gerade eine Lebensweise, für welche er geschaffen ist.«
»Hm!« versetzte mein Onkel.
Mein Vater rieb gedankenvoll seine Brille und erwiederte nach einer langen Pause –
»Du magst Recht haben, Kitty. Ich glaube nicht, daß Pisistratus zum Studiren bestimmt ist – Thätigkeit wird ihm mehr zusagen. Was aber erwartet Dich später, wenn Du die Stelle annimmst?«
»Ein öffentliches Amt, Vater,« entgegnete ich kühn. »Der Dienst des Vaterlandes!«
»Wenn dies der Fall ist, will ich kein Wort dagegen sagen,« bemerkte Onkel Roland. »Indeß hatte ich geglaubt, daß für einen muthigen Jüngling, einen Abkömmling der alten De Caxtons, die Armee –«
»Die Armee!« rief meine Mutter, die Hände zusammenschlagend und unwillkührlich einen Blick auf meines Onkels Korkbein werfend.
»Die Armee!« wiederholte mein Vater empfindlich. »Wahrhaftig, Roland, Du scheinst zu glauben, der Mensch sei zu nichts anderem auf der Welt, als um todtgeschossen zu werden! Du möchtest nicht zur Armee, Pisistratus?«
»Nicht, wenn Du und meine liebe Mutter es mißbilligten, Vater. Andernfalls freilich –«
» Papae!« unterbrach mich mein Vater. »Dies kömmt nur davon her, daß Du dem Jungen diesen unglückseligen, ehrgeizigen Namen gegeben hast, Kitty. Was ließ sich von einem Pisistratus anderes erwarten, als daß er einem das Leben zur Plage mache? Der Gedanke, seinem Vaterland zu dienen, ist Pisistratus ipsissimus hier so viel wie »wie er leibt und lebt«. ganz und gar. Wenn ich je noch einen andern Sohn hätte ( Dii meloria! Verkürzt für Dii meliora ferant! »Das mögen die Götter verhüten!«), so brauchte er nur Herostratus Herostratos († ca. 356 v.u.Z.) steckte den Tempel der Artemis in Ephesos, eines der sieben Weltwunder der Antike, absichtlich in Brand, um dadurch seinen Namen unsterblich zu machen. zu heißen, um alsdann die St. Paulskirche niederzubrennen, welche, beiläufig bemerkt, wenn ich nicht irre, anfänglich aus den Steinen eines Tempels der Diana erbaut wurde! Nun, Du thust jedenfalls besser, Deinem Vaterland mit einem Gänsekiel zu dienen, als indem Du irgend einem unglücklichen Indianer das Bajonet in die Rippen stößest – ich kann mich wenigstens keines andern Volkes entsinnen, welches der Dienst des Vaterlandes im gegenwärtigen Augenblick zu tödten erheischt – eh, Roland?«
»Indien ist ein sehr schönes Feld der Thätigkeit,« sagte Onkel Roland feierlich. »Es ist die Pflanzschule der Capitäne.«
»So? Dann nehmen diese Pflanzen viel Boden in Anspruch, der vortheilhafter angebaut werden könnte. Und in der That, wenn man bedenkt, daß die größten Capitäne der Welt zuletzt in eine Kiste gelegt werden, die im äußersten Fall nicht über sieben Fuß Länge hat, so ist es erstaunlich, welche Menge Raum diese species des arbor mortis Baum des Todes. zu ihrem Wachsthum bedarf. Um jedoch auf Dein Anliegen zurückzukommen, Pisistratus, so will ich es mir überlegen und mit Trevanion sprechen.«
»Oder lieber mit Lady Ellinor,« entgegnete ich unbedacht.
Meine Mutter durchzuckte ein leises Beben, und ihre Hand entzog sich der meinigen. Die Unvorsichtigkeit meiner eigenen Zunge gab mir einen Stich durch's Herz.
»Das, denke ich, kann Deine Mutter thun,« sagte mein Vater trocken, »wenn sie beruhigt darüber zu sein wünscht, daß die Lüftung Deiner Hemden gehörig besorgt werde. Denn ich vermuthe, Du wirst bei Trevanion wohnen sollen.«
»O nein!« rief meine Mutter. »Dann könnte er ebenso gut auf die Universität gehen. Ich dachte, er werde bei uns bleiben – nur Morgens hingehen, aber natürlich zu Hause schlafen.«
»Wenn ich Trevanion recht kenne,« erwiederte mein Vater, »so wird er von seinem Secretär erwarten, daß er gar keines Schlafs bedürfe. Armer Junge, Du weißt nicht, was Du Dir wünschest. Und doch, in Deinem Alter hätte ich –« mein Vater hielt inne. »Nein!« begann er nach einer langen Pause und gleichsam im Selbstgespräch plötzlich wieder. »Nein, der Mensch ist nicht auf schlimmem Wege, so lange er für Andere lebt. Der Philosoph, der auf sicherm Boden seine Betrachtungen anstellt, ist ein weniger edles Bild, als der Matrose, der mit dem Sturme kämpft. Warum sollten wir unserer zwei sein? Und könnte er ein alter ego werden, selbst wenn ich es wünschte? Unmöglich!«
Mein Vater drehte sich in seinem Stuhle, legte das linke Bein auf das rechte Knie und sagte lächelnd, während er sich niederbeugte, um mir voll in's Gesicht zu sehen, – »Aber, Pisistratus, willst Du mir versprechen, stets den Saffransack zu tragen?«
Ich mache nun einen großen Sprung in meiner Erzählung. Wie mein Vater vorausgesehen, habe ich meine Wohnung bei Trevanion genommen. Eine sehr kurze Unterredung mit dem Staatsmann hatte genügt, meinen Vater zu einem Entschluß zu bringen, und zwar war es die einfache, von Mr. Trevanion ausgesprochene Bemerkung – »Eines verspreche ich Dir – er soll nie müßig sein!« – welche bestimmend gewirkt hatte.
Indem ich zurückblicke, gewinne ich immer fester die Ueberzeugung, daß mein Vater Recht hatte und meinen Charakter, so wie die Versuchungen, welche mir am gefährlichsten gewesen wären, genau kannte, als er mir gestattete, die Universität aufzugeben und so frühe in die Welt einzutreten. Ich war von Natur so lebensfroh, daß ich meine Universitätszeit zu einem Feiertag gemacht und mich nachher aus Reue darüber schwindsüchtig gearbeitet hätte.
Auch darin war meines Vaters Ansicht gewiß die richtige gewesen, daß ich zwar wohl eifrig und anhaltend studiren konnte, dennoch aber nicht zu einem Gelehrten getaugt haben würde.
Im Grunde war die Sache ein Versuch. Ich hatte Zeit genug vor mir – wenn der Versuch mißlang, so war ein Jahr Aufschub nicht nothwendig ein verlorenes Jahr.
Ich wohne, wie gesagt, bei Mr. Trevanion, und zwar schon seit einigen Monaten. Der Winter ist nächstens vorüber; das Parlament und die Saison haben begonnen. Ich arbeite tüchtig – mehr, als ich jemals auf der Universität gearbeitet hätte, das weiß der Himmel! Ein Tag möge als Beispiel dienen.
Trevanion steht um acht Uhr auf und reitet bei jedem Wetter vor dem Frühstück eine Stunde spazieren; um neun Uhr nimmt er besagtes Frühstück in dem Zimmer seiner Gattin ein; um halb zehn Uhr erscheint er in seinem Studirzimmer und erwartet alsdann, daß sein Secretär mit der Arbeit, die ich nun beschreiben werde, fertig sei.
Wenn er nach Hause kömmt, oder vielmehr ehe er zu Bette geht, was gewöhnlich nach drei Uhr geschieht, pflegt Mr. Trevanion auf dem Tische seines Studirzimmers eine Liste von Anweisungen für seinen Secretär zurückzulassen. Aus der Menge solcher Listen, die ich aufbewahrt habe, greife ich auf's Gerathewohl die folgende heraus, um zu zeigen, wie mannichfaltig dieselben waren.
1) Sehen Sie nach in den Protokollen – Commission des Oberhauses für die letzten sieben Jahre – alles, was über die Flachserzeugung gesagt ist – bezeichnen Sie die Stellen für mich.
2) Deßgleichen: »Irische Auswanderung.«
3) Suchen Sie in dem zweiten Band von Kames' Geschichte des Menschen Henry Home Kames (1696-1782), schottischer Jurist und Philosoph; seine Sketches of the History of Man (1774) waren für Herders Geschichtsphilosophie von entscheidender Bedeutung. Zu Reid: siehe Anm. 362. die Stelle, welche von »Reid's Logik« handelt – ich weiß nicht, wo das Buch ist!
4) Wie endigt die Stelle; » Lumina conjurent, inter u. s. w.«? Steht sie im Gray? Sehen Sie nach!
5) Frascatorius schreibt: » Quantum hoc infecit vitium, quot adiverit urbes.«, Sollte es nicht streng grammatikalisch infecerit statt infecit heißen? – Wenn Sie es nicht wissen, schreiben Sie an Ihren Vater.
6) Fertigen Sie die vier Briefe aus, zu denen ich Ihnen die Notizen zurücklasse – d. h. über die kirchlichen Collegien.
7) Sehen Sie in den Bevölkerungslisten nach und berechnen Sie die Durchschnittszahl der Geburts- und Todesfälle in Devonshire und Lancashire während der letzten fünf Jahre.
8) Beantworten Sie die sechs Bettelbriefe; »Nein« – höflich.
9) Die andern sechs an die Wähler – »daß ich keinen Einfluß bei der Regierung habe.«
10) Wenn Sie Zeit haben, sehen Sie nach, ob keines von den neuen Büchern auf dem runden Tisch Geschwätz ist.
11) Ich muß alles wissen über das Welschkorn Mais..
12) Longinus sagt irgendwo etwas in Betreff nicht mit unsern Neigungen übereinstimmender Bestrebungen (im öffentlichen Leben vermuthlich) – wie lautet es? N. B. Longinus steht nicht in meinem Londoner Catalog, ich weiß aber, daß er hier ist – wahrscheinlich in einem Koffer in der Gerümpelkammer.
13) Gehen Sie die Berechnung über die Armensteuer durch – ich habe irgendwo einen Fehler gemacht. U. s. w. u. s. w.
Wahrhaftig, mein Vater kannte seinen Freund! Mr. Trevanion erwartete offenbar von seinem Secretär, daß er keines Schlafs bedürfe! Um mit Obigem zu rechter Zeit fertig zu werden, stehe ich vor Tag auf. Um halb zehn Uhr suche ich noch immer nach Longinus, und Mr. Trevanion tritt mit einem Paket Briefe in sein Studirzimmer.
Die Antworten auf die Hälfte dieser Briefe fallen mir zu; die Anweisungen dazu erhalte ich mündlich in einigen kurzen, raschen Sätzen. Während ich schreibe, liest Mr. Trevanion die Zeitungen, geht meine Ausfertigungen durch, macht sich Notizen daraus – einige für das Parlament, andere für die Unterhaltung und wieder andere für die Correspondenz – wirft einige Blicke in die Parlamentsberichte von demselben Morgen und notirt sich daraus Anweisungen zu Auszügen, Abkürzungen oder Vergleichung derselben mit andern, die vielleicht schon zwanzig Jahre alt sind. Um elf Uhr begibt er sich in eine Commission des Unterhauses und läßt mir reichliche Arbeit zurück, bis er um halb vier Uhr wieder zurückkehrt. Um vier Uhr steckt Fanny ihren Kopf in das Zimmer und ich verliere den meinigen. Viermal in der Woche verschwindet alsdann Mr. Trevanion für den Rest des Tages, speist bei Bellamy Französisches Restaurant in Mayfair, London. oder in einem Club und erwartet mich um acht Uhr im Parlamentsgebäude, für den Fall, daß ihm etwas eingefallen wäre, oder er einer Thatsache oder einer Citation bedürfte. Dann entläßt er mich – in der Regel mit einer neuen Liste von Anweisungen. Ich habe aber dessenungeachtet auch meine Feiertage. Mittwoch und Sonnabend ist großes Diner bei Mr. Trevanion, und dort treffe ich die hervorragendsten Männer des Tages – und zwar von beiden Seiten des Hauses. Denn Trevanion ist selbst auf beiden Seiten oder vielmehr auf gar keiner Seite, was auf das Nämliche herauskömmt. Donnerstags gibt mir Lady Ellinor ein Billet in die Oper, und ich komme wenigstens noch rechtzeitig zum Ballet. Auch erhalte ich bereits Einladungen genug zu Bällen und Gesellschaften, denn man betrachtet mich als einen einzigen Sohn mit großen Aussichten und behandelt mich, wie es einem Caxton gebührt, der das Recht hat, wenn er will, ein De vor seinen Namen zu setzen. Ich habe eine Leidenschaft gefaßt, mich zierlich und elegant zu kleiden – nicht unnatürlich für achtzehn Jahre! Alles ist mir recht, was ich thue, und meine ganze Umgebung gefällt mir. Ich bin bis über die Ohren verliebt in Fanny Trevanion – welche mir nichtsdestoweniger das Herz bricht, denn sie kokettirt mit zwei Peers, einem Leibgardeoffizier, drei alten Parlamentsmitgliedern, Sir Sedley Beaudesert, einem Gesandten und allen seinen Attaché's und endlich gar (die kecke Hexe!) mit einem Bischof in voller Perücke, der, wie man sagt, sich wieder zu verehelichen beabsichtigt.
Pisistratus hat Farbe und Fleisch verloren. Seine Mutter jedoch findet ihn in seinem Aeußern sehr verbessert – er nimmt dies für die natürliche Wirkung der von Stultz und Hoby Johann Stultz war ein in den 1820er Jahren (in denen dieser Roman spielt) berühmter deutscher Schneidermeister in London, der die damaligen Dandies ausstaffierte. In »Pelham« (1828) hatte Bulwer ihm bereits ein Denkmal gesetzt. – George Hoby war ein Schumacher mit Sitz in der renommierten St. James Street, von dem sich z.B. der Herzog von Wellington, der Sieger in der Schlacht von Waterloo, seine Stiefel fertigen ließ. gefertigten Kleider. Onkel Jack sagt, er habe sich »herunterverfeinert.«
Sein Vater sieht ihn aufmerksam an und schreibt an Trevanion:
»Mein lieber Trevanion! – Ich habe einen Gehalt für meinen Sohn zurückgewiesen. Gib ihm ein Pferd und zwei Stunden täglich, dasselbe zu reiten.
Der Deinige
A. E.«
Des andern Tages bin ich im Besitze eines hübschen Fuchsen und reite an Fanny Trevanion's Seite spazieren. Ah! Ach!
Ich habe Onkel Roland nicht erwähnt. Er ist fort – in Frankreich – um seine Tochter zu holen. Seine Abwesenheit währt länger, als wir erwarteten. Sucht er noch immer seinen Sohn – dort, wie hier? Mein Vater hat den ersten Theil seines Werkes, zwei dicke Bände, vollendet. Onkel Jack, welcher seit einiger Zeit melancholisch aussieht und seine Wohnung nur selten verläßt – die Sonntage ausgenommen, an welchen wir uns Alle bei meinen Eltern zu Tische einfinden – Onkel Jack, sage ich, hat es auf sich genommen, das Buch zu verkaufen.
»Erwarte Dir nicht allzuviel,« sagt Onkel Jack, indem er das Manuscript in zwei rothe Portefeuilles mit einem Schlitz in den Deckeln, welche einer der verstorbenen Gesellschaften angehört hatten, einschließt. »Erwarte Dir nicht allzuviel in Bezug auf den Preis. Die Verleger wagen nie viel auf einen ersten Versuch. Es wird schon Mühe kosten, sie zu überreden, das Werk nur durchzusehen.«
»O!« erwiederte mein Vater, »wenn sie es überhaupt drucken wollen, auf ihre eigene Gefahr, so mache ich keine weiteren Bedingungen. ›Nichts Großes,‹ sagt Dryden John Dryden (1631-1700), einflussreicher englischer Schriftsteller. Öffentlich lebt sein Werk zumindest in der Ode »Alexander's Feast« weiter, indem das gleichnamige Oratorium von Händel, zu dem der Text das Libretto lieferte, in Großbritannien regelmäßig aufgeführt wird., ›floß jemals aus einer käuflichen Feder‹!«
»Eine außerordentlich thörichte Bemerkung jenes Dryden,« versetzte Onkel Jack; »er hätte es besser wissen sollen.«
»Das hat er auch,« sagte ich, »denn er benützte seine Feder dazu, um seine Taschen zu füllen – der arme Mann!«
»Aber seine Feder war keine käufliche, Meister Anachronismus,« bemerkte mein Vater. »Ein Bäcker kann nicht käuflich genannt werden, wenn er seine Laibe verkauft, sondern nur, wenn er sich selbst verkauft. Dryden verkaufte nur seine Laibe.«
»Und wir müssen die Deinigen verkaufen,« sagte Onkel Jack mit Nachdruck. »Tausend Pfund für den Band wird etwa der rechte Preis sein – eh?«
»Tausend Pfund für einen Band!« rief mein Vater. »Ich glaube, Gibbon Siehe Anm. 74. erhielt nicht mehr.«
»Sehr wahrscheinlich! Gibbon hatte keinen Onkel Jack, der seine Interessen wahrte,« sagte Mr. Tibbets lachend, indem er seine glatten Hände rieb. »Nein! Zweitausend Pfund die beiden Bände! – Ein Opfer allerdings, allein ich rathe dennoch zu einer mäßigen Forderung.«
»Es würde mich in der That freuen, wenn das Buch etwas einbrächte,« erwiederte mein Vater, augenscheinlich geblendet, »denn dieser junge Herr kömmt mich ziemlich theuer zu stehen; und Du, mein lieber Jack – vielleicht könnte die Hälfte der Summe Dir von Nutzen sein!«
»Mir, bester Bruder?« rief Onkel Jack – »mir? Wenn meine neue Spekulation gelingt, so werde ich ein Millionär sein!«
»Trägst Du Dich mit einer neuen Spekulation, Onkel?« frug ich ängstlich. »Welcher Art ist sie?«
»Bst!« sagte mein Onkel, legte den Finger an die Lippen und sah sich im ganzen Zimmer um – bst!! – bst!!!«
Pisistratus. – »Eine großartige Nationalcompagnie, um beide Parlamentshäuser in die Luft zu sprengen!«
Mr. Caxton. – »Wahrhaftig, ich hoffe, es ist etwas Neueres, als dies, denn, nach den Zeitungen zu schließen, bedürfen sie Onkel Jack's Beistand nicht, um sich gegenseitig in die Luft zu sprengen!«
Onkel Jack (geheimnißvoll). –» Zeitungen! Du liesest selten eine Zeitung, Austin Caxton!«
Mr. Caxton. – »Zugegeben, John Tibbets!«
Onkel Jack. – »Wenn aber meine Spekulation Dich veranlaßte, jeden Tag eine Zeitung zu lesen?«
Mr. Caxton (erstaunt). – »Mich veranlaßte, jeden Tag eine Zeitung zu lesen?«
Onkel Jack (warm werdend und seine Hände gegen das Feuer ausstreckend). – »Eine Zeitung, so groß, wie die Times!«
Mr. Caxton (unruhig). – »Jack, Du erschreckst mich!«
Onkel Jack. – »Und Du würdest selbst Mitarbeiter werden – Leitartikel hineinschreiben!«
Mr. Caxton stößt seinen Stuhl zurück, ergreift die einzige ihm zu Gebote stehende Waffe und schleudert einen griechischen Satz nach Onkel Jack. – »Τους μεν γαρ ειναι χαλεπους, ὁσα και ανθρωποφαγειν »Einige waren so barbarisch, das Fleisch ihrer eigenen Brüder zu essen.« Diese Stelle bezieht sich auf die Scythen und steht im Strabo. Ich nenne die Quelle, denn Strabo ist kein so bekannter Schriftsteller, daß man erwarten dürfte, Jemand, der nicht gerade mit einem so wichtigen Werk, wie die Geschichte des menschlichen Irrthums, beschäftigt ist, werde auswendig können. [Anm.d.Verf.]«
Onkel Jack (durchaus nicht eingeschüchtert). –»Ja, und Du dürftest so viel Griechisch hineinsetzen, als Du Lust hättest!«
Mr. Caxton (erleichtert und besänftigt). – »Mein lieber Jack, Du bist ein großer Mann – laß' hören!«
Und Onkel Jack begann. Meine Leser haben vielleicht schon die Bemerkung gemacht, daß dieser ausgezeichnete Spekulant in seinen Ideen wirklich glücklich war. Seine Spekulationen an sich hatten stets einen gesunden Kern, wie mager auch die Frucht sich daraus entwickeln mochte, und dies war es, was ihn und seine Vorschläge so gefährlich machte. Der Gedanke, den Onkel Jack bei dieser Gelegenheit ergriffen hatte, wird, wie ich vollkommen überzeugt bin, über kurz oder lang das Glück eines Mannes machen, und ich spreche mit einem Seufzer davon, wenn ich bedenke, wie viel dadurch meiner Familie entgangen ist. Mein Onkel beabsichtigte nämlich nichts Geringeres, als die Herausgabe eines täglich erscheinenden Blattes nach dem Plane der Times, welches jedoch einzig der Kunst, Literatur und Wissenschaft – mit Einem Worte dem geistigen Fortschritte gewidmet sein sollte; ich sage, nach dem Plane der Times, denn die gewaltige Maschinerie dieses täglichen Welterleuchters war bestimmt, als Vorbild zu dienen. Das Blatt sollte der literarische Salmoneus Salmoneus ist in der griechischen ein stolzer Herrscher und der Gründer einer Stadt, Salmone. Er war so hochmüthig, dass er für Jupiter gehalten und wie dieser angebetet sein wollte. Um das Volk zu bethören, versuchte er Jupiters Blitze nachzuahmen und soll Menschen ermordet und vorgegeben haben, sie seien durch seine Donnerkeile niedergeschmettert; endlich schlug ihn Jupiter mit seinem wirklichen Donnerkeil und vertilgte die ganze Stadt Salmone. des politischen Jupiter werden und seine Donner über der Brücke des Wissens rollen lassen. Es sollte Correspondenten in allen Theilen des Erdballs haben, und alles, was sich auf die Chronik des Geistes bezog, von der Arbeit des Missionärs in den Südseeinseln oder den Forschungen eines Reisenden an, der die Timbuctuspiegelung zu ergründen sucht, bis zum letzten neuen Pariser Roman oder der letzten großen Berichtigung einer griechischen Partikel auf einer deutschen Universität, sollte seine Stelle in diesem Fokus des Lichtes finden. Es sollte unterhalten, belehren, interessiren – es gab in der That nichts, was es nicht thun sollte. Jeder Mensch in der ganzen Leserwelt, nicht allein in den drei Königreichen Großbritannien (England, Schottland, Irland)., nicht allein in Europa, sondern unter dem ganzen Himmelsgewölbe, sollte irgendwo angefaßt werden, sei es im Kopf, im Herzen oder in der Tasche. Das grillenhafteste Mitglied des intellectuellen Gemeinwesens mußte sein eigenes Steckenpferd in diesen Ställen finden.
»Bedenke,« rief Onkel Jack – »bedenke den Fortschritt des Geistes – bedenke die Leidenschaft, mit welcher man nach wohlfeiler Belehrung hascht – bedenke endlich, wie wenig vierteljährliche, monatliche oder wöchentliche Journale mit den Hauptbedürfnissen des Zeitalters Schritt zu halten vermögen. Eben so gut könnte man sich mit einem Wochenblatt über Politik begnügen, als mit einem wöchentlichen Journal über alle diejenigen Dinge, welche für die große Menge des Publikums an Interesse die Politik noch übertreffen. Ist meine Literarische Times einmal in's Leben getreten, so werden sich die Leute wundern, wie sie jemals ohne dieselbe leben konnten! Bruder, sie haben nicht gelebt ohne sie – sie haben vegetirt – sie haben in Löchern und Höhlen gehaust, gleich den Trogglediken!«
»Trogloditen,« sagte mein Vater mild – »von trogle, die Höhle, und dumi, hinunterkriechen. Sie lebten in Aethiopien und hatten ihre Weiber gemeinschaftlich.«
»Was den letzteren Punkt betrifft, so, will ich nicht sagen, daß das Publikum, die armen Creaturen, so tief gesunken ist,« erwiederte Onkel Jack aufrichtig, »allein kein Gleichniß hält in allen seinen Theilen Stich. Und doch – im Vergleich damit, was die Menschheit sein wird, wenn sie unter dem vollen Lichte meiner ›Literarischen Times‹ lebt, kann ich nicht anders, als sie in ihrem jetzigen Zustand den Troggledumiden Im Original: Troggledummies., oder wie Du sie nennst, an die Seite stellen. Ja, meine Zeitung wird eine Revolution in der Welt hervorrufen! Sie wird die Literatur aus den Wolken herunter in das Wohnzimmer, in die Bauernhütte, ja, in die Küche bringen. Der müßigste Dandy, die vornehmste Dame soll etwas nach ihrem Geschmack, der geschäftige Handelsmann wird eine Bereicherung seiner praktischen – Kenntnisse darin finden. Sie wird Bericht erstatten über die Fortschritte der Theologie, der Medicin und selbst der Rechtsgelehrsamkeit. Bruder, der Hindu wird mich unter dem Banyan Bengalischer Feigenbaum. lesen – ich werde in den Serailen des Morgenlandes zu finden sein – und der amerikanische Indianer wird über meinen Bogen die Friedenspfeife rauchen. Wir führen die Politik auf die ihr gebührende Stufe in den Angelegenheiten des Lebens zurück und erheben die Literatur zu der hohen Stellung, welche sie in den Gedanken und Geschäften der Menschen einzunehmen berufen ist. Es ist eine großartige Idee, und mein Herz schwillt mir von Stolz, indem ich sie betrachte!«
»Mein lieber Jack,« sagte mein Vater ernst und erhob sich in großer Erregung von seinem Stuhle – »es ist in der That ein großartiger Gedanke, und ich ehre Dich darum! Du hast ganz Recht – das Blatt würde eine vollständige Revolution hervorbringen! Es würde die Menschheit unmerklich heranbilden. Bei meinem Leben, ich wäre stolz darauf, leitende oder sonstige Artikel hineinzuschreiben. Jack, Du wirst Dich unsterblich machen!«
»Ich glaube es selbst,« erwiederte Onkel Jack bescheiden; »doch, ich habe den Hauptanziehungspunkt noch gar nicht erwähnt –«
»Ah! und der wäre?«
»Die Ankündigungen!« rief mein Onkel, die Hände ausbreitend und alle Finger ausstreckend, gleich den Fäden eines Spinngewebes, »Die Ankündigungen – bedenke nur! – ein wahres El Dorado. Die Ankündigungen, Bruder, müssen nach den mäßigsten Berechnungen jährlich 50 000 Pfund abwerfen.
Mein lieber Pisistratus, ich werde mich nie verheirathen. Du bist mein Erbe. Umarme mich!«
So sprechend stürzte sich Onkel Jack auf mich und erstickte das kluge Bedenken, das ich auszusprechen eben im Begriffe war, während meine arme Mutter zwischen Lachen und Weinen die Worte hervorstammelte:
»Und es ist mein Bruder, der seinem Sohne alles ersetzen wird, was er um meinetwillen aufgegeben hat!«
Unterdessen ging mein Vater aufgeregter, als ich ihn je zuvor gesehen, im Zimmer auf und ab und murmelte vor sich hin: »Ein kläglich unnützer Mensch war ich bisher! Ich möchte in der That der Welt meine Dienste widmen!«
Diesmal war es Onkel Jack gelungen! Er hatte in der ganzen Welt den einzigen Köder aufgefunden, mit dem ein so scheuer Karpfen, wie mein Vater, zu fangen war – » haeret lethalia arundo.« Ich sah die todbringende Angel nur einen Zoll von meines Vaters Nase entfernt, ich sah seinen festen Entschluß, anzubeißen.
Allein, wenn es meinen Vater unterhielt? Ich war zu jung, um weiter zu blicken, und muß gestehen, daß ich selbst geblendet war und vielleicht auch mit kindischer Bosheit mich an der Verwirrung erfreute, in welche ich meinen verehrten Erzeuger gebracht sah. Der junge Karpfen hatte seine Lust an dem neckischen Wellenspiel, wenn der alte mit seinem Schwanze wedelte und sich mit den Floßen aufrichtete.
»Aber stille!« sagte Onkel Jack, mich loslassend. »Kein Wort gegen Mr. Trevanion oder sonst Jemand.«
»Warum?«
»Warum? – Gott sich mir bei! – Warum? Wenn man meinen Plan erführe, glaubst Du denn, es würde sich nicht sogleich ein Anderer finden, der alles daran setzte, um mir zuvor zu kommen? Du erschreckst mich, daß ich den Verstand darüber verlieren könnte. Versprich mir feierlich, zu schweigen wie das Grab –«
»Ich möchte Trevanion's Ansicht über die Sache hören –«
»Eben so gut könntest Du sie durch den Ausscheller kund thun lassen! Neffe, ich habe Deiner Ehre vertraut. Neffe, am häuslichen Heerde sind alle Geheimnisse heilig. Neffe, ich –«
»Mein lieber Onkel Jack. Du hast vollkommen genug gesagt. Kein Wort soll über meine Lippen kommen!«
»Du kannst Dich gewiß auf ihn verlassen, Jack« sagte meine Mutter.
»Das thue ich auch,« erwiederte mein Onkel. »Darf ich Dich um ein wenig Wasser bitten – mit etwas Branntwein darin – und ein Stückchen Zwieback, oder lieber eine Butterbrodschnitte. Das Reden hat mich ganz hungrig gemacht.«
Mein Auge fiel auf Onkel Jack, während er sprach. Armer Onkel Jack – wie schmächtig war er geworden!